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Sie war nicht die Erste, die sein Herz gebrochen hatte. Doch sie nahm den letzten Zug aus seinem Herzen. Sie und die Kinder.

Nein, viele Jahre vorher war sein Herz schon zerrissen worden, dann folgte ein stetiger Rhythmus des Schmerzes. Immer wenn er dachte, er habe die Person vergessen, die ihm noch vor mehreren Monaten zum Selbstmord getrieben hätte, traf er auf die nächste, die er sein Herz schenken konnte, und die es ihm auch immer wieder zertrat.

Frauen! Immer war er nur auf der Suche nach der einen gewesen.

Doch schon bei der ersten Begegnung mit weiblichen Leben, verlor er den Halt.

Cindy war elf und er war damals fast dreizehn. Sie war die beste Freundin seiner Schwester und für ihr Alter schon sehr forsch, damals glaubte er schon eine Hand voll Brust würde eine Frau ausmachen. Und als sie sein kleines, steifes Glied spürte, rieb sie dran. Er wusste nicht, ob sie Geschlechtsverkehr hatten, er wusste nur, dass er über ihr lag und nach wenigen Minuten gekommen war.

Seine Schwester lag mit Mandelentzündung im Krankenhaus, seine und ihre Eltern ließen sich scheiden und Oma war mit dem Dackel draußen. Bumm, passiert, kein Kind mehr.

Als sein Vater ihre Mutter nach Hause holte, wurden die Dinge kompliziert und er zog zu seiner Mutter.

Wenn es Liebe war, war es die reinste Art, die er je erlebt hatte.

Mit fünfzehn war er mit der Schule auf einem Reiterhof. Er war nie einer der coolsten Typen, aber er war in der Pubertät und Mädchen interessierten ihn auch schon etwas mehr, als damals bei Cindy. Er wohnte gerade ein Jahr bei seiner Mutter, die viel trank und auf Partys ging und er fragte sich schon damals, ob sein Leben nicht besser verlaufen wäre, wenn er bei seinem Vater und dessen neuer Familie geblieben wäre. So war er schon früh zu einem nachdenklichen Jungen geworden, der sich von den anderen fern hielt.

Tiere mochte er. Er hatte immer einen Hund gehabt und nun, die Schulfahrt auf den Reiterhof, war für ihn schon fast das Paradies. Die anderen Jungs, die coolen, spielten auf dem Bolzplatz Fußball, er saß im Stall bei den Pferden und Ponys. Fegte Heu in die Boxen, gab einem Hengst eine Möhre und kraulte ihm hinter den Ohren. Da hörte er das Klappern von Hufen.

Birgit, eins der coolen und hübschesten Mädels aus seiner Parallelklasse führte gerade eine weiße Stute in den Stall. Sie schlug das störrische Tier mit der Gerte und schubste es fast in die Box.

„Du dumme Fotze!“ schnauzte sie und warf das Gatter zu.

Dann sah sie ihn.

„Hey Retter! Was machst du denn hier?“ Breitbeinig stellte sie sich vor ihm auf und schlug sich mit der Gerte auf die Reitstiefel.

Birgit war aus einer Problemfamilie, wie man sie in den 80zigern nannte, das hieß, sie bekam Sozialhilfe und ihre Eltern waren wie seine geschieden. Ihre Mutter hatte wohl nie einen Job, im Gegensatz zu seiner, doch trank die mindestens genauso viel. Ihre Tochter war ihr wie aus dem Gesicht geschnitten, was hieß, dass die meisten Jungs beim Elternsprechtag mit einem Ständer auf die Toilette rannten. Birgits Bruder, Michael, nicht ganze zwei Jahre jünger als sie, klaute wie ein Rabe und wurde laufend von der Polizei zur Schule gebracht.

„N- n-ichts!“ stotterte er und rückte sich die Brille zur Nasenwurzel.

„Holst du dir hier einen runter?“ Sie war sehr vulgär für ihre fünfzehn Jahre und für die damalige Zeit.

„N-n-nein!“

„Warum nicht?“

„W-w-wie?“

„Ich fragte, warum du dir hier nicht einen runter holst?“ Sie stiefelte auf ihn los und erhob die Gerte. „Schließlich bist du hier alleine!“

„I-i-ich f-f-füt-t-terre die Pffffff—Pferde!“

„Mann!“ Birgit lachte. „Bist du ein Stotteraugust!“

Er wich vor ihr zurück. Ängstlich und verstört. Birgit holte mit der Gerte aus und traf ihm am Unterarm, er zuckte kurz, verzog das Gesicht, machte aber keinen Piep. Dann drosch sie noch einmal auf seinen Rücken und ließ die Gerte durch sein Gesicht streifen.

„Wehr dich doch mal!“ Wieder schlug sie zu.

„D-d-du bist ein M-mmmm- Mädchen!“

Nun trat sie nach ihm. „Und du haust keine Mädchen? Hey Retter, du machst deinem Namen alle Ehre was? Ein wahrer Held, ein Retter! Du kannst aber niemanden retten! Du kannst mich nicht retten! Weiste? Niemand kann das, auch nicht so ein edler Ritter wie du, Stotterbacke!“

„I-i-ich...“

„Bö, bö, bö!“ äffte sie sein Stottern nach, schlug ihm dann eine ganze Serie mit der Gerte und schrie: „Wenn du dich nicht wehrst, bleibst du eine Null! Man kann dann alles mit dir machen...“

„A-a-a...“

„Halts Maul du kleiner Hosenscheißer! Zieh dich aus, oder ich schlag dich blutig!“ Wie um ihren Worten Ausdruck zu verleihen, schlug sie nun härter, echt, zu.

Der Junge zog seinen Pullover über den Kopf, dann sein Unterhemd und ließ die Jeans auf seine Schuhe fallen.

„Alles! Auch die Unterhose!“ Die Haut riss nach dem Hieb auf seiner Brust auf.

Er sah es schon vor sich, er würde nackt über den Reiterhof rennen müssen, vielleicht würde sie ihn vor eine Kutsche spannen und seine Mitschüler, die ihn alle wegen seines Sprechfehler hänselten würden über ihn lachen. Sie würden ihn mit Dreck und Schimpf bewerfen und sie würden ihn bis zur Zehnten nicht in Ruhe lassen.

Zitternd zupfte er an dem Bund der Unterhose und streifte sie hinunter.

„Retter, das is aber nix! Mit so ner Nudel kannste aber nicht ficken! Haste schon mal gefickt?“

„K-k-k-klar! I—i...“

„Das glaub ich wohl nicht, aber wennde so bumst, wie du sprichst, dann bist du ein Maschinengewehr!“

Noch eh er es sich versah lag sie mit ihm im Heu und schlief mit ihm. Es war anders als mit Cindy, reifer, erfahrener.

„War gar nicht schlecht, hat Spaß gemacht!“ Sie lachte immer noch, als sie ihre Reiterstiefel wieder anzog. „Hätt' ich nicht gedacht Retter. Man sieht sich.“

Nackt wie er war, blieb er im Heu zurück und schaute ihr nach. Er hatte mit einem der hübschesten Mädchen der Schule geschlafen, die sonst nur mit den Typen aus der Zehnten zusammen hockte und rauchte. Typen, die ihn in die Mülltonnen stopften, oder ihm auf dem Jungenklo auf seine Brille pinkelten. Er hatte mit Birgit van Vehn eine Nummer im Heu gehabt.

„Birgit!“ flüsterte er. Wenn er alleine war, dann stotterte er nicht.

Sein Herz verspürte Zuneigung zu dem Mädchen. Der Ärger, den er von Herrn Mevissen bekam, weil er nackt im Stall geschlafen hatte und der Spott der darauf folgte, prallten von ihm ab wie warmer Schleim. Was ihm schmerzte war, dass Birgit den Rest der Klassenfahrt nicht mehr mit ihm sprach und ihn auch keines Blickes würdigte.

Als er die dritte Woche wieder zu Hause war, rief sie ihn an.

„Hey Frank, kommst du vorbei? Ich bin alleine!“

Er war mit seinem Rad schon vor ihrem Wohnhaus, da hatte sie vielleicht zwei Minuten aufgelegt. Ihre Mutter war mit dem Freund tanzen und Michael war auf Raubtour. Ein halbes Jahr trafen sie sich und er war so verliebt, wie es in den alten Filmen immer war, die er sich anschaute, wenn seine Mutter auf Nachtschicht war.

Während des Religionsunterrichts wurde Birgit vom Jugendamt abgeholt.

Ein Junge hatte in der ersten Novemberwoche mit angesehen, wie Birgit in der Pause mit ihrem Bruder auf einem der Tische Sex hatte. Nachbarn berichteten, dass die Mutter ihre Kinder wohl für Geld an ältere Herren auslieh. Auch sollen die meisten ihrer Freunde mit dem Mädchen geschlafen haben. Die Mutter selbst war auf Heroin und konnte sich nicht mehr um die Kinder kümmern, die eine inzestische Beziehung begonnen hatten. Sie wurden in unterschiedliche Jugendheime gesteckt und von einander getrennt.

Frank schrieb ihr über ein Jahr und hin und wieder telefonierten sie. Doch nach einem Jahr lief sie aus dem Heim weg und als er sie das letzte Mal sah, war sie selbst so mit Heroin zu gedröhnt, dass sie ihn nicht erkannte.

Sein Herz wollte verbrennen. Er brach auf der Straße zusammen und jammerte. Seit der Zeit sprach er nur noch das nötigste, aber er stotterte nicht mehr. Nachts, wenn er schlief und von ihr träumte flüsterte er: „Warum?“

Mit einundzwanzig war er mit der Schwester seines besten Freundes zusammen. Sie hatte einen Sohn von einem anderen, der sie verlassen hatte. Der Junge war so süß und Frank konnte sich gar nicht vorstellen, warum sein Vater ihn nicht liebte. Sie waren zu seiner kleinen Familie geworden. Er hatte einen Job, bei dem er gut verdiente und irgendwann fragte er Barbara, ob sie ihn heiraten wolle. Sie wollte. Sie suchten ein Lokal, bestellten Einladungskarten und nach zwei Monaten das Aufgebot.

Zwei Tage bevor die Trauung statt finden sollte, fand Frank den Brief.

Er hatte sie und den Jungen nach der Arbeit nicht gesehen und er fragte sich, ob sie einkaufen seien. Da lag das Stück Papier auf dem Küchentisch.

„Es tut mir leid, aber Stefan will mich zurück! Bye!“

Er konnte sich noch an das Gefühl erinnern. Jahre danach. Wie er vor dem Küchentisch kniete, den von Tränen aufgeweichten Zettel in den verkrampften Händen und nach Luft schnappend aufschrie. Whisky war sein einziger Trost. Doch das Leid wollte ihn nicht verlassen. Nach Monaten verlor er seinen Job, dann seine Freunde und zum Schluss wäre er fast aus der Wohnung geflogen.

Irgendwann, als ihm das Arbeitsamt einlud, um mit ihm über seinen beruflichen Weg zu sprechen, merkte er wie weit er gekommen war. Er nahm eine Arbeit in einer Gärtnerei an und baute sich Stück für Stück ein neues Leben auf. Er vermisste den Jungen, Barbara war ihm irgendwann egal, aber der Junge nicht und als er dann hörte, dass das Jugendamt den Kleinen aus einer vermüllten Wohnung holte, brach sein Herz erneut. Um zu vergessen nahm er eine Last Minute Reise nach Mallorca.

14 Tage abschalten.

Doch schon am ersten Tag lief er Angelika in die Arme. Sie war alleine und wurde zusammen mit ihm zum Begrüßungscocktail eingeladen. Nach dem sie also begrüßt worden, wollte er eigentlich auf sein Zimmer und lesen. Da stand sie vor seiner Tür und wollte mit ihm Minigolf spielen.

Sein Herz stand nach einem Nachmittag in Flammen, nach zwei Wochen war es wie ein Strohfeuer abgebrannt. Nach zehn gemeinsamen, schwitzenden, experimentellen Sexnächten, offenbarte sie ihm, dass sie verheiratet sei und ihr Mann in Hamburg auf sie wartete.

„The next train is leavin' from platform one!“ schalte es durch sein Hirn und er saß Monate lang in seinem Garten, mit einer Bierflasche in der Hand und starrte in die Sonne.

Warum konnte er niemanden finden, der bei ihm blieb. Wenn er auf der Straße Paaren begegnete dachte er, was haben die was ich nicht habe. Warum werde ich nicht glücklich?

Die Jahre vergingen und als er 30 war hatte er ein gutes Dutzend gescheiterte Beziehungen hinter sich. Karin, seine letzte, schlief hinter seinem Rücken mit seinem Freund.

Die Striemen verheilten immer schneller und jeder neue Stich tat nicht mehr so weh, aber er kam sich hilflos vor.

Neben seinen Job ging er zu Hilfsorganisationen, bei einer lernte er Olga kennen. Olga kam aus einem Bürgerkriegsgebiet am Schwarzen Meer. Sie hatte mit ansehen müssen, wie ihre Eltern vor ihren Augen Augen erschossen wurden. Weil sie Großeltern hatten, die aus Russland stammten.

Olga schien so hilflos, sie erzählte ihm von Vergewaltigung und Missbrauch. Dem Verlust eines Heimatlandes und seine Probleme, seine Vergangenheit, kam ihm so nichts sagend vor. Als hätte er nie gelitten. Keinen Schmerz ertragen. Sie goss mit ihrem Leid seinen Verstand auf und seine Tragödie löschte sich wie ein Laubbrand unter einem Schwall Bier.

Olga besuchte ihn zu Hause. Sie aßen zusammen, ginge ins Kino und auf Partys, sowie zu Konzerten und für eine kurze Weile vergaßen beide, dass sie einmal traurig waren.

Amor hatte ihnen einen Pfeil ins Herz geschossen und als sie ihm sagte, dass sie schwanger sei, da glaubte er, dass das Glück nun endlich Einzug halten würde.

Schnell wurden aus einem Kind vier und nach fünf Jahren waren sie eine große, glückliche Familie. Sein Vater sprach wieder mit ihm und er war so stolz auf seine Enkel. Frank konnte sich jeden Morgen im Spiegel mit einem Grinsen entdecken. Er erledigte seinen acht Stunden Tag auf der Arbeit mit soviel Elan, dass er schnell befördert wurde.

Glück kann wie eine Droge sein, wie Birgits Heroin, wie Mutters Alkohol und es macht einen blind. Blind vor dem Leben. Frank war so verliebt in seine Frau und in die vier Kinder, dass er nicht mitbekam, dass Olga immer ruhiger, immer stiller wurde. Nachts wurde sie wach, weil sie vom Krieg in ihrer ehemaligen Heimat träumte. Sie machte sein Frühstück, lächelte, wenn er lachte und so sah er nicht, dass sie alles ausführte wie ein willenloser Zombie. Ein Depressiver Zombie.

Es war der 23 Dezember, als Frank nach hause kam, er parkte den Volvo wie immer auf seinem Stammplatz auf dem Rücksitz lagen die Tuten mit den Weihnachtsgeschenken. Zehn Jahre war er stolzer Familienvater und seine Vergangenheit, die, wo er noch keine Familie hatte, war verdunkelt hinter dem sonnigen Leben verschwunden. Nur ganz selten dachte er an Birgit, selten an Cindy und überhaupt nicht mehr an die zahlreichen Frauen und Mädchen die ihm begegnet waren.

Er öffnete die Wohnungstür und rief wie üblich: „Bin da! Wer noch?“

Keine Antwort.

„Wollt ihr mich überraschen?“

Totenstill.

Wo waren sie nur? Mussten sie noch etwas für das Fest besorgen?

„Olga? Lucian? Marie? Vikki? Kai?“

Olga hing an ihrem Gürtel am Türrahmen des Schlafzimmers.

Lusian lag mit dem Kissen erstickt auf dem großen Ehebett. Die Mädchen fand er im Kinderzimmer, er suchte nach dem Licht, dann war es plötzlich an und sie lagen in ihren Betten, mit Plastiktüten über ihren Köpfen, die Haare schauten daraus hervor.

Den kleinen Kai hatte sie in der Wanne ertränkt. Seine Augen starrten durch das klare, kalte Wasser zu ihm hoch. Er sah ganz friedlich aus.

„Nein!“ Frank biss sich auf die Handfläche.

Sein Herz zersprang. Der letzte Zug aus seinem Herzen war gestartet, er fuhr einfach davon. Ließ ihn hinter sich stehen. Auf einem verlassen Bahnhof.

Er brach zusammen.

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Tag der Veröffentlichung: 03.06.2009

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