PROLOG
Unheilvoll thront der Mond am mitternächtlichen Firmament.
Er taucht die Welt unter sich in ein heimtückisches, bläuliches Glühen.
Und, wenn man ganz genau hinsieht, so kann man den Schwesterplaneten, die Erde weit hinter den schwebenden Klippen erkennen.
Vereinzelt vernimmt man den Schrei eines Schattens, der sich durch das dichte Unterholz des Winterwaldes kämpft.
Der Wald trägt seinen Namen mit Recht, denn es herrscht immer tiefster Winter. Die Eiskristalle, die die alten Äste der Bäume zieren glitzern wie scharfe Messer, bedrohlich und wunderschön zugleich.
Es schneit so gut wie zu jeder Zeit und die Flocken spielen vergnügt im eisigen Wind.
Hier wird es niemals Tag, und selbst wenn könnte man es nicht sehen, denn die Bäume stehen so dicht, dass man den Himmel nur spärlich erkennen kann.
Hessia, eine junge Faye ist allein unterwegs.
Dicht zieht sie sich ihren Sahrfell-Mantel um die Schultern. Es wärmt perfekt, denn das mächtige, bärenähnliche Tier besitzt das dichteste Fell von allen Wesen im Umkreis ihrer Jagdgründe, diesem Wald, den sie mitten in der Nacht durchquerte.
Einzig und allein ihre spitz zulaufenden Ohren, die sie als eine Faye, eine Unterart einer Fee, kennzeichnen, lugen zwischen ihren blonden Haaren und der dicken Mütze hervor.
Sie sind schrecklich kalt.
Ein ungutes Gefühl beschleicht sie, denn vor ihr hatte noch nie jemand freiwillig versucht, den Winterwald zu durchqueren.
Aber es war die einzige Möglichkeit, schnell genug zurück nach Hause zu finden.
Dennoch, selbst wenn sie bis zu den Zähnen hin bewaffnet ist, nistet sich die Angst in ihren Nacken.
Sie vermutet nicht nur hinter jedem Baum, in jeder Höhle, oder unter jedem vereisten Strauch einen der Bewohner des Waldes, nein, dort ist noch etwas anderes.
Sie spürt es mit jeder Faser ihres angespannten Körpers.
Fest umklammert sie den Griff ihres Zweihandschwertes, jederzeit bereit einen hungrigen Wolf oder einen mordlüsternen Sahren zu töten.
„Jetzt werde bloß nicht paranoid, Hessia. Dein Stamm jagt schon seit Jahrhunderten Sahre, ihr seid berüchtigt dafür“, murrt sie sich selbst zu.
Ihr Atem steigt in wirren Wölkchen zwischen ihren Lippen hervor und verdeckt ihr die Sicht.
Unwirsch wedelt sie mit der Hand vor ihrem Gesicht herum, um den Nebel zu vertreiben, obwohl sie weiß, dass es nichts bringen wird, außer dass sie selbst noch weniger sieht.
Und dann... erschrocken schreit sie auf, als die den warmen Atem an ihren Beinen spürt.
Mit einer flinken Bewegung zieht sie ihr Schwert und ergreift es mit beiden Händen, darauf gefasst, das Wesen mit nur einem Hieb zu enthaupten.
Aber sie kann niemanden entdecken.
„Wer ist da?!“, schreit sie mutig gegen den Wind an, der ihr vereinzelte Schneeflocken ins Gesicht bläst.
Ein Heulen durchbricht die Nachtruhe.
Es klingt verheißungsvoll, als würde der Eigentümer der Stimme nur darauf brennen, seine Fänge in den wehrlosen Körper seines Opfers zu graben.
Jedes einzelne Haar auf Hessias Rücken stellt sich auf, als sie das Heulen erkennt.
Nur ein Sahr schafft es, so traurig und sehnsüchtig zu klingen, dass man am liebsten in Tränen ausbrechen will.
Und da ist es wieder.
Das Wesen, dass ihr um die Knöchel schleicht.
Mit einem entsetzten Schrei schlägt sie auf den Boden ein.
Schnee wirbelt um sie herum auf, und verfängt sich in ihrer Kleidung.
Mit einem Ruck wird ihr die Waffe aus der Hand gerissen und das nächste, was sie spürt, ist der zerhackte Boden an ihrer Wange.
Irgendetwas, oder irgendjemand hatte sie umgeworfen und stand nun bedrohlich über ihr.
Ein ersticktes Wimmern dringt aus ihrem Mund.
Nein, Hessia, zeige keine Schwäche!! Dein Volk stirbt in Ehren und bettelt nicht um Vergebung!!
„Du solltest nicht mitten in der Nacht durch diesen Wald schleichen. Hast du denn keine Ahnung, was hier für Wesen lauern?“, fragt sie eine liebevolle, samtene Stimme.
Sie gehört eindeutig einem Jungen, oder einem Mann, aber sie traut sich nicht aufzusehen.
Sie hat Angst, dass es ein dunkles Wesen ist.
„Na komm, ich helfe dir auf“, eine behandschuhte Hand taucht in ihrem Blickfeld auf.
Sie ist groß und der Handschuh scheint aus dunkelblauen Leder zu sein.
Wessen Tier musste diese Haut wohl gehört haben?
Wieder jagt ein Schauer über ihren Rücken und sie zögert.
Ihre Hand zittert, als sie sie nach der anderen ausstreckt.
Noch bevor sie wirklich zupackt, ergreift der Fremde sie und zieht sie mit einem kräftigen Schwung hinauf.
Sternchen fangen an vor ihren Augen zu tanzen, ihr ist schwindelig und kalt, da der Schnee ihre Kleidung durchnässt hatte.
„W...wer b...bist du?“, fragte sie, vor Kälte fröstelnd.
Sie sah immer noch nicht auf, denn sie spürt es.
Die dunkle Aura, die den Fremden umgibt, ihn einhüllt und in sich aufnimmt, zwingt sie dazu den Blick gesenkt zu halten, ganz gegen ihren Willen.
Sieh auf, Hessia! Sei stolz, so wie dein Volk und zeige keine Schwäche!! Ruft sie sich selbst im Stillen zu und zwingt sich, den Blick zu heben.
Eine vermummte Gestalt steht ihr gegenüber. Die Kapuze verhüllt sein komplettes Gesicht, man kann nichts von seiner Haut erkennen.
Er trägt einen Mantel, der bis zum Boden geht und am Saum bereits Eiskristalle gebildet hat. Er ist ebenfalls dunkelblau, aber sie erkennt das leichte Fell eines Kitsune sofort.
Ist er etwa auch ein Jäger?
Sie spürt, wie ihre Wangen rot werden, vor Scham.
Wenn es stimmen würde, und dieser Mann, oder Junge wirklich ein erfahrener Jäger ist, dann hatte sie furchtbare Schande über sich gebracht.
Kein einziger Krieger ihres Stammes würde jemals Furcht zeigen, oder auch nur spüren.
„Dir muss kalt sein. Komm, ich nehme dich mit zu mir nach Hause, da kannst du dich dann aufwärmen“, auch wenn sie sein Gesicht nicht erkennen konnte, so wusste sie, dass er lächelte.
Sie nickt benommen und folgte dem Fremden durch den verschneiten, mitternächtlichen Wald.
„Hier, wenn du das trinkst, wird dir bestimmt wärmer“, noch bevor Hessia auch nur einen richtigen Blick auf das spärliche, kleine Haus werfen kann, reicht der Fremde ihr eine Schale, gefüllt mit einer dampfenden Suppe.
Sie hatten nicht lange gebraucht, um zu der kleinen Hütte zu kommen.
Die ganze Zeit über hatte Hessia ihm keine Fragen gestellt, aus Angst oder Respekt, wusste sie nicht.
Auch er hatte sie nicht angesprochen, sondern war stumm vorangegangen.
Es war unheimlich gewesen, wie leise er gegangen war.
Während sie, als erfahrene Jägerin, das Eis unter ihren Sohlen zum Knirschen gebracht hatte, so hatte er nicht einen einzigen Laut verursacht.
Auch hatte sie gedacht, er würde keine Fußspuren im Schnee hinterlassen, aber sie war sich dabei nicht mehr so sicher. Der Schneesturm hatte an Kraft zugenommen und ihr waren die Flocken hart ins Gesicht geweht worden und hatte ihre blassblonden Locken verklebt.
Da sie beide aufrecht gegangen waren, merkte sie, dass er gut eineinhalb Köpfe größer war als sie und an seinen breiten Schultern schlussfolgerte sie, dass er gut gebaut und kräftig war.
Er könnte sie bestimmt mit nur einem Schlag gegen den Kopf außer Gefecht setzen.
Bei dem Gedanken war ihre Hand sofort wieder zum Griff ihres Schwertes gefahren.
„Keine Angst, Kriegerin, ich werde dich nicht angreifen. Sonst hätte ich es längst getan. Warum genießt du nicht noch ein wenig meine wunderbare Heimat? Sie ist schön, nicht wahr?“, hatte er ihr über die Schulter zugerufen.
Warum sie sich bei diesen Worten entspannt hatte, wusste sie nicht.
Vielleicht wegen seinem ruhigen, freundlichen Tonfall, aber vielleicht auch einfach nur, weil der Winterwald einfach atemberaubend schön war.
Der Vermummte hatte sie durch eine kleine Allee geführt, die offensichtlich durch Menschenhand geschaffen wurde, denn ab und zu lugte noch der Stumpf eines Baumes aus dem frischen, unberührten Schnee.
Hessia konnte sich endlich ganz auf die Wunder um sie herum konzentrieren, denn der Fremde würde sie schützen, das wusste sie. Er kannte den Wald bestimmt in und auswendig.
Und, ganz langsam, wurden die schaurigen Laute der nachtaktiven Wesen zu Liedern.
Traurigen.
Fröhlichen.
Flehenden.
Verheißungsvollen.
Warnenden.
In jeder Stimme lag ein anderes Gefühl und brachte ihr Herz zum Weinen und zum Lachen, zum Schmunzeln und zum Augenverdrehen.
Der Schneefall hatte ihre Sicht unscharf werden lassen und so hatte sie nur nebenbei wahrgenommen, wie ein silberner Schatten an ihnen vorbeigehuscht war.
Aber sie machte sich keine Gedanken darum.
Als sie auf der ersten, richtigen Lichtung ankamen, stockte sie.
Vor ihr stand eine kleine Hütte, die sich drastisch von seiner Umgebung unterschied.
Während man die Stämme der Jahrhunderte alten Bäume nicht hatte sehen können, da der Schnee an ihnen haftete, so sah die Hütte fast unberührt aus. Sie schien fehl am Platz, und auch die Lichtung schien nicht in diesen Wald zu gehören.
Es war jeher der wildeste und gefährlichste Ort von ganz Oraan.
Wenn man nicht von wilden Monstern zerfleischt wurde, so forderte das launische Wetter seinen Tribut.
Kein Zweifel, der Bewohner des kleinen Hauses beherrschte Magie.
Ehrfurchtvoll war sie eingetreten und sobald die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen war, schien der Wald nicht mehr zu existieren.
Eine Woge der Wärme hatte sie empfangen und ihre kalten Glieder umschmeichelt.
Der Fremde hatte ihr, bevor sie sich umsehen konnte, einen Arm um die Schulter gelegt und in einen Raum geführt, der wohl als Küche dienen sollte.
Dort hatte er ihr die Suppe gereicht.
„Danke“, murmelt Hessia und nimmt die Schüssel, die ihr ihr Gastgeber gereicht hatte.
Dieser hat sich immer noch nicht seines Mantels entledigt, nur dem jungen Mädchen aus den nassen Fellen geholfen und legt ihr nun eine wärmende Decke um die Schultern.
„Das ist sehr nett von Ihnen, ich wüsste nicht, was ich getan hätte, wenn Sie mir nicht geholfen hätten“, murmelt Hessia schüchtern.
Hessia, denk an deinen Stolz!! Schreit ihre innere Stimme, aber sie kann nicht anders.
Der Vermummte schüchtert sie ein.
„Keine Ursache, ich helfe gerne. Aber sagen Sie mir eins: Warum sind Sie in den Wald gegangen? Wissen Sie nichts von den Gefahren, die hier lauern?“, fragt er, mit besorgter Stimme.
Ihre Wangen brennen, vor Scham, oder Betroffenheit, weil sich der Fremde anscheinend Sorgen um sie gemacht hatte, weiß sie nicht.
„Doch, das wusste-weiß ich, es ist nur... ich komme vom Sahrenstamm. Ich bin eine Kriegerin, ich lasse mich von nichts aufhalten“, sie kann nicht verhindern, dass ihre Stimme anfängt zu zittern.
„Vom Sahrenstamm? Ja, von dem habe ich schon gehört. Ihr kennt wirklich keine Angst, das ist bewundernswert. Aber... ich spüre, dass du Angst hast“,
ein Schauder läuft Hessia über den Rücken, als er du gesagt hatte.
Nicht nur, dass er nicht mehr an Höflichkeit dachte, sie spürte auch, dass etwas in ihm zum Leben erwacht war.
Nur was?
„Ich kann dir hier heraushelfen, weißt du? Ich kenne diesen Wald wie kein anderer und zu zweit haben wir bessere Chancen gegen Angreifer“, sie spürt, dass er lächelt.
„Danke, das wäre nett“, antwortet sie, obwohl ihr Gefühl ihr zuschreit, dass es ein großer Fehler ist.
Hessia schläft sehr schlecht in dieser Nacht.
Es liegt nicht daran, dass der Gesang der Waldbewohner sie wach hält, im Gegenteil. Es ist zu ruhig, als würde der Wald außen herum nicht mehr existieren.
Hatte der Vermummte auch einen Zauber ausgesprochen, der bewirkte, dass das Haus gänzlich von der Außenwelt abgeschnitten ist?
Unwohl dreht sie sich in dem kleinen Bett um, dass ihr der Hausherr zur Verfügung gestellt hatte.
Es steht in einem kleinen Raum, in dem sonst kein weiteres Möbelstück steht, abgesehen von dem großen Spiegel an der Wand ihr gegenüber.
Dieser ist leicht verstaubt, so wie vieles in dem kleinen Haus.
Es ist fast so, als würde sich niemand darum kümmern.
Wo der Fremde schläft, weiß sie nicht, er hatte ihr einfach nur das Zimmer zugewiesen und war gegangen.
Wütend beißt sich Hessia auf die Unterlippe.
Wieso vertraue ich ihm, ich kenne ihn doch gar nicht.
Erschrocken muss sie feststellen, dass sie nicht einmal nach seinem Namen gefragt hatte.
Und er auch nicht nach ihrem.
Und doch hatte er ihr seine Hilfe angeboten, die ihn vielleicht in lebensbedrohliche Gefahr bringen wird.
Ein Lächeln stiehlt sich auf ihre Lippen bei diesem Gedanken.
Niemand hätte einer Fremden so bereitwillig geholfen.
Er muss einfach ein guter Mensch sein, auch wenn seine Aura so dunkel auf ihm lastet. Er ist etwas Besonderes.
Und mit diesem Gedanken gleitet sie in einen traumlosen Schlaf.
Als sie am nächsten Morgen ihre Augen aufschlägt, weiß sie zunächst nicht, wo sie ist.
Hektisch fährt sie hoch und sieht sich einem Jungen gegenüber.
Ihr bleibt augenblicklich die Luft weg.
Er ist groß und gut gewachsen.
Sein rabenschwarzes Haar steht in alle Himmelsrichtungen ab und lässt ihn leicht unorganisiert und verträumt wirken.
Aber weder sein makelloses Gesicht, mit der geraden Nase und den schöngeschwungenen Lippen, noch sein freier, gut trainierter Oberkörper hält sie so gefangen, wie seine Augen.
Sie sind dunkelbraun, wie Lehm, oder wie die junge Erde, die sie im Frühling immer über die Wildrosen deckt, damit sie auch gut gedeihen können.
Groß und unschuldig blicken sie auf sie nieder und zaubern einen besorgten Ausdruck in sein Gesicht.
„Ich wollte dich nicht wecken, aber jetzt ist die perfekte Tageszeit, um aufzubrechen. Es ist noch zu früh für die Tiere die am Tage jagen und zu spät für die Nachträuber“, er lächelt sie entschuldigend an und verlässt rückwärts das Zimmer.
„Ich warte draußen auf dich, sobald du fertig bist, dann gehen wir los“,
und er schließt die Tür.
Verwirrt bleibt Hessia sitzen.
Sie hatte alles unter der Kapuze erwartet, nur nicht das.
Einen jungen Mann, von unzähligen Kämpfen gegen wilde Tiere gezeichnet, oder jemand, der aussieht, als wäre er der König des ewigen Eises persönlich.
Aber bestimmt nicht einen Jungen, der so unschuldig und lieb wirkt.
Spätestens jetzt hätte sie merken müssen, in was für einer Gefahr sie sich befindet.
Hingegen springt sie federleicht aus dem Bett und packt ihre mittlerweile trockenen Sachen. Sie zieht sich geschwind an und betritt den bescheidenen Flur.
Der Junge wartet an der Haustür auf sie.
Er trägt wieder den Mantel und die Handschuhe, doch die Kapuze hat er nicht aufgesetzt.
Höflich öffnet er ihr die Tür, als sie zu ihm tritt, und schließt sie hinter ihnen beiden wieder.
Stumm laufen die beiden nebeneinander her, peinlich darauf bedacht nicht über verschneite Wurzeln oder Steine zu stolpern.
Hessia hat damit so einige Probleme, zweimal muss der Junge sie auffangen, bevor sie in den hohen Schnee fällt, während er leichtfüßig einen Fuß vor den anderen setzt.
„Ich wollte mich noch einmal dafür bedanken, dass du mir so bereitwillig hilfst. Das bedeutet mir wirklich viel“, fängt sie an mit leiser Stimme zu murmeln.
Er schmunzelt.
„Es bedeutet dir viel?“, hakt er nach.
Sie wird rot.
„Naja... nicht jeder würde einer völlig Fremden, die er im Wald getroffen hat sofort helfen“, versucht sie sich aus der Affäre zu ziehen.
Er lacht erneut.
„Aber nun sind wir keine völlig Fremden mehr, Hessia vom Sahrenstamm“, erstaunt blickt sie zu ihm auf.
Hatte sie ihm wirklich verraten, wie sie hieß?
Und warum wusste sie dann seinen Namen nicht?
Lieb lächelt er auf sie nieder und ihre Zweifel verblassen.
Ich war bestimmt so müde, dass ich es wieder vergessen habe...
„Nein... nun nicht mehr“, murmelt sie mehr zu sich, als zu ihm.
„Aber eine Frage habe ich noch: Wenn es dir schon viel bedeutet, dass ich dich begleite, was ist dann wirklich wichtig für dich? Immerhin vollbringe ich hier nicht gerade eine große Tat“, er lächelt wieder, als fände er seine Bemerkung lustig.
Sie hingegen kann nur verlegen kichern.
„Ach weißt du... ich... bin feige“, sie schluckt, „mein Stamm ist für seine Furchtlosigkeit bekannt und dafür, dass er ohne mit der Wimper zu zucken töten kann, aber ich...“, sie lässt das Ende unausgesprochen in der Luft hängen.
Das Lächeln verschwindet aus seinem Blick und er nickt nachdenklich.
„Ich verstehe, was du meinst. Es ist nicht immer leicht, den Ansprüchen anderer nachzukommen. Aber hab keine Angst, das wird sich bald ändern“, er legt ihr aufmunternd eine Hand auf die Schulter.
Verlegen wendet Hessia sich ab und so entgeht ihr der Schatten, der durch die erdfarbenen Augen des Jungen huscht.
Stattdessen konzentriert sie sich wieder auf ihre Umgebung.
Würde sie den Weg wieder zurück finden, wenn sie jetzt versuchen würde ihn sich einzuprägen?
Würde er sie erneut empfangen, oder war das eine einmalige Handlung gewesen?
Aber selbst wenn er es erlauben würde, dass sie ihn erneut besuchen würde, könnte sie nicht mehr zurückfinden.
Für sie sah jeder Baum gleich aus und es gab keine Markierungen, an denen sie sich hätte orientieren können.
Außerdem war es immer noch dunkel, obwohl es bereits Vormittag sein musste.
„Gefällt dir mein Wald?“, fragt er sie auf einmal.
Ohne zu zögern antwortet sie mit: „Ja“, aber in Gedanken fügt sie hinzu: Weil du ihn liebst.
Und sie musste sich eingestehen, dass sie dem Jungen, mit den unfassbar schönen Augen vollkommen verfallen war.
„Du hast es tatsächlich geschafft!“, ruft die junge Faye, als sie die weite Ebene vor ihr sieht.
Nach dem Wald hört der Schnee abrupt auf und macht einer großen Prärie Platz.
Die Magie des Waldes stirbt langsam ab und die nächste übernimmt die Führung.
Dies ist das Territorium der Sahrjäger, den Faye, die sich vom Leben der Stadt abgegliedert haben und zurück zur Natur gefunden haben.
„Ich sagte doch, dass ich den Wald so gut kenne, wie kein Zweiter“, lacht ihr Begleiter.
Er lacht ihr glücklich zu und ein fröhliches Glitzern stiehlt sich in seine Augen.
Hessia wendet den Blick ab und sucht die Wiese nach den Zelten ihres Stammes ab.
Weiter hinten, entdeckt sie tatsächlich den Rauch eines Lagerfeuers.
Bestimmt wartet ihre Schwester schon sehnlich auf ihre Rückkehr.
Sie würde ihre linke Hand darauf verwetten, dass sich alle schon große Sorgen um sie machen.
„Vielen Dank...“, verlegen verlagert sie ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen.
„Ich denke, das bedeutet dann Lebewohl“, flüstert sie.
„Oh nein“,
Und dann geschieht es.
Das Lächeln verschwindet aus seinen Augen und macht einem kalten Hass Platz.
Seine großen Augen werden schmal.
Und nicht nur das.
Sein ganzes Erscheinungsbild scheint sich zu verändern.
Seine liebevollen Gesichtszüge lassen ihn nicht mehr tollpatschig und unschuldig aussehen, sondern verhärten sich. Sie glaubt sogar, seine Knochen durch die Haut leuchten zu sehen.
Seine vollen Lippen werden zu einem schmalen Strich, der sich zu einem mordlustigen Lächeln verzieht.
Er hat keineswegs an seiner Schönheit verloren, sondern eher zugenommen.
Kalt und mordlustig, aber genauso schön, wie die Blumen, die ein Gewitter in den Himmel zeichnet.
Und genauso gefährlich.
Mit einem erschrockenen Aufschrei weicht Hessia zurück, als sein Mantel beginnt sich aufzulösen. Wie Rauch zerfließt er und umhüllt seinen Träger, wie die finstere Aura, die sie nun so deutlich wahrnimmt, wie die Angst, die sich in ihre Brust gekrallt hat.
Ein höhnisches Lachen dringt tief aus seiner Kehle.
„So schnell wirst du nicht davonkommen!“, ruft er mit einer Stimme, die genauso kalt klingt, wie seine Augen aussehen.
Plötzlich wirft er seinen Kopf in den Nacken und stößt einen Laut aus, der der jungen Kriegerin durch Mark und Bein geht.
Es klingt keineswegs wie der Schrei eines Menschen, oder einer Faye.
Unheilvoll tönt er durch den Winterwald und hinüber zu den Zelten des Stammes.
Hessia drückt sich die Hände auf die Ohren, denn der Schrei droht sie in die Knie zu zwingen.
Sie hält diesen schrillen Ton, der dem Teufel selbst gehören könnte, nicht mehr aus.
Rufe hallen zu ihnen herüber, die Jäger kommen, um nachzusehen, was geschieht.
Nein, bleibt fort... bettelt sie im Stillen, kommt nicht näher!!
Aber zu spät.
„Hessia!!“, hört sie die Stimme ihrer Schwester rufen und sie blickt auf.
Alle Krieger ihres Stammes stürmen auf den Rand des Waldes zu, um ihr zur Hilfe zu eilen.
„Hör auf, lass sie nicht hierherkommen, sie haben damit nicht zu t...“, weiter kommt sie nicht, denn weitere Schreie haben sich mit dem des Jungen vereint.
Und sie weiß, wem diese Stimmen gehören.
Sie kann die blendende Aura spüren, bevor sie den ersten sieht.
Reflexartig greift sie zu ihrem Schwert, aber es ist nicht mehr da.
„Suchst du etwa das hier, Hessia?“, feixend schwenkt der Dunkle ihr Zweihandschwert vor ihrer Nase hin und her.
„Das wirst du brauchen, wenn du die Bestien besiegen willst“, und er wirft ihr die Waffe zu Füßen.
Noch bevor sich Hessia nach dem Schwert bücken kann, bricht die erste Bestie durch das Unterholz.
Noch nie hatte sie so einen großen Sahren gesehen.
Das silbrige Fell der Bestie schimmert im Licht der Sonne. Seine hässliche, bärenartige Fratze entblößt rasiermesserscharfe Zähne die Locker zwei Faye aufspießen könnten, selbst wenn sie beide einen dicken Schutzanzug tragen würden.
Seine goldenen Augen, die dem eines Werwolfes ähneln haben sie fixiert und werden sie erst dann loslassen, wenn der letzte Hauch des Lebens aus ihrem Körper weicht.
Unter seinen muskulösen Armen wachsen dünne Hautlappen, die er zur Verteidigung verwenden kann. Man sieht ihnen ihre Stabilität wirklich nicht an, denn sie scheinen fast durchsichtig.
Sein Rückenfell ist gesträubt und er wirft einen Buckel, als würde er sich zum Sprung bereit machen.
Wegen seiner großen Krallen torkelt er unbeholfen auf sie zu.
Man sieht sofort, dass er für das Rennen und blitzschnelle töten geschaffen ist.
Angriffslustig zuckt der gewaltige Schwanz des Monsters hinter ihm hin und her und entwurzelt sogar einen nahestehenden Baum.
Hessia ergreift die Flucht.
Sie lässt ihr Schwert unberührt im nassen Gras liegen und eilt den Hügel hinunter, so schnell wie ihre langen Beine sie tragen können.
Dass sie ohne Verteidigungsmittel völlig Schutzlos ist, merkt sie leider zu spät.
Hysterisch schreit sie den anderen zu, sie sollen verschwinden, als ihr ihr Fehler bewusst wird.
Nicht nur, dass die Sahre ihr folgen würden, auch hatte sie endgültig bewiesen, dass sie die Ehre ihres Stammes nicht wahren konnte.
Ein entsetzter Schrei entflieht ihrer Kehle, als ihr die Erkenntnis kommt.
Wie versteinert stehen ihr die anderen Krieger gegenüber.
Ungläubigkeit spiegelt sich in ihren Mienen, hier und da auch Wut und Verachtung.
Tränen steigen in den Augen des Mädchens auf, als sie dem Blick ihrer Schwester begegnet.
Es tut mir so leid, ich habe euch alle enttäuscht...
Und dann...
Etwas Hartes stößt gegen ihren Kopf und wirft sie zu Boden.
Sterne tanzen vor ihren Augen und sie strauchelt, als sie versucht, wieder hochzukommen. Wieder schlägt die Pranke des Sahres auf sie ein. Er trifft sie hart in der Magengrube und zwingt sie dazu heftig nach Luft zu ringen.
Ihr Wams ist an der Stelle, wo die Krallen sie erwischt hatten zerfetzt und fängt an, sich mit ihrem Blut zu tränken.
Sie keucht und würgt nach ihrem Leben, aber da stoßen sich die Fänge der Bestie auch schon in ihren zierlichen Körper.
Als wäre es nichts zerreißen sie den Mantel der gedemütigten Kriegerin und dringen in ihre Hüfte ein.
Die Qual ist unerträglich und entlockt ihr einen leidvollen Aufschrei.
Wie Gift breitet sich der Schmerz in ihrem Körper aus und scheint ihre Nerven lahm zu legen.
Heiß fließt das Blut aus der Wunde und benetzt die Lefzen der Bestie.
Nun, da sie Blut geschmeckt hat, kann sie nicht mehr aufhören.
Immer und immer wieder beißt sie zu, verletzt das hilflos schreiende Mädchen und reißt mit jedem Biss immer mehr das Leben aus ihr.
Die anderen Jäger stehen teilnahmslos daneben.
Sie sind geschockt von der Schande, die Hessia über sie gebracht hat und werden sie ihrem Schicksal überlassen.
Nur ihrer Schwester rinnt eine leise Träne über die Wange, als sie sich von der Sterbenden abwendet.
Aber Hessia will noch nicht aufgeben.
Sie hatte sich selbst entehrt, das Schlimmste, was einer wie ihr passieren konnte. Nun wollte sie wenigstens in Ehren sterben.
Unter heftigen Schmerzen wendet sie sich ihrem Angreifer entgegen.
Das Blut trieft immer noch aus dem Maul des Sahren, seine Augen glühen vor Freude am Töten.
„Töte mich... aber vergiss nie... mein Volk... wird irgendwann auch dich... töten“, flüstert sie mit dem letzten Bisschen ihrer Kraft dem Ungetüm zu.
Es stößt ein keckerndes Geräusch aus, das entfernt an ein Lachen erinnert und öffnet seine hässliche Schnauze.
Ihr eigenes Blut tropft auf ihr zerkratztes Gesicht und in ihre Augen.
Alles wird rot.
Nein... ich will ihn sehen, wenn er mich tötet! Wimmerte sie in ihrem Kopf.
Aber der finale Biss bleibt aus.
Alles was sie wahrnimmt, sind die unzähligen Bisse, die ihren Körper in ein rohes Stück Fleisch verwandelt haben.
Sie brennen wie Feuer und lassen sie an nichts anderes mehr denken, außer daran, dass ihr Leiden aufhören soll.
Ein Schatten steigt über ihr auf und sie spürt, wie eine Hand ihr das Blut aus dem Gesicht wischt.
Es ist der Junge.
Sein Rauchumhang umhüllt ihn und scheint sich mit seinen pechschwarzen Haaren vereint zu haben.
Seine braunen Augen glühen, als würden sie aus Feuer bestehen. Sie brennen darauf, das Mädchen vor ihnen sterben zu sehen.
Wie dumm ich doch war...
„Ich danke dir, Hessia. Du hast meine Sammlung perfekt ergänzt“, murrt er mit seiner eiskalten Stimme, die dennoch wie ein Magnet auf sie wirkt.
Wie kann jemand so schön und gefährlich, so anziehend und blutrünstig zugleich sein?
„Was meinst du... damit?“, fragt sie, ihre Stimme kaum mehr ein Flüstern.
Er lacht, als hätte sie einen guten Witz erzählt.
„Das wichtigste für dich ist deine Ehre, nicht wahr?“,
Sie braucht nicht zu antworten, sie wissen beide, dass es so ist.
„Nun. Und wo ist deine Ehre jetzt? Du wirst hier sterben, verlassen von all denen, die Vertrauen in dich hatten. Du wirst sterben und zwar durch das Tier, dass dein Volk als sein Wahrzeichen hat. Du hast keine Ehre mehr, Hessia“, er wirft seinen Kopf zurück und lacht, als wäre er von einer schweren Last befreit.
„Ich wünsche dir alles Gute, Hessia“, flüstert er und wendet sich ab.
Er lässt sie einfach dort liegen, wo die Bestie sie niedergestreckt hat. Er geht zurück in seinen Wald, der Sahr direkt an seiner Seite und blickt nicht mehr zurück zu dem Mädchen, das er um seinen größten Schatz bestohlen hat.
Und überlässt sie ihrem Tod.
Texte:
Die Rechte der Geschichte liegen bei mir, die des Bildes nicht
Tag der Veröffentlichung: 23.09.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Jedem, der einen Schatz in sich birgt