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Prolog


Wissenschaftlich gesehen sind Tränen nichts weiter als eine Augenflüssigkeit. Doch warum verbinden wir sie immer mit einem traurigen Ereignis?
Warum weint man, wenn man traurig ist?
Und was ist mit den Freudentränen?
Freut man sich etwa so sehr, dass man schon wieder unglücklich ist?
Und was ist Glück überhaupt?
Ist das eine Emotion, oder nur eine Bezeichnung für etwas, was man nie haben kann?
Denn wer kann schon behaupten, dass er sein ganzes Leben lang glücklich war?
Das Leben ist nur eine zähe Masse, die sich in die Länge zieht, bis es zerreißt.
Wenn man Humor hat, könnte man es mit einem Kaugummi vergleichen. Und die kleinen Geschmackskügelchen, auf die man so gerne draufbeißt, sind dann die glücklichen Erlebnisse. Oder die Traurigen.
Mein Leben ist nicht mit so etwas wie einem Kaugummi zu vergleichen.
Ich bin nicht mit so etwas zu vergleichen.
Ich persönlich vergleiche mich immer mit einem Raben.
Ein Rabe kann nicht singen.
Ein Rabe ist nicht schön.
Früher sagte man, er wäre der Bote des Unglücks.
Und so sehe auch ich mich.
Natürlich bin ich nicht völlig talentlos, auch wenn singen nicht so meine Stärke ist, und natürlich bin ich nicht hässlich, wie die Nacht.
Doch passieren mir immer wieder schreckliche Dinge gegen die ich nichts machen kann.
Ich bin verflucht.
Ich bin dazu verdammt in meiner rabenschwarzen Einsamkeit durch die Weltgeschichte zu wandeln, ohne auch nur eine Träne für mein Leid zu vergießen.


1.Kapitel


Sie schien zu schweben.
Nein, sie flog.
Unter ihr zog die kleine Hafenstadt, die nun ihre Heimat war, hinweg. Wenn sie genau hinsah, konnte sie sogar ihr kleines Haus erkennen. Der Wind trug sie höher. Höher und übers Meer hinaus. Einzelne Fischerboote waren am Horizont zu erkennen, in ein freundliches Orange, von der aufgehenden Sonne, getaucht.
Sie hatte sich noch nie so frei gefühlt.
All ihre Angst war wie weggeblasen und sie genoss einfach nur den stürmischen Wind, der ihr durch die Haare fuhr.
Eine Böe erfasste sie und schob sie höher in die Wolken hinauf.
Verschreckt stoben ein paar Möwen auseinander, als sie durch ihren Schwarm hindurchbrach. Doch es störte sie nicht im Geringsten. Laut lachte sie auf.
Sie hatte sich noch nie so glücklich gefühlt.
Nach und nach drangen auch Geräusche an ihre Ohren.
Sie vernahm, weit unter ihr, das Rauschen der Wellen. Der Möwenschwarm, der sich um sie herum wieder versammelt hatte, schimpfte immer noch leise. Der Wind heulte in ihren Ohren, durch ihr rasantes Tempo.
Doch was sie am meisten wahrnahm, war das gleichmäßige Rauschen über ihr.
Wie ein Herzschlag.
Es waren Flügel.
Strahlend weiße Flügel, die in der schwachen Morgensonne zu glitzern schienen, wie Diamanten.
Sie schienen aus nichts weiter als purem Licht zu bestehen.
Wenn sie sie nicht sehen und hören würde, hätte sie nicht gemerkt, dass sie ihren Rücken zierten.
Und doch, hatte sie das Gefühl, als hätte sie immer gewusst, dass sie da waren. Sie waren ein Teil von ihr.
Sie ...
„Aufstehen, Schlafmütze. Du hast noch ungefähr eine Stunde Zeit und du weißt doch, wie gern du trödelst“, murmelte eine tiefe, aber liebevolle Stimme in ihr Ohr.
Erschrocken fuhr April hoch und stieß mit ihrer Stirn gegen die ihres Bruders. „Autsch“, riefen beide, wie aus einem Munde.
„Morgen“, grüßte Drake sie. Er stand wieder von ihrem Bett auf und ging Richtung Tür. Im Türrahmen blieb er noch einmal stehen.
„Ich komme in fünf Minuten wieder, wenn du dann immer nich im Bett liegst, schütte ich dir nen Eimer Wasser überm Kopf aus“, warnte er sie noch einmal, bevor er verschwand.
Stöhnend sank April zurück in ihre Kissen.
Ihr Traum hatte sie zu schnell verlassen.
Dieses unbeschreibliche Glücksgefühl, das sie erfüllt hatte, als sie zwischen den flauschigen Wolken hindurchflog.
Ihre atemberaubend schönen Flügel.
„Noch zwei Minuten!“, Drake war an ihrem Zimmer vorbeigelaufen.
„Sei still!“, April zog ihr Kissen unter ihrem Kopf hervor und vergrub sich darunter. Aufstehen war das Letzte, was sie jetzt tun wollte.
Unter ihrem Kissen war es schön warm und lärmgedämpft. Vielleicht, nur vielleicht, konnte sie ja wieder zurück in ihren Traum versinken.
„Es ist sechs Uhr vier und dein herzallerliebstes Brüderlein wird jetzt einen Eimer holen, ihn mit Wasser füllen, dir das Kissen wegnehmen und das Wasser über dir ausschütten, wenn du deinen Hintern nicht langsam mal aus dem Bett schwingst“, murmelte Drake.
Er hatte sich über sie gebeugt und sprach mit einer neutralen Reporterstimme. Dennoch, selbst wenn April nur den Bezug ihres Bettes sehen konnte, so wusste sie, dass sich ein breites Grinsen über sein Gesicht gezogen hatte.
„Ich steh ja schon auf, ich steh ja schon auf“,
„Och Mann, und ich hatte mich schon so sehr darüber gefreut, dir eine eiskalte Dusche zu verpassen“,
„Was soll der Mist mit dem Eimer Wasser?!“, rief April und schmiss ihr Kissen weg.
Leicht säuerlich sah sie ihren großen Bruder an. Dieser hatte sich auf ihren Bettrand gesetzt und sah sie betreten, sogar leicht enttäuscht an. Seine tiefschwarzen Haare hatte er hochgegeelt, sodass man seine schwarzen Augen sehen konnte. Er hatte ein liebes, aber auch freches Gesicht.
Wenn April nicht seine kleine Schwester wäre, so hätte sie sagen können, dass Drake richtig gut aussah und ein wahrer Herzensbrecher sein konnte. Doch so etwas sagte man nicht über seinen älteren Bruder.
Vor allem nicht, wenn er immer und immer wieder beweisen musste, dass seine Tabletten gegen ADS nicht wirkten.
Trotzdem liebte April ihn über alles. Im Moment, war er der Einzige, auf den sie zählen konnte, der sie unterstützte. Ihr Fels in der Brandung.
„Du sitzt immer noch“,
hatte sie gerade behauptet, dass sie ihn über alles liebte?
„Hilf mir hoch“, sie zog einen Schmollmund und streckte ihm ihre Hände entgegen.
Abschätzend zog Drake eine Augenbraue in die Höhe. Es ließ ihn beinahe nachdenklich aussehen. Dann stand er langsam auf und nahm ihre Hände in seine. Ein paar Sekunden hielt er sie, dann zog er sie mit einem Ruck aus dem Bett.
Erschrocken schrie April auf, bevor sie gegen seine Brust donnerte.
„Meine kleine April!“, rief Drake und fing an sie zu knuddeln.
„Lass mich los, du Teddybär!“, muffelte April zwischen seinen starken Armen hindurch. Wäre sie nicht so ein Morgenmuffel, hätte sie vielleicht die Umarmung erwidert, aber im Moment wollte sie, ehrlich gesagt, nur wieder zurück in ihr Bett.
„Na los. Du hast noch vierzig Minuten, und so wie ich dich kenne wirst du jede Einzelne brauchen, um dich fertig zu machen“,
„Fertig machen wofür?“, verwirrt sah April ihn an.
Es war Samstag und, wie April gerade feststellte, viel zu früh um aufzustehen. Es war eigentlich genau die Zeit um die sie über den Wolken hinweg schweben sollte, tief in ihrem Träumen.
„Wofür?!“, verständnislos sah Drake sie an, „wofür?!“, er griff nach ihren Schultern und fing an sie zu schütteln, „für unseren Ausflug, du Träumerle! Hast du das etwa schon wieder vergessen, oder nur in deiner Müdigkeit verdrängt?! Ich hoffe auf Letzteres, sonst bleibst du hier“,
der Ausflug, genau!
Den hatte April wirklich fast vergessen.
Sie, ihr Bruder Drake, sein Kumpel Seth und ihre beste Freundin Kelly hatten sich für heute einen Bootsausflug vorgenommen. Deswegen musste sie auch so früh aufstehen, denn sie wollten früh morgens auslaufen, denn dann würde der Wind optimal stehen, damit sie mit dem Segelboot auslaufen konnten.
Wie dumm von ihr, ausgerechnet den Ausflug zu vergessen.
Auf ihn hatte sie sich schon die ganze Woche gefreut.
Es war ihr kleiner Hoffnungsschimmer für diese Woche gewesen.
„Ich muss mich fertig machen“, kam ihr schließlich die Erleuchtung.
„Beeil dich“, rief Drake und weg war er.
Als Erstes ging sie zu ihrem Rollladen. Wenn etwas Licht in ihr Zimmer fallen würde, würde auch der Geruch nach Schlaf vergehen und sie wacher werden lassen.
Das Licht brannte förmlich in ihrem Augen. Mit einem Schlag war ihr Zimmer erhellt. Es war wunderbar klares Wetter. Eine Seltenheit, so nahe am Meer. Normalerweise wäre dieser Teil Englands im Frühling morgens von dichten Regenwolken heimgesucht.
Mit freudiger Erwartung stieß sie das Fenster auf, um die morgendliche Brise auf ihrer Haut zu spüren. Kühl war sie. Und es roch nach Meer.
Tief holte sie Luft.
Aber sie konnte nicht lange am Fenster stehen bleiben. Ein lauter Knall verriet ihr, dass Drake das Haus verlassen hatte. Sie atmete noch einmal tief durch, dann drehte sie sich zu ihrem Zimmer um.
Es war ein kleines Zimmer. Ihr gegenüber war ihr vergleichsweise großer Kleiderschrank. Rechts neben ihr stand ihre Couch, die, ausgezogen, als ihr Bett diente. Links von ihr stand ein Regal, voll mit Büchern, CDs und DVDs. An der angrenzenden Wand hingen einige ihrer Bilder. Es waren ihre liebsten Urlaubsbilder, Bilder von ihr und ihren Freunden, ein Bild von ihr und Drake mit überdimensionalen Sombreros und sogar eins von Joshi, ihrem Stubentiger.
Doch das Bild in der Mitte war umgedreht. Denn April konnte es nicht länger sehen, auch wenn sie genau wusste, was darauf abgebildet war.
Es zeigte sie, zusammen mit ihrer Familie: April selbst war zu der Zeit dreizehn Jahre alt gewesen. Sie trug ein rosanes Sommerkleid und hatte eine silberne Halskette mit einem Sichelmondanhänger an, ein Geburtstagsgeschenk von Drake. Ihre braunblonden Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zurück gebunden, so konnte man leider nicht sehen, wie lang und glänzend sie doch waren. Sie reichten ihr bis zur Hüfte und warfen normalerweise leichte Wellen über ihrem Rücken. Sie war schon immer stolz auf sie gewesen. Genauso auch auf ihre nussbraunen Augen. Lieb und verträumt sahen sie aus. Wenn April es mal so sagen durfte, gaben sie ihr wirklich einen liebenswerten Ausdruck. Nur ihre blasse Haut ließ sie leicht kränklich wirken.
Hinter ihr stand ihr zwei Jahre älterer Bruder Drake. Überglücklich lachend hatte er seine Arme um seine kleine Schwester geschlungen. Man sah sofort, wie nahe sich die beiden Geschwister standen. Drake hatte, ganz im Gegensatz zu ihr, die schwarzen Haare ihres Vaters geerbt. In langen Fransen hingen sie ihm ins Gesicht und verdeckten so seine tiefschwarzen Augen.
April hatte es immer schade gefunden, dass Drake sich nicht den Pony schneiden ließ, denn so konnte man nicht die pure Lebensfreude in ihnen aufleuchten sehen. Und das war es doch, was Drake so einzigartig machte.
Nur heute hatte er sie sich aus dem Gesicht gestrichen und dabei würde das niemand sehen, außer den paar Fischen im Meer.
Neben den beiden Kindern auf dem Bild stand ein großer, gutaussehender Mann. Es war ihr Vater, Sascha. Er sah genauso aus, wie eine ältere Version von Drake. Nur mit dem kleinen Unterschied, dass seine Haare bereits einen grauen Ansatz bekamen und er eine Brille über seinen dunkelbraunen trug.
Er hatte seinen Arm um eine hübsche Frau gelegt. Es war ihre Mutter, Elisa. Sie hingegen sah mehr aus wie April, obwohl April ihre Gesichtszüge eher von ihrem Vater hatte.
Elisa hatte ebenfalls hellbraune Haare, allerdings trug sie sie nur schulterlang und in lustigen Fransen, die sie gleich noch jünger aussehen ließen. Auch ihre haselnussbraunen Augen glänzten voller Freude.
Doch nun, zurück in Aprils Zimmer, gab es nichts, worüber sie sich hätte freuen können. Denn das Bild zeigte eine Lüge.
Vor vier Monaten hatte ihre Mutter ihrem Vater gebeichtet, dass sie sich in einen anderen Mann verliebt hatte. Und vor drei Monaten hatte sie sich von ihm scheiden lassen.
Und das alles wegen diesem eingebildeten, versnobten, besserwisserischen Eindringling-Franzosen, den sie ihrem Vater vorzog.
Sie hatte bei der Scheidung das Haus in London gewonnen, das Auto, den größten Teil ihres Geldes.
Nur ihr Wochenendhaus am Meer war ihrem Vater geblieben. Und dort lebte er nun. Und nicht nur er: auch April und Drake waren mit ihm gekommen.
Nachdem der Franzose, wie April ihn nur noch nannte, bei ihrer Mutter eingezogen war und diese nur noch von seinen Kochkünsten und diesem bescheuerten Akzent schwärmte, hatten sie es nicht mehr länger dort ausgehalten.
Ihr einziger Trost in ihrem neuen Leben war ihre frühe Kindheitsfreundin, Kelly, die sie jede Ferien besucht hatte.
Wütend kniff April die Augen zu. Sie wollte nicht mehr länger über ihre Mutter und den Franzosen und darüber, was das Ganze für ihren Vater bedeutet hatte, nachdenken.
Mit Schwung, sodass ihre düsteren Gedanken von ihr flogen, drehte sie sich um.
Sofort fiel ihr Blick auf ihren Schreibtisch, neben ihrem Bett.
Ihr Laptop stand aufgeklappt darauf.
Ein kleines Lämpchen unter der Tastatur blinkte.
Hatte sie etwa wieder vergessen ihn auszuschalten?
Das war mal wieder typisch April.
Leise über sich selbst lachend ging sie zu ihrem Schreibtisch und drückte die Powertaste. Nach drei Sekunden sprang ihr Laptop aus dem Stand-by-Modus und zeigte ihren Desktop. Auf der Taskleiste ganz unten blinkte ihr Chatfenster. Offenbar hatte sie auch vergessen sich auszuloggen.
Mit einem kurzen Seufzer sah sie sich ihre letzten Nachrichten an. Ein paar waren von Kelly.


Am: 20.05.2011
Um: 01:00 Uhr
Von: Kelly S.
An: April M.

Hey, April, ich weiß das kommt jetzt unpassend, aber ich kann morgen, beziehungsweise Heute, nur etwas später, nicht mitkommen. Du weißt doch, dass ich wegen Mathe fast sitzen bleibe und der Herr Professor hat meinen Eltern ne Nachhilfe empfohlen. Und du darfst mal raten, wann und wo sie stattfinden wird. Richtig geraten: Morgen, um 10 *kotz*.
Dann wünsch ich euch drei Glücklichen mal viel Spaß...aber amüsiert euch nicht zu gut ohne mich >.<


Am: 20.05.2011
Um: 01:23 Uhr
Von: Kelly S.
An: April M.

April?
Bist du noch da?
Hast du schon wieder vergessen den PC auszuschalten o.ô
Mann, Ape, es ist erst halb zwei, um diese Uhrzeit schläft man nicht!! Nicht an einem Freitag!! :O
Wahh, dir tut die Meeresluft nicht gut!!
... Komm jetzt aber bloß nicht auf die Idee wieder wegzuziehen, ich brauche dich doch :*
Naja...dann schlaf mal schön, ich hoffe nur, dass du heute noch deine Mails abrufst, sonst werdet ihr ewig auf mich warten :D


Nachdem April diese Nachrichten gelesen hatte, musste sie lächeln.
Ach Kelly ... was würde ich nur ohne dich tun? Fragte sie sich.
Und die Antwort konnte sie sich auch gleich selbst geben.
Sie würde ohne Kelly allein mit Drake und Seth zum Bootsausflug gehen.
Was für eine Pleite.
Natürlich mochte sie Seth und Drake liebte sie über alles, aber Jungs in der Überzahl auf einem kleinen Schiffchen? Würde sie die beiden überhaupt alleine in den Griff bekommen?
Lieber nicht darüber nachdenken und gleich zur nächsten Nachricht übergehen riet sie sich selbst im Stillen.
Sie war von Luke, ihrem Sandkastenfreund aus London.
Seit sie weggezogen war, hatten die beiden sich nicht mehr wiedergesehen. Er war der einzige Grund, der sie darüber hatte nachdenken lassen, nicht auszuziehen. Doch bei ihrer Mutter, die sie und ihre Familie so sehr verraten hatte, hätte sie nicht bleiben können, nicht einmal für Luke.
Ein Glück respektierte er ihre Entscheidung und hielt sie über ihr altes Leben auf dem Laufenden:


Am: 20.05.2011
Um: 01:16 Uhr
Von: Luke T.
An: April M.

Ape, Süße, ich weiß das du das nicht gerne hören willst, aber ich hab deine Mom und Phillip wiedergesehen. Ach ne ich hab vergessen, dass du diesen Namen nicht mehr hören willst, also noch einmal: Ich hab deine Mom und „den Franzosen“ wiedergesehen.
Jetzt die gute Nachricht daran: sie haben sich gestritten.
Ich weiß, ich bin eine naive Wurst, aber stell dir mal vor, sie würden sich wieder trennen und deine Eltern würden sich wieder versöhnen. Dann könntest du wieder hierherkommen.
Ich vermisse dich.
Hoffe du hast ein schönes Wochenende...
Ich merke gerade, dass du schon seit einiger Zeit nichts mehr geschrieben hast ...
Dann gute Nacht, meine Süße und träum schön 


Guter, alter Luke.
Was würde sie nur dafür geben, ihn wiederzusehen. Ihn wieder zu umarmen ... lieber nicht mehr daran denken, sonst würde sie wohlmöglich noch in Tränen ausbrechen, über ihr neues, ungewohntes Leben, in das sie sich nicht einmal nach zwei Monaten eingelebt hatte.
Ihre letzte Nachricht war von Seth.
Seth war für Drake ungefähr das, was Kelly für sie war. Seit sie das kleine Haus am Meer gekauft und jede Ferien dorthin gegangen waren, hatten sich die beiden Jungen angefreundet. Natürlich waren April selbst und Seth auch gute Freunde.
Ein weiteres Beispiel dafür, dass Drake und April sich so gut wie alles teilen konnten. Auch die Freunde. Ohne Streit. Ohne Eifersucht. Und ohne das sich einer in den besten Freund des anderen verliebt und ein Kleinkrieg in der Familie ausbricht.
Außerdem schien sich April auch nur so gut mit Seth zu verstehen, da er Drake in vielen Punkten sehr, sehr ähnlich war. Das bewies auch die folgende Nachricht


Am: 20.05.2011
Um: 01: 23 Uhr
Von: Seth B.
An: April M.

Also, April:

Das mit dem Boot geht klar, mein Dad leiht es mir den ganzen Tag lang ;D
Das heißt, wir können dann so richtig die Sau rauslassen und bis spät abends draußen sein.
Allerdings muss jemand an Proviant denken. Du weißt ja, wie schnell ich Hunger hab und wenn ich nix bekomm dann streik ich, dann könnt ihr beide ma versuchen so ein Segelboot zu steuern, mal sehen, ob ihr das schafft xDD
Ne, aber ma im Ernst, denk an was zu Futtern.
Ach ja und da ich ja weiß, wie gern du verpennst (dass du an meinem Geburtstag damals erst um ein Uhr angerufen hast, hab ich nicht vergessen. Jaaa, nicht nur Frauen haben ein gutes Gedächtnis), hab ich Drake gesagt, er soll dir nen Eimer Wasser überm Kopf ausschütten, wenn du nicht um sechs wach bist. Naja, du hast noch fünf Minuten, um wach zu werden, aber dann gibt es keine Gnade mehr!
Drake freut sich schon xD
Also dann bis morgen


„Ach daher kommt die Geschichte mit dem Wassereimer“, murmelte April leise zu sich. Ja, Drake und Seth waren wirklich vom selben Schlag.
Und sie hatten ihr gleich eine weitere Aufgabe aufgedrückt. April würde ihre Hand dafür verwetten, dass Drake nicht eine Sekunde daran gedacht hatte, etwas zu Essen einzupacken.
Moment ...
„Ahhh ich muss mich fertig machen und Brote schmieren und noch zum Hafen laufen!“, schrie sie erschrocken auf. Ohne ihren Laptop auszuschalten sprang sie auf und stürzte zu ihrem Kleiderschrank.
Sie suchte sich einen warmen, lilanen Pulli heraus, eine Jeans und Unterwäsche. Als sie alles beisammen hatte eilte sie ins anliegende Badezimmer. Sie pfefferte ihre Sachen einfach in eine Ecke und streifte sich ihr Nachtkleid ab.
Das Wasser in der Dusche war beruhigend warm auf ihrer Haut. Der Dunst umhüllte ihren zierlichen Körper und wusch ihren fesselnden Traum fort. Sie spürte, wie sie sich vollends entspannte. Sie hätte stunden in dieser wohltuenden Wärme verbringen können.
Doch sie wusste, dass sie keine Zeit mehr hatte.
Schnell wusch sie sich die Haare und stellte das Wasser ab.
Nach der schmeichelnden Wärme war die kalte Luft wie spitze Nadeln auf ihrer Haut. Hastig zog sie ein Handtuch vom Wäschestapel und hüllte es um sich. Ein weiteres wickelte sie um ihre braunen, fast blonden Haare.
Sie trug ein wenig Make-Up und Wimperntusche auf. Auch wenn sie den ganzen Tag auf einem windigem Boot verbringen würde und auch wenn ihr die Gischt ins Gesicht geweht werden würde, wollte sie doch gut aussehen, oder?
Sobald sie fertig war, zog sie sich an.
Ihre Haare rubbelte sie nur schnell trocken. Der Rest würde an der frischen Luft trocken werden müssen. Sie hatte nur noch vierzehn Minuten.
Als sie aus dem Badezimmer kam, stieß sie auf ihren Vater. Er trug immer noch seinen Schlafanzug und in einer Hand trug er eine leere Tasse.
Den Schlafanzug konnte sie sich erklären, immerhin war es viertel vor sieben an einem Samstag und die Tasse war bestimmt seine Tasse Tee, die er immer vor dem Einschlafen trank. Was sie allerdings nicht verstand, war die Tatsache, dass er schon wach war. Was die Schlafverhältnisse anging, so war er doch eher wie sie: So lange schlafen, bis man rausgeworfen wird und am Wochenende erst gar nicht auf so etwas achten.
„Morgen“, gähnte er, als er an ihr vorbeiging.
„Warum bist du schon wach?“, fragte sie ihn.
„Warum nicht? Ich muss doch zur Arbeit, es ist schon fast sieben. Wenn ich heute wieder zu spät komme, dann ...“, „Dad! Heute ist Samstag, leg dich wieder ins Bett!“, rief April.
Verblüfft sah Sascha sie an. Und doch sah er sie nicht an. April konnte mittlerweile nicht mehr so tun, als würde sie nicht bemerken, wie ihr Vater mehr und mehr ein Schatten seiner selbst wurde. Es war schrecklich ihn so zu sehen.
„Weißt du was? Heute unternehmen wir mal was zusammen. Wo ist denn dein Bruder?“, ein dicker Kloß fing an ihr den Hals zuzuschnüren.
„Wir haben dir doch gesagt, dass wir heute einen ... Ausflug machen“, fing sie an, „Und das wusstest du. Ich hab es dir gesagt. Gestern zum Beispiel ... aber morgen. Morgen unternehmen wir was, versprochen!“, rief sie, um ihn aufzuheitern.
Das Letzte, was er jetzt noch gebrauchen konnte, war das er auch noch von seinen Kindern vernachlässigt wurde.
Dankbar lächelte er sie an.
„Du bist ein gutes Kind“, murmelte er und küsste sie sachte auf die Stirn.
Puh, er nahm es ihr nicht übel.
„Ich wünsch euch beiden viel Spaß. Und ich geh jetzt noch einmal ins Bett“, wie zur Bestätigung gähnte er und schlurfte zurück in sein Zimmer.
April hatte gerade noch die Möglichkeit, ihm seine Tasse wegzunehmen, um sie unten in die Spülmaschine zu stellen.
Doch vorher musste sie noch in ihr Zimmer, um ihren Rucksack zu packen. Denn das hatte sie Gestern vergessen.
Sie würde nicht viel mitnehmen müssen, nur ein paar Wechselklamotten, ihre Kamera und, auch wenn Drake es ihr verboten hatte, ihr Handy. Ohne es konnte sie einfach nicht gehen. Das Risiko, dass sie ins Wasser fallen könnte, musste sie eingehen.
Nun hatte sie noch gerade so viel Platz, dass ein paar Brote hineinpassen würden.
Sie griff sich wieder die Tasse ihres Vaters, mit dem süßen „Best Dad“ Aufdruck, schulterte ihre Tasche und hüpfte die Wendeltreppe hinunter.
Unten angekommen stand sie sofort in der Küche. Auch sie war sehr klein, da es ja eigentlich nur ein Ferienhaus war.
April stellte ihren Rucksack auf der kleinen Anrichte ab und ging zum Kühlschrank. Sie holte einige Lebensmittel heraus und fing an Brote zu schmieren. Und, ohne es zu merken, fing sie an zu summen.
Es war ihre Lieblingsmelodie. Es war ein Schlaflied, dass Drake ihr früher immer gesungen hatte, wenn sie nicht schlafen konnte. Es hatte sie jedes Mal beruhigt und einschlafen lassen.
Die Melodie klang sehr altmodisch, fast schon mystisch und die Sprache, in dem das Lied verfasst war, musste Drake sich selbst ausgedacht haben, denn April kannte sie nicht. Drake dachte sich eigentlich sehr gerne etwas aus, deswegen fand sie es nicht weiter merkwürdig. Jeden Abend erzählte er ihr Geschichten, sang ihr sein Lied und erfand mystische Wesen, egal wie alt sie beide waren. Sogar jetzt, wo er selbst achtzehn und sie sechszehn war, erzählte er ihr noch gerne seine Märchen.
Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Ja, ihr Bruder war schon etwas Besonderes.


Nachdem sie sich auch noch von Joshi verabschiedet hatte, verließ sie das Haus. Der kühle Morgenwind bließ ihr grüßend entgegen.
April war, und genau das beschämte sie in diesem Augenblick, noch nie so früh wach gewesen. Sie hatte so einiges verpasst.
Ihr kleines Häuschen hatte zwei Eingänge: der Haupteingang zeigte zur Hauptstraße hin, die um diese Zeit fast unbefahren war.
Der zweite Ausgang, und das war der, den April benutzt hatte, führte durch ein kleines Stück Garten, über ein winziges Feld, direkt zum Strand. Der Garten glich fast einem kleinen Dschungel. Früher hatte ihre Mutter überall kleine Bäume gepflanzt, die im Sommer schneeweiße Blüten trugen. Die Beete zu beiden Seiten blühten im Sommer regelrecht auf und zwar in den schönsten und verschiedensten Farben. Stiefmütterchen und Primeln, Tulpen und Maiglöckchen. In der Mitte war eine Rosenranke mit roten, gelben und weißen Rosen und in den Ampeln, die über der kleinen Terrasse hingen, würden bald weiße und lilane Fuchsien aufblühen.
Für ein paar Sekunden schloss April ihre Augen. Sie sah den Garten in seiner schönsten Pracht vor sich. All die vielen bunten Blumen, die ihre Mutter früher wie kleine Kinder gehegt hatte.
Auch sie war dort.
Es war eine andere Zeit. Eine Zeit, in der noch alles normal war. In der sie selbst noch ein kleines Mädchen war.
Ihre Mutter hatte sich in eines der Beete niedergekniet, um eine Tulpenzwiebel zu pflanzen. Sie strich sich mit ihrem Handrücken den Schweiß aus dem Gesicht, wobei sie sich ein wenig Erde auf die Stirn schmierte. Lächelnd sah sie hoch zu April und winkte sie zu sich. Ihre gutmütigen braunen Augen, die so gleich wie Aprils waren, sahen sie belehrend an „Siehst du, April? Du musst ganz vorsichtig ein Loch graben, die Zwiebel hineinstecken und genauso sachte das Loch wieder schließen. Und dann wird hier eine gelbe Tulpe wachsen“
Eine Träne stahl sich aus Aprils Augenwinkel.
„Wie konntest du uns nur so etwas antun, Mom? Wie konntest du so etwas nur Dad antun? Ihr wart doch füreinander bestimmt“, hörte sie sich selbst flüstern. Doch die April aus ihrer Erinnerung beugte sich, neugierig wie sie gewesen war, mit großen Augen über die frisch gesäte Blumenzwiebel. Damals hatte sie nicht begreifen können, wie aus so einer so kleinen, hässlichen Knolle eine schöne, zarte Blume wachsen konnte.
Auch jetzt noch war es fast ein Wunder für sie.
„Na ihr beiden, Hübschen?“, drang eine Stimme durch ihr Gedächtnis. Wenn sie sich von ihrem jüngeren Selbst und ihrer Mutter abwandte, so konnte sie ihren Vater erkennen. Er stand hinter ihr im Eingang. Er hatte ihnen jeden Abend eine Tasse heiße Schokolade raus in den Garten gebracht. Auch an diesem Abend. Dann hatten sich die drei auf die kleine, von Efeu umrankte, Bank gesetzt und einfach nur die herrliche Idylle ihres kleinen Paradieses genossen. Später war auch Drake hinzugekommen, hatte sein Skateboard achtlos auf die Terrasse geworfen und sich bei Aprils Tasse Schokolade mitbedient.
Damals waren sie noch eine glückliche Familie.
Damals, als sie zusammen hier gesessen hatten, hatten ihre Eltern ihnen Geschichten erzählt. Wie sie sich kennen gelernt hatten, wie ihr Vater ihrer Mutter den Antrag gemacht hatte.
Es war so wunderschön, so kostbar gewesen.
Schniefend rieb sich April die Tränen aus den Augen. Es tat ihr nicht gut, daran zu denken. Sie würde nur so wie ihr Vater enden, gefangen in der Vergangenheit, abgesondert von der Gegenwart und von der Zukunft nicht die leiseste Ahnung.
Am liebsten wäre sie umgekehrt und hätte sich zu ihm ins Bett gekuschelt.
Doch er würde den Tag auch ohne seine Kinder überstehen können. Denn April und Drake wollten sich heute, zusammen mit einem Freund, einen schönen Tag machen und nicht darüber nachdenken, in was für einem unübersichtlichen Chaos ihr Leben versank.
Mit großen Schritten durchquerte sie den Garten und öffnete das kleine Gartentor.
Es schien, als wäre sie durch ein Portal in eine andere Welt getreten.
Der grüne Garten, voller Erinnerungen an ihre Kindheit wich dem weißen Strand an dem sie im Sommer, wenn es denn mal warm war, Lagerfeuer veranstaltet hatten. Hier hatten früher immer kleine Strandpartys stattgefunden.
Doch davon merkte man im Moment nicht das Geringste. Der Strand war menschenleer. Ruhig schlugen die Wellen am Ufer an. Auch hier hätte sie stehen bleiben können und dem leisen Flüstern ihrer Erinnerungen nachgeben können, doch die Zeit drängte.
Sie hüpfte von dem kleinen Bürgersteig hinunter in den weichen Sand und schlenderte am Wasser entlang. April hatte nie gemerkt, wie schön es so früh am Morgen war. Niemand konnte diesen Frieden stören. Das Meer sang sein melancholisches Lied, dass April sofort ruhig stimmte, die Möwen zogen über ihrem Kopf hinweg auf das offene Meer hinzu. Ab und zu schrien sie auf, was das Meeresfeeling nur unterstrich.
Begierig reckte April ihr Gesicht gegen den Wind.
Sie sollte morgens wirklich mal früher aufstehen. Was sie hier alles verpasste.
Aber dann...
Ihr Herz verkrampfte sich. Es war, als hätte sich eine eiskalte Hand auf ihre Brust gelegt und würde durch ihre Haut fahren. Langsam und bedrohlich. Es schnürte ihr den Hals zu, sie konnte kaum atmen.
Sie musste sich nicht umsehen, um zu wissen, was das bedeutete. Dieses bedrohliche Gefühl verfolgte sie nun, seit sie das erste Mal allein an diesem Strandabschnitt vorbeigelaufen war.
Ein lautes Krächzen mischte sich in das aufgeregte Schnattern der Möwen. Ein großer Schatten zog über April hinweg. Als sie aufsah, sah sie, wie der Rabe durch den Schwarm Möwen flog. Verschreckt stoben sie auseinander, um dem Eindringling Platz zu machen.
Der schwarze Vogel ließ einen kreischenden Laut vernehmen. Fast so, als würde er über den kleinen Scherz, den er sich mit den Möwen genehmigt hatte, lachen.
April war mittlerweile stehen geblieben.
Sie spürte es
Sie spürte den intensiven Blick in ihrem Rücken. Tief holte sie Luft, dann drehte sie sich um. Und da war er.
Er trug dicke, schwarze Lederboots und eine schwarze Jeans. Trotz dem kühlen Wetter trug er nur ein T-Shirt, ebenfalls in schwarz. Seine Lederjacke hatte er neben sich über die Bank gehängt, auf der er saß. Er saß dort im Schneidersitz. Ganz so, als hätte er es sich dort gemütlich gemacht. Als würde er in der nächsten Zeit nicht mehr woanders hingehen.
Seine tiefgrünen Augen hatten sie fixiert, auch wenn ihm seine unordentlichen, dunkelbraunen Haare in die Stirn gefallen waren, wusste sie es. In seinem Mund steckte ein Zahnstocher, auf dem er gedankenverloren rumzukauen schien. Langsam drehte April sich ganz zu ihm um. Sein Blick folgte ihr. Das smaragdgrün schien sie in sich gefangen zu haben.
Wie lange sie dort gestanden hatte, wusste sie nicht, sie wusste nur, dass ihr Blickkontakt von seinem Raben unterbrochen wurde. Mit einem zufriedenen Krächzen ließ sich das Tier auf den Schultern seines Besitzers nieder.
April musste nach Luft schnappen. Das bedrückende Gefühl hatte sie immer noch nicht verlassen. Sie konnte sich nicht erklären, woher dieser stechende Schmerz in ihrer Brust kam und warum es immer kam, wenn sie diesen Jungen sah.
Es war, als würde ihr Herz um Hilfe schreien. Sie fühlte sich bedroht.
Ihr nächster Gedanke war, einfach weiterzugehen, doch ihre Beine wollten sich nicht fortbewegen.
Oder hielt er sie hier fest?
Verwirrt schüttelte sie den Kopf.
Was war nur falsch mit ihr?
Wieso überfiel sie nur immer diese Angst, wenn sie ihn sah, wenn sie seinen Raben sah?
April hatte ihren Blick immer noch nicht von ihm abgewandt. Er seinen auch nicht von ihr. Er schien sie abzuschätzen, als wollte er wissen, was sie nun als nächstes tun würde.
Ausdruckslos starrte er sie an.
Samuel Harth hatte, seit sie sich das erste Mal gesehen hatten, diesen Einfluss auf sie.
Es war vielleicht ein Jahr her. Sie war spät abends noch einmal am Strand spazieren gewesen und da hatte sie ihn gesehen.
Genauso wie jetzt hatte er sich auf die Bank gelungert und sie abschätzend beobachtet, seinen Raben auf seiner Schulter sitzend. Und sie hatte sofort die Angst und Abneigung ihm gegenüber gespürt.
Eigentlich hätte ihr das nicht viel ausmachen dürfen.
Samuel war älter als sie, also ging er nicht in die gleiche Klasse wie sie. Sie musste einfach nur die Wege durch das Schulgebäude meiden, die er nehmen würde. In der Cafeteria setzte sie sich in die andere Ecke des Raumes. Und nachmittags war sie zusammen mit Kelly unterwegs.
Es gab nur eine klitzekleine Kleinigkeit, die sie ihn öfter sehen ließ, als ihr lieb war: Drake und Samuel waren befreundet.
Es war zwar keine so tiefe Freundschaft, wie Drake sie mit Seth hatte, doch sie war tief genug, dass Samuel ab und zu bei ihnen zu Besuch war. Wenn er dann bei ihnen war, verschanzte April sich in ihrem Zimmer. Wenn sie zum Essen gerufen wurde, sagte sie, dass sie keinen Hunger hatte.
Und das alles nur, um Samuel aus dem Weg zu gehen.
Und dabei hatte er ihr nicht einmal etwas getan, geschweige denn ein einziges Mal wirklich mit ihr geredet.
Erneut schrie der Rabe auf und zuckte mit seinen Flügeln. Er richtete sich leicht auf, sodass er größer wirkte, doch er blieb immer noch auf Samuels Schulter.
Genau das weckte April aus ihrer Trance. Sie schüttelte leicht ihren Kopf und setzte den ersten Schritt. Ihre Beine fühlten sich an wie Wackelpudding.
Jetzt bloß nicht umfallen... ermahnte sie sich.
Sie musste einfach weitergehen. Sie musste ihn wieder aus ihrem Leben ausblenden, so wie sie es nach jedem Zusammentreffen mit ihm tat. Ihn einfach vergessen, vergessen, dass er diese Macht auf sie ausübte.
Sie wandte ihren Blick ab, ließ ihre langen Locken in ihre Sicht gleiten, sodass sie ihn nicht mehr sehen konnte.
Ihr Herz raste immer noch wie verrückt, als wolle es aus ihrer Brust springen und sich in Sicherheit bringen. Die eiskalte Hand zog sich enger zusammen. Das konnte nur bedeuten, dass...
„Wohin soll‘s denn gehen?“, fragte eine melodische, tiefe Stimme in ihrem Nacken. April erstarrte. Er war doch tatsächlich an sie herangetreten.
Er hatte sie angesprochen. Das hatte er vorher erst ein paar Mal getan und dann auch nur aus Höflichkeit, weil Aprils Eltern dabei waren. Denn niemand wusste von den Schmerzen, die sie erlitt, wenn Samuel in ihrer Nähe war. Sie traute sich nicht, es jemandem zu sagen. Sie könnte es Drake sagen, doch er war Samuels Freund und am Ende würde er noch auf die Idee kommen, dass sie in Wirklichkeit total in ihn verschossen war und einfach nicht mit dieser Situation umgehen konnte.
„Ich gehe...“, fing sie an, doch dann überlegte sie es sich anders. Sie drehte sich zu ihm um, ignorierte den Aufschrei ihres Herzens, dass sie wegrennen sollte und sagte mit erstaunlich fester Stimme: „Ich wüsste nicht, was dich das angeht“,
Ausdruckslos sah er zu ihr herab. Er stand ihr ganz nah. Sie konnte sogar seinen Atem auf ihren Wangen spüren. Er roch nach Pfefferminz und Salz. Und, obwohl sie es ganz und gar nicht wollte, so musste sie zugeben, dass er wirklich gut aussah. Sie war sich sicher, wäre sie nicht vor Angst gelähmt, so wäre sie es, weil er so umwerfend aussah.
Es war das erste Mal, dass sie ihn wirklich aus nächster Nähe betrachten konnte. Ihr war nie aufgefallen, dass seine Pupillen einen silbrigen Glanz hatten. Es sah fast so aus, als wäre er blind. Doch das war er nicht. Das spürte man, soweit sein Blick einen gefangen hatte.
Doch seine Augen fesselten sie dieses Mal nicht annähernd so sehr, wie die Narbe, die sich über seine linke Wange zog. Sie war ihr noch nie aufgefallen, so unscheinbar war sie. Woher er sie wohl hatte? Vielleicht von seinem Vater, denn er hatte mal behauptet, der hätte ihn geschlagen, bis er von zu Hause weggelaufen war.
Offenbar war ihm ihr Blick aufgefallen, denn er wandte sein Gesicht so ab, dass sie die Narbe nicht mehr sehen konnte.
Sein Rabe saß immer noch auf seiner Schulter und musterte sie interessiert. Wieso hielt er sich einen Raben? Warum konnte er sich kein normales Haustier zulegen, wie einen Hund, oder einen Goldfisch. Musste es ausgerechnet ein Rabe sein?
„Dann wünsche ich dir mal viel Spaß“, murmelte er. Er sah sie nicht mehr an, als er sich den Zahnstocher aus dem Mund nahm und ihn in den Sand warf. In der gleichen Bewegung drehte er sich von ihr weg und ging zurück zu der Bank, auf der er vorher gesessen hatte. Er nahm seine Jacke und warf sie sich über die Schulter.
Nur der Vogel sah ihr hinterher. Samuel ging einfach seelenruhig davon, als ob würde es ihn nicht im Geringsten stören, dass er sie so verschreckt hatte. Und dass sie Angst hatte, wusste er.

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Tag der Veröffentlichung: 22.09.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Jedem, der dazu bereit ist, über die Geschichte und den Gedanken dahinter nachzudenken

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