Ein entfernter Donnerschlag. Die Reifen rollen über den nassen Asphalt. Catharina hat den Kopf ans Fenster gelehnt. Sie ist den ewigen Regen leid. Aber mehr noch ist sie es leid diese Menschen noch weiter sehen zu müssen. Ständig finden sie Probleme wo eigentlich keine sind, ständig wollen sie ihr ihren Stempel aufdrücken. Das macht sie krank. Ihre Mutter nörgelt der Vater habe eine unmögliche Krawatte an, welche auf keinen Fall zum Hemd passe, Ihr Vater beschwert sich, dass die Mutter mit so viel Schminke wie ein Clown wirke. Neben Ihr auf dem Rücksitz sitzt, mit seiner Spielekonsole beschäftigt, ihr kleiner Bruder der alle fünf Minuten fragt wann sie denn da sind. Es ist nicht auszuhalten. Sie sind auf dem Weg zu einer Feier. Ihr Vater, ein wichtiger Mann, soll ein paar Worte zur Einweihung des neuen Theaters sagen. Ein schreckliches Gebäude riesig und plump. Ein moderner Betonbau. Ebenso hässlich und unpassend wie sich Catharina in dem rosa geblümten Kleid fühlt dass ihr ihre Mutter aufgedrängt hat. Sie ist ja wirklich nicht groß aber in dem kitschigen Kleid und mit der niedlichen Schleife im kurzen, roten Haar sieht sie aus wie ein Kleinkind. Sie stehen zwischen affektiert grinsenden Menschen während Ihr Vater ans Podium tritt. Die Eltern haben sich die ganze Fahrt gestritten und der Vater hat noch immer ein leicht gerötetes Gesicht. Er erzählt etwas von Kultur und alten Werten in der heutigen Zeit. Catharina schaltet alle Geräusche ab und konzentriert sich darauf interessiert zu wirken. Ihr Vater beginnt zu stocken. Die Mutter wird nervös und gestikuliert er solle doch weiterreden. Plötzlich sieht man wie er um Luft ringend zu Boden geht.
Am nächsten Tag, es ist Samstag, geht Catharinas Mutter mit dem Sohn an der Hand einen Krankenhausflur hinab. Im Stechschritt natürlich. Catharina eilt so gut es geht hinterher. Sie betreten das Zimmer ihres Vaters, er scheint erfreut zu sein sie zu sehen. Doch nach einigen freundlichen Worten gehen die Streitereien schon wieder los. Zuhause nur Geschrei, im Krankenhaus nur Streit, ansonsten Schweigen. Die Diagnose des Arztes war ein Nervenzusammenbruch. Insgesamt nichts Wildes. Ein wenig Ruhe und Frieden sollte genügen und in etwa zwei Wochen wäre der Vater wieder so belastbar wie früher. Wie oft hatte Catharina schon mit ihren Eltern geredet. Wie oft hatte sie nicht schon geweint und gebeten die Eltern sollen sich doch wenigstens helfen lassen wenn sie es allein nicht schafften. Nach vier Jahren des Bittens und Flehens, des Hoffens auf Harmonie oder zumindest Verständnis hat sie irgendwann aufgegeben. Unter dem Vorwand in die Krankenhauskantine zu wollen geht sie leise aus dem Zimmer. Ohne Antrieb und ohne Ziel geht sie den langen Gang entlang. Sie möchte möglichst lange verschont bleiben von Ihren Eltern. Geistesversunken steckt sie sich den zweiten Ohrstöpsel ihres mp3-players ins andere Ohr. Die Musik läuft schon seit sie von Zuhause los sind. Das Lied das im Moment abgespielt wird ist etwas melancholisch. Trotzdem, oder vielleicht auch gerade deshalb mag Catharina dieses Lied schon immer. Es erzählt vom Leben und ob man sein eigenes nicht selbst in die Hand nehmen sollte. Mittlerweile ist dieses Lied nur noch traurig für sie. Selbst etwas bewirken zu können glaubt sie nichtmehr. Sie geht ein paar weitere Schritte und mitten im Lied hört das Gerät auf zu spielen. Catharina blickt auf die Anzeige. Der Akku ist leer. Niedergeschlagen zieht sie sich die Stöpsel wieder aus den Ohren. Da bemerkt sie etwas. Ein Stück weiter den Gang hinab meint sie eben dieses Lied zu hören. Allerdings nicht von einer Stereoanlage oder ähnlichem abgespielt. Da spielt jemand die auf einer Akustikgitarre. Zögerlich folgt sie den Klängen. Wieder und wieder versucht es der Spieler die Töne richtig zu treffen doch es gelingt ihm nie ganz. Schließlich steht sie vor einer Zimmertür, nur angelehnt. Aus diesem Raum kommt die Musik. Sie dreht den Kopf um in das Zimmer zu sehen. Im Krankenbett sitzt ein dunkelhaariger Junge in ihrem Alter mit einer Gitarre. Er ist allein und bekommt wegen seiner leicht zitternden Hände die Akkorde nicht ganz hin. Unbewusst hat Catharina sich weiter gegen die Tür gelehnt um mehr sehen zu können. Dadurch wird diese ein Stück aufgeschoben. Sofort hört der Junge auf zu spielen. „Ist da jemand?“, fragt er mit leiser Stimme. Catharina kommt sich unglaublich dumm vor. Wie kann sie nur jemand fremden so nachspionieren? Sie atmet einmal kurz tief durch und öffnet die Tür. „Ähm, ja. Hi. Ich bin so am Gang entlanggegangen und da hab ich dich spielen hören und naja, das komische war das du genau das gespielt hast was ich aufm mp3-player hatte bevor er abgekackt ist also…“ Catharina wird hochrot und schämt sich sofort für ihr wirres Gebrabbel. Skeptisch dreinblickend zieht der Junge eine Augenbraue nach oben. „Du kannst doch unmöglich den Mist den ich da zusammengespielt habe als Lied erkannt haben!“ er wirkt richtig niedergeschlagen. „War das nicht Drive von der Band Incubus?“ fragt Catharina vorsichtig. „Ähm doch, aber ich hab doch das Lied voll versaut... Seit ein paar Tagen kann ich nichtmehr richtig spielen.“ Und wieder wird sein Blick traurig und mutlos. Sie weiß nicht genau was sie tun soll. „Also entschuldige ich wollte dich echt nicht stören oder so. Ich denk ich verschwinde dann mal wieder.“ Wieder ändert sich sein Gesichtsausdruck „Ich weiß ja nicht ob das nicht zu aufdringlich ist, obwohl es wohl kaum aufdringlicher sein dürfte als ohne anzuklopfen ins Zimmer eines Fremden zu kommen, aber wenn du Lust und Zeit hast kannst du mir ja ein wenig Gesellschaft leisten.“ Er beginnt zu lächeln, doch irgendwie wirkt das eigenartig. Denn obwohl er ein schönes Lächeln hat, die tiefe Traurigkeit kann es nicht verdecken. Vielleicht ist es eben dieser Blick mit dem er sie jetzt ansieht, oder seine freundliche Art, aber überraschenderweise möchte sie sogar hier bleiben. „Klar gerne. Ich bin Catharina. Aber mit C nicht mit K!“ und wieder so eine Peinlichkeit. Am liebsten würde sie jetzt im Boden versinken. Wieso schafft sie es einfach nicht in seiner Gegenwart einen halbwegs reifen Satz auf die Reihe zu kriegen? „Catharina aha… Klingt irgendwie so steif. Cat wäre wohl passender so wie du dich hier reingeschlichen hast!“ Und genau da hat er Recht. Sie konnte ihren Namen noch nie wirklich leiden. Und heute hört sie zum ersten Mal einen Spitznamen der ihr gefällt. „Und wie soll ich dich nennen?“, fragt sie. „Oh wie unhöflich von mir ich bin Adrian.“ Ein sehr schöner Name. Passend für ihn. „Magst du dich nicht zu mir setzen?“ Er deutet auf einen Stuhl neben seinem Bett. Etwas unbehaglich setzt sie sich. „Also Catharina… “ „Ähm“, unterbricht sie, „du darfst mich ruhig Cat nennen wenn du das möchtest. Du hast vollkommen recht mit dem was du da gerade über meinen Namen gesagt hast.“ Verschämt blickt sie ihn an. „Na gut Cat, ich merke du hast einen ausgezeichneten Musikgeschmack! Was hörst du denn noch so?“ Er scheint jetzt ganz unbeschwert mit ihr zu sprechen aber Cat meint fast eine Art Schatten in seinem Gesicht zu sehen. Sie kann es nicht einfach als unwichtig abtun. Es beschäftigt sie sogar noch als sie nach über einer Stunde des Gesprächs wieder mit ihrer Mutter nach Hause fahren muss. So sehr das sie sich verspricht wieder bei Adrian vorbeizuschauen.
Am Montag sitzt Cat in der Schule und kann sich nicht recht konzentrieren. Immer wieder schweifen Ihre Gedanken zu Adrian der jetzt womöglich alleine in seinem Krankenzimmer sitzt und wieder und wieder versucht spielen zu können wie vorher. Sie muss der Sache auf den Grund gehen. Einige ihrer Mitschülerinnen bemerken dass sie abwesender als sonst wirkt. In der Pause sprechen sie sie darauf an. „Hey Catta was ‘n los? Du machst ja heute noch mehr auf Außenseiter als sonst sowieso schon! Ist ja nicht zum Aushalten mit dir. Kannst dich nicht mal bisschen einfügen?“ „Ach lasst mich doch!“ ist ihre Antwort und sie will der Gruppe Mädchen ausweichen, sie umgehen. „Oder kann es sein das unser kleiner Freak verknallt ist?“ Sie fangen an zu kichern und zu gackern und über dutzende Belanglosigkeiten zu schwätzen. In den letzten Schulstunden denkt sie immer wieder darüber nach ob sie nicht ins Krankenhaus sollte. Allerdings nicht zu ihrem Vater, mit dem hatte sie seit einiger Zeit kaum ein Wort gewechselt, zu Adrian wollte sie.
Auf dem Weg nach Hause, macht sie sich Gedanken darüber ob das alles richtig ist. Ist es falsch den Vater nicht zu besuchen? Das einzige was sie die letzten Jahre von ihm zu hören bekommen hatte waren Vorwürfe und Unterstellungen. Wieso sie nicht sein könne wie jedes andere Mädchen in ihrem Alter. Sie tue das ja nur um Aufmerksamkeit zu bekommen und um ihre Zukunft schere sie sich nur einen Dreck. Verantwortung zeigen könne sie nicht. Ihre Mutter steigt bei solchen Gesprächen, obwohl man sie kaum als solche bezeichnen kann, gerne mit ein. Faul, unzuverlässig und keinen Geschmack. Aber was ist so schlimm daran sich die Haare rot zu färben oder gerne schwarz zu tragen? Nein sie würde ihren Eltern definitiv nicht länger entgegenkommen. Von ihnen wurde sie ja nur als Ventil für den Alltagsstress, als Sündenbock, missbraucht. Die zweite Frage die sich ihr stellt ist was sie sich davon erhofft Adrian wiederzusehen. Hat sie Mitleid mit ihm? Hat sie sich spontan mit ihm angefreundet? Sich vielleicht sogar in ihn verliebt? Sie überdenkt das genauer. Nein Mitleid ist nicht der Grund dass sie ihn wiedersehen will. Angefreundet… dessen war sie sich fast sicher. Auch wenn ihr das sehr kindisch vorkommt, wie zu Kindergartenzeiten als man einfach beschlossen hat: „Du und ich wir sind jetzt Freunde!“ Bei dem Gedanken muss sie lächeln. Mittlerweile steht sie schon vor der Haustür. Sie sperrt auf und eilt nach oben in ihr Zimmer, donnert die Tasche in die Ecke und wirft sich seufzend aufs Bett. Bleibt noch drittens. Hat sie sich tatsächlich in einen Jungen verliebt von dem sie nichts weiß außer seinen Namen? Möglich. Aber auch wahrscheinlich? Sicher ist sie sich in jedem Fall ganz und gar nicht! Aber mit ihm zu reden ist so leicht. Sie hat das Gefühl er versteht was sie sagt voll und ganz und auch welche Gefühle und Gedanken hinter ihren Worten stehen. Lange hat sie sich nichtmehr so aufgehoben gefühlt. Mit einem weiteren Seufzer steht sie auf und geht die Treppe hinunter, durchquert den Flur und die Küche und steht schließlich im Wohnzimmer. Keine Spur von ihrer Mutter. Ist sie also wieder einmal weg. Für ihren Bruder bereitet sie heute kein Mittagessen zu, er ist bei einem Freund. Nun gut, also steht ihr nichts im Weg Adrian zu besuchen. Außer ihren eigenen Zweifeln vielleicht.
Sie atmet einmal tief durch und entschließt sich nach langem hin und her dazu jetzt nicht abzuhauen. Zögerlich klopft sie an. „Herein!“ Er hört sich überrascht an. Zunächst öffnet Cat die Tür einen Spalt weit und reckt vorsichtig den Kopf hindurch „Hi, ich hoffe ich stör dich nicht?“ Adrian macht eine Geste die den ganzen Raum einschließt. „Ich kann hier ja nicht mal irgendwas machen, bei dem eine Störung nicht erwünscht wäre. Es ist einfach öde hier. Aber jetzt bist ja du da. Oder hast du nur gedacht wieder etwas gehört zu haben?“ Ein müdes Lächeln erscheint auf seinem heute etwas blassen Gesicht. Er sieht allgemein schlechter aus als vor zwei Tagen. Irgendwie kränker. Wieder sitzt er im Bett, das Rückenteil ist höher gestellt sodass er sich anlehnen kann. Er hat dunkle Schatten unter den Augen und hat sich unter der Decke irgendwie zusammengekauert. Seine Gitarre ist in einer Ecke des Zimmers an die Wand gelehnt. „Möchtest du dich setzen?“ Er zeigt auf einen Stuhl neben seinem Bett, da sieht Cat dass er Gänsehaut hat. „Dir ist kalt nichtwahr?“, fragt sie. Dabei nimmt sie die zweite Decke die auf dem Stuhl liegt in beide Hände und faltet sie ein Stück auf. „Naja, ein wenig, aber du musst doch nicht…“ Und schon beugt sie sich halb über ihn, die nun komplett entfaltete Decke in Händen. „Darf ich?“, fragt sie und blickt ihm in die Augen. Er zieht die Augenbrauen zusammen und greift sanft nach Cats Hand. Seine Hand fühlt sich kühl an. „Das musst du doch nicht machen.“ Er sieht echt bedrückt aus. „Ich möchte aber“, und damit deckt sie ihn zu, „ außerdem machen Freunde so etwas. Ich will ja auch nicht herzlos klingen, aber ich denke du bist nicht grundlos hier und ein wenig Hilfe hat noch keinem geschadet.“ Während sie das sagt zupft sie die Decke noch ein wenig zurecht und macht es sich in dem Stuhl neben seinem Bett gemütlich. Sein Gesichtsausdruck verändert sich von überrascht, kurz zu erfreut und schließlich besorgt. Er starrt auf das Fußende des Bettes und scheint für einen Moment völlig in seine Gedanken versunken zu sein. „Cat versteh mich bitte nicht falsch, ja?“, beginnt er schließlich, „Aber ich weiß nicht ob es… gut für dich ist mit mir befreundet zu sein. Du kommst mir nicht vor wie ein Mensch den es kalt lässt wenn… einem Freund etwas geschieht.“ Sein entschuldigender Blick bringt Cat schließlich völlig aus dem Konzept. „Bin ich dir zu voreilig? Ist es weil wir uns kaum kennen? Vielleicht sollte ich eine Freundschaft nicht so leichtfertig nehmen, aber du bist der Erste mit dem ich, seit über einem Jahr, richtig reden konnte! Du bist der einzige Freund, den ich habe!“ Entsetzt schlägt sie sich beide Hände vor den Mund. Das hat sie gerade nicht wirklich gesagt oder? Zu allem Überfluss spürt sie wie zwei kleine Tränen über ihre Hände laufen. Mit vor Überraschung großen Augen, sitzt Adrian im Bett. „Ich… es, es, tut mir leid.“ Stottert Cat mit leiser Stimme. Zumindest schluchzt sie nicht, wie sie bitter feststellt. Weiter kann sie im Moment nichts sagen. „Ach Cat, nimm es doch nicht auf dich, wenn ich deine Gefühle mit Füßen trete. Ich glaube allerdings du weißt was ich meine wenn ich sage, wir beide sind einfach irgendwie kaputt. Oder?“ Kurz muss sie überlegen, dann nickt sie. Ja sie weiß wie er das meint. Er rutscht ein Stück zur Seite, sodass Platz für zwei entsteht. Behutsam klopft er auf den freien Platz neben sich. „Magst du dich zu mir setzen?“ Wieder nickt Cat, noch immer peinlich berührt davon, so ausgerastet zu sein. Zaghaft setzt sie sich neben ihn auf das Bett, zieht dann sogar ihre Schuhe aus und sitzt schließlich direkt neben ihm. Nur die Decken trennen sie. Es ist ein eigenartiges Gefühl ihm so nah zu sein, jedoch nicht unangenehm. Nur ungewohnt. Gerade als die Stille zu lang zu werden droht, fängt Adrian wieder an zu sprechen. „Das hört sich zwar jetzt alles sehr melodramatisch an aber ich denke wenn ich dir meine Geschichte erzähle verstehst du wie ich das vorhin gemeint hab. Ich möchte mich auch dafür entschuldigen nur an mich gedacht zu haben, immerhin solltest du wenigstens die Wahl haben dürfen.“ Wieder dieses traurige Lächeln auf seinem Gesicht. Sie möchte ihn jetzt auf keinen Fall unterbrechen also beschränkt sie sich erneut nur aufs nicken. Ein tiefer Atemzug, dann fängt er an: „Gut dann ganz von vorne, die ganze Geschichte... Ich kam mit einem Herzfehler auf die Welt. Zunächst hieß es, es wäre nichts Dramatisches. War wohl eine Fehldiagnose wie es sich später herausstellte. Oder sie haben es mir verheimlicht. Ich weiß es nicht genau. Meine Mutter war allerdings schon immer sehr vorsichtig mit mir. Ich durfte nie lange nach draußen um mit den anderen Kindern zu spielen, obwohl ich mich gut fühlte. Irgendwann hieß es ich müsste mich zurücknehmen mit Sport was ich dann auch tat. Das war keine große Überwindung für mich. Ich war zehn Jahre alt, klein und dürr und habe Schulsport gehasst. In dieser Zeit hab ich angefangen Gitarre zu spielen. Ich hatte sie auf dem Dachboden entdeckt und seitdem war Musik mein Leben. Meine Mutter hat mir daraufhin einen Gitarrenlehrer engagiert. Als ich dann dreizehn wurde hat mein Lehrer gesagt ich wäre bereit, alleine weiter zu üben, denn er hätte mir nichts mehr beizubringen. Also erkundete ich die Welt der Musik, die so besser war als die meine, auf eigene Faust. Dort war ich frei, ich probierte verschiedene Musikrichtungen aus und was es mir wirklich angetan hatte war Rock und, das muss ich zugeben, auch ein wenig Klassik. Inzwischen war es um meine Gesundheit nicht mehr ganz so gut bestellt wie in meiner frühen Kindheit. Ich war schneller erschöpft und musste Medikamente nehmen. Meine Mutter war sehr besorgt obwohl ich ihr ständig versicherte mir ginge es gut. Viele Untersuchungen wurden gemacht und einmal im Monat sollte ich komplett durchgecheckt werden. Äußerst anstrengend für ein Kind, sowie auch für meine Mutter. Mit den Jahren häuften sich dann die Komplikationen und ich musste mich immer mehr einschränken. Ich fühle mich mittlerweile wie ein alter Mann. Ich darf zum Beispiel nur wenige Stufen steigen, schnelles Laufen und Fahrradfahren sind tabu, ich darf aber noch langsam schwimmen oder Spazieren gehen. Dann muss ich wiederum sehr aufpassen weil meine Sauerstoffsättigung hin und wieder in den Keller geht, genauso die Durchblutung. Also wenn es kalt ist darf ich draußen nur ausreichend bekleidet und wiederum nicht zu lange sein… Du siehst ich muss mir etliches Überlegen bevor ich auch nur einen Schritt tun kann.“ Mittlerweile hat er den Kopf zurückgelegt und starrt an die Decke. Er seufzt kurz, dann fährt er fort: „Und das alles bringt uns zum aktuellen Teil meiner Erzählung. Seit ungefähr eineinhalb Wochen fange ich immer öfter an zu zittern, ohne das mir kalt wäre und meine anderen Symptome haben nochmal zugenommen. Deshalb bin ich hier.“ Nun wendet er Cat das Gesicht zu. Erst jetzt wird ihr klar dass sie die ganze Zeit sein Gesicht beobachtet hat. Die Bewegungen seiner Lippen, der Ausdruck in seinen Augen, wenn ihn etwas bedrückt hat. “Du wirst eine Menge zu bedenken haben, jetzt wo du das gröbste weist.“, fügt er hinzu als Cat nichts sagt. „Wow“, rutscht es ihr raus. Etwas Besseres hätte ihr schon einfallen können. „Ich weiß, ich bin eine Freakshow und das mit noch nicht einmal achtzehn!“ Sein Lachen klingt bitter und humorlos. „Nein so meinte ich das nicht… Ich finde es erstaunlich, dass du mir das alles erzählt hast. Einem dummen, dahergelaufenen Mädchen das…“ Cat verstummt. Sie blickt ihn aus tiefen, blauen Augen an. „Adrian?“ Er ist erstaunt über den plötzlichen Umschwung. „Ja?“ „Ich danke dir.“ Erwidert sie. Plötzlich und heftig kommt ein Gefühl in ihr auf, dem sie sofort nachgibt und so gibt sie ihm einen Kuss auf die Wange. Zuerst wird er noch ein wenig blasser, anschließend rot. Vielleicht sollte sie sich ja schämen, aber sie tut es nicht. Ganz im Gegenteil, sie ist froh es getan zu haben. Sein erschrockener Gesichtsausdruck mit offen stehendem Mund und aufgerissenen Augen ist so lustig, dass sie einfach kichern muss. Sie wirft sich in die Kissen zurück und muss so heftig lachen, dass ihr Tränen in den Augen stehen. Schließlich fängt Adrian auch an zu lachen. Aber nicht wie zuvor. Nein, diesmal ist Freude der Grund, nicht Resignation. Nach einiger Zeit, Cat hat schon Bauchschmerzen vor Lachen, beruhigen sich beide wieder. „Das war schön, ich hab schon ewig nichtmehr so gelacht! Entschuldige, du hast so witzig ausgesehen!“ meint Cat. „Geht mir genauso, du hast mich eben einfach ziemlich überrascht!“ Irgendwie sieht Adrian jetzt besser aus. Er hat ein wenig Farbe bekommen und er scheint auch nicht mehr ganz so bedrückt zu sein wie am Anfang ihres Besuchs. „Danke Cat das du mich besucht hast. Ich weiß nicht was ich hier den ganzen Tag machen soll. Das Fernsehprogramm ist einfach mies und Gitarre spielen…“ Wieder sieht er geknickt aus. „Das macht dich echt fertig oder? Dir wurde etwas genommen das dir so viel Bedeutet. Es ist klar, dass man da trauert.“ Cat hat sich ihm Zugewandt, die Beine im Schneidersitz verschränkt. „Und… wenn ich fragen darf, wie sieht es denn mit den Therapiemöglichkeiten aus?“ Beim Gedanken an die Antwort die jetzt womöglich kommen wird, bekommt sie ein flaues Gefühl im Magen. Wie mag es ihm dann erst dabei gehen? „Es gibt keine. Keine die nicht schon versucht worden und fehlgeschlagen wäre. Die einzige Möglichkeit wäre ein Transplantat, aber ich denke ich stehe nicht allzu weit oben auf der Liste. Bis es irgendwann soweit kommt pushen sie mich mit Medikamenten gerade so hoch das ich einigermaßen funktioniere.“ Jetzt blickt er traurig auf seine Hände hinab. Cat tut es ihm gleich. Hin und wieder zittern sie ein wenig. „Adrian? Versuchst du es nicht noch einmal? Für mich?“ Er schaut ihr ins Gesicht und sie ist bemüht einen überzeugenden Hundeblick hinzubekommen. Sie sieht ihm an das er sich wiederwillig doch erweichen lässt. Außerdem ist da etwas anderes in seinem Blick, er wird irgendwie weicher, sie weiß allerdings nicht wie sie das deuten soll. „Aber nur weil du so einen Verdammt süßen Hundeblick drauf hast!“, grummelt er. Cat grinst breit. Gerade als er aufstehen will um seine Gitarre zu holen, springt Cat vom Bett und hat fast sofort das Instrument in der Hand. Behutsam trägt sie es zum Bett zurück und gibt es Adrian. Anschließend setzt sie sich wieder im Schneidersitz zu ihm. Diesmal allerdings weiter unten am Bett, um ihm Platz zu lassen. Erlegt seine Stirn in Sorgenfalten. Er wirkt nervös. Ist ja auch irgendwie verständlich, wenn er nicht weiß, ob er das was ihm am wichtigsten ist im Leben weiter ausüben kann. Mit der Nervosität werden die Zitterattacken auch heftiger und ihm gelingt es kaum die Gitarre richtig zu halten. Er sieht verzweifelt aus. Die Töne die er zustande bringt klingen verzerrt und unrein. Cat sieht es, je mehr er zittert, desto schlechter spielt er und die Wut darüber, dass es nicht klappt, löst heftigeres Zittern aus. Tränen der Wut und der Traurigkeit rinnen ihm über die Wangen. „Wieso klappt es einfach nicht?! Das ist mein Leben!“ Langsam und sanft legt Cat ihre Hände auf die seinen. Sie redet leise mit ihm. „Versuch es nicht so hart.“ Adrians entsetzter Gesichtsausdruck kann sie nicht zum Schweigen bringen. „Du verkrampfst dich zu sehr. Musik soll doch etwas Schönes sein und nicht anstrengend oder? Entspann dich, mach denn Kopf leer und lass zunächst einmal nur die Finger über die Saiten streichen.“ Er wirft ihr einen skeptischen Blick zu, versucht es aber dann doch. Er atmet ein paar Mal tief durch. Seine Hände zittern jetzt weniger. Unsicher sucht er Cats Blick. „Du schaffst es!“, ermutigt sie ihn. Sie drückt ihm noch einmal kurz die Hände und lässt sie dann los. Sie sitzt so nah bei ihm, dass er ihre Wärme durch die Decken spüren kann. Er schließt seine Augen. Langsam, zögerlich beginnt er etwas zu spielen. Eine ganz einfache, leise Melodie. Sie ist sehr beruhigend. Er spielt sie ohne ein Stocken, ohne Unreinheiten. Einfach wunderschön. Er setzt ab und öffnet langsam wieder die Augen. Wieder sieht er sie mit diesem weichen Blick an. Auf einmal wird ihr ganz warm und als er seine Gitarre auf dem Stuhl neben dem Bett abgelegt hat ergreift er sanft ihre Hand. Sie fühlt sich nichtmehr so kalt an wie zuvor. Etwas kühl ist sie dennoch. Sie legt noch ihre andere Hand obenauf und setzt sich wieder neben ihn. Diesmal ein wenig näher. Sie sitzen so noch eine ganze Weile. Reden über Hobbys, Schule, Filme und andere Dinge. Schließlich tauschen sie noch ihre Handynummern aus. Als Cat sich verabschiedet geht bereits die Sonne unter. „Dankeschön, es war sehr schön wieder mit dir zu reden.“ „Ich hab dir zu danken! Nachdem du hier zufällig hereingeschneit bist, hatte ich schon befürchtet dich nie wieder zu sehen.“ Er lächelt wieder und endlich ist es ein warmes, glückliches lächeln, dass so schön ist, dass sein Gesicht anscheinend nur dafür gemacht sein muss. Erneut fällt Cat auch dieser warme, sanfte Ausdruck auf der um seine Augen spielt, den sie nicht einzuordnen vermag. Sie verabschieden sich, doch Cat verspricht, Adrian bald wieder zu besuchen. Sie kann sich nicht zurückhalten und gibt ihm wieder einen Kuss auf die Wange. Daraufhin beginnt er breit zu grinsen, sie dreht sich noch einmal um, zwinkert ihm zu, dann schließt sich die Türe wieder. Als ein paar Minuten später seine Mutter das Zimmer betritt, trägt er noch immer ein breites Lächeln im Gesicht.
Auf dem Weg heimwärts fühlt sie sich auf seltsame Art leichter, als wäre ihr eine Last genommen. Oder als würde sie jemand gemeinsam mit ihr tragen. Gleichzeitig geht ihr allerdings so viel durch den Kopf, das sie das meint ihre verschiedenen Gedanken würden Tonnen wiegen. Leise sperrt sie die Haustür auf und hört sofort laute Stimmen aus dem Wohnzimmer. Eine Talkshow, in der sich zwei Frauen um einen Mann streiten. „Hi Mama.“ Cats Mutter sitzt zusammengesunken auf dem Sofa, einen Fuß auf dem Couchtisch und in der Hand eine geöffnete Weinflasche. „Wo warst du denn so lange Kind?“, ihre Aussprache leidet sehr unter dem Alkoholeinfluss. „Ein wenig unterwegs. Mama wo ist Tommy? Du hast doch nicht vergessen ihn abzuholen oder?“ Seltsam das ihr kleiner Bruder noch nicht da ist. „Nee. Nein, nein, nein… Vergessen nicht… denk ich.“ Während sie das sagt schläft sie fast ein. Cat geht in die Küche, schnappt sich das Telefon und ruft bei dem Freund ihres Bruders an. Es stellt sich heraus, dass Tom bei seinem Freund übernachtet da morgen ein Schulausflug ansteht zu dem sich die Klasse sowieso erst um neun trifft. Gut kein Thema also. Ihr Vater im Krankenhaus ist auch gut untergebracht, fehlt also noch die Mutter. Cat sieht auf die Uhr. Schon fast halb neun. Sie nimmt sich ein Joghurt und eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank und einen Apfel aus dem Obstkorb. Sie legt alles auf die Küchentheke. Dann sieht sie wieder nach der Mutter im Wohnzimmer. Die ist in der Zwischenzeit weggedöst was sich leicht durch das lautstarke Schnarchen feststellen lässt. Cat tritt zwischen Couch und Fernseher. Heute waren es wieder zwei. Eine leere Flasche Wein liegt am Boden, in der anderen, noch immer in der Hand der Mutter, ist auch fast nichts mehr. Sie stellt beide Flaschen auf den Tisch, packt die Beine ihrer Mutter und legt sie gerade aufs Sofa. Dann steckt sie ihr ein Kissen unter den Kopf und deckt sie zu. Sie ist so betrunken das sie überhaupt nichts mitbekommt. Wer weiß was sie getrunken hat bevor sie heimgekommen ist. Weil Cat keine Lust hat später vielleicht noch den Teppich sauber machen zu müssen, holt sie einen alten Eimer den sie neben dem Kopf der Mutter auf den Boden stellt. Sie schaltet den Fernseher aus, stellt die Flaschen in die Küche und verschwindet mit den Sachen aus dem Kühlschrank nach oben in ihr Zimmer. Als sie sich auf ihr Bett sitzt beginnt die Fassade zu bröckeln. Ihre Unbekümmertheit hat sie sich nur selbst vorgemacht. Es geht bergab mit ihrer Familie, dessen ist sie sich sicher. Die Mutter betrinkt sich, der Vater riecht nach dem Parfüm fremder Frauen, wenn er heim kommt und selbst ihr kleiner Bruder wird zum bestechlichen Materialisten herangezogen, der mit Spielzeug anstatt Liebe ruhig gestellt wird. Cat fühlt sich verloren. Sie denkt an frühere Zeiten, versucht sich daran zu erinnern als alles noch in Ordnung war. Sie legt die Stirn in tiefe Falten, war es denn je in Ordnung? Sie geht zum Schrank, öffnet ihn und ganz oben, in der Ecke, steht ein kleiner Schuhkarton. Darin bewahrt Cat alles auf, dass ihr etwas bedeutet. Fotos, kleine Andenken, Karten und Briefe. Sie hat sie sich schon ewig nichtmehr angesehen. Was sie als erstes aus dem bunten Haufen fischt, ist das Foto, das an ihrem vierten Geburtstag gemacht wurde. Cat kann sich nicht mehr daran erinnern, aber auf dem Foto ist es deutlich zu sehen. Ein kleines Mädchen pustet vier Kerzen aus, die auf einem Kuchen stehen. Damals waren sie glücklich oder? Sie blickt in die Gesichter ihrer Eltern, doch obwohl sie lächeln scheinen sie nicht glücklich zu sein. Sie kramt weiter in der Kiste. Sie sieht sich jedes Foto ganz genau an und immer wieder taucht der gleiche Gesichtsausdruck auf den Gesichtern ihrer Eltern auf. Krampfhaft glücklich wirken, heile Welt spielen. Irgendetwas stimmt da nicht. Cat verschließt die Schachtel, nimmt sie mit zum Bett. Sie lässt sich auf die Matratze sinken und nimmt einen Schluck Wasser. Ihre Kehle ist wie zugeschnürt. Auf keinem der Familienfotos scheinen sie glücklich zu sein. Was hat die Eltern so belastet? Reichen die Probleme ihrer Familie tiefer als sie bisher immer geglaubt hat? Hat das alles schon so früh begonnen? Gedankenverloren lässt sie den Blick durch ihr kleines Zimmer schweifen. Auf dem Boden liegt noch ein Foto, es muss wohl ausversehen aus der Schachtel gefallen sein. Sie steht auf und hebt es auf, setzt sich wieder auf das Bett und betrachtet es. Der Urlaub auf Rügen vor elf Jahren. Sie war einige Wochen zuvor sechs geworden und stolz in die Schule zu kommen. Ihr Bruder war noch ein Kleinkind, konnte gerade laufen. Auf dem Bild steht ihr Bruder im Sand, in der rechten Hand eine kleine Schaufel. Links und rechts von ihm sind ihre Eltern, beide haben sanft einen Arm um ihren Jüngsten gelegt. Sie steht in Stück hinter den beiden, möchte sich irgendwo dazustellen, damit sie alle eine Einheit bilden. Nirgendwo findet sie Platz. Cat erinnert sich daran. Jetzt wo sie das Bild sieht erinnert sie sich. Sie hat Bunte Muscheln gefunden und möchte sie dem Vater zeigen, doch der liest nur in seiner Zeitung. Sie läuft zur Mutter, aber die hat nur Augen für den Sohn. An einem anderen Tag laufen sie am Strandkiosk vorbei und sie fragt ganz höflich ob sie ein Eis haben darf. Ihre Eltern haben den Sohn an der Hand und laufen vornweg. Ungehört, ungesehen. Den ganzen Urlaub lang. Bilder strömen jetzt auf sie ein, vergessen geglaubte Erinnerungen und alle sind ein weiterer Stich im Herzen. Cat liegt zusammengerollt auf ihrem Bett, keuchend, schluchzend und zitternd, ringt sie um Luft. Ihre Familie ist nur eine Illusion. Auf ihrem Nachttisch vibriert ihr Handy. Sie hat eine sms bekommen. Sie überlegt wer ihr denn schreiben würde. Adrian? Hoffnungsvoll sieht sie auf das Display. Tatsächlich! Mit zittrigen Fingern drückt sie auf Öffnen. Da steht: „Hi Cat! Kann nicht schlafen. Fernsehprogramm ist langweilig. Hoffe ich hab dich nicht geweckt? Was machst du so? Liebe Grüße Adrian“ Sie drückt auf Antworten und tippt auf ihrem Handy: „Hi Adrian. Oh Mann das glaub ich dir. Nee, nee, bin noch munter. In Erinnerungen kramen… und du? Liebe Grüße Cat“ Sie lässt sich, das Handy noch immer in der Hand, zurück in die Kissen fallen und schließt die Augen. Einen Moment später vibriert das Handy wieder. Sie liest: „Munter wie wach oder auch wie gut drauf? Will mich ja nicht einmischen aber du würdest sie lieber wegsperren oder? Kann natürlich sein dass ich mich irre, ich will dich ja auch nicht nerven oder so! Um ehrlich zu sein, das Einzige, dass ich mache seit du weg bist ist an dich denken…“ Cat ist erstaunt. Er hat den Nagel auf den Kopf getroffen. Sie überlegt sich wie ehrlich sie sein soll. Ihn jetzt mit ihren Problemen zumüllen scheint ihr nicht richtig. Aber ihn belügen möchte sie erst recht nicht. Außerdem ist er von selbst auf diesen Gedanken gekommen und es kommt ihr vor als hätte das etwas zu bedeuten. Also antwortet sie: „Um ehrlich zu sein gerade mal wach. Wenn sich bei mir jemand einmischen darf, dann du. Damit hast du absolut Recht. Gerade sind Sachen hochgekommen, die so lange ganz unten waren, dass ich sie fast vergessen habe. Du nervst mich nicht, um die Wahrheit zu sagen beruhigt es mich wenn wir schreiben.“ Sie hält inne. Was sie auf die letzte Zeile antworten soll weiß sie nicht recht. Unwillkürlich stellt sie sich vor wie Adrian jetzt alleine in seinem Zimmer ist und auf die nächste Nachricht wartet. Also schreibt sie einfach am Schluss: „Vielen Dank, du weißt gar nicht wie viel mir das bedeutet “ Eine Weile schicken sie sich noch sms hin und her bis sie beide beschließen jetzt besser schlafen zu gehen. Cat fühlt sich ein klein wenig beruhigt. Dennoch schafft sie es lange Zeit nicht zur Ruhe zu kommen. Nach zwei oder drei Stunden kann sie doch einschlafen, da ihr bewusst wird, dass es anscheinend wenigstens einen gibt, auf den sie sich verlassen kann.
Am nächsten Morgen wird Cat nicht von ihrem Wecker sondern ihrem knurrenden Magen geweckt. Ihr fällt ein, dass sie das letzte Mal gestern in der Schule gegessen hat. Sie Löffelt schnell das unangetastete Joghurt, den Apfel isst sie auf dem Weg nach unten. Ihre Mutter scheint noch genauso dazuliegen wie Cat sie gestern Abend zurückgelassen hat. Noch immer schläft sie. Bevor Cat in die Schule geht, räumt sie noch ein wenig auf. Als sie fertig ist, packt sie ihre Büchertasche für den heutigen Tag. Sie wirft noch einmal einen Blick auf ihre Mutter, dann verlässt sie das Haus. Draußen ist es kühl, Cat fröstelt. Zügigen Schrittes macht sie sich auf den Weg. Um sie herum gesellen sich immer mehr Schüler zu kleinen Grüppchen zusammen, die fröhlich schnatternd vor sich hin tratschen. Sie geht alleine. Wie immer. Selbst als um acht Uhr die Glocke klingelt und der Unterricht beginnt, kann sie sich nicht konzentrieren. Sie ist keine schlechte Schülerin, Mittelfeld, weder sonderlich gut, noch schlecht. Unauffällig eben. Es scheint wirklich als würde sie niemand bemerken, als die Pause beginnt strömen Schülerscharen durch die Schulflure, doch keiner würdigt sie eines Blickes. Keine freundschaftliches „Hallo“, kein freundliches Winken. Nur leerer Raum. Es ist ein klein wenig wärmer geworden, jedoch kalt genug, dass die meisten anderen Schüler es vorziehen im Haus zu bleiben. Cat sucht sich einen Platz an dem sie ungestört ist, sie muss nachdenken. Seit gestern hat sich etwas bei ihr verändert. Die kleine Seifenblase die sie sich noch aufrechterhalten konnte ist endgültig und unwiderruflich geplatzt. Sie ist nicht sicher, was die Ursache des Ganzen ist. Haben die starken Gefühle den Schleier gelüftet mit dem sie sich bisher umgeben hat? Ist es ihr jemals so schmerzlich bewusst gewesen, völlig alleine zu sein? Niemanden mehr zu haben? Aber halt. Sie darf jetzt nicht nur die eine Seite sehen. Wer hat denn diese verwirrenden Gefühle in ihr geweckt? Adrian, dieser seltsame, aufrichtige Junge. Sie spürt klar, dass ihr Leben sich wandelt, aber das diese Veränderung nur eine gute Seite hat, wagt sie stark zu bezweifeln…
Quälend langsam geht der Schultag vorbei. In den letzten zwei Stunden hat Cat Sport. Die Sportlehrerin hat für heute Volleyball vorgesehen. Nachdem alles aufgebaut ist, sollen die Mädchen zwei Teams bilden, ausgerechnet mit den größten Zicken, kommt Cat in eine Mannschaft. Eine Mädchenclique hat es besonders auf sie abgesehen. „Du bei uns? Wehe du stehst mir im Weg!“ Die sind wie ein Rudel Hyänen und Ihre Anführerin ist am Schlimmsten. Nadja. Sie ist groß, hübsch, hat eine tolle Figur und lange blonde Haare. Um sie herum stehen immer mindestens drei andere Mädchen, die sie anhimmeln. Die reinsten Schoßhündchen. Die Lehrerin pfeift das Spiel an. Nach einiger Zeit kommt der Ball auf Cat zu und gerade als sie annehmen will, springt Nadja von der Seite dazwischen, wobei Cat stürzt und hart auf dem Boden aufschlägt. Langsam setzt sie sich auf. Ihr ist etwas schummrig zumute. Die einzige Reaktion, die die Sportlehrerin zeigt, ist Cat mit einem Wink vom Spielfeld zu schicken. Cat hat es satt, sie geht direkt in die Umkleide, zieht sich um und geht. Ihr ist es egal welche Konsequenzen das noch haben könnte. Sie hat absolut keine Lust jetzt nach Hause zu gehen, heute läuft sowieso nichts wie es soll und dann noch mit der Mutter streiten? Das was sie letzte Nacht festgestellt hat, als sie die Bilder betrachtet hat hängt ihr auch noch nach. Cats rechte Gesichtshälfte fängt langsam an weh zu tun. Sie ist mit der Wange ziemlich hart aufgeprallt. Vielleicht hätte sie sich das doch im Spiegel einmal ansehen sollen. Aber in dem Moment war ihr alles egal, sie wollte nur raus da. Als sie an einer roten Ampel stehen bleiben muss, blickt sie auf. Unbewusst hat sie nicht die Abzweigung genommen, die direkt zu ihrem Zuhause führt, sondern den Weg zum Krankenhaus. Noch hat sie keinen großen Umweg gemacht. Sollte sie lieber sofort umkehren? Als die Ampel grün wird, entscheidet sie sich für dass, was ihr heutiges Motto zu sein scheint. Egal nur weg. Also geht sie weiter ins Krankenhaus. Unterwegs beschließt sie bei ihrem Vater vorbeizusehen nur kurz, der Höflichkeit halber und vielleicht damit sie kein schlechtes Gewissen hat. Aber bei so einer Familie auch noch selbst ein schlechtes Gewissen zu bekommen, das ist schon eine Leistung. Leise klopft sie an der Tür des Vaters an, sie möchte ihn ja nicht wecken, falls er schläft. Langsam schiebt sie die Tür auf und lugt in den Raum. Da sitzt eine fremde Frau mit im Bett ihres Vaters. Sie küssen sich. Ungehalten. Eilig schließt Cat die Tür. Haben sich die Vermutungen also bestätigt. Sie ringt Tränen der Wut nieder und findet sich schon vor Adrians Zimmer wieder. Sie ist heute früher hier als das letzte Mal, wohl deshalb hat sie eine gewisse Angst, außer Adrian könnte noch jemand in dem Zimmer sein. Sie blickt sich kurz auf dem Gang um, doch niemand ist zu sehen. Vorsichtig legt sie ihr linkes Ohr an die Türe. Leises Spielen einer Gitarre dringt zu ihr. Sie schmunzelt. Er hat also nicht aufgegeben. Anschließend klopft sie an. Sie meint ein „Herein“ zu hören, in dem eine gewisse Hoffnung mitschwingt. Sicher ist sie sich nicht. Diesmal kommt sie ohne zu zögern ins Zimmer. Adrian blickt sie direkt an. „Verdammt Cat was ist denn mit dir passiert?!“ Er sieht entsetzt aus. Sie fasst sich an die rechte Wange und zuckt vor dem stechenden Schmerz sofort zurück. Sie hätte nicht Gedacht, dass es so anschwellen würde. Hastig legt Adrian die Gitarre weg und streckt eine Hand nach Cat aus. „Lass mal sehen.“ Beschämt wendet sie sich ab, setzt sich jedoch trotzdem zu ihm aufs Bett. Schweigend lässt sie es zu, wie Adrians kühle Finger sehr sanft über ihre Wange gleiten. Langsam, fast bedächtig steht er auf geht zum Waschbecken, nimmt einen Waschlappen von dem Stapel mit frischer Krankenhauswäsche, hält diesen unter den Wasserhahn und legt ihn Cat vorsichtig an die Wange. Sie nimmt ihn selbst in die Hand wobei sich die Hände der beiden kurz berühren. Durch das kühle Wasser sind Adrians Hände noch kälter als sonst. Cat hat ein schlechtes Gewissen. Wegen ihr musste er aufstehen, wegen ihr sind seine Hände noch eisiger. „Möchtest du mir nicht erzählen was passiert ist Cat?“ Er sieht sie mit ehrlich besorgtem Blick an. „Nichts schlimmes ich bin im Sportunterricht gestürzt, das ist alles.“ Adrian sieht nachdenklich aus. „Das muss sehr wehtun. Vielleicht solltest du das mal von einem Arzt ansehen lassen.“ Bestimmt schüttelt Cat den Kopf, das möchte sie nicht. „Ich bin doch nur ein bisschen gefallen.“ Er wirkt aufgebracht. „Cat ich habe erst Gedacht du bist verprügelt worden! Das ist sicher nicht nur ein bisschen gefallen das sieht aus als hätte dich jemand mit Absicht Niedergeschlagen!“ Wieder wendet sie sich von ihm ab. Sie schämt sich sehr. Erkenntnis huscht durch den Blick ihres Gegenübers. „Haben sie es auf dich abgesehen? Cat? Sprich doch bitte mit mir! Du musst etwas dagegen unternehmen!“ Mit müden Augen blickt Cat ihn an. Sie wirkt erschöpft und einsam. „Darf ich zu dir?“ er rückt ein Stück zur Seite und sie setzt sich neben ihn aufs Bett. Nach einer kurzen Weile legt sie ihre unverletzte Wange an seine Schulter. Adrian blickt ihr ins Gesicht. Der Waschlappen liegt noch immer auf ihrer Wange, die Gesichtszüge entspannen sich langsam und ihr Atem geht gleichmäßiger und ruhiger. Er spürt ein heftiges Kribbeln im Bauch, als er sie so betrachtet. Gerade als er meint, sie sei eingeschlafen, öffnen sich noch einmal ihre Lippen. „Danke. Adrian.“, flüstert sie. Ohne dass er es beeinflussen könnte wird er rot bis zu den Ohren.
Tag der Veröffentlichung: 02.11.2011
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