Der bleiche Mond schien vom Firmament wie eine knöcherne Fratze und tauchte den Hyde-Park von New London in ein farbloses Spiel aus Licht und Schatten. Der dichte Nebel, der von der verschmutzen Themse herüberzog, tat sein übriges, um den großen Park, der inmitten der gigantischen Stadt mit ihren schwarzen und grauen Steingebäuden lag, so undurchsichtig wie eine Dampfsauna zu machen. Dieser Umstand trug dazu bei dass Miss Adele Bloomsworth nichts davon ahnte, dass sie sich durchaus in Lebensgefahr begab, indem ihren nächtlichen Spaziergang im Hydepark enden ließ.Sie hatte eine feine Sauterie verlassen, auf der die Mannsbilder dem Absinth doch zu sehr zugesprochen hatten, sodass für eine Dame unschickliche Gespräche begonnen worden waren! Zu allem Überfluss hatte einer der unehrenhaften Gentleman auch noch versucht, sie unsittlich zu berühren. Solcherlei konnte Adele keinesfalls dulden!
Als aber alle mietbaren Dampfkutschen bereits ihren Besitzer gefunden hatten, hatte Miss Adele Bloomsworth, ihres Zeichens Tochter des Großindustriellen Albert Bloomsworth, beschlossen, den langen Weg zu ihrem Haus auf Schusters Rappen auf sich zu nehmen. Sie sah mit verkniffenen Augen auf ihre goldene Taschenuhr. Bei diesem Nebel und diesen schlechten Lichtverhältnissen konnte man kaum etwas sehen!Die anbarisch betriebenen Lampen, die zur Abendstunde sanftes Licht aus gläsernen Kuppeln spendeten, waren einfach nicht angegangen und das Licht des lunaren Gestirns, war mehr als unzureichend. „Ein Uhr nachts! Was für eine unchristliche Zeit!“, fluchte Adele leise vor sich hin.Sie steckte ihre Taschenuhr, die an einer langen goldenen Kette hing und somit sicher vor Dieben war, wieder ein, raffte ihren himmelblauen Reifrock zusammen und stolzierte auf ihren hohen Stöckelschuhen den Weg zwischen düsteren Trauerweiden entlang.
Die gierigen roten Augen die sich auf sie hafteten sah die junge Frau nicht.„Bei Jove - man sollte doch meinen, dass in unserer modernen Zeit die Lampen ihren Dienst verrichteten!“ seufzte Adele und brachteim Gehen ein seidenes Taschentusch zum Vorschein, um ihre Stirn abzutupfen. Diesem Moment der Unachtsamkeit verdankte es die junge Frau, dass ein Stein, der vor ihren Füßen auftauchte, sie zu Fall brachte!Mit einem spitzen Aufschrei fiel Adele der Länge nach in den Straßenstaub und verlor dabei ihren kleinen, spitzenbesetzten Schirm, der mit einem kleinen Uhrwerk versehen war. Dieses Uhrwerk spielte eine kleine melancholische Melodie, wenn man den Schirm auf oder zu klappte. Auch ihr kleiner Damenhut, der sündhaft teuer gewesen war, rutschte vom Kopf und fiel in den Dreck. Dort rollte er zwischenden abgestorbenen Blättern herum, die auf dem Weg zwischen dichten Ginsterbüschen und Trauerweiden lagen.
Adele keuchte, als sie sich aufrichten wollte.
Und dann schrie sie! Sie schrie, als ein Schmerz heiß ihr Bein hochfuhr. Ungläubig fuhr sie herum.
Sie sah eine riesenhafte Ratte, sie sich in ihr Bein verbissen hatte! Adele kreischte und wollte das struppige Ungeziefer, das die Größe eines Jagdhundes hatte, loswerden.
Beherztschlug sie mit der flachen Hand zu und versuchte, mit der freien Hand etwas zu packen, das sie als Waffe missbrauchen konnte. Der Schmerz trieb ihr einen roten Schleier vor die Augen. Ihr Bein fühlte sich taub an.
Dann umfassten Adeles Hände etwas Festes. Etwas, das sich wie ein paar Lederstiefel anfühlte. Sie schaute stöhnend empor und sah in das, im Dunklen verborgene Gesicht einer unheimlichen Gestalt in einem langen, dunklen Mantel. Zwei rote Augen bohrten sich wie lange Eisdolche in ihre Seele. „Bei Jove..!“ keuchte Adele auf, als sich lange dürre Finger um ihre Kehle legten und unerbittlich zudrückten. Die junge Frau wurde emporgehoben und sah die rotglühenden Augen wie Kohlen aus der Hölle vor sich. Die dürren Finger waren Schraubstöcke um ihren Hals. Die lebensrettende Luft wurde ihr verwehrt. Helle Sterne tanzten bereits vor den Augen der jungen Engländerin. Adle versuchte keuchend, sich zu wehren! Zwei lange Fangzähne bohrten sich als Antwort auf Adeles Befreiungsversuche in ihre Schulter und begannen, ihre Vitae auszusaugen. Adeles Sicht verschwamm, ihre Beine wurden Schwer wie Blei.
Eine gnädige Dunkelheit verschluckte die Frau.
Charlene Stearling saß am Schreibtisch und schaute gebannt auf den Schirm der Differenzmaschine, der ihr interessante Daten ausgespuckt hatte. Die junge Frau die jenseits der Zwanzig war, aber die Dreißig noch lange nicht in Sicht hatte, schaute wie gebannt auf die Zahlen auf dem flackernden Schirm. Das leise Surren des Stromes der Differenzmaschine hatte sonst eine beruhigende Wirkung auf Charlene, aber diesmal konnte sie ihre Aufregung über ihren Fund nicht zügeln. Sie sah auf ein Fotogramm eines jungen Mannes der eindeutig in einem Sarg lag. Darunter das Datum: 16. Juli diesen Jahres. Dann jedoch ein Fotogramm auf denen derselbe Mann in einem Ohrensessel saß und einen Tee trank: 23. September diesen Jahres. Das war erst eine Woche her! Wie konnte es sein, das ein vermeintlich Toter auf einem anderen Fotogramm wieder quicklebendig war? Die junge Frau mit der blonden langen Mähne, in der sie Glasperlen, kleine Zahnrädchen und anderen Schnickschnack geflochten hatte, schnappte sich ihren schwarzen Kutschermantel und ihre Goggles, die Korbbrille, die sie oft beim Automobil fahren verwendete, und verließ hastig den Raum, auf zur Garage. Sie fuhr ihre „Clockwork V8 Black Widow“ heraus. Das dampf- und zahnradbetriebene Motorrad war ein neues Modell und der ganze Stolz der jungen Frau. Automobil fuhr sie nur wenn sie nicht auffallen wollte oder nicht allein war.
Die Kupfer und Messingteile der Einsitzermaschine, glänzten in der Sonne. Der große Tank in der Mitte der Maschine, brachte so eine enorme Dampfkraft zustande, dass Charlene gut und gerne jedes Mobil damit abhängen konnte. Die Maschine hatte ihr schon in einigen Verfolgungsjagden gute Dienste geleistet.
Old Tube Village, einer der vielen Außenbezirke New-Londons, war um diese Zeit immer noch voll von Automobilen, Stadtschwärmern die auf der Suche nach Partys und Zerstreuung waren, schwer schuftenden Arbeitern, die mal wieder eines der vielen Tausenden von Rohren instand setzten mussten, von denen New-London durchzogen wurde, und dem sonstigen Bewohnern, Reisenden und dem Abschaum der die Straßen der Stadt bevölkerte.Die junge Australierin seufzte, sie hasste den Feierabendverkehr.
Vor Fahrtbeginn setzte sie noch ihre Googles auf, wenigstens würde so der viele Rauche nicht in ihren Augen brennen und sich das umherfliegende Ungeziefer nicht ihre Augen als letzte Ruhestätte aussuchen.Pünktlichkeit war in dem Wortschatz der Australierin nicht der häufigst verwendete oder angewandte Begriff. Die Zeiger ihrer Taschenuhr verrieten, dass sie spät dran war, ihr Besuch wurde erwartet, ihr Besuch im Leichenschauhaus. „Verdammt!“, fluchte Charlene und gab ihrem Motorrad die sprichwörtlichen Sporen. Der Motor heulte auf. Der zischende Dampf und die aufgeregt klackernden Zahnräder verhalfendem Gefährt zu derart schneller Bewegung, das Charlene sich in den Lenker krallen musste um nicht im Straßenstaub zu landen. Ihre Haare wehten wild im Fahrtwind und die Glasperlen und Zahnrädchen gaben ein melodisches Klingen und Klacken von sich. Wenn Sie nicht grade auf einer Observation war, hasste sie es ihre Haarpracht unter einer der üblichen ledernen Fliegerkappen zu bändigen.Zum Glück war die Australierin eine gute Fahrerin, denn oft kreuzte eine Dampfkutsche nur knapp ihren Weg oder ein Betrunkener torkelte aus einer der zahlreichen Pubs und Bars auf die Straße. Das war New-London! Hektisch, dreckig und überfüllt. Aber Charlene bereute keinen Moment das sie Sydney verlassen hatte um hier her zu kommen. Sie liebte das Abenteuer und die Aufregung der Stadt.
Sie bog hart in eine kleine Gasse ab. Die Maschine bockte auf dem blanken Kopfsteinpflaster ein wenig, aber für die geübte Fahrerin war es kein Problem, sie hatte schon ganz andere Fahrmavöver auf viel kritischerem Untergrund gemeistert. Vor einem hohen, schwarzen Gebäude mit großen Schornsteinen aus denen dunkler, fettiger Rauch quoll, stellte sie ihre „Clockwork“ ab und betrat hastig den Eingang über dem auf einem blanken Messingschild : „Old Tube Village Krematorium und Leichenhalle“ stand. Schnelle Schritte führten die junge Frau durch spärlich durch anbarisch beleuchtetes Licht erhellte Gänge, bis zu einer schweren, dunklen Holztür, in die ein kleines vergittertes Fenster eingelassen war. Charlene klopfte und wartete ungeduldig auf eine Antwort. Ein heißeres „Ja, bitte“ ertönte und Charlene zögerte keine Sekunde und betrat das Büro von Professor Oakfield.Der Professor, ein Mann, etwasechzig Jahre, mit einem Spitzbärtchen und schütteren weißem Haar, das ihm wild vom Kopf abstand als wäre grade eines seiner Experimente explodiert, saß vor dem Schirm seiner Differenzmaschine und schaute erstaunt auf die junge, hübsche Frau die ihn aus großen braunen Augen erwartungsvoll anblickte. Er rückte seine kleine Nickelbrille zurecht, die im viel zu weit vorne auf der Nase saß, und begann zu lächeln, als er in seiner Besucherin Charlene Stearling erkannte.„Ah…sehr schön, sehr schön. Miss Stearling, ich sehe, Sie sind schnell zu einem alten Kauz wie mir zurück gekehrt. Und wie ich Ihrem Blick entnehme, haben Sie das gefunden, wonach Sie gesucht haben, nehme ich an.“Charlene grinste und setzte sich unaufgefordert auf einen großen Eichenholzstuhl mit allerlei Zahnradschnitzereien und zog einen kleinen runden Messingstift aus ihrer Tasche. Sie entfernte eine kleine reichverzierte Kappe und darunter kam ein Art silberner Teil eines Schlüssels zum Vorschein.„Seien Sie gegrüßt Professor. Ja, Sie liegen richtig mit Ihrer Vermutung! Ich habe im Äther-Netz einige interessante Dinge entdeckt. Ich glaube ich bin da auf etwas gestoßen dass uns in dem Mysterium der verschwunden toten Körper, die einfach die Leichenschauhäuser verlassen, etwas weiterbringt. „Sie zeigte ungeduldig auf den kleinen Messingstift und Charlenes Hände zitterten vor Aufregung.„Professor, prüfen Sie das Informationskabinett! Ich habe die Bilder und den Artikel mit gebracht.“Der Professor schob den Schlüssel des Messingstifts in ein Schlüsselloch an der Seite seiner Differenzmaschine und schaute gebannt auf den Schirm der Informationsmaschine. Eine kurze Zeit lang war nur das knisternde Surren und Klicken der Zahnräder zu hören und Charlene kaute ungeduldig auf ihren Fingernägeln. Kein sehr damenhaftes Verhalten. Aber ihr Vater hatte keine Dame erzogen sondern eine Frau die wusste was sie wollte! Und sie wollte endlich wissen was es mit den wandelnden Leichen auch sich hatte!„Und? Was sagen Sie dazu Professor.?“ Fragte Charlene voller Erwartung.Der Professor rieb sich gedankenverloren seinen kleinen Spitzbart.„Höchst interessant. Wirklich… höchst interessant. Wie es scheint passiert es nicht nur in London, sondern in ganz Europa.! Es sind zwar immer nur Einzelfälle und die hiesige Polizei tat es immer wieder als Diebstahl von Leichen von Vandalen und Organräubern ab, aber es passiert immer häufiger!“Der Professor griff nach einer Ausgabe des Morning Chronicle und tippte auf einen kleinen unscheinbaren Bericht der ganz unten auf der letzten Seite stand.„Frau meldet Entwendung ihres toten Mannes.“Charlene schaute den Professor fragend an und tippte nervös auf den Bericht in der Zeitung.„Professor, was hat das alles nur zu bedeuten?“Der ältere Mann rückte seine eng geknüpfte Weste zurecht und schaute ernst auf die junge Frau.„Dass sich etwas Großes und unheilvolles in New London zusammenbraut!“
Nachdem Charlene einen Koriandertee mit dem Professor getrunken hatte – nur aus Höflichkeit eigentlich bevorzugte sie gehaltvollere Getränke – verabschiedete sich die junge Australierin, nicht ohne sich das Versprechen abnehmen zu lassen, den Professor sofort anzurufen, wenn sie etwas Neues erfuhr. Er nickte mit einem müden Lächeln.„Das hoffe ich. Meine Kollegen und ich werden schon das Opfer übler Gerüchte. Ein Mann hat mich jüngst Satansjünger genannt. Bei Jove, man stelle sich vor – ich, im Bunde mit dem Gehörnten!“Charlene schmunzelte leicht, doch innerlich war ihr nicht zum Lachen zumute. Der seltsame Fall zog immer weitere Kreise und beunruhigte sie und die ohne hin ruhelose Stadt. Sie winkte dem Professor noch ein Mal zu und öffnete dann die schwere, dunkle Holztür. Doch als sie in den Gang sah, stockte ihr der Atem. „Professor Oakfield!“, keuchte die junge Frau mit weit aufgerissenen Augen. „Kommen sie schnell!
Der Professor sprang schneller auf, als man es einem Mann seines Alters zugetraut hätte, und drängte sich zu Charlene an die Tür. Seine Augen weiten sich. Sein Mund klappte weit auf wie eine defektes Schleusentor.Auf dem schummrig, anbarisch erhellten Gang lagen zwei Männer, Assistenten des Professors in der Leichenhalle.Die grauweißen Kittel waren voller Blut. Auch der Boden war voll vom roten Vitae. Ein dritter Mann lebte noch. Er kroch stöhnend, eine nasse Blutspur hinter sich herziehend, auf die völlig schockierten Charlene und den Professor zu. Beide konnten keinen Muskel rühren. „In der Leichenhalle…“ stammelte der Mann mit letzter Kraft, bevor seine Stimme brach und er leblos auf die kalten Keramikfließen sank.Charlene erwachte als Erste aus der Starre und eilte zu dem Leblosen hin. Sie schüttelte den Mann und schrie ihn an: „Was? Was ist in der Leichenhalle passiert?“Eine Hand legte sich sanft auf ihre Schulter.„Miss Stearlin. Er ist tot.“ flüsterte der Professor mit zitternder Stimme.Charlene schaute mit schreckensstarrem Blick zum Professor auf der Bleich wie Kreide im Gesicht geworden war.„Professor! Wir müssen sofort zu Leichenhalle! Verdammt, warum habe ich meine Uhrwerkpistole zu Hause liegen gelassen!“, fluchte Charlene.„Keine Sorge.“Er setzte ein abwesendes Lächeln auf und zwinkerte der Australierin zu.„Wir finden doch alle irgendwie einen Weg, dieses alberne Waffengesetz zu umgehen.“Sie folgten der Blutspur. Sie zog sich zwei Gänge entlang bis hin zu den großen schweren Doppeltüren, die in die Leichenhalle führten. Charlene hatte die Waffe des Professors im Anschlag. Ja, sie hatte schon die eine oder andere Schießerei hinter sich.
Die Waffe des Professors lag gut in der Hand. Die achtschüssige „Steam LX Gauß Widowmaker“, ein perfekter Kompromiss zwischen Eleganz und Feuerkraft. Messing und dunkles Mahagoniholz bildeten tödlich elegante Harmonie. Und die dampf- und zahnradbetriebene Waffe lud automatisch nach. Praktisch. Vor allen, wenn einem die Kugeln um die Ohren zischten.„Die Waffe wird uns hoffentlich gute Dienste leisten.“, presste Charlene gedämpft zwischen den Zähnen hervor.„Ich hab sie bis jetzt nur gegen zwei Lumpen einsetzten müssen, die glaubten, dass man die Toten bestehlen könne...“, murmelte der Professor und fuhr sich fahrig durch seine wild abstehenden Haare.
„Keine Sorge.“Mit einem kräftigen Fußtritt brachte Charlene die Tür zur Leichenhalle auf. Ihr Herz schlug wie eine Dampfpumpe auf voller Leistung. Der Angstschweiß rann ihr kalt den Nacken hinab. Der Lauf der Uhrwerkpistole zielte auf verschiedene Punkte in dem großem Raum. Dann ließ die junge Frau die Waffen sinken und entspannte sich.
Der Raum war leer und alle Leichen verschwunden...
Tag der Veröffentlichung: 09.03.2014
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