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Sämtliche Personen und Handlungen dieser Geschichte sind frei erfunden und Ähnlichkeiten daher nur zufällig.
Michael Junge
Aufgabe: Auf maximal 50 Zeilen sollen Sie Ihre Lesegewohnheiten analysieren. Schreiben Sie zunächst auf, welche Lektüre Sie bevorzugen. Was für Romane lesen Sie besonders gern? Welche Art von Kurzgeschichten? Lieben Sie Gedichte? Verschlingen Sie Schundromane? Schätzen Sie eher Sachliteratur? Welches sind Ihre Lieblingsautoren?
Am liebsten lese ich Romane, die nicht zu lang sind. 400 Buchseiten, mehr muss nicht sein. Die Genres, in denen ich mich wohl fühle, sind Fantasy, Krimi, Humoristisches und Thriller. Historische- oder Sachbücher sind nichts für mich. Ebenso wenig Gedichte oder Werke mit zu geschwollener oder alter Ausdrucksweise. Das lenkt mich vom Thema ab. Ein Buch muss mich unterhalten und in seine Geschichte hineinziehen.
Gerne lese ich Bücher von Jutta Ahrens, weil mir ihr Stil unheimlich gut gefällt. Sie sagt mit wenigen Worten so ungemein viel und baut lebhafte Szenen und Welten in kurzer Zeit.
Was ich gar nicht leiden kann, ist Langeweile und seitenlanges Erläutern einer Szene. Drei Seiten detailliert darüber zu schreiben, wie die Blumenwiese aussieht, kann man sich meiner Meinung nach sparen. Die meisten Leser wissen wie einen Blumenwiese aussieht, da braucht es nicht viele Worte.
Bücher, bei denen auf den ersten 10 Seiten nichts passiert, haben meist schon schlechte Karten und werden schnell gegen neuen Lesestoff ausgetauscht. Auch sind mir Werke, bei denen zu Beginn bereits mehr als 6 Personen beschrieben werden, zuwider. Da habe ich den Überblick bereits verloren, bevor es losgeht.
Am liebsten werde ich direkt hinein ins ‚Vergnügen‘ geschubst. Ich mag es, direkt Teil einer Szene, einer Unternehmung oder eines Dialoges zu sein, bei denen sich nach und nach das Drumherum aus dem Nebel schält.
Aufgabe:
Wir möchten Sie selbst zur Hauptperson einer kleinen Geschichte machen. Ausgangspunkt ist eine Feststellung über Sie:
In diesem Augenblick lesen Sie diese Worte.
Die Veraussetzungen sind:
In diesem Augenblick lesen Sie diese Worte.
Darauf soll ich mich konzentrieren und genau über diesen Augenblick schreiben. Das fällt leicht, denn ich habe mir gesagt, dass ich heute eine Stunde einplane, um in meinem Lehrmaterial der Schreibschule weiterzukommen.
Das wird auch Zeit.
Den Grundkurs habe ich in meinem gesetzten Zeitrahmen von einem Jahr abgeschlossen, jetzt folgt noch ein Jahr lang die Belletristik. Nur sechs Hefte für ein Jahr. Das ist super, das bringt viel Freiraum – dachte ich. Aber wie das bei mir und vermutlich vielen anderen Menschen ist, neige ich dadurch zum Liegenlassen. Man hat ja schließlich noch genügend Zeit.
Als ich merkte, dass auch diese ausreichende Zeit verrann, rief ich mich im Geiste zusammen und verdonnerte mich selbst dazu, jeden Tag mindestens eine Stunde, mit dem Lehrmaterial zu verbringen. Und was passiert? Genau! Ich beginne zu Lesen und die ersten Übungen zu machen und dann? Kurz vor dem Ablauf meiner gesetzten Stunde, gerate ich an diese Aufgabe.
Schreiben sie eine kurze Geschichte darüber, warum sie sich in diesem Augenblick nicht auf das Schreiben dieser Geschichte konzentrieren können.
Ganz einfach deshalb, weil meine Lernstunde gleich abgelaufen ist. Was soll ich in den paar Minuten noch schreiben? Lohnt es sich überhaupt anzufangen? Vielleicht schlafe ich darüber und gehe es morgen noch einmal an. Ich kann jetzt ohnehin keinen klaren Gedanken fassen, denn ich will ja schließlich wissen, wie es in der nächsten Folge meiner Lieblingsserie weitergeht. Ob sie den Serientäter endlich zu fassen bekommen? Wieso ist das so schwierig? Die Hinweise liegen doch seit drei Folgen vor den Augen des Ermittlerteams. Wieso sehen sie denn die Zusammenhänge nicht? Am liebsten würde ich in den Fernseher springen und den Chef der FBI Truppe am Kragen fassen, ihn durchschütteln und mit dem Gesicht in die auf dem Tisch liegenden Beweise drücken, bis seine Haut mit Druckerschwärze verschmiert ist. Ich hoffe inständig, dass sie es in der nächsten Folge endlich verstehen. Diesen Druck hält man als Zuschauer ja nicht aus. Es ist zum Haare raufen, wie soll man sich bei so einer Serie auf andere Dinge konzentrieren können?
Ich rubble mir übers Gesicht und richte den Blick zurück aufs Heft. In diesem Augenblick lesen Sie diese Worte, steht da geschrieben und ich grinse, denn eine kleine Geschichte ist gerade fertig geworden.
Die Ruhe der Boisenbergs
Schreiben Sie eine Kurzgeschichte aus einer banalen Alltagssituation.
Die Vorgabe:
Die Boisenbergs sind Ihre Nachbarn. Im Sommer verbringen sie bei gutem Wetter den ganzen Tag in ihren Liegestühlen auf dem gepflegten Rasen vorm Haus. Die Liegestühle stehen immer an derselben Stelle, einer dicht neben dem anderen, so dicht, dass sich die Armlehnen berühren.
Ich stehe mit dampfendem Kaffee am Fenster und blinzle ins Zwielicht der aufgehenden Sonne. Die ersten Strahlen vertreiben den Nebel von Boisenbergs Rasenfläche. Die Liegen stehen geordnet nebeneinander. Werden sie nachts durch Stürme verrückt, sieht man Herrn Boisenberg in der Früh in den Garten eilen und den Fehler korrigieren. Die hölzernen Möbel gleichen sich bis hin zur letzten Schraube. Eine für Herrn Boisenberg, eine für Frau Boisenberg.
Ich nippe am Kaffee. Durch mein Küchenfenster sehe ich ein ruhiges Bild, ein Bild der Ordnung. Penibel gestutzter Rasen, symmetrisch zum Eingangstor bepflanzte Beete. Rot und Weiß. Immer im Wechsel. Tulpen, Rosen, Astern. Rot und Weiß, immer. Die Vormieter, diese van Soltairs, waren schon konservativ, aber Boisenbergs Bild sprengte den Rahmen der Spießigkeit. Der Anblick provoziert Würgereiz und endete vor drei Wochen in einem Tobsuchtsanfall. Wie ein Irrer war ich in den Keller gerannt und hatte Oma Elviras alte Spitzengardinen hervorgekramt. Diese wurden in Windeseile im gesamten Haus verteilt, um die Abscheulichkeit der Nachbarn auszusperren. Die schief installierten Aufhängungen spiegeln meinen Gefühlszustand an jenem Tag noch heute unübersehbar wider.
Ich atme tief ein und durchpflüge den Garten mit mutigem Blick. Inmitten der idyllischen Strukturiertheit ruhen die besagten Liegen, die Herzstücke der Biederkeit. Armlehne an Armlehne, so stehen sie im geografischen Mittelpunkt des Gartens. Darauf, behütet im vermeintlichen Paradies, lagen die Boisenbergs. Tag ein, Tag aus, immer. Still und unbewegt. Arm an Arm, Seite an Seite, wie versteinert, immer.
Ich stelle die Tasse ins Spülbecken, wende mich ab und öffne die morsche Kellertür. Der Zement müsste heute durchgehärtet sein. Eingemauert im Boden liegen sie schweigend, still und unbewegt. Arm an Arm, Seite an Seite, versteinert. Für immer.
Interview mit Richard Handke
Aufgabe: Die Figur soll mit ihren eigenen Worten erzählen, wie es ihr im Leben bisher ergangen ist. Wenn es einen Aspekt
gibt, der Sie an Ihrer Figur besonders interessiert, stellen Sie den in den Vordergrund.
Sie müssen sich nicht auf das Abfragen von Fakten beschränken! Wichtiger ist, dass Ihre Figur eine eigene Stimme, eine eigene Sprache erhält.
Hallo und danke für die Einladung zu diesem Interview.
Mein Name ist Richard Handke und ja, es stimmt, ich arbeite in einer Travestieshow. Ich trete dort in erster Linie als Agneta auf und bringe den Club mit ABBA Songs zum Beben. Das war nie mein Lebensziel, aber es macht mich glücklich. Ich kann sein, wie ich bin, ohne dass Fremde mich erkennen oder mich anklagen. Das macht Spaß, das ist etwas, was ich in meiner Jugend vermisst hatte.
Ich führte ein angenehmes Leben, wir waren nicht reich oder so, eher immer am Rande des Bankrotts, wenn ich meinen Eltern Glauben schenke. Als Mutter uns verließ, als ich gerade vierzehn geworden war, ging es bergab. Mein Vater kam mit der Trennung nicht klar und redete zwei Monate kein Wort mit mir, denn er gab mir die Schuld für Mutters überstürzte Flucht. Wie ich damals dazu beigetragen haben soll, ist mir bis heute ein Rätsel.
Jetzt bin ich volljährig und verstehe, dass nicht ich der Auslöser gewesen sein kann. Ich schätze, es lief zwischen meinen Eltern einfach nicht mehr. Sie hatte sich auseinandergelebt. Nach Vaters Schweigen folgte die schlimmste Zeit meiner Jugend. Er begann nicht nur Trost im Alkohol zu suchen, sondern auch bei den Damen der Nachbarschaft. Da er auch weiterhin mir die Schuld an seiner Misere gab, ließ er seinem Frust oftmals freien Lauf. Einen Grund mich grün und blau zu prügeln, wenn er sturzbesoffen von einer seiner Fickabenteuer kam, fand er immer. Damals wusste ich nicht, was ich hätte dagegen tun soll, er war mir kräftemäßig überlegen. Das dachte ich zumindest, traute mich nie, ihm die Stirn zu bieten. Was blieb mir auch? Ich besuchte noch die Schule und war auf ein Dach über dem Kopf und das mickrige Essen, was nach seinen Schnapskäufen übrig war, angewiesen. Ich erduldete die Schläge stillschweigend. Um in der Schule nicht zusätzlich mit dem Thema konfrontiert zu werden, begann ich, mit Mutters zurückgelassenen Schminkutensilien zu experimentieren. Bereits nach einem halben Jahr fühlte ich mich wie ein Profi. Ich war geschickt mit Puderquaste, Makeup, Abdeckstiften und Pinseln. Niemand ahnte, was sich in Wirklichkeit Zuhause abspielte.
Dann, eines Tages fragten mich meine Handvoll Freunde, ob ich sie nach dem Unterricht zum Jahrmarkt begleite. Ich zögerte, denn ich wusste, das würde Vater nicht gefallen. Andererseits, so überlegte ich, würde er mich vermutlich eh verprügeln, ob ich nun pünktlich war oder nicht.
Die Einwilligung den Jahrmarkt zu besuchen, war die beste Entscheidung meines Lebens, denn dort traf ich auf Louise. Ein Travestiekünstler, der in seinem Zelt Werbung für seinen Club in der entfernten Großstadt machte. Louise sah mit einem Blick, dass ich noch ein abklingendes Veilchen kaschiert hatte und bat mich in ihr Zelt. Ich wandte mich um, wollte vermeiden, dass meine Freunde sahen, mit wem ich mich abgab und trat hastig ein. Es war ein langes Gespräch, an Intensität kaum zu übertreffen und ich vergoss viele Tränen, während ich ihr von meinem Schicksal berichtete. Sie war es, die mich anstachelte, mich gegen meinen Vater zu wehren. Sie bestärkte mich darin, ihm die Stirn zu bieten. Als Louise mir anbot, mich in ihre Obhut zu nehmen, blühte ich innerlich auf. Der Rebell war geboren. Mein achtzehnter Geburtstag war an diesem Tag bereits in greifbarere Nähe und so willigte ich ein, am nächsten Tag mit ihr zu fliehen, alles hinter mir zu lassen. All den Schmerz, physisch, wie auch psychisch. Ich wollte es nicht mehr, ich konnte einfach nicht mehr, musste ausbrechen, wollte ich nicht enden wie mein Vater.
Zuhause wartete der Betrunkene, der kaum noch stehen konnte. Zum Zuschlagen reichte seine Kraft jedoch noch, doch dieses Mal setzte ich mich zur Wehr und stieß ihn von mir. Er schlug mit dem Kopf gegen die Wand und sackte zusammen. Kaum hatte sein Körper den Boden berührt, rannte ich durch die Wohnung und packte das Nötigste zusammen. Ich fühlte schnell seinen Puls und warf ihm meinen Schlüssel vor die Füße. Dann rannte ich und rannte.
Louises Zelt bauten wir gemeinsam noch am selben Abend ab und düsten davon. In der Großstadt angekommen, zeigte sie mir mein neues Zimmer in einer Wohnung über dem Travestieclub. Ich fühlte mich bei ihr geborgen, zufrieden und erleichtert. Der Spaß am Leben kehrte mit jedem Tag, den ich mit ihr verbrachte zurück und als ich das erste Mal als Agneta auf der Bühne stand, wusste ich, ich bin angekommen.
Eine Figur einführen
Aufgabe: Inzwischen hat Ihr Geschöpf vor Ihrem inneren Auge sicher Gestalt angenommen und Sie sollen nun eine Szene verfassen, mit der Sie diese Figur einführen könnten. Sie skizzieren zunächst die Umgebung, nähern sich langsam Ihrer Figur an und zeigen sie dann bei einer charakteristischen Tätigkeit.
Als würde man die Garderobe einer Operndiva betreten. Ein Meer von Parfümgerüchen schlug in Wellen unterschiedlicher Intensität ins Gesicht des Besuchers. Im kleinen Raum verteilten sich unzählige Kleider, Blusen, Strumpfhosen und weitere Damenbekleidung. Einige hingen penibel genau an fahrbaren Garderobenständern, anderen lagen zerknüllt in den Ecken und Möbeln verstreut. An dem leise surrenden Deckenventilator fuhr ein Busenghalter Karussell. Abgesehen von dem riesigen Spiegel, der auf einem Schminktisch aus hellem Holz angebracht war, lag der Raum im Dämmerlicht. Im Mittelpunkt der grellen Beleuchtung des Spiegels zog Richard sich den Eyeliner nach. Die hellgrünen Augen strahlten wach und konzentriert aus dem Spiegel zurück. Das schwarze Haar hatte er streng nach hinten gekämmt. Die Rötungen und Unebenheiten lagen bereits unter einer massiven Schicht aus Make-up und Puder verborgen und zauberten Makellosigkeit in seine Gesichtszüge. Der Stoff des hochgeschlitzten blauen Paillettenkleids rutschte zur Seite und gab den Blick auf einen schlanken, festen Oberschenkel frei. Er schlüpfte in die silberfarbenen High Heels, bevor die Augenbrauen und Lippen mit gekonnten Strichen nachgezogen wurden. Nachdem auch die künstlichen Wimpern angeklebt und mit Tusche betont worden waren, fehlte nur noch eines, um das Bild komplett zu machen. Richard nahm die Perücke mit den blonden langen Locken vom Styroporkopf des Sideboards und schlüpfte hinein. Er stand auf, drehte sich
einige Male vor dem großen Spiegel und nickte das Ergebnis zufrieden ab.
Das fängt ja gut an
Aufgabe: Ihren Fahrausweis bitte! Ihre Figur wird beim Schwarzfahren erwischt. Auch hier können Sie Ihre Fantasie schweifen lassen: Ist sie absichtlich schwarz gefahren? War es ein Versehen? Kann sie sich herausreden?
„Fahrkarten bitte!“
Der schrillen Stimme sah Richard gelassen entgegen. Er hatte an diesem Morgen nichts zu befürchten. Er war peinlich genau durchgeplant. Alles zehn Mal überprüft. Die Dokumente für den ersten Tag an der Polizeischule befanden sich im Rucksack, ebenso wie etwas Obst und belegte Brote. Seine Nervosität hatte ihn geschlagene vier Mal ins Badezimmer gezogen.
Richard öffnete den Rucksack, griff hinein und fischte nach seinem Portemonnaie. Als die Frau mittleren Alters, deren Brille die Strenge im spitznasigen Gesicht unterstrich, bei ihm angekommen war, tastete seine Hand noch immer über den Boden des Rucksacks. Das kann doch nicht wahr sein, dachte er panisch. Die Entspannung, die Überzeugung, alles richtig gemacht zu haben, war mit einem Schlag ausgelöscht. Ihm trat der Schweiß auf die Stirn, seine Wangen begannen zu glühen. Hitze und Kälte rangen im Sekundentakt um die Oberhand über seinen Körper. Mit zittrigen Fingern riss er den Rucksack weiter auf und starrte ins Dunkle.
„Junger Mann, Ihren Fahrausweis bitte“, wiederholte die Kontrolleurin und rückte ihren von grauen Strähnen durchzogenen Dutt zurecht.
Sein Magen krampfte sich zusammen, der Atem beschleunigte sich. „Ja“, krächzte Richard, „ich bin ja auf der Suche. Ich … er muss hier irgendwo sein. Einen Moment bitte.“
„Hören Sie. Ich habe meine Zeit nicht gestohlen. Zeigen Sie mir Ihr Ticket oder ich muss Sie wegen Schwarzfahrens aufschreiben.“
Die Blicke der anderen Fahrgäste versuchte er zu ignorieren, doch die beiden Mädchen, die zu ihm sahen und immer wieder mit einander tuschelten, fuhr er schroff an: „Was gibt’s da zu glotzen?“
Als sie sich abwanden, tat es ihm schon wieder leid, denn solche Ausbrüche waren gar nicht seine Art. Er wusste nicht, was über ihn gekommen war.
Richard hörte auf zu suchen und ergab sich seinem Schicksal. Betrübt sah er ins verdatterte Gesicht der Kontrolleurin. „Schreiben Sie mich auf. Ich kann die Fahrkarte nicht finden.“
„Geben Sie mir bitte Ihren Ausweis.“
Richard lachte knapp. „Der ist doch auch im Portemonnaie.“
„Dann steigen Sie an der nächsten Station aus.“
„Oh nein! Nur das nicht! Ich habe heute meinen ersten Tag in der Polizeischule. Da darf ich auf keinen Fall zu spät kommen.“
„Das hätten Sie Sich vor dem Schwarzfahren überlegen sollen.“
„Aber ich bin doch gar nicht …“
„Sie können keinen gültigen Fahrausweis vorzeigen und steigen hier jetzt aus. Ende der Diskussion.“
Als die Bahn hielt, begleitete sie ihn zur Tür. „Hoffentlich bekommen Sie den Job besser hin als das Bahnfahren.“
Blöde Kuh, murrte Richard innerlich und knallte den Rucksack auf die Metallbank des Wartehäuschens. Krampfhaft versuchte er die Tränen, die sein Gefühlschaos hervortrieben, zu unterdrücken, vergeblich.
Die Wut über sich selbst schnürte ihm den Magen zu und ließ Übelkeit in ihm aufsteigen. „Verdammte Scheiße!“, fluchte Richard und riss den Rucksack erneut auf. Als er hineinsah, lösten sich die verknoteten Gedärme und die Anspannung fiel von ihm ab. In einem der Innenfächer sah er die grüne Geldbörse aufblitzen. Er nahm sie zur Hand und wirbelte herum. Als er sah, wie sich die Türen schlossen und die Bahn anfuhr, entwichen Richard einige nicht jugendfreie Verwünschungen, die die verwirrten Blicke anderer Passanten anzogen.
Peinlich berührt, senkte er den Kopf und zog sein Smartphone aus der Tasche. Er öffnete hastig die Navigation und stellte erleichtert fest, dass er an der nächsten Haltestelle rausgemusst hätte. Er steckte das Portemonnaie zurück in den Rucksack, schnürte ihn zu und rannte los.
Umgestoßen
Aufgabe: Es liegt ein eintöniger Tagesablauf, des Protagonisten vor, dem Sie einen Konflikt zufügen sollen, um die Geschichte interessant zu gestalten: Wir erfahren, dass Feddersen ein geordnetes Leben führt. Wir sehen den Mann nur seine tägliche Routine absolvieren, ohne eine Abweichung, ohne äußeren oder inneren Konflikt. Ihre Aufgabe ist es nun, einen Ansatzpunkt für eine Geschichte zu finden.
Der Arbeitstag war nach Plan verlaufen. Geordnet wie der gestrige, wie jeder einzelne Werktag der letzten Woche, wie jeder einzelne Werktag des letzten Monats und der vergangenen Jahre. Durchgetaktet vom Aufstehen um 6.30 Uhr, über die Mittagspause um 12.15 Uhr bis hin zum Abendessen um 20 Uhr und dem Abschalten des Fernsehers um 23 Uhr. Er fühlte sich wohl, wenn sein Leben organisiert war, fühlte sich behütet in einem strukturierten Umfeld, doch sollte er zum Feierabend aus dieser Geborgenheit gestoßen werden, wie ein flügges Küken aus dem elterlichen Nest.
Feddersen passierte den Pförtner in der Eingangshalle. „Pünktlich wie immer, Herr Feddersen.“
„Stimmt genau“, erwiderte Feddersen. „Auf Wiedersehen.“
Er verließ das Gebäude und das Werksgelände planmäßig, als ihn ein spitzer Schrei aus seiner heilen Welt herausriss.
Wie angewurzelt blieb er auf dem Gehsteig stehen und starrte dem Kind entgegen, das brüllend und mit rudernden Armen auf Rollerblades den Berg herabgesaust kam. „Ich kann nicht bremsen!“
Feddersen riss die Augen auf. Er war unfähig, sich zu rühren, unfähig eine Entscheidung zu treffen. Er glotzte dem nahenden Unheil entgegen. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Die klammen Hände zog er aus den Manteltaschen. Hatte er das Atmen eingestellt?
„Ich kann nicht bremsen, ich kann nicht bremsen! Hilfe“, schrie das Mädchen immerzu.
Feddersen stand wie paralysiert da und starrte auf das feuchte Laub, das zu den Seiten flog, als die Rollen es durchpflügten.
Wie ein vom Katapult abgefeuerter Medizinball schlug das Mädchen ein. Feddersen flog rücklings in den hüfthohen Knallerbsenstrauch. Das noch immer schreiende Bündel lag schwer auf seiner Brust. Das Kind schien unverletzt. Im Gegensatz zu mir, fügte er in Gedanken hinzu, als ihm ein Stechen in die Schulterblätter schoss.
„Das war knapp“, murmelte das Mädchen in seine Halsbeuge und stieg von ihm herunter. „Danke fürs Auffangen, freundlicher Mann.“
„Ich … ähm … gerne“, keuchte Feddersen und stemmte sich hoch. „Bist du in Ordnung?“ Er klopfte sich Dreck und Laub vom Mantel und sah sich um. Das Kind eierte in einiger Entfernung den Gehweg entlang.
Vollkommen aus der Welt gerissen, bewegte sich Feddersen in Richtung der Haltestelle. Sein Bus fuhr davon, als er um die Ecke bog! Er wollte der Rettung seiner heilen Welt hinterhereilen, aber sein Körper ignorierte die Befehle, die das Hirn an ihn sandte. Otremba, der Busfahrer, würde ihn sehen und zurückkommen. Er musste doch wissen, dass etwas nicht stimmte. Feddersen fuhr seit jeher mit diesem Bus und hielt mit Otremba ein Schwätzchen übers Wetter. Warum hatte er nicht auf den fehlenden Fahrgast gewartet? War jahrelange Routine denn gar nichts wert?
Seine Knie begannen zu zittern. Unruhe tobte in seinem Inneren. Das Atmen strengte ihn an, wie nie zuvor. Feddersen setzte sich auf die Bank im Bushäuschen. Das erste Mal, dass er die Wartezeit sitzend überbrückte. Aus der Gewohnheit und von den Füßen gerissen. Wie sollte er damit umgehen?
Wie lange er auf den nachfolgenden Bus warten müsste, wusste er nicht. Aber er wusste, dass seine ihm Sicherheit verleihende Struktur zerstört worden war. Brutal zu Boden geschmettert und überrollt von einem schreienden Mädchen.
Feddersens Nervosität steigerte sich weiter, als er eine Frau auf das Häuschen zukommen sah. Das auch noch! Fasziniert und geschockt, war es ihm unmöglich, den Blick von der schlanken Gestalt im sandfarbenen Kostüm abzuwenden. Er starrte sie an. Glotzte. Wusste nicht, wie er auf die neue Situation reagieren sollte, bis ein Schmunzeln über seine Züge huschte. Sie war gestolpert, hatte sich schnell wieder gefangen. Ob sie auch nervös ist?, überlegte er, als sie ihn mit zittriger Stimme ansprach: „Guten Abend.“ Sie sah ihn an, als wäre er ein Asteroid, der auf die Erde zuraste.
„Guten Abend“, erwiderte Feddersen.
Sie atmete laut aus und deutete auf seinen Platz. „Ich muss dort sitzen.“
„Hier?“
„Ja, ich … seit Jahren. Ach, das verstehen Sie ohnehin nicht.“ Sie winkte ab.
Feddersen strahlte sie an, nickte und rutschte beiseite, um ihren Platz freizugeben.
Seit jenem Tag nahm er stets den späteren Bus.
Sein letztes Hemd
Aufgabe:
Der Protagonist ist ein Ermittler. Entweder ein Kriminalkommissar, ein Privatdetektiv oder ein Amateur, der ein Verbrechen aufklären soll. Er kann den Täter aufgrund eines einzigen Beweises am Ende festnehmen. Ein Action-Szene darf nicht fehlen.
Am Tatort angekommen, wandte sich Lars Stahlschmitt an den Gerichtsmediziner neben der Leiche. „Moin, was haben wir?“
„Moin Schmitti.“ Er hielt dem Kommissar drei Klarsichtbeutel hin. „Horst Leitner, 44 Jahre, 1,80 Meter groß. Todesursache nach erster Analyse: ein Schlag auf den Hinterkopf mit einem schweren Gegenstand.“
„Wissen wir, wieso er mit freiem Oberkörper im Park liegt?“
„Leider nein. Das herabgelaufene Blut im Nacken hört an einer Stelle abrupt auf, was darauf hindeutet ...“
„… dass er zum Zeitpunkt des Mordes angezogen war“, beendete Kommissar Leon Winter den Satz.
Stahlschmitt reichte die Beutel an seinen Partner weiter. „Was denkst du?“
„Geldbörse, ein Fransen und ein Knopf. Letzter gehört zu einem sehr teuren Hemd.“
„Wie teuer?“
„Dreitausend.“
Stahlschmitt hustete, während Leon den Gedanken weiterspann: „Will er es verkaufen, dann bei Simmons im Hafenviertel.“
„Warum nicht im Netz“
„Zu einfach zu verfolgen.“
Stahlschmitt nickte. Seit sechs Jahren arbeitete er mit Leon Winter zusammen. Er war ein seltsamer Kauz, doch mit seinem analytischen Verstand und fotografischen Gedächtnis ein Goldschatz. Er hatte gelernt, Leons Eigenarten und Missstände im sozialen Bereich zu akzeptieren und wusste, dass er sich zu eintausend Prozent auf das chronisch blasse Milchgesicht verlassen konnte.
Bevor sie sich auf den Weg zu der Witwe machten, gab er Anweisung, besagten Secondhandladen überwachen zu lassen.
Nachdem die Kommissare ihr die Nachricht überbracht hatten, riss sich Jennifer Leitner zusammen, bis sie ihren Gärtner Frank Keilmann nach Hause entlassen hatte. Die Kommissare konnten nicht hören, was im Wintergarten gesagt wurde, doch die Gesten erschienen aufbrausen und seltsam vertraut. Als Zurück im Wohnzimmer war Frau Leitner in Tränen ausgebrochen und kraftlos aufs Sofa gesunken. „Wer tut denn so etwas?“
„Das versuchen wir herauszufinden. Hatte Ihr Mann Feinde?“
„Horst? Vermutlich jeden im Kasino.“ Auf Lars’ fragenden Blick hin, fuhr sie fort: „Horst war spielsüchtig und prahlte gern mit unserem … nun … eigentlich meinem Vermögen.“
Leon stand auf, um zu telefonieren. Mit etwas Glück brachten Befragungen der Kasinoangestellten und Gäste oder die Sichtung des Überwachungsmaterials Licht ins Dunkel.
„Das sind eine Menge Pokale“, stellte Leon später fest.
„Nicht anfassen“, fuhr sie ihn an. Leon erstarrte in der Bewegung. „Das ist Horsts Heiligtum … war sein Heiligtum.“ Weinend beugte sie sich vornüber.
Bevor sie das Haus verließen, rieb Leon nachdenklich mit der Sohle übers Parkett der Eingangshalle.
Bereits am selben Nachmittag hatte es sich ausgezahlt, einen Beamten in dem Secondhandladen zu platzieren. Jakub Storra hatte versucht, das sündhaft teure Hemd zu Geld zu machen. Selbst der Blutfleck am Kragen war noch da. Leon Winter las in der Mimik und Gestik, während Lars den Mann verhörte. Die Kommissare tauschten einen Blick. Ihnen war klar, dass sie nicht den Mörder im Büro sitzen hatten. Dieser Mann konnte keiner Fliege etwas zuleide tun. Aber wie kam er an das Hemd des Mordopfers? Die Antwort brüllte Lars dem Verdächtigen gerade ins Gesicht: „Sie klauen einem Toten das Hemd?“ Wut und Verzweiflung schwangen unverkennbar in der Stimme. Keine Spuren, keine Tatwaffe am Fundort der Leiche, die Befragungen im Kasino hatten nur ergeben, dass Horst Leitner am fraglichen Abend nicht dort gewesen war, und jetzt ein stotternder Dummkopf, der den Fall in eine weitere Sackgasse manövrierte.
„Wir stecken fest“, murrte Stahlschmitt, nachdem Jakub Storra zurück in die Arrestzelle gebracht worden war. Winter richtete sich im Bürostuhl auf und überlegte laut: „Bei den Leitners fehlte einer der Pokale und ein Teppich in der Eingangshalle.“
„Das fällt dir ja früh ein.“
„Ich habe versucht, logische Verbindungen zum Fehlen dieser Gegenstände herzustellen, aber es ist mir unmöglich.“
„Wir sollten Frau Leitner noch einen Besuch abstatten.“ Lars stand auf und ließ sich zurück auf den Stuhl fallen, als sein Telefon klingelte. „Stahlschmitt“, bellte er in den Hörer.
Lars‘ Augen leuchteten auf, als er auf die Tastatur einhackte.
„Wer ist Frank Keilmann?“, fragte Leon und deutete auf Lars‘ Bildschirm.
„Darf ich vorstellen? Unser neuer Hauptverdächtiger.“
„Wie …?“
„Die Gerichtsmedizin fand neben den Spuren vom Opfer und der diebischen Elster auch Spuren von ihm.“
„Das Hemd erfreut sich großer Beliebtheit.“
„Und glücklicherweise wäscht es niemand vor der Anprobe.“
„Ekelig“, kommentierte Leon und rieb sich die Arme.
„Fragen wir Frau Leitner, ob sie Frank Keilmann kennt.“
Mit hängenden Schultern schlurfte sie vor den Kommissaren ins Wohnzimmer. Leon setzte sich ihr gegenüber und zeigte Frank Keilmanns Foto. „Kennen Sie diesen Mann?“ Sie brauchte gar nichts sagen, Leon hatte das Ringen zwischen Furcht und Liebe in ihrem Gesicht gelesen. Noch bevor er darauf eingehen konnte, hörte er Lars fluchen.
Stahlschmitt schnellte aus dem Sessel und begann den flüchtenden Mann, der aus dem Obergeschoss die Treppe heruntergerannt gekommen war, zu verfolgen. „Bleib bei ihr“, wies er an, dann war er im Flur verschwunden und Leon hörte nur noch: „Frank Keilmann! Stehen bleiben! Polizei!“
Durch die Fensterfront sah Leon den Verdächtigen über den Rasen rennen und berechnete den Verlauf. Er riss die Terrassentür auf und eilte zur Straße hinunter.
„Sie sollen stehen bleiben! Verdammt! Was ist daran immer so schwer zu verstehen?“, keifte Stahlschmitt und hechtete weiter.
Keilmann erreichte ein Auto am oberen Ende der Einfahrt und riss die Tür auf.
Lars beschleunigte. Er war fast am Wagen, als der Motor des SUVs aufheulte. Die Rückfahrlichter leuchteten auf.
„Scheiße!“ Lars sprang zur Seite, als das Fahrzeug auf ihn zuraste, rollte sich auf dem Pflaster ab und kam wieder auf die Beine. Mit gezogener Waffe hastete er die Einfahrt hinunter. „Scheiße!“ Ihre Blicke trafen sich. Ein gewinnendes Grinsen stand im Gesicht des Flüchtenden. Stahlschmitt rannte schneller, zapfte die letzten Reserven an. Die Distanz wuchs, wie das Grinsen in Frank Keilmanns Gesicht. Wie gerne würde ich es dir aus deiner Visage schlagen, dachte Lars.
Ein Knall. Quietschen. Der Wagen kam zum Stehen. Das Grinsen wich Überraschung. Keilmann wandte sich um.
Bevor Lars den SUV erreichte, stand Leon an der geöffneten Fahrertür und hielt dem Verdächtigen die Waffe vor die Nase. „Hier endet die Fahrt. Aussteigen.“
Lars starrte Leon an. Wie hatte er …? Dann sah er den beschädigten Polizeiwagen, der quer hinter dem SUV stand. Während Leon dem Verdächtigen Handschellen anlegte, klopfte Lars seinem Partner anerkennend auf die Schulter. Anschließend umrundete er den Wagen und öffnete die hintere Tür. Nun war er es, der grinste. „Ich wette, der Fransen vom Tatort passt zu diesem blutigen Teppich. Und da ist ja auch der gesuchte Pokal“, stellte er triumphierend fest.
Der Verdächtige war zum Täter geworden.
Ein neues Leben
Aufgabe:
a) Überlegen Sie sich einen Handlungsbogen, der sich steigert, und kennzeichnen
Sie im Exposé, welche Handlungsschritte sie zu Szenen ausbauen wollen.
b) Nehmen Sie sich nun eine der im Handlungsexposé skizzierten Szenen und schreiben Sie sie (50 Zeilen).
Die Handlung spielt in England. Oktober 1999.
Nicht-szenisch: Karl Hackett, 37 Jahre, Grafiker, fährt mit dem Zug von London zur Universität von Reading in der Grafschaft Berkshire, um eine Produktpräsentation zu seinem Grafikprogramm zu halten. Er hofft auf Erfolg, um die gegründete Firma vor einer Insolvenz zu retten.
Als Szene gestalten: Er steigt in Paddington in den Zug, läuft durch die Waggons zu seinem Fensterplatz im letzten Waggon.
Nicht-szenisch: Andere Fahrgäste steigen zu, nehmen die Plätze ein und verstauen ihr Gepäck.
Als Szene gestalten: Pünktlich um 8:06 verlässt der Zug den Bahnhof. Zugunglück. Panik, Feuer, Rauch. Karl wird von Gegenstand getroffen und verliert einige Zähne. Menschen flüchten. Er schafft es aus dem Zug und sucht Schutz in einem Wäldchen. Die ersten beiden Waggons sind zerstört, aus dem dritten schlagen Flammen. Eine Idee keimt auf.
Erzählen mit einzelnen szenischen Anteilen: Er kommt in einem günstigen Hotel unter. Verfolgt die Nachrichten, ruft mehrfach unter falschen Namen die Notfallnummer an, um sich als vermisst zu melden. Auf dem Markt wird er von einer Bekannten entdeckt, die die Begegnung später freudig herumerzählt.
Als Szene gestalten: Die Polizei nimmt Karl im Hotel fest.
Nicht-szenisch: Urteilsspruch: 5 Jahre auf Bewährung. Er hatte 30 zusätzliche Arbeitsstunden bei den Ermittlungsarbeiten generiert. Ein psychisches Gutachten belegt, einen verwirrten Geisteszustand und verordnet psychotherapeutische Sitzungen.
Szene des Zugunglücks – Ein neues Leben
Pünktlich um acht Uhr sechs verließ der Zug den Bahnhof Paddington. Karl lehnte den Kopf gegen die kühle Scheibe und blinzelte in den Sonnenaufgang. Als der Zug eine Kurve nahm, verschwand die Illusion eines brennenden Himmels aus seinem Sichtfeld. Er kramte die Zeitung aus seinem Aktenkoffer und nickte dem Mann ihm gegenüber zu, der herzhaft in sein Brot biss.
„Guten Appetit“, wünschte Karl und lächelte.
„Danke“, nuschelte der Fremde und kaute genüsslich.
Karl schlug seine Zeitung auf.
Sie waren noch nicht lange unterwegs, als ein metallisches Kreischen beinahe Karls Trommelfell zerriss. Es folgte ein Knall, dann passierte alles zeitgleich. Koffer und andere Gegenstände wurden zu Geschossen und rauschten an ihm vorbei. Schreie. Er hörte Glas splittern und jaulte, als sein Arm gegen die Scheibe schlug. Ein Hund kläffte. Die Notbremsung presste Karl ins Polster. Kinder weinten. Eine Puppe stieß gegen seinen Schuh und plärrte: „Warum weckst du mich?“
Karl riss die Augen auf und versuchte auszuweichen, als etwas Riesiges auf ihn zugeschossen kam.
Sein Kopf dröhnte. Er schrie und begann zu beten, als der Waggon aus dem Gleis sprang und sich die Welt zu drehen begann. Koffer, Bücher, Essen, Menschen. Alles wirbelte um ihn herum. Karl krallte sich in den Sitz, während der Waggon durch ein Feld pflügte.
Mit einem Ruck endete die Fahrt. Die Welt verlor sich im Rauch, durchschnitten von Schreien und Hilferufen.
Im hinteren Teil des Waggons schlugen Flammen nach den Flüchtenden. Einige Passagiere lagen verkrümmt im Raum.
Karl setzte sich benommen auf. Er hustete. Die Augen tränten. Nur unscharf erkannte er einen Mann am Boden und versuchte ihn zu wecken. Tot. Eine Frau trampelte über ihn hinweg und begann Karls Fensterscheibe einzuschlagen.
Metallischer Geschmack ließ seine Zunge die Lücken ausgeschlagener Zähne ertasten.
Die Frau ließ den Nothammer fallen und kletterte ins Freie. Karl hastete hinterher.
Geistesabwesend rannte er immer weiter, bis er sich in einem einsamen Wäldchen wiederfand. Hustend stützte er sich gegen einen Stamm und rieb sich die Augen. Erst jetzt erfasste er das gesamte Ausmaß der Katastrophe. Die ersten beiden Waggons waren vollkommen zerstört, aus dem dritten, in dem er gesessen und Zeitung gelesen hatte, schlugen meterhohe Flammen.
Ein Wunder! Ich hätte tot sein können, dachte er und eine Idee keimte auf. Ein Neubeginn.
Diese Aufgabe wird erst nach Veröffentlichung des Romans, an dem ich derzeit arbeite, hinzugefügt.
Den ersten Cover Entwurf lasse ich aber gerne hier:
Richard
Aufgabe:
a) Aufbau: maximal eine Seite, gern als Zeichnung - wird nach Romanveröffentlichung ergänzt
b) Anfang: 60 Zeilen
c) Schluss-Entwurf: ca. 15–20 Zeilen - wird nach Romanveröffentlichung ergänzt
Anfang
Die Ungeduld des Publikums war greifbar. Bereits zweimal hatte er das Programm geändert und andere Auftritte vorgezogen, um Zeit zu schinden, doch nun konnte Richard sie nicht länger warten lassen. Er gestand es sich ein, Johannes würde nicht kommen. Ob die Ärzte die Einwilligung für Louises Clubbesuch zurückgezogen hatten? Schwächte sie die Krankheit mehr, als zuvor gedacht?
Richard seufzte, legt das vom Handschweiß durchnässte Schminktäschchen beiseite und schnappte sich das Mikro. Sein erster Auftritt nach der einjährigen Pause erlaubte keinen weiteren Aufschub.
Applaus brandete auf, als sich der Vorhang hob und Richard die Bühne betrat. Er ließ den Blick über den zum Bersten gefüllten Raum schweifen und winkte lächelnd. Natürlich war es seine Entscheidung gewesen, aber niemals hätte er vermutet, dass ihm der Applaus so fehlen würde. An der Bar sah er Sandra, die ihm mit einem Bierglas zuprostete und mit der anderen Hand den Daumen gedrückt hielt. Er nickte dankbar, bevor sein Blick zum Eingang huschte.
Er schloss die Augen, atmete tief ein und setzte erneut ein Lächeln auf, als die ersten Töne den Raum erfüllten. Vom Johlen und Pfeifer der Zuschauer begleitet, nahm er seine Position ein. Richard hob das Mikro an und bekannte singend: „I'm nothing special, in fact I'm a bit of a bore.“ Richard schloss die Augen, wiegte im Rhythmus der Musik, nahm den Jubel tief in sich auf. Die wohlige Gänsehaut, die ihn durchlief, schoss alle Zweifel ins Abseits. Er war wieder da und er liebte es, lebte es.
Als er die Lider hob, sah er Johannes durch den Eingang kommen. Eine weitere Welle der Euphorie rollte heran und riss ihm sogleich die Beine weg, als sein Blick auf den Rollstuhl fiel, den sein Partner vor sich in den Club schob. Richard verhaspelte sich, hustete. Nach all der Zeit, Louises wahres Gesicht zu sehen, die so lange sein Elternersatz gewesen war, ließ ihn straucheln. Statt die nächste Liedzeile zu singen, verstummte er und starrte den betagten rundlichen Mann mit schütterem Haar an, der es Johannes gleichtat und die Hand zum Gruß hob.
Im Turm der Angst
Aufgabe: Autobiografisches Schreiben – Wie schreibe ich eine wichtige Lebenserinnerung kurzweilig und interessant?
Umfang: 120 Zeilen
In einer gedrungenen, zum Glück nicht allzu langen Warteschlange schlichen wir dem Kassenhäuschen entgegen. Das wäre heute, nach Ausbruch der Corona-Virus-Pandemie undenkbar, aber als wir vor vierzehn Jahren unsere einwöchige Städtetour in Barcelona verbrachten, war daran noch nicht zu denken.
Wie jedes Jahr suchte mein Partner zu seinem Geburtstag im November die Flucht und so trieb es uns 2006 nach Barcelona. Nachdem wir an den ersten Tagen Plätze, Häuser und Parks des Künstlers Antonio Gaudí angesehen hatten, begleitete uns blauer Himmel am Sonntagnachmittag zu einem Meisterwerk, an dem Gaudí der bisher wohl bekannteste Architekt gewesen war. Seit Tagen sahen wir das sakrale Bauwerk aus dem Häusermeer der Stadt herausragen, doch mit in den Nacken gelegtem Kopf direkt vor der Sagrada Familia zu stehen, war schier beeindruckend.
Im wahrsten Sinne des Wortes näherten wir uns der Kasse im Schritttempo. Dieses Mal schafften wir es, ganze drei Schritte vorzurücken. Bald würden wir den ersten Blick ins Innere werfen können. Um mir die Wartezeit zwischen Touristen aller Herrenländer zu versüßen, fotografierte ich das imposante Eingangsportal, das durch fein bearbeiteten Stein und Metall Szenen aus der Bibel zeigte.
Nach den folgenden Schritten erkannte ich den Grund für das schleichende Vorankommen. Entgegen meiner Vermutung, es handle sich um einen schwerhörigen von Rheuma geplagten Greis im Kassenhaus, war der Übeltäter ein Aufzug. Am Ende des Kirchenschiffrundgangs beförderte dieser die Besucher in schwindelerregende sechzig Meter Höhe. Zwölf Personen nahm das wenig vertrauenserweckende Metallungetüm auf. Dass der Lift ausschließlich zum Hochfahren genutzt wurde, beschleunigte den Ablauf ein wenig. Für den Rückweg standen Wendeltreppen in den Türmen zur Verfügung.
Ich freute mich riesig darauf, das Innere des Gebäudes zu sehen und auch die Aussicht über die Stadt zu genießen. Da wusste ich allerdings noch nicht, was mich schon bald ereilen sollte.
Wir bezahlten und traten durch ein Portal in eine fremde Welt. Das Licht spielte mit den filigran gestalteten Säulen und Balken. Weißer Stein wurde von bunten Glasfenstern in Szene gesetzt. So wie die Sonne draußen vorbeizog, änderten sich die Farben. Blaue Säulen waren wenige Minuten später grün, rote leuchteten in einer Mischung aus Lila und Rosa. Wieder andere strahlten im reinsten Gelb. Doch bevor man den riesigen Bauch des Fantasiewesens zur Gänze erfasst hatte, wurde die Welt in ein neues, noch verblüffenderes Licht gesetzt. Wenn man meinte, es könne nicht faszinierender werden, wurde man gleich darauf eines Besseren belehrt.
Es fiel uns nicht leicht, uns loszureißen von diesem Anblick, doch versprach es, sechzig Meter über uns noch beeindruckender zu werden. Wir reihten uns in die Schlange am Fahrstuhl ein und hatten eine halbe Stunde später eine grandiose Aussicht über Barcelona und die Baustelle der Sagrada Familia, die überall präsent war. In zwanzig Jahren sollte das Bauwerk nach den letzten Berechnungen fertiggestellt sein, hieß es auf den Informationstafeln.
Ein etwa zwei Quadratmeter messender Balkon lud zu einer Fotosession ein. Im Hintergrund prahlte die Sagrada Familia mit von buntem Obst und Gemüse besetzten Türmchen. Unter anderem verschluckten Erdbeeren, Trauben und Salatblätter die Spitzen der sandfarbigen Giebel.
„Okay, fertig“, rief Thomas, nachdem er einige Bilder von mir geschossen hatte. „Jetzt bin ich dran.“ Er hielt mir die Kamera im schmalen Durchgang entgegen.
Statt mit ihm den Platz zu tauschen, klammerte ich mich an die hüfthohe Umrandung des Balkons. „Kann nicht“, murmelte ich. Mir wurde im Sekundenwechsel heiß und kalt. Der Magen hatte sich steinhart zu einem Knoten zusammengezogen.
„Komm schon, ich will auch.“
„Kann mich … nicht bewegen.“
„Wieso? Was ist? Hast du plötzlich Höhenangst?“, fragte er teils amüsiert, teils alarmiert.
Vorsichtig, damit der Kopf nicht vom Hals rutschte und in die Tiefe stürzte, nickte ich.
„Okay, ganz ruhig. Ich komme zu dir und hol dich ab.“ Er duckte sich durch die Öffnung und legte seine Hand auf meine Schulter. „Komm, kann nichts passieren“, versprach er und zog mich langsam mit sich.
Durch Konzentration und Willenskraft schaffte ich es, die Finger vom Sandstein zu lösen und mit ihm durch die Öffnung zurück in den Turm zu gelangen. Eine Weile blieb ich noch an ihn geklammert, dann traute ich mich, mich langsam zu lösen.
Der Angstschweiß rann weiterhin aus sämtlichen Poren. Meine Haare waren klatschnass, feuchtwarm lief es in den Nacken und den Rücken hinunter. Zudem unterschied sich meine Gesichtsfarbe kaum von derjenigen der Wand hinter mir, erzählte Thomas mir später.
Ich atmete tief durch, versuchte klar zu werden, wieder runterzukommen - und erstarrte erneut. Runterkommen! Daran hatte ich bis gerade nicht gedacht. Eine neue Hitzewelle schoss mir in den Körper, als ich die steinerne Wendeltreppe sah. Kein Geländer weit und breit. Auf der einen Seite lag die Turmmauer, doch auf der anderen nur eine knöchelhohe Barriere, die mehr als Stolperfalle denn als Schutz erschien. Als wäre das nicht schon schlimm genug, konnte man die sechzig Meter ungehindert hinunterschauen - oder fallen. Darüber, dass das unverantwortlich war, konnte ich nicht nachdenken, denn ich stand kurz vom Hyperventilieren.
Mein panischer Blick ins Treppenhaus war meinem Partner nicht entgangen. „Soll ich fragen, ob wir ausnahmsweise den Fahrstuhl benutzen können?“, erkundigte er sich vorsichtig.
Wie ein alter Mann, dem der Sauerstoff ausgeht? Nein, das will ich dann doch nicht, beschloss ich. Ich wollte diese plötzlich aufgetretene Höhenangst sofort im Keim ersticken. Langsam schüttelte ich den Kopf. „Geh du aber vor.“
Thomas nickte und machte sich auf den Weg. Beide Füße auf jeder Stufe absetzend und mich an der Steinwand und Thomas‘ Schulter festhaltend, trat ich den Rückweg an. Ich atmete flach und schnell, ganz im Gegenteil zu meinem Abstieg, der steil und langsam verlief. Zum Glück waren keine anderen Besucher hinter uns, die mich durch ihre pure Anwesenheit zur Eile getrieben hätten.
Die zehn Minuten, die wir bis unten benötigten, kamen mir wie Stunden vor. Ich war so erleichtert, heil angekommen zu sein, dass ich mich jauchzend auf den Boden setzte.
Thomas strich mir über den Rücken. „Hast du super gemacht.“
„Nie wieder“, meinte ich knapp.
„Vielleicht in zwanzig Jahren, wenn die Kirche fertig ist?“
„Nie … wieder.“
Er lachte, nahm meine Hände und zog mich hoch.
Auch vierzehn Jahre später kämpfe ich in Höhen mit dem Gefühl eines zugeknoteten Magens und weichen Knien. Immer dann, wenn sich eine Balustrade unter oder auf meiner Hüfthöhe befindet.
Silberstreifs Herrschaft
Aufgabe: Eine Kurzgeschichte aus dem Bereich Fantasy schreiben
Umfang: 120 Zeichen
Vorgegebener Anfang: Es war eine düstere Novembernacht und ich war allein zuhause. Der Hund hatte schon ein paar Mal angeschlagen, als er gegen Mitternacht endlich Ruhe gab. Ich wälzte mich noch eine Weile hin und her, hörte das alte Haus ächzen und knarren und war gerade eingeschlafen, als ich spürte, dass es ganz hell im Zimmer geworden war. Ich öffnete die Augen und sah ...
... zuerst nur einen hellblauen, mit silbernen Sternen verzierten Hut. Unter der Krempe wandte sich ein rotblonder Zopf heraus und pendelte über einem blauen Umhang. Noch immer geblendet, rieb ich mir die Augen und erkannte nun die ganze Gestalt.
„Dewi! Was zum Grollsch soll das?“
Breit grinsend drehte sich der Magier zu mir. „Sire, da seid Ihr ja.“
„Wo denn sonst? Was machst du hier mitten in der Nacht?“
„Verzeiht Sire, aber es ist dringlich.“
„Das möchte ich dir geraten haben. Wie spät ist es?“
„Die erste Stunde des neuen Tages.“
Brummend warf ich ein Kissen nach ihm und motzte: „Was willst du hier?“
„Sire, bitte, Ihr müsst aufstehen. Wir müssen aufbrechen.“
„Aufbrechen? Hat dir ein Grollsch das Hirn geraubt?“
„Ihr wisst, ich habe …“
„… kannst du aufhören, so geschwollen zu reden?“, fiel ich ihm ins Wort. „Zum Grollsch, wir kennen uns seit Kindertagen.“
„Richtig, richtig. Verzeiht.“
Ich seufzte und er nickte eilig. „Schon gut. Wie du weißt, recherchiere ich zu diesem Thema seit Langem, weil ich es nicht mit ansehen kann, wie der rechtmäßige Herrscher von Silberstreif in einem … nun, nennen wir es mal Haus … sein Dasein fristet, während der fette Oscar es sich dort drüben im Schloss gemütlich macht.“
„… und lachend am Fenster steht“, fügte ich hinzu.
Überrascht kniff Dewi die Augen zusammen. „Das kannst du vom Bett aus sehen?“
„Dewi, das Schloss sieht auf die Entfernung kleiner aus als deine spitze Nase, wie soll ich das sehen können?“
Er lachte erleichtert. „Richtig, richtig. Ich bin hier, da ich herausgefunden habe, wo dein Vater den goldenen Apfel versteckte, bevor Oscars Heer Silberstreif überrannte.“
„Der Apfel? Das ist ja wunderbar. Dann ziehen wir morgen bei Sonnenaufgang los“, beschloss ich und drehte mich auf die Seite, um weiter zu schlafen.
„Nein, warte. Nicht morgen. Es muss jetzt sein, noch in dieser Nacht.“
„Wozu die Eile? Er ist seit fünf Jahren verschwunden.“
„Der Apfel … nun … er ist in den Höhlen der Grollsch.“
Ich starrte ihn entsetzt an. „Ich … soll in die Höhlen der Grollsch marschieren und den Apfel holen? Wenn ich nur den Zugang passiere, hat mich schon eine dieser Bestien mit den langen Krallen in Stücke zerlegt.“
„Aber heute ist die Nacht, in der sie schlafen, um sich zu erneuern.“
„Wir gehen in ein Höhlensystem mit Tausenden schlafenden Grollsch?“
Er nickte. „Wir schleichen uns durch, holen den Apfel und sind weg, bevor sie auch nur merken, dass wir dort gewesen sind.“
„Was soll der Aufwand? Transportier uns doch rein und schnell wieder raus.“
„Das Gestein …“, setzte er an.
„… wie sollte es auch anders sein?“, schnitt ich ihm das Wort ab, als mir die Ungerechtigkeit in dem Ganzen bewusst wurde. „Du kannst dich quer durch Silberstreif transportieren, aber mein Vater musste den Apfel genau dort verstecken …“
„… wo das Gestein den Zauber hindert“, schloss er den Satz ab.
Nun verstand ich sein Drängen und schwang mich aus dem Bett, um mich eilig anzukleiden.
Bevor ich es mir anders überlegen konnte, griff er mich am Arm und Übelkeit schlug mir mit eiserner Faust in den Magen.
Als ich die Augen öffnete und sich mein Gleichgewichtssinn beruhigt hatte, sah ich den Eingang in den Schieferfelsen der Grollsch. Nur mit ihren Klauen hatten sie diesem Gestein beikommen können. Sie hatten sich ein komplexes Höhlensystem gegraben, wie Maulwürfe. Zumindest erzählte man sich das, denn niemand war je aus dem Felsen zurückgekehrt. Ich schluckte und versuchte, das beklemmende Gefühl abzuschütteln, als wir die Höhle betraten.
Das blassblaue Licht aus Dewis Zauberstab warf tanzende Schatten ans Schiefergestein. Der Magier behielt recht. Schliefen die Grollsch nicht, würden sie uns bereits das Fleisch von den Knochen nagen. Angewidert verzog ich das Gesicht und folgte meinem Freund tiefer in die Höhle.
Rülpsendes röchelndes Schnarchen wurde lauter, je weiter wir vordrangen. In einer Kammer sah ich unzählige Grollsch am Boden liegen. Man erzählte sich in ganz Silberstreif von ihren widerlich weißbehaarten Körpern, von den schmalen Köpfen und den Säbelzähnen ihrer Mäuler, aber sie sahen weitaus schlimmer aus, als ich sie mir je vorgestellt hatte. Eilig huschten wir am Durchgang vorbei und passierten schweigend drei weitere dieser Kammern, bis wir in einen kleinen Raum kamen. Ich traute meinen Augen kaum, als ich den goldenen Apfel auf einer Schiefersäule liegen sah. Dewi nickte mir zu und deutete mit dem Kopf in Richtung Schatz. Am liebsten wäre ich sofort hingerannt und hätte das Erbstück Silberstreifs an mich gerissen, doch vorher musste ich noch geschickt drei schnarchende Grollsch umrunden. Auf Zehenspitzen balancierte ich durch den Raum, um die Bestien nicht zu wecken. Dewi lehnte sich am Zugang gegen die Wand und das Chaos nahm seinen Lauf. Hinter ihm löste sich eine Schieferplatte. Er verkrampfte sich, versuchte sie mit verdrehten Gliedmaßen zu fassen zu bekommen. Bevor die Platte auf den Boden donnerte, hörte ich ihn scharf die Luft einsaugen.
Ich gefror in der Bewegung, hielt den Atem an, fokussierte die weißen Bestien. Der Knall wälzte sich als ein anhaltendes Echo durch die Höhlengänge. Als sich einer der Grollsch grunzend bewegte, sah ich mein letztes Stündlein schlagen. Ich starrte ihn an, hoffte, er würde weiterschlafen. Doch den Gefallen tat er mir nicht. Die Lider hoben sich, wir glotzten einander an. Als der Grollsch realisierte, was geschah, sprang er auf.
„Schnapp dir den Apfel“, brüllte Dewi.
Ohne weiter nachzudenken, rannte ich los und griff nach dem Schatz. Hinter mir gab der Grollsch ein Brüllen von sich, das die Decke zum Beben brachte. Der Weckruf ließ die beiden anderen Bestien aufspringen. Die drei kreisten mich ein. Aus den Tiefen der Höhle drang das Jaulen weiterer Grollsch. Ich wünschte mir eine Ohnmacht, denn zerfleischt zu werden, das wollte ich lieber nicht mitbekommen. Schweißüberströmt schloss ich die Augen. Mein Magen schnürte sich zu einem festen Knoten zusammen und der Apfel glitt mir beinahe aus den feuchten Händen. Das Rauschen in meinen Ohren übertönte das Geräusch scharfer, über Schiefer wetzender Krallen leider nicht.
Im Geist malte ich mir ein Horrorszenario nach dem nächsten aus, als es plötzlich still wurde. Einzig mein hämmerndes Herz und gleichmäßiges Schnaufen hörte ich.
„Sieh nur“, flüsterte Dewi.
Vorsichtig hob ich ein Lid. Die drei Bestien knieten vor mir. Ungläubig sah ich zwischen ihnen und dem goldenen Apfel in meiner Hand hin und her. Ich hob den Kopf, richtete den Blick auf den Durchgang, wo weitere Grollsch an dem verblüfften Dewi vorbei den Raum betraten. Sie alle hielten das Haupt gesenkt.
„Jetzt verstehe ich, warum dein Vater dieses Versteck gewählt hat“, wisperte der Magier.
Ich nickte und trat einen Schritt vor. Die Grollsch wichen zur Seite und bildeten eine Gasse.
Zu Beginn noch zögerlich, doch schon bald mit festem Schritt, marschierten Dewi und ich zum Ausgang. Tausende Grollschs folgten uns aus der Höhle heraus. Das war in der Tat ein cleverer Zug von Paps, dachte ich. Entweder man geht bei dem Versuch, den Apfel zu erlangen, drauf, oder man versammelt eine Armee von Bestien hinter sich, die den Träger des Artefakts als ihren Herrscher ansehen. Ganz oder gar nicht, barbarischer Exitus oder glorreiches Leben. Ein Mittelweg konnte hier nicht gegangen werden.
„Jetzt wird Oscar das Lachen vergehen, wenn wir am Schloss auftauchen.“
„Richtig, richtig“, stimmte Dewi lächelnd zu.
Texte: Michael Junge
Bildmaterialien: Pixabay.de
Cover: Michael Junge
Satz: Michael Junge
Tag der Veröffentlichung: 11.10.2019
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