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Mit einem Schrei schreckte ich aus dem Schlaf. Der Schweiß lief in Strömen, während ich versuchte meinen keuchenden Atem zu beruhigen. Langsam, mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend, drehte ich den Kopf und sackte erleichtert zurück in die Kissen. Es war noch da, hing an seinem angestammten Platz an der Wand hinter mir. Nur ein Traum, es war nur ein Traum!
„Iff waff?“, fragte Zad. Sein Kopf erschien im Türrahmen des Schlafzimmers. Munter putzte er seine Zähne, während er mich abwartend musterte.
„Nein, alles ist gut. Ich habe geträumt, dass das Amulett verschwunden ist. Gestohlen! Aber dort hängt es ja noch seelenruhig.“ Ich zeigte hinter mich auf die gläserne Scherbe.
„Dann iff ja alleff im Lot“, nuschelte er und zog sich Zähne putzend ins Bad zurück.
Nachdem Zad und ich vor drei Monaten aus Bota Ëndërr zurückgekehrt waren, sah ich keinen Grund, Samandriels Amulett weiterhin in meiner Schublade zu verstecken. Zad hatte die Verbundenheit zu dieser phantastischen Welt gespürt und spürte sie auch weiterhin, wie er ab und zu kundtat. Sogar der wahre Engel Samandriel war dort aus seinem tiefsten Inneren aus ihm hervorgebrochen. Die riesigen weißen Schwingen hatten uns vor dem Seelenjäger beschützt. Von diesem Moment an wusste er, wer er tatsächlich war und warum er sich in unserer Welt nie wirklich Zuhause gefühlt hatte.
Ich musste noch einmal kurz weggedöst sein, da ich erneut hochschreckte, als Zad durch die Wohnung polterte. Immer wieder trabte er an der offenstehenden Schlafzimmertür vorbei. Genüsslich schaute ich dabei zu, wie sich die Kleidungsstücke an seinem Körper mehrten. Das erste Mal rannte er nur mit einer Unterhose bekleidet vorbei. Beim nächsten Blick, den er mir gönnte, trug er bereits seine Jeans. Es folgte ein hektischer Zad, dessen Schuhe den Weg an seine Füße gefunden hatten. Die weiteren drei Male blieb das Bild unverändert und er stöhnte gestresst auf. Im Vorbeirennen griff er an den Türrahmen und stoppte seinen Lauf, als er mich erblickte. „Oh, wieder wach?“
Ich grinste breit. „Nein, ich schlafe tief und fest.“
„Witzig“, gab er genervt von sich. „Wo zum Geier ist mein T-Shirt?“
„Wie wär’s mit dem Kleiderschrank?“, schlug ich schmunzelnd vor.
Er schlug sich vor die Stirn. „Also hin und wieder frage ich mich, warum ich meinen Kopf nicht schon mal irgendwo habe liegen lassen.“
„Du bist spät dran“, streute ich noch etwas Salz in die Wunde.
„Schatz, du merkst aber auch alles!“ Er trabte zum Schrank und riss die Tür beinahe aus den Angeln. Schnell hatte er das Shirt hervorgeholt, zog es über, drückte mir eilig einen Kuss auf und rannte aus dem Zimmer.
„Schlüssel! Schlüssel! Wo ist mein verdammter Schlüssel?“, motzte er.
„Da, wo er hingehört“, flötete ich fröhlich.
„Danke. Bis heute Abend!“, rief er vom Flur aus. Keine Sekunde später erschien sein Kopf wieder im Türrahmen. „Macht euch einen schönen Tag, ihr Faulenzer!“
„Machen wir. Und nun sieh zu …“
„Bin schon weg.“
Die Wohnungstür fiel ins Schloss und das Geräusch eines wilden Galopps im Treppenhaus verstummte langsam.
Ich seufzte wohlig und fiel zurück in die Kissen. So ein freier Freitag außer der Reihe war doch etwas Feines. Auf das Treffen mit Lara freute ich mich riesig. Sie war ziemlich im Stress mit ihren Klausuren gewesen, sodass für Freunde keine Zeit blieb. Jegliche Anfrage meinerseits wurde direkt im Keim erstickt. ‚Keine Zeit, keine Zeit’ hieß es jedes Mal. Umso aufgeregter war ich, sie heute endlich wiederzusehen und einen schönen Tag mit meiner rar gewordenen besten Freundin verbringen zu können. Gestern hatte sie ihre letzte Klausur geschrieben und war in totaler Feierlaune.
„Hey Großer“, begrüßte Lara mich, als sie im Straßencafé eintraf. Ich sprang aus dem Stuhl und presste sie fest an mich. „Hey Süße“, gab ich grinsend zurück und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. „Gut siehst du aus“, sagte ich und schob sie ein Stück von mir, um sie richtig betrachten zu können.
„Ach, der alte Fummel“, lachte sie und winkte ab.
„Lass mich raten: Gestern gekauft?“
„Du kennst mich eben doch am Besten“, grinste sie und setzte sich.
Die Kellnerin kam und nahm Laras Bestellung auf, während ich an meinem Milchkaffee nippte.
„Und? Wie ist die Lage nach der letzten Klausur?“
„Oh Mann, ich glaube, ich bin gestern den halben Tag mit einem Dauergrinsen im Gesicht herumgelaufen. Bin ich froh, dass das Thema durch ist.“
„Glaube ich gerne. Jetzt kannst du wieder in Ruhe auf Brautschau gehen.“
„Hmmm“, brummte sie nur.
Überrascht zog ich die Augenbrauen zusammen. „Was ist? Keine Lust auf Mädels?“
„Doch, auf ein bestimmtes schon“, gab sie wehmütig von sich.
„Die hat es dir ja echt angetan, wie?“
„Allerdings“, gab sie zu und strich sich eine Strähne hinters Ohr. „Was mache ich denn bloß? Ich bekomme sie einfach nicht aus dem Kopf – und aus meinem Herzen schon gar nicht.“
„Puh. Das ist echt eine verzwickte Situation. Aber du musst sie dir aus dem Kopf … und dem Herzen schlagen“, riet ich.
„Wenn das mal so einfach wäre“, seufzte Lara.
Die Kellnerin kam und jonglierte einen Milchkaffee und unser Frühstück auf ihrem Tablett. Wir schwiegen, während die Leckereien auf dem Tisch ausgebreitet wurden.
„Lasst es euch schmecken“, trällerte die Bedienung und wandte sich an einen frisch eingetroffenen Gast zwei Tische neben uns.
Es war bereits elf Uhr durch, daher gab es für mich kein Halten mehr. Der Hunger kratzte bereits unter den Achseln und so verschlang ich in Windeseile das erste Brötchen.
„Wo bist du eigentlich nach deinem ersten Besuch rauskommen?“, wechselte Lara das Thema.
„Waf meinf du?“, fragte ich mit vollem Mund.
„Na, als du zurück aus Bota Ëndërr kamst. Wo bist du da in unserer Welt herausgekommen?“, spezifizierte sie.
„Im Krankenhausbett. Weißt du doch.“
Sie nickte nachdenklich. „Ich finde es seltsam, da wir beim letzten Besuch alle drei gegen die Scheibe im Glaslabyrinth gedonnert sind.“
„Hmmm“, brummte ich. „Du meinst, da ich das Land gehend verlassen habe, müsste ich hier auch aufrecht angekommen sein?“
„Genau das war mein Gedankengang, ja.“
„Könnte stimmen, habe ich mir bisher aber keinen Kopf drum gemacht. Ich war ja froh, dass ich es überhaupt zurück geschafft hatte.“
„Klar, verstehe ich ja auch, aber dennoch … kannst du noch mal darüber nachdenken?“, horchte sie nach.
„Kann ich tun“, versprach ich, „aber warum interessiert dich das eigentlich?“
„Och, war nur so ein Gedanke“, winkte sie ab und begann, genüsslich auf ihrem Käsebrötchen herumzukauen.
„Was machen wir gleich noch?“, schwenkte sie erneut zu einem anderen Thema.
„Ich könnte ein paar neue Klamotten vertragen.“
„Au ja. Shopping mit meinem besten Freund. Das wird bestimmt wieder lustig. Weißt du noch beim letzten Mal, als wir in diesem Billigladen eine Modenschau abgezogen haben?“, kicherte sie.
„Ja, das war genial … zumindest solange, bis sie uns rausgeschmissen haben.“
Wir lachten beide, als wir die Bilder erneut vor unserem Geiste heraufbeschworen.
Der Tag mit Lara verflog regelrecht. Es war ein rundum gelungenes Wiedersehen, nach der langen Zeit der gegenseitigen Entbehrung. Fünf T-Shirts, zwei Jeans und ein Paar Schuhe brauchten dringend ein neues Zuhause und schauten mich mitleidig an. Da konnte ich natürlich nicht ‚nein’ sagen und stand Zad am Abend zu einer kleinen Modenschau zur Verfügung.
„Das ist das letzte Shirt“, sagte ich und drehte mich, wie auf dem Catwalk in alle Richtungen.
„Die sind alle Klasse“, gestand Zad, „und jetzt noch mal ohne“, forderte er.
Ich grinste und legte einen sexy Strip für ihn hin.
„Ahhhh, ich könnte dich zu Tode knutschen!“, rief er, trabte auf mich zu und riss mich mit ins Bett.
Ich quietschte wie ein Schwein am Spieß, als er seine flinken Finger über meinen Körper fahren ließ, um mich ordentlich durchzukitzeln.
„Hör auf! Bitte … nein … ah … Gnade!“, flehte ich.
Erschöpft lagen wir später auf dem Rücken nebeneinander im Bett und starrten die Decke an.
„Und? Über was und wen habt ihr abgelästert?“, fragte Zad, noch immer schnaufend.
„Abgelästert? Wir?“, erboste ich mich gespielt und setzte mich auf.
Er lachte und nickte eifrig mit dem Kopf.
„Ach du“, winkte ich ab, „so etwas würden wir nie …“
„… auslassen“, fuhr er mir über den Mund.
„Wir haben uns fast zwei Monate nicht gesehen, da hatten wir schließlich Einiges nachzuholen“, erklärte ich.
„Schon klar“, lachte er, „ernste Themen sind tabu, richtig?“
„Ja … nein“, korrigierte ich mich hastig.
„Nein?“, horchte er nach und setzte sich ebenfalls auf.
„Nein. Sie hat mich gefragt, wo ich nach meiner ersten Bota Ëndërr Reise zurück in unsere Welt gekommen bin“, erklärte ich grübelnd.
„Aber sie war doch im Krankenhaus dabei.“
„Habe ich auch gesagt, aber sie hat einen Punkt angesprochen, der mir mittlerweile auch seltsam vorkommt.“
„Und zwar?“, hakte Zad nach und legte sich auf die Seite. Den Kopf mit dem Arm abgestützt, schaute er mich erwartungsvoll an.
„Sie gab zu bedenken, dass wir bei unserem gemeinsamen Besuch alle gegen die Scheibe im Labyrinth gedonnert sind und folgerte, dass es vor meinem Erwachen im Krankenhaus noch einen Augenblick gegeben hat, in dem ich mich in der Senkrechten befunden haben müsste.“
„Hä? Moment, lass mich kurz umsortieren.“
Ich grinste.
„Das könnte sein. Du hast Bota Ëndërr ja nicht in der Waagerechten verlassen. Sie meint also, dass du irgendwo rausmarschiert bist, bevor du eine Art Sprung ins Krankenbett gemacht hast?“, vergewisserte er sich.
„Genau das.“
„Allerdings ist dies eine Fifty-Fifty Chance. Wer sagt denn, dass die Weise der zweiten Rückreise nicht die falsche war? Vielleicht gibt es da keine Logik? Ich meine, es geht schließlich um Bota Ëndërr.“
„Auch wieder wahr. Ich habe eh keine Ahnung, warum das so interessant für sie ist. Jedenfalls hat sie mich gebeten, noch einmal darüber nachzudenken.“
„Und? Hast du?“
„Natürlich nicht. Wann hätte ich das tun sollen? Als ich dir die Klamotten vorgeführt habe und mich arg darauf konzentrieren musste, dass du sie mir mit deinen gierigen Blicken nicht direkt wieder vom Leib reißt? Oder während du mich mit dem Auskitzeln gefoltert hast?“
„Hast recht. Du bist ein armer Wicht.“ Er boxte mir sachte auf die Nase und ich schnappte nach seiner Hand.
„Uaahhh, ich will dir fressen!“, rezitierte ich.
„Ne, aber mal im Ernst. Ist dir etwas eingefallen?“
„Nein“, gab ich knapp zurück.
„Komm schon, streng dich mal an. Ich halte auch die Klappe“, versprach Zad und zog den virtuellen Reißverschluss an seinem Mund zu.
Also gut, dachte ich. Wofür auch immer das eigentlich nützlich sein sollte, würde ich kurz in mich gehen und ‚nachsehen’, ob bei meiner Rückkehr noch ein Zwischenschritt stattfand, den ich schlichtweg ausgeblendet hatte.
„Sorry, keine Chance“, gab ich nach einer Weile zu. „Da ist der Nebel, in welchen ich hineingegangen bin und als nächstes das Gesicht meiner Mutter im Krankenzimmer.“
„Naja, ist nicht schlimm“, winkte Zad ab.
„Doch, irgendwie schon. Jetzt bin ich angefixt und würde gerne wissen, ob es einen Zwischenschritt gab oder nicht“, beharrte ich.
„Warte mal …“, sagte er, sprang aus dem Bett und rannte ins Wohnzimmer.
Was denn jetzt?, fragte ich mich, doch übte ich mich in Geduld.
„Ich habe zwar morgen frei, aber wir werden zusammen ins Krankenhaus fahren“, informierte er mich, nachdem er zurück ins Zimmer getreten war.
„Mit wem hast du telefoniert?“
„Paul“, sagte er kurz.
„Paul?“ Ich riss die Augen auf. „Bist du irre?!“
„Was denn?“, gab er unschuldig zurück und hob die Hände abwehrend vor den Körper.
„Du willst mich zu Laras Bruder in die Psychiatrie schleifen?“, erboste ich mich.
„Warum nicht? In seinem Berufszweig ist er einer der besten Hypnotiseure.“ Zad hielt inne, sodass die Information langsam durch meine Hirnwindungen sickern konnte. Hypnose?
„Unter Hypnose kannst du den Augenblick, den dein Gedächtnis allem Anschein nach für sich behalten möchte, vielleicht hervorkitzeln“, erklärte Zad mir.
„Ja, das klingt vielversprechend, da hast du recht, aber was soll ich ihm denn sagen? Er weiß doch von Alledem nichts. Lara bringt mich um, wenn sie das erfährt.“
„Quatsch. Er weiß, dass du im … nennen wir es mal Koma … warst und du erzählst ihm, dass du versuchen möchtest herauszufinden, was du da so alles mitbekommen hast …“
„… und was der Auslöser für meine Genesung gewesen sein könnte. Genau!“, jubilierte ich. „Das machen wir.“
Um acht Uhr am nächsten Morgen stand ich gemeinsam mit Zad im Krankenhaus auf der Matte.
„Ladies“, grüßte Zad die Vorzimmerdamen in der Psychiatrie.
„Hey Zad, alles klar?“
„Ja alles senkrecht und bei euch?“, grinste er.
„Bis auf den Umstand, dass ich mal wieder an meinem freien Wochenende einspringen durfte … aber was tut man nicht alles, damit das Konto Futter bekommt?“, murrte eine von ihnen.
„Stimmt. Das ist Benjamin, mein Partner“, erklärte Zad und schob mich näher an den Tresen.
„Guten Morgen“, sagte ich brav.
„Hallo Ben“, gaben sie im Chor zurück.
Einige von Zads Kollegen kannte ich bereits von der einen oder anderen Freizeitunternehmung. Diesen drei blonden Mädels, die geschulte Blicke über meinen Körper schweifen ließen, war ich bisher allerdings nicht begegnet. Aber auch Paul kannte ich nur von der einen oder anderen Party bei Lara.
In mir breitete sich ein heißes Kribbeln aus, als ich an den großen athletischen Mann dachte. Paul war, wenn ich das richtig in Erinnerung hatte, fünf Jahre älter als seine kleine Schwester. Auch er präsentierte dunkelbraunes, fast schwarzes Haar. Die grünen Augen, mit denen mich meine beste Freundin immer anstrahlte, hatte er allerdings nicht. Seine haselnussbraunen Rehaugen bildeten hingegen eine beruhigende Einheit mit dem dunklen Schopf. Als ich das erste Mal auf ihn traf, war ich wie betäubt und brachte kaum ein Wort über die Lippen. Nachdem Lara mir Pauls aktuelle Freundin vorstellte, war diese Starre allerdings schnell verflogen. Hetero. Klar! Die besten Kerle waren ja schließlich immer Hetero!
Nun sollten also nur noch Minuten vergehen, bis ich erneut auf dieses Einsfünfundneunzig-Geschoss mit dem knackigen Hintern treffen würde.
„… aber er war doch gerade noch in seinem Büro“, holte mich Karolines Piepsstimme zurück in den Wartebereich des Krankenhauses. Eilig wandte ich den Blick von ihrem Namensschild, welches auf dem üppigen Busen prangte, ab. Peinlich berührt schoss das Blut in meine Wangen.
„Saskia?“, rief sie ins Hinterzimmer, „Wo ist eigentlich Paul?“
„Kommt gleich“, kicherte die Angesprochene.
Zad und ich rollten zeitgleich mit den Augen.
„Setzt euch doch“, bot Karoline an und zeigte auf eine Reihe mit blitzweißen Stühlen. Mein Hintern hatte die Sitzfläche kaum berührt, als eine Tür aufging und Paul den Raum betrat. Er hatte uns den Rücken zugewandt und verabschiedete sich lachend von irgendjemandem, den ich nicht sehen konnte.
„Guten Morgen Jungs“, sagte er und eilte auf uns zu. Mit ausgestrecktem Arm stand er da und begrüßte uns nacheinander.
„Hey Paul, alles klar?“, fragte Zad.
„Soweit so schlecht“, lachte der. „Hallo Ben, schön dich auch mal wiederzusehen.“
„Hi Paul. Finde ich auch. Das ist ja schon eine Weile her, oder?“, überlegte ich laut.
„Stimmt. Wird mal wieder Zeit für eine wilde Party“, grinste er und ließ die Hüften kreisen. Er deutete auf seine Bürotür. „Kommt rein.“
Als wir im Büro saßen herrschte eine recht angespannte Stimmung. Die innere Unruhe, die in mir aufzusteigen drohte, versuchte ich mit Gewalt zurückzudrängen. Nicht nur, dass ich mich gleich in eine Hypnose verabschieden würde, nein, diese musste auch noch ausgerechnet von diesem heißen Kerl durchgeführt werden. Verwirrt durch diesen Gedanken besah ich mir Zad und stellte wie so häufig fest, dass er anderen sexy Typen in nichts nachstand. Zad war vielleicht fünf Zentimeter kleiner als Paul, aber er hatte einen wesentlich ausgeprägteren Muskelaufbau. Eigentlich, überlegte ich, könnten diese beiden Männer auch genauso gut Brüder sein. Haar- und Augenfarbe stimmten exakt überein. Paul hatte bemerkenswert harte Gesichtszüge, dennoch sprach mich Zads markantes Engelsgesicht mit den wunderschön geschwungenen Lippen mehr an. Ich grinste bei dem kleinen Wortspiel und nickte in mich hinein. Von den inneren Werten, mit denen mich Zad immer wieder zu begeistern wusste, mal ganz abgesehen. Ich hatte bereits den besten der besten an meiner Seite, freute ich mich.
„Dann erzähl mal. Warum möchtest du dich dieser Sitzung unterziehen?“, holte Paul mich mit tiefer Stimme aus meinen Gedanken.
„Eigentlich … möchte ich gar nicht … mehr“, tat ich stockend kund und erhob mich aus meinem Sessel.
„Von wegen!“, ging Zad dazwischen und drückte mich zurück ins Leder.
Paul schaute derweil irritiert zwischen Zad und mir hin und her.
„Ähm“, setzte er an, „wenn er nicht möchte, dann wird die Hypnose wahrscheinlich eh nicht richtig funktionieren“, erklärte er Zad.
Beide schauten mich fragend an. Ich driftete in diesem Moment so tief in das Braun von Pauls Augen, dass ich mich fühlte, als hätte die Sitzung bereits angefangen.
„Ben?“, angelte er mich aus diesen Haselnusstiefen zurück.
„Ja … ich … also gut“, brabbelte ich und grinste ihn schief an.
„Na wunderbar!“, rief er aus, schlug sich auf die Oberschenkel und sprang auf. „Dann setz dich mal hier gemütlich hin und erzähl, worum es eigentlich geht. Dann kann ich mich ein wenig darauf vorbereiten und versuchen, dich in die richtige Richtung zu treiben.“
Ich wechselte den Platz und begann zu berichten: „Wie du ja weißt, lag ich vor ein paar Jahren einige Zeit im Koma.“ Ich blickte ihn abwartend an und als er nickte, fuhr ich fort: „Ich habe mich gefragt, ob es ein bestimmtes Ereignis gab, welches mich zurückgeholt hat. Das ist es, wonach ich dich und mich gerne forschen lassen würde.“
„Aha. Hmmm. Okay, du möchtest also, dass ich dich in der Hypnose zu dem Moment führe, kurz bevor du aufgewacht bist?“, vergewisserte er sich.
„Korrekt“, stimmte ich zu.
„Alles klar. Dann wollen wir mal.“ Paul stand auf und schaltete das große Licht im Büro aus und ließ die Rollladen herunter. Eine kleine Lampe auf dem Schreibtisch, neben dem ich saß, war die einzige verbliebene Lichtquelle. Der Raum lag in einer gemütlichen Beleuchtung. Zad saß ein Stück entfernt im Halbdunkel und hatte sich interessiert nach vorne gebeugt.
„Ich lass bei den Sitzungen immer eine Kamera mitlaufen, ist das in Ordnung für dich?“, fragte Paul.
Dachte ich, dass ich zuvor nervös gewesen war, belehrte mich mein Körper in diesem Moment eines Besseren. Die schweißnassen Handflächen rieb ich an meiner Jeans trocken und ein leichtes Zittern beherrschte mich. Dennoch nickte ich verhalten.
„Gut, dann lass uns beginnen.“ Er schaltete die Kamera ein, zog seinen Stuhl direkt vor mich und setzte sich. Ganz tief schaute er mir in die Augen, dass mein Herz nervös zu rasen begann. Was wird gleich passieren?, fragte ich mich. Werde ich erfolgreich herausfinden, ob es wirklich noch einen Zwischenschritt gegeben hatte, bevor ich im Krankenhaus aufwachte?
Paul legte die Handfläche mit sanftem Druck auf meine Stirn.
„Schließe die Augen und höre auf meine Stimme. Fühle die Schwingungen, die mit jedem Wort in dich übergehen … konzentriere dich auf deine Atmung … Es gibt nichts um dich herum, nur deine Atmung und meine Stimme … du wirst müde … du läufst eine Wendeltreppe in einem steinernen Turm herunter … immer weiter … immer tiefer dringst du vor … mit jeder Stufe fühlt sich dein Körper schwerer an. Wenn du unten ankommst, wirst du eine Tür vorfinden … kannst du diese bereits erkennen? Gehe weiter. Stufe für Stufe … atme … lass alles andere los … wenn du diese Tür erreicht hast, werde ich mit den Fingern schnippen und du wirst sie öffnen, wie du ebenfalls deinen Geist öffnen wirst …“
Irgendwo, weit entfernt, außerhalb dieses steinernen Turms, in dem ich gemächlich meinen trägen Körper die Treppen herunterschleppte, erklang ein Schnippen. Ich griff an die Klinke der Holztür vor mir und trat hindurch …
Ich verabschiedete mich von Sam und Knox. Der Krix schob den ungläubig dreinblickenden Engel kurzerhand zur Seite und klammerte sich so fest um meinen Unterleib, dass mir die Luft wegblieb.
Als er sich von mir löste, blickte er traurig zu mir herauf. Dann schob sich ein Lächeln auf sein Gesicht und er machte mir Mut, als er sagte: „Du hast das alles ganz wunderbar gemeistert und am liebsten würde ich noch viele weitere Abenteuer mit dir gemeinsam bestreiten. Dennoch musst du zurück zu den Deinen.“
„Ja. Das weiß ich. Es war wunderbar hier bei und mit euch in Bota Ëndërr und ich verlasse diese Welt mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Doch nun, nachdem ich die Hoffnung in mir trage, wenigstens einen von euch wiederzusehen, fällt es mir leichter, den letzten Schritt zu tun.“
Sam nickte, drückte mir noch einen warmen Kuss auf die Lippen und schob mich mit sanfter Gewalt in den Nebel hinein.
Ich sah meine beiden Freunde noch vor mir stehen, als sich der Nebel um meinen Körper zu winden begann. Kurz bevor mir die Sicht komplett getrübt wurde, sah ich, wie Tefan aus dem Schleier trat und sich neben Sam und Knox gesellte. Glücklich darüber, dass auch er es geschafft hatte, dem Wald der süßen Träume zu entkommen, schloss ich die Augen und ließ meinen Körper auf einer warmen Woge davontragen.
Pflastersteine blitzten in meinem Sichtfeld auf, dann blickte ich in die, vom Weinen verquollenen, Augen meiner Mutter.
Ich spürte eine tiefe Bindung zu Pauls Geist. Ein Ruck durchlief meine Erinnerungen. Als würde man einen Film rückwärts laufen lassen, flogen die Ereignisse an mir vorbei und zurück zu dem Moment, als ich Tefan aus dem Nebel treten sah. Im Zeitlupentempo gesellte der Bandit sich zu Sam und Knox. Er nickte freundlich zum Abschied. Die Nebelwogen waberten um meinen Körper und ließen das Bild langsam verblassen. Es kam mir vor, wie eine Ewigkeit, die ich in dem grellen Licht verbrachte. Dann sah ich einen gepflasterten Weg. Dunkelrote und graue Steine tauchten vor mir auf. Weiterhin in einer Art Zeitlupe gefangen, hob ich den Blick, um mich umzusehen. Waren das Häuser?, fragte ich mich, doch erkennen konnte ich sie nicht. Das Gesicht meiner Mutter verdrängte die Szenerie kurz darauf.
Erneut wurde der Film zurückgespult und ich fand mich im weißen Nebel wieder. Der rot-graue Weg erschien. Ich hob den Blick. Dieses Mal noch langsamer als zuvor. Häuser konnte ich erkennen, als sich das Bild beinahe zu einem Stillleben wandelte. Kurz bevor ich in das Gesicht meiner Mutter blickte, registrierte ich ein großes Messingschild an einem der Häuser.
Dorthin wurde die Ansicht zurückgebracht. Ein Standbild dieses Messingschildes starrte ich in diesem Moment an. Das war der einzige Augenblick, der mir zeigen konnte, wo ich mich befand. Das Sichtfeld links und rechts von mir zeigte sich nur unscharf. Häuser und einen gepflasterten Weg, das fand man beinahe überall.
„Konzentrier' dich!“, donnerte Pauls Stimme in meinem Kopf. Ob er es wirklich so laut gebrüllt hatte, wie es in meinem Schädel dröhnte, wusste ich nicht zu sagen. Ich versuchte, der Aufforderung Folgezuleisten und konzentrierte mich auf den Aufdruck des Schildes. Verschwommen nahm ich die schwarzen Buchstaben wahr und versuchte, den Blick scharf zu stellen. Der erste Buchstabe müsste ein ‚A’ sein, vermutete ich, doch mehr konnte ich nicht erkennen.
„Los streng dich an!“, schepperte Pauls Stimme erneut durch die Szenerie. Ich nickte, zumindest sandte ich den Impuls aus. Ob mein Kopf sich dessen annahm, war allerdings fraglich.
Ich sammelte sämtliche Energien und fokussierte den Blick auf die Buchstaben.
„Näher ran, geh näher ran!“, wurde ich aufgefordert. Ich strengte mich noch weiter an, sodass sich das Messingschild heranzoomte. ‚Anwälte’ konnte ich erkennen und freute mich innerlich, dass ich es geschafft hatte. Jetzt brauchte ich nur noch die Namen und die Sache wäre klar.
Wieder konzentrierte ich mich. Mein Schädel brummte und fühlte sich an, als würde er jeden Augenblick auseinanderspringen.
„Du … arggg … schaffst … das“, klang Pauls Stimme gequält zu mir durch.
„Was ist?“, hört ich Zad ganz aufgebracht reden. Er schien unendlich weit entfernt zu sein. Nur ein Flüstern drang bis zu mir vor.
„Paul!“, rief er aufgeregt, „deine Augen!“
Ich war so fest in meiner Szenerie, dass ich dies zwar mitbekam, den Sinn aber nicht richtig greifen konnte.
„Mach … schon …!“, dröhnte es da zum wiederholten Male durch meinen Kopf.
Ja, ich mach ja schon, dachte ich gereizt.
„Voigt?“
„Weiter“, drängte mich Paul mit brüchiger Stimme.
„Paul hör auf. Brich das ab“, forderte Zad.
„Er hat … es … gleich“, gab der Angesprochene stockend zurück.
„und Berger!“ Geschafft, dachte ich erleichtert.
„Hol ihn zurück. Sofort!“, schrie Zad.
Genau, dachte ich, hol mich zurück. Ich habe alle Informationen. Irgendetwas fühlte sich seltsam an. Diese Verbundenheit zu Paul, welche ich die ganze Zeit über gespürt hatte, war verschwunden. Hallo?, versuchte ich laut zu denken.
Das Fingerschnippen, welches mir zu Beginn als Signal zum Aufwachen eingebläut worden war, erklang und ich schlug kurz darauf die Augen auf.
Zad sprang aus dem Sessel vor mir, setzte sich auf die Armlehne meines Sessels und schlang den Arm um meine Schultern.
„Alles in Ordnung?“, fragte er besorgt.
„Bei mir schon. Es war total interessant. Anstrengend, aber ich habe tatsächlich einen Zwischenschritt gemacht. Ich habe den Ort gefunden. Anwälte Voigt und Berger. Hammer oder? Das hätte ich nie für möglich gehalten, dass Paul das hinbekommt“, plapperte ich drauf los, stockte und sah mich um. „Wo ist eigentlich Paul?“, fragte ich überrascht.
Zad zeigte hinter sich. „Der musste mal dringend in die Keramikabteilung.“
„Äh?“
„Erklären wir dir gleich“, versprach er.
„So, das Ding können wir dann wohl erstmal wieder abschalten.“ Zad stand auf und machte sich an der Kamera zu schaffen.
„Du hast es also wirklich gefunden?“, fragte er, als er sich wieder zurück auf die Lehne des Sessels setzte. Er drückte mir liebevoll einen Kuss auf die Stirn.
Die Tür sprang auf und Paul betrat den Raum. Ein Bündel von Papierhandtüchern verdeckte zur Hälfte sein Gesicht. Ich stutzte und schaute fragend zwischen Zad und ihm hin und her.
„Sorry“, murmelte Paul durch sein Papier.
Ich riss die Augen auf, als ich das Blut sah, welches die Tücher Rot zu färben begann.
„Paul!“, rief ich alarmiert und sprang aus dem Sessel. Dass Zad durch die Neuverteilung des Gewichtes mit dem ganzen Möbel zu Boden krachte, bekam ich nur am Rande mit.
„Autsch. Das nächste Mal warnst du mich bitte vor“, murrte mein Partner.
„Entschuldigung“, gab ich zurück und schaute kurz über die Schulter. Zad war in Ordnung, stellte ich fest. Mit besorgtem Blick wandte ich mich daher an Paul. „Was ist passiert?“
„Geht schon wieder“, wich er aus. „Hat es geklappt?“
„Ja, das hat es“, stimmte ich nickend zu.
„Lass mal sehen“, forderte Zad, der neben uns angekommen war. Er griff nach dem Tücherberg, den Paul sich noch immer auf seine Nase presste. Vorsichtig legte er dessen Gesicht frei.
„Das sieht nicht gut aus, aber die Blutung scheint gestillt. Drück die Tücher noch ein paar Minuten drauf, dann müsste es wieder gehen.“ Mit leichtem Druck schob er die blutigen Tücher zurück gegen die Nase und überließ das Festhalten Paul selbst.
„Könnten mir die Herren vielleicht erklären, warum einer von euch blutet wie ein abgestochenes Schwein!?“, platzte ich heraus, als mein Geduldsfaden riss.
Beide starrten mich mit großen Augen an. Paul machte mit der freien Hand eine Geste, die Zad zu einer Erklärung zwang.
Fragend zeigte Zad auf sich selbst. „Ich?“, tat er überrascht.
Paul nickt und grinste breit.
„Wo fange ich da an?“, murmelte Zad.
„Wie wäre es mit dem Anfang?“, schlug ich ganz schlau vor.
Zad lächelte. „Du bist so süß, wenn du dich aufregst. Ich könnte dich glatt ...“
„Wir haben einen Zuschauer“, erinnerte ich ihn, als er knutschend über mich herfiel.
„Oh“, kommentierte Zad und sandte einen Blick an Paul, der klarmachte, dass ihm dessen Anwesenheit tatsächlich für einen Moment entfallen war.
Paul saß an seinem Schreibtisch, hielt die Tücher auf seine Nase gepresst und winkte schmunzelnd.
„Vielleicht zeigen wir ihm einfach die Aufnahme?“, half er Zad mäßig verständlich aus dem Erklärungszwang. Noch immer drückte er auf seiner Nase herum, sodass ich mich arg konzentrieren musste, um ihn zu verstehen.
„Gute Idee“, rief Zad und sprintete sichtlich erleichtert zum Schreibtisch.
Vorsichtig zog Paul den durchtränkten Tücherberg vom Gesicht und testete mit dem Finger, ob noch weiterhin Blut floss. Beruhigt stellte er fest, dass der Fluss gestoppt
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Michael J. Unge
Bildmaterialien: Michael J. Unge
Cover: Marco Harnisch
Lektorat: Sophie R. Nikolay / Claudia Wedig
Tag der Veröffentlichung: 24.12.2013
ISBN: 978-3-7309-7420-9
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Danke an alle meine treuen Fans, die bereits die ersten beiden Teile der Trilogie begeistern konnten.
Mit dem dritten und letzten Teil geht die Geschichte von Benjamin und seinem geflügeltem Partner Samandriel zuende.
Auch bei seiner letzten Reise wird es wieder spannend, phantastisch und unglaublich witzig!