Schlaff war ihr Körper, unruhig zuckten die Lider. Lange hatte sie standgehalten, doch nun wusste sie, dass sie im Kampf unterliegen würde. Sein dunkles Wesen war zu mächtig geworden. Sie musste sich ergeben, sich zurückziehen. Sie sparte ihre letzten Reserven und spielte ihm ein trügerisches Bild zu, suggerierte ihre Niederlage, zeigte ihm seinen Sieg. Der Düstere zog sich zurück, störte ihre Gedanken nicht weiter, überließ sie ihrem Schicksal.
Die verbliebene Energie legte sie in den Traum, den sie vor langer Zeit gewoben hatte. Der erste Versuch war fehlgeschlagen, was sie noch weiter schwächte. Etwas versperrte den Weg zu der Person, sodass sie nicht tief genug vordringen konnte, das Unterbewusstsein nicht zu greifen und beeinflussen vermochte.
Mit letztem Aufbäumen glückte es ihr bei dem anderen Körper. Sie bekam den nötigen Zugang. Es war ihre letzte Möglichkeit, um alles in die richtigen Bahnen zu lenken. Abgeschirmt vor den Blicken des Düsteren, in Nebel gewandet, griff sie zu, bohrte sich hinein, entsandte das Gespinst. Schickte den Hilferuf hinaus, betete, dass er richtig gedeutet werden möge.
Sie ließ Dunst die Sicht der beiden Männer verschleiern. Blind glitt der Retter, in den sie ihre verbliebene Hoffnung legte, in einer wabernden Wolke aus dichtem Nebel dahin. Sie teilte ihm mit, dass er sich unaufhaltsam auf sein Ziel zu bewegte, doch was sein Ziel war, das durfte sie ihm noch nicht zeigen. Das Meer konnte er riechen, hörte das donnernde Wasser unter sich wogen. Salziger Nebel überzog seinen Körper mit einer feuchten, doch erfrischenden Schicht aus feinem Nass. Wo er war, fragte er sich. Es war zu früh, um ihn einzuweihen, zu früh, um zu offenbaren, was seine Aufgabe war. Der Düstere würde es merken. Sie musste den Traum aufrechterhalten.
Während er noch immer über den Wellen dahin glitt, fragte er sich, ob er auf einem Schiff sei. Nein, folgerte er richtig, da keine Planken unter seinen Füßen zuspüren waren. Er fühlte gar nichts unter sich. Er schwebte.
Etwas wollte sie verdrängen. Sein logisches Denken setzte ein, doch sie zwang es in die Knie. Er sollte nur sehen, empfinden und erleben. Wenn er zu denken beginnen würde, könnte er erwachen und alles wäre verloren!
Gefangen in dem grell weißen Nebel war kein Platz für Logik, stellte er fest. Es zählte nur das hier und jetzt. Er ergab sich seinem Schicksal, eingehüllt in der Wand aus salzigem Dunst. Immer schneller bewegte sich sein Körper, raste auf das Ziel zu. Erbarmungslos peitschte ihm die Gischt ins Gesicht. Es musste sein, denn der andere durfte keine Bilder empfangen, durfte ihre verborgenen Schritte nicht bemerken. Das Atmen fiel dem Retter, mit jedem Augenblick, der verging, schwerer. Als er die Lippen öffnete, um seinen Körper mit Sauerstoff zu versorgen, zog er kühlen salzigen Nebel in sich hinein, der seine Mundhöhle trocken legte. Panik begann, in ihm aufzusteigen.
Er würde nicht sterben, doch sie musste es bis an die Grenze treiben. Nur dann konnte er all dem entfliehen. Nur dann würde sie den Schleier entfernen können.
Luft, er brauchte dringend Luft!, dachte er ängstlich.
Er musste helfen, suggeriert sie ihm. Nicht er war das Opfer, er war der Retter in der Not. Doch wie sollte er retten, wenn er schon bald nicht mehr atmete? Wie, wenn er seinen Körper nicht mehr mit dem nötigen Sauerstoff am Leben erhalten könnte?, fragte er sich.
Sie verbannte den Gedanken aus seinem Geist. Für Logik ist kein Platz, stellte er erneut fest.
Immer schneller bewegte er sich durch Zeit und Raum. Langsam begannen ihm, die Sinne zu schwinden. Das Atmen hatte er eingestellt, um nicht zu ertrinken. Das Band zwischen ihnen flackerte und drohte zu reißen. Das war der Moment, auf den sie gewartet hatte. Sie entspannte sich, brauchte keine Tarnung mehr. Er war zu weit entfernt, als dass der Düstere ihn noch hätte greifen könnte.
Der Nebel riss auf und katapultierte ihn in eine Szene, wie sie herrlicher nicht sein könnte. Gierig zog er Luft in seine brennende Lunge und genoss das wunderbar wärmende Gefühl der Sonnenstrahlen auf der Haut. Noch immer weilte er über dem Meer, die Wellen peitschten unter den Füßen dahin.
Er wundert sich darüber, dass er über Wasser gehen konnte, doch schnell stellte er fest, dass er schwebte. Er flog!
Vor sich erkannte er die Steilküste, auf die er sich, in rasanter Geschwindigkeit, zubewegte. Wie ein Pfeil schoss er durch die Luft und näherte sich unaufhaltsam dem Ufer. Das war sein Ziel, das wusste er nun. Dort würde seine Hilfe benötigt. Wo genau, entdeckte er einen Lidschlag später. Eine kleine Burgruine mit einem massiven Turm schmiegte sich in den schwarzen Fels, errichtet aus den Steinen der Steilküste. Kaum wahrnehmbar, unsichtbar, wenn man nicht wusste, wonach man Ausschau halten musste. Doch er wusste es. Er konnte sich nicht erklären, warum, doch er wusste es. Er musste zu diesem düsteren, unheimlichen Turm. Dort war sein Ziel, dort würde er gebraucht. Als er näherkam, sah er Gitter, die die Fenster des Turmes versperrten. Es war ein Gefängnisturm, übermittelte sie ihm. Dann war er heran, sein Flug endete abrupt und er schwebte vor einem der vergitterten Aussparungen. Er nahm das Röcheln wahr, Laute des Schmerzes, des Jammerns und des Klagens. Die Neugier zog ihn an, was sie maßlos beruhigte. Er ergriff die rostigen Gitterstäbe und zog sich näher zum Fenster. Im Dunkel der Zelle nahm er schemenhafte Bewegungen wahr, doch wer oder was es war, vermochten seine Augen ihm nicht zu zeigen. Das wenige Licht, welches die Sonne in den Raum zu schicken versuchte, schien den Kampf gegen die kühle Dunkelheit im Inneren zu verlieren.
Streng dich an!, streute sie in seine Gedanken.
„Hallo?“, rief er in die Schwärze.
„Hi … lf … e“, kam es röchelnd mit eisiger, krächzender Stimme zurück.
„Wer bist du?“, fragte er weiter. „Was ist mit dir? Bist du gefangen? Bist du verletzt? Ich bin hier, um zu helfen!“
„S … Sam, hilf mir“, wurden die Worte hervorgepresst. Dann hört er einen Körper auf dem Boden aufschlagen.
Die Kontrolle entzog sich ihr, sie hoffte, dass er verstanden hatte. Er fiel. Die Turmmauern rauschten an ihm vorbei.
Ihr letzter Gedanke galt ihm. Das Band riss, sie verlor das Bewusstsein und glitt hinein ins Nichts.
Ich schreckte aus meinen süßen Träumen hoch und saß sofort senkrecht. Neben dem Bett lag Zad und rieb sich schmerzstillend über den Kopf.
„Was machst du denn da?“, fragte ich verwirrt und etwas genervt, da ich so unsanft dem Schlaf entrissen wurde.
„Nach was sieht es denn aus? Ich bin gefallen! Autsch. Mann tut das weh“, gab er gequält von sich.
„Das … das ist nicht dein Ernst. Du bist aus dem Bett gef …?“ Ich brach in schallendes Gelächter aus.
Das ist mein Mann! Manchmal ein wenig tollpatschig, aber eben mein Mann. So, wie ich ihn mag und so, wie ich ihn in den letzten zwei Jahren, die wir nun zusammen sind, zu lieben gelernt habe.
„Ben, es ist nicht hilfreich nur ausgelacht zu werden“, gab er gespielt beleidigt zurück.
„Ich habe … ja, entschuldige“, sagte ich und rollte mich auf seine Seite. Ich reichte ihm die Hand und half ihm zurück ins Bett. „Tut mir leid. Ich wollte dich nicht auslachen, aber das war einfach zu köstlich“, gestand ich.
„Ja ja, der Schreck ist vorüber und der Schmerz lässt nach. Und im Prinzip hast du recht, das war eine Topleistung meiner Trotteligkeit.“
Er grinste breit und stahl sich einen Kuss von meinen Lippen, bevor wir beide in Lachen ausbrachen.
Ich schlang die Arme um seinen Körper und zog ihn auf meine Bettseite. „Komm, lass uns noch eine Runde schlafen. Es ist gerade mal … drei Uhr in der Nacht“, fügte ich nach einem flüchtigen Blick auf den Wecker hinzu.
„Nein ich kann nicht“, sagte er, löste sich aus der Umarmung und setzte sich im Bett auf.
„Wieso? Was ist denn los?“, fragte ich überrascht.
„Ich hatte einen sehr merkwürdigen Traum. Völlig wirr und doch so realistisch.“
Nachdem er mir von dem Nebel, dem Turm und der um Hilfe bittenden Person erzählt hatte, schnappte er sich seinen Zeichenblock und einen Stift vom Nachttisch und begann zu malen. Vorsichtig lugte ich immer wieder auf das Papier und das entstehende Bild eines schwarzen Turmes. Ich sagte nichts, versuchte mich regelrecht unsichtbar zu machen, denn wenn er malte, durfte ihn niemand stören. Und dazu zählte auch ich. Am Anfang unserer Beziehung konnte ich das nicht verstehen und es verärgerte mich immer wieder. Ständig brach ein Streit diesbezüglich vom Zaun, doch irgendwann machte es bei mir ‚klick’ und ich wusste, dass es nichts mit mir zu tun hatte, sondern, dass er ganz in die Welt des Malens abtauchen musste, ohne dabei abgelenkt zu werden.
Der Turm nahm langsam Formen an. Ich konnte angedeutet Wasser erkennen, eine Steilküste, in die sich das düstere Bauwerk einfügte. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken, als er mir das Ergebnis präsentierte. Wenn ich beim Anblick dieses Bildes bereits ein ungutes Gefühl empfand, wie musste es da für Zad in seinem, wie er es ausdrückte, realen Traum gewesen sein?
„Sieht ganz schön unheimlich aus“, gab ich zu und beäugte die feine Bleistiftzeichnung.
Zad nickte. „Allerdings und du siehst nur das Gemalte, ich habe die düstere Atmosphäre am ganzen Körper, mit allen Sinnen zu spüren bekommen. Kennst du diesen Turm?“
Ich schaute mir das Bild erneut an und nickte leicht. „Ja, er kommt mir bekannt vor, aber ich weiß nicht, woher ich das Gebäude kenne“, sagte ich nachdenklich.
„Du kennst ihn?“, brach es ganz aufgeregt aus Zad hervor. Er ergriff mich an den Schultern und rüttelte an mir. „Los versuch, dich zu erinnern. Ich kann zwar nicht genau sagen, warum, denn das klingt, irgendwie alles sehr fantastisch, aber mein Gefühl sagt mir, dass es wichtig ist, diesen Turm zu finden.“
„Erzähl du mir doch jetzt nichts von fantastisch. Vor zwei Jahren habe ich immer wieder versucht …“
„Och nö, bitte nicht wieder deine wilde Geschichte von diesem Zauberland Bota Was-auch-immer und der Behauptung ich sei gar nicht Zad, sondern ein Engel mit dem Namen Salamander“, fuhr er mir über den Mund.
„Samandriel“, korrigierte ich ihn.
„Sag ich doch.“
Ich verschränkte die Arme vor der Brust und schmollte.
Dieses Thema war der zweite Streitpunkt in unserer Beziehung. Doch auch wenn mir das Erlebte in Bota Ëndërr noch immer real und wie gestern erst passiert im Geiste schwebte, hatte ich irgendwann nachgegeben.
Zu dem Zeitpunkt, als ich im Krankenhaus erwachte, war Zad mein Krankenpfleger. Sowohl er als auch die Ärzte versuchten mich zu einem Psychiater zu drängen, um die Erlebnisse, die ich in dem angeblichen Koma wahrgenommen hatte, zu verarbeiten und als nicht real abzuhaken. Mit Händen und Füßen wehrte ich mich damals dagegen, eine solche Therapie anzugehen und setzte mich auch nach langen Diskussionen durch. Von da an tat ich dieses Thema in der Öffentlichkeit als Hirngespinst ab. So hatte ich meine Ruhe und konnte weiter in Erinnerungen an Sam, Knox, meine Oma und alle anderen, denen ich dort begegnen durfte, schwelgen und mein Umfeld hielt mich wieder für ‚normal'.
„Komm schon. Jetzt schmoll doch nicht“, sagte Zad ruhig und nahm mich in den Arm. „Ich weiß, dass man dieses Thema besser nicht ansprechen sollte, da wir dabei unterschiedlicher Meinung sind.“
Ich nickte leicht und ließ die Umarmung zu. „Aber dieses Mal hast du mit den Fantasiegeschichten angefangen, nicht ich!“, gab ich noch zu bedenken.
„Das weiß ich. Und doch habe ich keine Ahnung, warum mich der Traum so aufgewühlt hat. Ich hatte mich bisher immer für einen sehr bodenständigen Menschen gehalten, der in der realen Welt lebt.“
Als Antwort bekam Zad einen innigen Kuss von mir und damit war das Thema erst mal vom Tisch. Eine ausgiebige Zweisamkeit folgte und wir schliefen Arm in Arm ein. Am nächsten Morgen wurden wir freudig von unserem Wecker begrüßt und machten uns fertig für die Arbeit.
Als ich am frühen Nachmittag nach Hause kam, fand ich einen kleinen gelben Zettel auf dem Esszimmertisch vor:
‚Mir ist eingefallen, woher ich den Turm kenne. Schaue mich dort nach der Arbeit kurz um. Bringe dann etwas zum Abendessen von unterwegs mit. Dicken Kuss, Zad.'
Na da bin ich aber mal gespannt, was er zu berichten hat.
Da ich demnach nichts zu kochen brauchte, hockte ich mich an den PC und verschwand für ein paar Stunden in der Welt meines Lieblingscomputerspieles. Ich schlug mich wacker, haute alles kurz und klein, was den Weg zum Ziel behinderte.
Das Läuten des Telefons riss mich zurück in die Realität, und ich eilte ins Wohnzimmer, um das Gespräch entgegen zu nehmen.
„Hey Lara. Alles klar bei dir?“
„Jepp. Wollte mich mal wieder melden. Momentan komme ich ja vor lauter Unikram zu nichts“, vernahm ich die Stimme meiner besten Freundin.
„Kann ich gut nachvollziehen. Ich bin echt froh, dass ich dieses Thema durchhabe.“
„Du bist ein wahrer Glückspilz, weißt du das?“
„Ja, irgendwie stimmt das wohl. Was macht die Partnersuche?“
„Ach hör mir auf. Gestern habe ich mich, nach interessanten Chats und Telefonaten, mal mit dieser Schnalle getroffen und es war gelinde gesagt eine Katastrophe!“
„Oh, das tut mir leid. Wieso denn Katastrophe? Hatte sie für deinen Geschmack zwei bis drei Kilo zu viel auf den Hüften?“
„Ne Quatsch, daran lag es nun wirklich nicht. War schon ein flotter Feger. Allerdings hatten wir nur ein Thema: ihre Ex. Wann immer ich etwas anderes anriss, hat sie eine Hintertür gefunden, um wieder auf das Thema Ex-Freundin zurückzukommen“, gab sie genervt und ein wenig enttäuscht von sich.
„Nun, das ist wirklich kein guter Start.“
„Genau, das habe ich ihr dann auch klar gemacht. Das war's dann wieder. Na was soll's, andere Mütter haben auch schöne Töchter“, philosophierte sie.
„Stimmt. Deine zum Beispiel“, schleimte ich lachend.
„Du kleiner Charmeur. A propos Charmeur. Kannst du mich bitte kurz an Zad weiterreichen? Die Medizinstudentin hat da mal eine fachliche Frage.“
„Er ist nicht da, weil er sich nach der Arbeit noch etwas ansehen wollte. Sehr mysteriös sage ich dir.“
„Ach wirklich? Zad und mysteriös? Wie passt denn das plötzlich zusammen? Scheint aber wohl etwas länger zu dauern, wie?“
„Wieso? ... Ach du Schande“, fügte ich nach einem Blick auf die Uhr hinzu. „Wir haben ja bereits kurz vor zehn!“, stellte ich erschrocken fest. „Bleib mal eben dran, ich versuche, ihn auf dem Handy zu erreichen.“
„Klar.“
Ich rannte zurück ins Büro und schnappte mir mein Handy. ‚Der gewünschte Teilnehmer ist derzeit nicht erreichbar. Eine SMS wurde …' Ich legte auf. Chatprogramm auf, kurze Nachricht getippt. Nichts. Shit! Wo war der Kerl nur?
„Hey Lara ich lege mal auf. Muss schauen, dass ich Zad irgendwie erreiche“, sagte ich, nachdem ich wieder ins Wohnzimmer getrabt war.
„Ja, kein Thema. Wenn du mich brauchst, melde dich einfach.“
„Alles klar. Danke.“
Nachdem ich aufgelegt hatte, versuchte ich weiterhin Zad auf irgendeinem der unzähligen Kommunikationswege zu erreichen, doch ohne Erfolg. Es war bereits halb zwölf und noch immer hatte ich nichts von ihm gehört oder gesehen. Ungeduldig lief ich in der Wohnung auf und ab. Ich hatte sämtliche unserer Freunde mitten in der Nacht aus dem Bett geklingelt, um zu fragen, ob Zad bei ihnen wäre. Im Krankenhaus erfuhr ich, dass er ganz normal um siebzehn Uhr seine Schicht beendete. Danach hatte keiner mehr etwas von ihm gehört. Ständig schaute ich aus dem Fenster, doch Zads Parkplatz vor dem Haus blieb weiterhin leer. Dieser Turm. Wieder und wieder betrachtete ich die düstere Zeichnung, doch mein Gehirn machte mir einen Strich durch die Rechnung. Ich konnte mich einfach nicht daran erinnern, wo ich dieses steinerne Ungetüm schon mal gesehen hatte. Die Nachrichten im Internet hielt ich auch permanent im Blick, für den Fall, dass von einem Autounfall oder Ähnlichem in unserer Region berichtet werden würde. Die Minuten zogen sich, wie Kaugummi dahin und um kurz nach zwei hielt ich es nicht mehr aus. Ich rief Lara an. Ich brauchte dringend Ablenkung, wollte nicht mehr alleine warten.
„Ben?“, erklang die schlaftrunkene Stimme an mein Ohr.
„Er ist noch immer nicht da! Ich habe alle angerufen. Keiner hat ihn nach Feierabend gesehen oder von ihm gehört. Sein Handy scheint ausgeschaltet zu sein und …“, sprudelte ich sofort los.
„Hey … warte. Nicht so schnell. Beruhig dich erst mal ein wenig …“
„Beruhigen?“, fuhr ich sie an. „Wie soll ich mich bitte beruhigen, wenn ich nicht weiß, was mit ihm …“
„Hey! Ich kann dich verstehen, aber so aufgedreht, wie du bist, bringt uns das gerade nicht weiter.“
Ich hielt die Luft an und nickte.
„Also gut. Ich glaube, ich komme am besten zu dir und wir warten gemeinsam. Was meinst du?“
„Ja. Ja, aber komm schnell. Ich dreh hier echt gerade voll am Rad.“
„Schon gut. Ich sitze quasi bereits im Auto“, sagte sie und legte auf.
Lara nahm mich fest in den Arm, nachdem sie eingetroffen war.
„Willst du etwas trinken? Etwas essen? Kann ich sonst …“, ratterte ich los.
„Halt, stopp“, rief sie aus und schob mich ein Stück von sich. „Setz du dich mal hin. Ich mache uns etwas für die Nerven.“
Erneut nahm ich mein Handy zur Hand. Nach weiteren missglückten Kontaktversuchen warf ich es genervt aufs Sofa. Lara kam aus der Küche zurück und balancierte zwei Tassen und einen Teller mit Schokolade und Keksen in den Händen.
„So“, sagte sie, als sie die Nervennahrung auf dem Tisch abgeladen und sich neben mich auf das Sofa hatte fallen lassen. „Jetzt erzähl noch mal ganz in Ruhe.“
Ich hielt ihr den kleinen Zettel mit Zads knapper Notiz vor die Nase, welcher schon ganz durchgeweicht war, da ich ihn die ganze Zeit in den Händen gehalten hatte.
„Was ist das denn für ein Turm, von dem er dort schreibt?“
Ich sagte nichts, versuchte noch immer mein Inneres zu beruhigen und auf einen gewissen Vernunftlevel zurückzubekommen. Stattdessen nahm ich das Bild und hielt es ihr vor die Nase.
„Düster“, kommentierte sie, „aber, wie man es von deiner besseren Hälfte gewohnt ist, superschön gezeichnet. Und was will er in dem Freizeitpark?“
Ich riss die Augen auf. „Was?“, entfuhr es mir. „Was denn für ein Freizeitpark?“ Dann traf mich die Erkenntnis, wie ein Schlag in die Magengrube. Ich dämlicher Dämlack! Natürlich! Das war der Turm im Piratenküsten-Freizeitpark!
„Dass ich da nicht früher drauf gekommen bin!“, motzte ich enttäuscht und gleichermaßen erfreut. Ich rollte mich zu Lara herüber, schlang meine Arme um sie und drückte ihr einen dicken Freudenkuss auf den Mund.
„Man lass das. Ist ja widerlich“, rief sie aus und lachte.
„Mensch Lara, ich liebe dich. Ich bin doch selbst nicht drauf gekommen, woher ich diesen Turm kenne. Jetzt weiß ich wenigsten, wohin Zad wollte.“
Sie rubbelte sich gerade noch gespielt angeekelt den Kuss von ihren Lippen und grinste mich breit an. „Immer stets zu Ihren Diensten, Monsieur.“
„Dann nichts wie los!“, rief ich, sprang vom Sofa und zog sie kurzerhand ebenfalls in die Höhe.
„Aber …“, setzte sie an, wurde doch sogleich von mir unterbrochen. „Nix aber. Komm, wir fahren da jetzt sofort hin!“
Lara hielt mich an den Schultern gefasst und drehte mich zu sich. „Hey“, sagte sie sanft, „da kommen wir doch jetzt gar nicht rein. Es ist mitten in der Nacht, wie stellst du dir das vor?“
„Ich … ich weiß auch nicht“, gab ich stockend zu, „aber ich muss dort hin. Das ist der einzige Anhaltspunkt, den ich von Zads Verschwinden habe und …“, ich ließ den Satz unvollendet, da mir bewusst wurde, dass meine beste Freundin eigentlich recht hatte.
„Na siehst du. Willst du dort etwa hinfahren und über den Zaun klettern, oder was?“
Sie sah das Leuchten in meinen Augen und wehrte direkt mit den Händen ab. „Ohhhh nein, das … das war ein Scherz.“
„Du bist die Beste!“, jubilierte ich und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. Dann zog ich sie hinter mir her Richtung Wohnungstür. „Na los doch, komm!“
Sie schüttelte überrascht den Kopf, dann durchlief sie ein Ruck und sie flog förmlich hinter mir her. „Du bist echt irre, weißt du das?“
Ich nickte. „Ja, das ist nichts Neues. Und du hilfst einem armen Irren jetzt dabei nachts in einen Freizeitpark einzubrechen!“, rief ich freudig aus. „Warte kurz, ich muss noch etwas holen, dann kann es losgehen.“
Total verdattert stand sie im Türrahmen der offenstehenden Wohnung und wartete, während ich ins Schlafzimmer rannte. Als ich zurückkam, hielt ich meinen ‚Schatz' freudig in die Höhe.
Lara riss erstaunt die Augen auf. „Da … da … das Ding gibt es ja wirklich!“, rief sie überrascht und ein wenig erschrocken aus.
Ich nickte. „So ist es meine Liebe. Das einzige Geheimnis, welches zwischen uns bestand ist somit gelüftet. Und jetzt komm.“
Wieder ergriff ich ihre Hand und zog eine völlig perplexe Lara hinter mir durchs Treppenhaus. Während unseres rasanten Laufs die Treppen hinunter stammelte sie immer wieder ‚es gibt das Ding wirklich. Ich fasse es nicht! Es gibt es wirklich!'
Laras Auto stand direkt vor der Tür und so sprangen wir hinein und düsten die fünfundvierzig Minuten zum Freizeitpark.
Nur spärlich wurde die Umgebung des Parks, wie der Park selbst von vereinzelten Straßenlaternen beleuchtet. Als wir vor dem Zaun standen und nach einer Stelle suchten, an der wir das Areal betreten konnten, sah ich, dass sich der düstere Turm am Ende des Parks gegen den sternenklaren Nachthimmel abhob. Ein Frösteln durchfuhr meinen Körper, so unheimlich wirkte der Bau aus schwarzem Stein.
„Komm, wir folgen dem Zaun in Richtung der Klippen, vielleicht finden wir auf dem Weg dorthin eine Möglichkeit in den Park zu kommen“, sagte Lara und war bereits im Halbdunkel verschwunden.
Schnell wandte ich mich um und folgte ihr. Als wir zehn Minuten später an den Klippen angekommen waren, hatten wir nicht das kleinste Schlupfloch in dem Draht finden können. Auf
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Michael J. Unge
Bildmaterialien: Michael J. Unge
Cover: Marco Harnisch
Lektorat: Sappho.Sonne
Tag der Veröffentlichung: 08.05.2013
ISBN: 978-3-7309-3186-8
Alle Rechte vorbehalten