Samuel Fernandes, ein erfolgreicher Fotograf, ist im Jet-Set-Leben der Modelwelt gefordert. Auf der Suche nach einem neuen Gesicht für eine Bio-Kampagne lernt er Tina, Auszubildende in einer Bäckerei, kennen.
Da ihr Aussehen genau in seinen Auftrag passt, bietet er ihr ein Shooting an. Beide merken bei dem Treffen, dass sie mehr verbindet als ein perfektes Foto. Eine lockere Freundschaft unter den Nachbarn entsteht, wobei er spürt, dass Tina mehr belastet als üblicher Teenager-Stress im Elternhaus.
Da seine eigene Existenz unerwartet auf dem Spiel steht, braucht er aber all seine Kraft für sich selbst und verdrängt seine Sorge um sie. Fast zu spät macht es bei ihm Klick, um zu erkennen, vor was Tina weglaufen wollte.
Alle Personen sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit Lebenden oder bereits verstorbenen Menschen ist rein zufällig. Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung der Autorin gültig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen sowie das Speichern und Verarbeiten in elektronischen Medien.
Viel Spaß beim Lesen
Michelle
Wumms! Die Tür schlug zu.
Das Geschirr im Küchenschrank klirrte.
Tina versuchte am Spülbecken stehend, so schnell wie möglich die letzten Teller abzuwaschen, um nicht in das lautstarke Gezeter mit hineingezogen zu werden. Leise, ermahnte sie sich selbst immer wieder, während sie deutlich ihren viel zu schnellen Herzschlag spürte. Das Debakel weiter oben nahm immer deutlichere Züge an.
„Lenchen“, versuchte die Mutter ihre aufmüpfige Tochter eine Etage darüber zu beruhigen, als Anna-Lena von oben zu einem neuen Schrei ansetzte:
„Entweder das Kleid oder ich gehe nicht!“, kam es. Die Nachbarn konnten bei diesem Wortduell zweifelslos mithören.
Tina ließ währenddessen so vorsichtig es ging die letzten Teller ins Spülbecken gleiten. Seit Wochen schwebte das Thema „Abschlussball“ mit ungewissem Ausgang über der Familie.
Ihre Stiefschwester Anna-Lena bestand darauf, genau dieses teure Kleid zu bekommen, um das es jetzt in dem Streit ging. Ihr Vater polterte kurz zuvor erneut dagegen an, sodass die Fünfzehnjährige nach einem ohrenbetäubenden Geschrei theatralisch schluchzend die Treppe hinauf in ihr Zimmer stürmte. Als sie die Tür in ihr Reich nicht gerade prinzessinnen-like zuschlug, bebte die Holztreppe so stark, dass sogar das Küchenfenster im Erdgeschoss wackelte.
Tina schluckte und schrubbte den klebrigen Essensrest des Porzellans, bevor sie es flink abtrocknete. Das geliebte Lenchen sollte heute – allem Anschein nach – einmal nicht ihren Wunsch erfüllt bekommen. Genugtuung erfasste Tina dabei.
„Bis du endlich fertig?“, rief Maria daraufhin barsch zu ihr in die Küche. „Du brauchst aber auch heute lange mit dem Geschirrgeklapper.“
„Ich habe es gleich“, versicherte die Siebzehnjährige, stellte die Teller so schnell es ging in den Küchenschrank und hängte das Geschirrtuch zum Trocknen wieder an den Haken. Aus Erfahrung wusste sie, dass sie besser nicht die schlechte Laune ihrer Stiefeltern auf sich ziehen sollte.
In puncto Kleidung war sie in dieser Familie im Gegensatz zu ihrer jüngeren Stiefschwester nie verwöhnt worden. Da aber Anna-Lena größere Kleidung benötigte, sollte Tina sich deren Stücke anpassen, um versorgt zu sein. So hätten beide etwas davon, lautete das Credo der Familie. Mit etwas Geschick gelang es ihr, die überweiten Hosen und T-Shirts auf ihre Größe zurechtzuschneidern oder mit einem Gürtel so zu kaschieren, dass sie ihr nicht über die Hüften rutschten.
Sie wollte das Wenige, das ihr vom Auszubildendengehalt verblieb, nicht noch für Kleidung verschwenden. Aus dem Grund kaufte sie lieber die gebrauchte Kleidung, die ihr Anna-Lena überließ.
Seit dem Unfalltod ihrer Eltern lebte Tina bei ihren Verwandten, die von Amts wegen rechtlich als ihre Pflegeeltern fungierten. Das Familiengericht ließ sich damals von den wohlwollenden Worten ihrer Verwandten blenden, sodass sie hier bei ihnen Unterkunft gefunden hatte. Damit konnten Baiers auf das Pflegegeld als unterstützende Maßnahme für ihre Sozialtat zurückgreifen. Ob das bei Waisen immer so war, wusste Tina nicht. Aber das hatte sie auch nie interessiert, weil es ihr einzig darum ging, den Alltag in dieser Familie zu meistern.
So leise wie möglich schlich sie in ihre kleine Kammer unter der Treppe, um Anna-Lena oder ihre Stiefeltern Anton und Maria nicht zu stören, denn das hätte den nächsten Ärger hervorgerufen. Seit sie in dieser Familie lebte, hatte sie gelernt, sich anzupassen, nie aufzumucken und auf alle Fälle leise zu sein, damit sie nicht in deren Fokus geriet. Deswegen zog sie sich zurück, um sich für den nächsten Arbeitstag zu richten und beim Lesen Ruhe zu finden.
Noch vier Monate und zwanzig Tage bis zu meinem 18. Geburtstag, dachte Tina sehnsüchtig. Heimlich notierte sie inzwischen Adressen von Maklern und interessanten Wohnungsinseraten, wohl wissend, dass sie minderjährig ohne Erlaubnis nicht allein ohne Betreuer wohnen durfte. Hierfür würde sie von Baiers ohnehin niemals die Erlaubnis bekommen, da sogar ihre Arbeitsstelle direkt vor Ort war.
Ihr Stiefvater hatte ihr im „Lopezzi“, dem größten und angesehensten Bäcker der kleinen Stadt, eine Ausbildungsstelle organisiert, weil er mit André Lopez dienstags kegelte. Da die Bäckerei fußläufig erreichbar war, brauchte sie weder Busticket noch einen PKW, sodass die rein praktische Erwägung überwog, dass sie dort eine Ausbildung absolvieren sollte.
Dass Tina seit Jahren gerne Kuchen backte, blieb bei dieser Entscheidung ohne Berücksichtigung. Stattdessen überwog, dass sie ortsnah keine weiteren Kosten verursachte. Wenn sie sich geschickt anstellte, könnte sie nach der Ausbildung dort weiter im Laden die Kundschaft bedienen.
Im Gegensatz dazu sollte ihre Cousine oder durch die Pflegeelternschaft jüngere Stiefschwester Anna-Lena nach dem Abitur studieren, damit sie einen gebildeten Mann mit gutem Einkommen fände. Somit hätte sie ohne große Anstrengung ein gutes Auskommen.
Tina wäre so gern nach den zentralen Abschlussprüfungen der 10. Klasse weiter auf die Schule gegangen, um mehr zu lernen und mehr von der Welt zu erfahren. Doch das blieb ihr verwehrt, weil sie sich mit ihrem Einkommen am Haushaltsgeld beteiligen musste.
André Lopez war ein netter Chef, bei dem sie gern arbeitete. Auch mit den Kollegen und Kunden verstand sie sich gut. Aus dem Grund hatte sie beschlossen, die wenigen Monate bis zu ihrem Ausbildungsende durchzuhalten und sich erst danach eine eigene Wohnung zu suchen. Dann wäre sie zwar bereits fast 19 Jahre, aber zumindest selbst für sich verantwortlich, ohne dass ihr irgendjemand „aus rechtlichen Gründen“ reinpfuschen könnte.
Träumen durfte sie. Etwas anderes blieb ihr leider nicht.
Tina wusste, dass sie von Baiers abhängig war, sodass sie sich mit den Gegebenheiten arrangierte ...
An ihre eigenen Eltern erinnerte sie sich nur noch anhand der Fotos und auch nur weit entfernt betrachtet, konnte sie die Ähnlichkeit zwischen ihrem Vater und dem jetzigen Stiefvater erkennen. Nicht nur optisch schienen Welten zwischen den Brüdern zu liegen. Sondern auch menschlich.
Ihr schlanker Vater hatte lustige Grübchen im Gesicht, während Anton mit ernsten Gesichtszügen einen Wohlstandsbauch vor sich herschob. Seine Gesichtszüge wurden ihrem Gefühl nach von Jahr zu Jahr härter, sodass seine bloße Anwesenheit Tina oft genug Angst einjagte. Antons Haar lichtete sich bereits, und wenn er nicht gerade über seine Kollegen im Amt lästerte, saß er vor dem Fernseher, um die neusten Fußballspiele zu konsumieren. Tina betrachtete er dabei als seinen persönlichen Bier-Bring-Service.
In dem Moment hörte sie, dass Anton und Maria in Streit gerieten, wie sie nun mit dem Wunsch nach diesem exklusiven Ballkleid umgehen sollten. Maria wollte es kaufen, weil ihre Tochter am Abschlussball, der in wenigen Wochen stattfand, ein gutes Bild abgeben sollte, während Anton aus finanziellen Gründen dagegen war.
Tinas Gedanken schweiften ab. Sie durfte vor zwei Jahren – aus Kostengründen – nicht am Tanzkurs teilnehmen. In Erinnerung an ihre langweiligen Klassenkameraden war sie nicht böse darum. Sie hatte ohnehin keine Gelegenheit eine Disco zu besuchen, weswegen sie auch nicht nachhakte. Heimlich, vor dem Spiegel, wenn niemand zu Hause war, tanzte sie gerne ohne spöttelnde Zuschauer. Niemand sollte sie dabei sehen. Oft genug erwähnte Maria, dass Tina viel zu hässlich sei, um mit anderen Mädchen mithalten zu können. Vielleicht war das der Grund, weshalb ihr irgendwelche Kleidung nie so wichtig war. Denn wenn sie schon hässlich war, dann konnte sie sich das Geld für ihr Aussehen sparen, um damit nicht noch mehr anderen ins Auge zu fallen.
Anna-Lena brachte stattdessen ab und an einen Jungen mit, den sie Tina präsentierte, so als wollte sie beweisen, wie beliebt sie wäre.
Tina seufzte und sah das engelsgleiche Gesicht von Anna-Lena vor sich. Ihre Eltern hatten recht: Ihre Stiefschwester hatte ein schönes, gleichmäßiges Gesicht, rundlich, mit blondem langem Haar, das sie sehr gern morgens aufwendig frisierte, damit es formvollendet über ihren Schultern lag. Blond war trendy.
Tina strich sich mit einer Hand über ihre dunkle Mähne. Sie würde gerne auch öfters etwas unternehmen, wusste aber nicht, wie sie ihre alltäglichen Arbeiten sonst erledigen sollte und wusste nicht, wo sie kostengünstig hingehen konnte. Was ihr blieb, waren Träume, in denen sie sich eine kleine Wohnung vorstellte mit einem Balkon oder einer schönen Terrasse. So eine, wie sie ihre liebe Nachbarin nebenan besaß. Dort wollte sie sich dann ihr eigenes Paradies anpflanzen und brauchte keine Partys oder Festlichkeiten mit kostspieliger Garderobe und irgendwelchen Tanzschritten, die sie nie gelernt hatte.
Ein anderer Traum von ihr bestand darin die Welt zu erkunden, um nicht nur auf die Bildbände der Bücherei oder das Fernsehen angewiesen zu sein. Der Globus war bunt und wunderschön, wenn sie denn bloß die Möglichkeit hätte, zu reisen, um alles kennenzulernen. Aber weiter als bis zu einer dreitägigen Busfahrt an den Bodensee war sie noch nie gekommen.
Als die Stimmen der Erwachsenen anschwollen, hielt Tina die Luft an, als ahnte sie bereits das drohende Unheil auf sie zurollen. Zu oft hatte sie die verbalen und körperlichen Auseinandersetzungen in dieser Familie erleben müssen. Sie hielt sich die Ohren zu und verkroch sich – trotz der Sommerhitze – wie ein kleines Kind im Bett, in der Hoffnung, dass nicht gleich ihre Tür aufgerissen würde.
Langsam atmete sie ein und aus und versuchte sich auf etwas Schönes zu konzentrieren. Ein Strand am Meer … Sand unter den Füßen und die warme Sonne auf ihrer Haut, während ihr – wie so oft – Blumenduft intensiv in die Nase stieg ...
„Das darf doch wohl nicht wahr sein!“
Sam warf wutentbrannt die Zeitschrift an die Wand.
Er könnte Bäume ausreißen, so entsetzt war er über diesen Anblick.
„Ich habe es ihm x-mal gesagt und nun das!“
In dem Augenblick läutete sein Smartphone, dessen Gespräch er nach einem skeptischen Blick auf das Display nur zögerlich annahm.
„Hallo Darling“, begann er gespielt euphorisch und versuchte die aufgeregte Frauenstimme auf eine ruhigere Nuance einzustimmen. Er wusste, dass er mit seiner eigenen Aggression zu kämpfen hatte, sodass es ihm schwerfiel, die Wut der Gesprächspartnerin in entspanntere Bahnen zu lenken.
„Das stimmt, sehe ich auch so“, stimmte er ihr zu. „So hatte ich das auch gesehen und so waren wir verblieben … Richtig, Bella … Aber nun nimm dir mal das Bild und schau es dir an …“
Er fischte die Zeitschrift ebenfalls hinter dem Tisch wieder hervor und versuchte sie leise so glatt wie möglich zu streichen.
„Siehst du das Schattenbild dahinter und den Sonnenschein und jetzt sieh dir mal dein Gesicht an. Fällt dir was auf?“
Ruhe am anderen Ende. Er wusste, dass er ihre Aufmerksamkeit hatte. Seine Augen huschten weiter über das Cover auf dem Modeblatt, um seinen Monolog fortzusetzen zu können. Eifrig suchte er nach Argumenten für seine Ausrede, um die Diva milde zu stimmen.
„Stell dir mal das andere Kleid vor mit dieser Kombi im Hintergrund … Was meinst du wie das ausgesehen hätte? Die Farben wären vollkommen daneben gewesen und deswegen hat sich die komplette Besetzung vom Layout hierfür entschieden. Was meinst du dazu? Lass es mal auf dich wirken? Das andere Foto haben wir doch noch … und die Rechte daran nicht zu vergessen auch …“
Er lauschte, während er sich nebenbei eine Zigarette anzündete. Der Rauch beruhigte ihn etwas. Im Geiste verfluchte er gerade seinen Job und noch mehr die Zigarette in seiner Hand. Seit Wochen probierte er, mit diesem Laster aufzuhören. Aber er hasste es, einer Frau etwas schönreden zu müssen, hinter dem er selbst nicht stand. Hoffentlich merkte sie es nicht.
Er hätte sich definitiv für das andere Foto von ihr entschieden. Wie konnte Henning, ohne ihn zu informieren, seine Vorgabe kippen? Dem würde er nachher erst einmal sprechen müssen. Wie er darauf kam, war ihm immer noch ein Rätsel. Musste er denn alles selbst machen?
Je länger er das Bild betrachtete, desto ruhiger wurde er. Ob das an dem Foto oder am Nikotin lag, vermochte er nicht zu sagen.
„Sieht doch gut aus und du kommst in deiner ganzen Pracht zur Geltung. Auch deine Haltung … wie eine Eins. Bellisima, Bella. Du siehst formidable aus.“ Dabei hauchte er einen Kuss in die Sprechmuschel. Ein Lachen erklang am anderen Ende. Damit hatte er sie in der Tasche. Sie wussten es beide.
„Also, die anderen Bilder können wir dann noch einmal anbieten. Sozusagen eine Session und damit mehrere Aufträge. Besser könnte es für uns beide doch nicht laufen, meine Schöne.“
Sam wusste, dass sie sich bei dem nächsten Termin wieder an ihn wenden würde.
„Natürlich. Ich bin nächste Woche in Mailand, aber wir können uns am Dienstag gerne treffen. Vielleicht einmal etwas Verruchtes, ich habe da eine Anfrage für ein paar spezielle Dinge …“
Das Lachen am anderen Ende war ihm gewiss. Sam grinste. Sie schien genauso daran Gefallen zu finden wie er. Marlene arbeitete schon lange mit ihm zusammen.
„Grüße mir Nicky. Er ist wie immer herzlich willkommen dabei zu sein.“ Sam grinste kurz in Gedanken an den Zwergpudel, der oft sein Frauchen begleitete.
Damit war das Gespräch beendet. Erneut zog er das Foto von dem Model zu sich. Die Aufnahme war ihm gelungen, allerdings hätte er das Drumherum anders gestaltet. Vielleicht lag es aber auch am Verlagsleiter, der dies entschieden hatte, und nicht Henning.
„Zum Glück bin ich selbstständig“, murmelte er. „Dann pfuscht mir niemand rein.“
Daraufhin wählte er eine Kurzwahlnummer, die ihn sofort mit seinem Kontaktmann verband, mit dem er noch ein Hühnchen zu rupfen hatte.
Das ältere Pärchen nickte Tina noch zu, dann schlurfte es als letzte Gäste aus dem kleinen Café am Markt. Die Kirchturmglocken läuteten bereits den Abend ein, als die beiden ihren Spaziergang in den Park fortsetzten.
André, der Bäckermeister, hantierte mit einer neuen Lieferung, während seine Frau die Abrechnung erledigte. Tina räumte die beiden Tischchen am Fenster ab. Sie liebte den Kontakt mit den Gästen und auch die Freiheit die Inneneinrichtung saisonal zu gestalten.
Der heiße Frühsommer lockte die Gäste vor allem in den Außenbereich. Tina hingegen zog den farbenprächtigen Herbst vor, für den sie bereits die Deko für das Café besorgt hatte. Doch zuvor würde der Sommer ins Land ziehen, wofür eher die erfrischenden Getränke und Häppchen angeboten wurden.
Die Atmosphäre hier im Café gefiel ihr, weswegen sie zusätzlich regelmäßig Probierteller für die Kunden in Greifnähe stellte, die zum Naschen verführten. Ihre neuen Ideen wurden von den Kunden gerne angenommen und wirkte als Werbung vor Ort. Gedanklich arbeitete sie schon an der Herbstausgabe der Kuchen und Pralinen. Sie freute sich schon auf die Gesichter der Kunden, wenn sie in eine neue Kuchenpaillette greifen konnten. Sie wollte diesmal einen passenden Flyer gestalten, damit die Kunden zu Hause die Produkte nachlesen konnten, um zu wissen, welche Vielfalt in den Produkten steckte. Gerne übernahm sie solche Arbeiten zusätzlich, weil sie Spaß hatte, die Kunden mit neuen Geschmackserlebnissen zu überraschen.
Seit einigen Jahren versuchte sie sich selbst in neuen Rezepten und manchmal gelang ihr eine neue Gaumenfreude, die sie gerne präsentierte. Ihre Chefin lobte sie oft, wenn sie wieder einmal mit einer neuen Idee eintraf. Drei Rezepte hatte Anton bereits von ihrer Eigenkreation übernommen, sodass er sie auch in größerer Stückzahl den Kunden anbieten konnte. Eine Inspiration auf beiden Seiten, wie er ihr oft augenzwinkernd mitteilte. Gerne übernahm er zudem ihre selbst kreierten Namen für die Backwaren. Die Kunden liebten es, Kuchen zu essen, die den Namen von Besonderheiten der Stadt trugen. Diese Leckerei verband sie mit ihrer Bäckerei. Der zweite Bäcker im Ort war der Ableger einer Kette, der saisonal und regional nicht so kreativ in die Backwarenkiste griff. Ein gnadenloser Vorteil des selbstständigen „Lopezzis“.
Wenn sie ab und zu bei Baiers buk, wurden ihre Backwaren zwar auch gerne konsumiert, aber ohne, dass die teure Vielfalt an Zutaten berücksichtigt wurde. Vor allem Anna-Lena schlang die Pralinen und Kuchenstücke hinunter, als gelte es einen Vernichtungswettbewerb zu gewinnen. Dass die Zutaten Tinas sauer verdientes Geld verschlangen, schien niemand zu interessieren. Dabei kam es gerade bei den Pralinen auf die einzelne Raffinesse an, um den Geschmack auf der Zunge und dem Gaumen zu verdeutlichen. Aus dem Grund schränkte sie ihre Backkunst bei Baiers ein, was ihr zugegebenermaßen sehr schwerfiel. Es war ihr liebstes Hobby, aber das viele Geld, das es in ihren Augen war, wollte sie vor allem im letzten Jahr nicht denjenigen opfern, die es nicht zu schätzen wussten.
Hier im „Lopezzi“ gab es nur selten Pralinen, weil das in der Herstellung viel zu aufwendig war. Aber wenn ihre Familie samstags unterwegs war, verwandelte Tina die Küche in eine Pralinen- und Kuchenbäckerei und bot es anschließend in der Bäckerei an. Hierfür bekam sie dann auch immer die Zutaten zur Verfügung gestellt, wofür sie ihrem Chef sehr dankbar war. Tina liebte es, neue Geschmacksrichtungen zu kreieren und André, ihr Chef, lobte sie sehr für ihre Kreativität und die ruhige Hand, mit der sie die Pralinen füllte. Er war der Meinung, dass sie die Ausbildung zur Konditorin machen sollte. Gerne würde er sie dann einstellen, um seine Produkt-Paillette im Café noch zu erweitern.
Stiefvater Anton meinte, dass eine Pralinenbäckerei in der kleinen Stadt keine Zukunft hätte. Wer bezahlt schon unnötig mehr Geld, wenn der Discounter es billiger anbot. Tina seufzte bei dem Gedanken daran. Sie selbst hätte noch tausend andere Ideen, um neue Geschmackskombinationen zu erschließen. Mit etwas Glück könnte sie vielleicht einmal bei einem Konditor ein Praktikum absolvieren, um weitere Tricks und Kniffe hierfür zu erlernen. Ein Traum!
Gedankenverloren räumte Tina gerade die letzten süßen Stückchen auf ein Tablett, um sie zu verstauen, als die Tür aufgerissen wurde und ein dunkelhaariger Mann mit wehenden Haaren hereinstürmte. Er stand bereits an der Theke, bevor irgendjemand in der Bäckerei aufsehen konnte. Offiziell war bereits geschlossen, was ihn aber nicht zu stören schien.
„Ich brauche Kuchen und Brot“, kam es grußlos, als wäre er auf der Flucht.
„Guten Abend“, erwiderte die ältere Bäckersfrau, die just in dem Moment nach vorn kam, und deutete auf die verbliebenen Produkte, die noch zur Auswahl standen.
„Was können Sie mir denn empfehlen?“, wollte er wissen und betrachtete fast analytisch der Reihe nach die verbliebenen Stücke.
Tina schielte zu ihm und es kam ihr so vor, als hätte ihm der Duft der Backwaren seine Ruhe wiedergegeben. Zumindest sah er jetzt nicht mehr so aus, als wollte er bis hinter die Theke springen, um anschließend wieder davon zu stürmen.
Sie betrachtete ihn von der Seite und stellte fest, dass sie ihn hier im „Lopezzi“ noch nie gesehen hatte. Sein Alter schätzte sie auf Mitte zwanzig. Seine Jeans saß tief auf den Hüften und sein T-Shirt sah aus, als wäre es zwar gewaschen aber noch nicht gebügelt. Zumindest trug es viele Knitterfalten, die da eigentlich nicht hingehörten. Seine Haare standen ebenfalls in alle Richtungen ab und gemessen an seiner Frisur hätte er einen Haarschnitt nötig gehabt. Am Ende der Fransen kringelten sich Locken, die er mit einer raschen Handbewegung aus dem Gesicht strich, um einen besseren Blick in die noch mit süßen Stückchen gefüllte Vitrine zu haben.
Tina grinste innerlich über sein Erscheinungsbild. Der Typ sah so aus, als wäre er gerade aus dem Bett gefallen. Nur seine Schuhe wirkten elegant. Der Rest der Kleidung kam ihr schlicht und sportlich vor.
„Ich brauche unbedingt noch etwas Süßes.“ Der Klang in seiner Stimme brachte ihr Innerstes zum Vibrieren.
Ihre Chefin erklärte dem jungen Mann, welche Früchte und Mehlsorten in den Torten verarbeitet worden waren. Es stellte ihren Versuch dar, mit diesen Kenntnissen einen potenziellen Neukunden an die Bäckerei zu binden. Dieser wirkte eher interessiert an einer Kurzfassung. Seinem Blick nach zu urteilen war er mit der Vielzahl an Informationen schlichtweg überfordert.
Leider beging ihre Chefin diesen Fehler sehr oft, vielleicht einzig, weil sie ihre Kenntnisse diesbezüglich an den Mann bringen wollten. Aber es gab Kunden, die suchten sich ihre Produkte einzig nach dem Aussehen oder dem Preis aus. Leider vergaß Frau Lopez das in ihrem Mitteilungsbedürfnis sehr oft.
Tina stellte das benutzte Kaffeegeschirr auf die Arbeitsfläche und wischte die Tische des Cafés der Reihe nach sauber, während ihre Chefin sich genüsslich immer weiter über die Beschaffenheit des Mehls ausließ. Der letzte Kunde dieses Tages bekam eine Einführung in das Wissen der Frau des Bäckers. Ein Thema, das ihr am Herzen lag. Ihre letzte Chance an diesem Tag, denn nach diesem Kunden würden sie endgültig schließen.
„Und die schmecken beide?“, kam es kritisch, als hätte der Kunde noch nie zuvor einen Kuchen in dieser Form betrachtet, bevor er ihn gegessen hatte. Beide Stücke bestanden aus mehreren Schichten Teig und stellten eine der neusten Kreationen vom „Lopezzi“ dar. Eine backtechnische Meisterleistung, wie Tina ihrem Chef eingestehen musste. Es sah nicht nur großartig aus, sondern schmeckte vorzüglich. André hatte vor wenigen Wochen stolz erstmals die neuste Kreation, die unter Mitwirkung seiner Lieblingsauszubildenden entstanden war, präsentiert.
Die Chefin seufzte leise, wie Tina bemerkte und schmunzelte insgeheim, nicht verstehend, warum der Kunde so unsicher in der Wahl der Kuchenstücke war.
„Wollen Sie ein Stück probieren, bevor sie sich entscheiden?“, schlug die Verkäuferin daraufhin vor. Ihrem Stirnrunzeln nach zu urteilen, zweifelte sie am Verstand des unbekannten Kunden.
Tina versuchte ihr Lachen zu unterdrücken, denn es sah ganz so aus, als ob der Mann – seinem kritischen Gesicht nach zu urteilen – keinen blassen Schimmer von Mehlsorten und Fruchtanteilen hatte. Zumindest sah es so aus, als hätte er sich nie damit beschäftigt. Oder lag ihm selbst nichts an einer Süßspeise und diese Stücke waren für einen anderen bestimmt?
„Sie sind beide sehr lecker“, mischte Tina sich ein, um das Gespräch abzukürzen. „Der Fruchtanteil ist bei dem roten höher und er wirkt frischer im Geschmack, bei dem dunklen ist der Mandel- und Kakaoanteil höher. Er wirkt trockener passt aber hervorragend zu einem Kakao oder einem Kaffee Latte. Sie sind beide ein Genuss für Leckermäulchen.“
Der Kunde drehte sich zu Tina, die ihm im Vorbeigehen diese Erklärung zugeworfen hatte. Da sie nur schnell an ihm vorbei huschte, nahm er nur ihr Profil wahr.
„Okay“, meinte er und blickte ihr nach, als sie nach hinten verschwand, um das Geschirr wegzubringen, ohne ihn weiter zu beachten.
„Ich glaube …“, dabei versuchte er Tinas Blick durch die Schiebetür zu erhaschen, was nicht ging, da sie hinter der Ecke verschwunden war. „Ich probiere beide Stücke. Zwei von jeder Sorte. Könnten Sie sie mir einpacken?“
Die Verkäuferin zückte eine Pappunterlage und drapierte gekonnt die süßen Kuchenstücke, die sie mit Papier routiniert umwickelte.
„Und das kleine runde Brot bitte aufgeschnitten.“
„Sie meinen das Sonnenbrot?“
„Äh, ja, das da liegt.“ Dieser Typ war nie zuvor in dieser Bäckerei, sonst hätte er dieses „kleine runde Brot“ als das Markenzeichen des Geschäfts erkannt und den Namen gewusst. Währenddessen zog er einen Geldschein lose aus der hinteren Hosentasche.
Tina richtete hinter dem Tresen angekommen die restlichen Brote für die Tafeln, damit sie in einer halben Stunde abgeholt werden konnten.
„Aus was für Mehl ist das Sonnenbrot gebacken?“, wollte er wissen, als er den Geldschein der älteren Frau über den Tresen reichte. Dabei blickte er fragend zu Tina, die ihn kurz anlächelte, bevor sie ihm antwortete:
„Roggen, Dinkel und der Rest ist Vollkornweizenmehl. Es ist außen kross und innen sehr rund im Geschmack. Die Gewürze sind hervorragend kombiniert.“
„Aha“, kam es nickend, während sein Blick über ihr Gesicht wanderte, als würde ihn irgendetwas daran irritieren. Er musterten sie aufmerksam. Tina schluckte, als sie das schöne Ozeanblau seiner Iriden wahrnahm.
Solch schöne Augen wie bei diesem Kunden, hatte sie noch nie zuvor gesehen. Sie drehte verlegen den Kopf zur Seite und hoffte, dass sich in ihrem Gesicht keine – welche auch immer – Mehl Spur befand.
Hoffentlich empfindet er es nicht als unhöflich, wenn ich ihn so anstarre, dachte sie verlegen. Unsicherheit machte sich in ihr breit.
Er nahm das Wechselgeld, ohne es anzusehen, drehte sich um und verließ wortlos das Geschäft.
Die beiden Frauen blickten sich an.
„Kein Gruß, keinen Dank. So etwas habe ich schon lange nicht mehr gehabt“, entglitt es der älteren Verkäuferin „Aber zu spät kommen und mich ausfragen … Komischer Kauz.“
Tina zuckte die Achseln. Irgendwie kam ihr der Typ bekannt vor, aber es fiel ihr in dem Moment nicht ein, wer es sein könnte. Eines war sicher: Als Kunde hatte sie ihn hier noch nie gesehen.
Stolz schritt Anna-Lena in ihrem üppigen Tüllkleid eine Woche später in farblich passenden rosa Schuhen vor ihr durch das Wohnzimmer. Ob es das Sonnenlicht war, das sie wie eine Prinzessin aussehen ließ, oder ihre Schrittwahl, das konnte Tina nicht genau herausfinden. Auf alle Fälle hielt sie bei deren Auftreten den Atem an. Anna-Lena wirkte in dem Stoff, der großzügig ihren Leib umspielte, wie eine Braut.
„Es war das schönste Kleid im ganzen Geschäft. Aber damit ich noch besser bei den Drehungen zu sehen bin, hat die Schneiderin es extra angepasst. Sieht das nicht klasse aus?“
Tina lächelte verhalten zu der netten Umschreibung, dass die Schneiderin etwas mehr Stoff eingearbeitet hatte, damit es Anna-Lena passte. Das Kleid sah wunderschön aus und kleidete ihre hellblonde Stiefschwester vortrefflich. Damit würde sie allen Mädels die Show stehlen, wie Tina bereits im Vorfeld wusste. Ihre ganze Familie wäre zum Abschlussball in zwei Wochen mit eingeladen.
Tina wusste nicht, ob sie zur Familie zählte und dabei sein durfte und ihr buntes Sommerkleid an diesem Abend tragen konnte. Sehr gern wäre sie mit von der Partie, um die jugendlichen Tanzpaare in schicker Kleidung in dem geschmückten Saal zu sehen. Ein aufregender Abend stand den Tänzern bevor.
Als sie ihre Stiefschwester betrachtete, fielen ihr Lenchens überweite Brüste auf, die durch den enganliegenden Satinstoff zusätzlich betont wurden. Darum beneidete Tina sie, denn sie selbst würde in dieser Stoffmenge schlichtweg versinken und könnte dieses Kleid nie tragen. Weder mit diesem Schnitt noch in dieser Farbe.
In Gedanken stellte Tina sich vor, dass sie es sich vielleicht in ein paar Jahren – mit etwas mehr Fülle – doch einmal ausleihen könnte, wenn sie auch mit einem Mann auf einen Ball ginge. Wie gerne würde sie das tun. Doch das stand, wie sie nur zu sehr wusste, noch in den Sternen. Denn im Moment gab es selbst bei der Arbeit nur einen alten Gesellen, der für die frischen Backwaren zuständig war. Der Rest des Lopezzi-Teams bestand, neben dem alten Chef, aus weiblichen Teilzeitkräften.
Da Tina keine Hobbys pflegte, konnte sie nicht auf männlichen Beistand hoffen, sondern beließ es bei dem Wunsch irgendwann später einen Traumprinzen zu finden, um mit ihm das Tanzparkett zu erobern.
Etwas zu schnell drehte sie sich in Gedanken um, sodass sie den Schmerz im Rücken spürte. Der fiese Stich ließ sie zusammenzucken. Anna-Lena blickte sie kurz kritisch an, verlor darüber aber kein Wort. Ihre Schwester wusste, woher Tinas Schmerzattacke kam, doch dieses Thema wurde von jeher totgeschwiegen. Nach außen gaben sie das perfekte Bild einer sozialen Familie ab, die die verwaiste Nichte aufgenommen hatte, weil sich sonst niemand um sie gekümmert hätte.
Lenchen schritt Meter um Meter vor ihr und mit jedem Schritt drückten deren hochhackige Schuhe in den Parkettboden. Tina hoffte derweil, dass diese Kratzer mit etwas Politur wieder herausgingen…
Maria Baier strahlte, als sie ihren Liebling schreiten sah.
„Du siehst aus wie eine Prinzessin, mein Schatz.“
Anna-Lena nickte zustimmend und ihre Wangen färbten sich rot vor Stolz.
„So würde mich Johannes bestimmt auf der Stelle heiraten.“
Jeder in der Familie wusste, dass Anna-Lena ein Faible für den Rektorensohn hatte. Bald begann das neue Schuljahr und sie würde ihn wiedersehen.
„Oh ja, und noch viele mehr, mein Lenchen. Du bist mein Goldschatz.“ Daraufhin drehte sie sich zu Tina. „Hast du die weiße Jacke schon gebügelt? Nicht, dass es Lenchen nachts friert.“
Tina nickte nur und wandte sich wieder den wenigen Pflanzen zu, die sie mit Wasser versorgte. „Sie hängt an der Garderobe.“ Fertig mit dem Gießen, ergänzte sie: „Ich gehe gleich noch zu Frau Gernolds, um ihre Blumen zu gießen. Sie kommt morgen wieder aus Afrika zurück.“
„Tu das, Tina. Aber pass bloß auf, dass du nix kaputt machst. Nicht, dass wir ihr noch etwas bezahlen müssen, wenn sie wiederkommt.“
Tina kannte diesen Spruch schon. Aber das war ihr noch nie passiert und war auch nicht in ihrem Interesse etwas absichtlich zu beschädigen. Dafür war ihr die alte Frau Gernolds und ihre vielen Urlaubsdekorationen viel zu wichtig. Es lag nicht nur an dem großzügigen Trinkgeld, das ihr die Seniorin für den Blumendienst gab, sondern auch an deren sympathischen Art, die Tina gefiel.
„Das ist für dich, meine Liebe. Ich weiß ja, dass du von zu Hause nicht so viel bekommst“, hatte sie ihr die letzten Male gesagt. „Also nimm es und komm nicht auf die Idee, es mir ausreden zu wollen.“ Tina erinnerte sich noch genau an den Geldschein, den die Nachbarin ihr ab und an zusteckte.
Frau Gernolds war eine betuchte Seniorin, die ihren Lebensabend in ihrer schicken und großzügigen Eigentumswohnung verbrachte. Ihr Hobby galt der Erkundung fremder Länder und deswegen war sie oft tagelang oder wochenlang in Urlaub. In der ersten Etage links lag ihr Domizil. Wer in der rechten Wohnung wohnte, wusste Tina nicht. Es gab häufigen Mieterwechsel in diesem Mehrfamilienhaus, sodass sie sich nicht die Mühe machte, deren Namen einzuprägen.
Im Erdgeschoss wohnte ein Pärchen und daneben eine Familie, von denen Tina auch nicht viel wusste, außer dass alle ganztags außer Haus arbeiteten und deren Sohn tagsüber in der Kindertagesstätte untergebracht war.
„Ich weiß nie, wann ich es nicht mehr kann. Deswegen bringe ich mir von jeder Reise ein kleines Erinnerungsstück mit. Meist habe ich darunter das Datum und den Ort geschrieben, wo ich es gekauft habe. Du glaubst nicht, was es für fantastische Länder und interessante Menschen auf der Welt gibt. Schau dich nur um, genug Krimskrams findest du ja, wenn du hier in der Wohnung bist.“ Dabei kicherte sie jedes Mal vergnügt. „Es macht mir nichts aus, wenn die Dinge hinterher nicht mehr an Ort und Stelle stehen, dann weiß ich, dass hier jemand war, und ich fühle mich nicht mehr so allein.“ Tina lächelte in Gedanken an die liebe Nachbarin und schaute auch unter der Woche in deren Anwesenheit ab und zu nach ihr, um ihr gemeinsam ein neues Kuchenrezept zu präsentieren oder nur, um einfach einen Tee mit ihr zu trinken. Frau Gernolds ehrliche Meinung zu einem neu gebackenen Gebäck bekam sie meist postwendend und inzwischen wusste Tina, dass die Nachbarin Pfefferminz und Zitronengeschmack im Gebäck bevorzugte.
Lächelnd stellte sie heute schon ein Schälchen selbst gebackener Zitronen-Ingwer-Plätzchen auf den Küchentisch. Abgedeckt, damit es die nächsten Tage frisch blieb. So würde Frau Gernolds sie bei ihrem Eintreffen sofort entdecken. Die Blumen waren schnell gegossen. Doch genau in dem Moment, als sie die Wohnung verlassen wollte, hörte sie eine kreischende Stimme im Treppenhaus. Ein tiefer Bariton versuchte sanft auf den schrillen Ton einzugehen, doch nach einigen klappernden Schritten verließ die Frau das Haus und die Haustür fiel laut scheppernd ins Schloss.
Tina zögerte die Tür zu öffnen, denn sie wollte nicht in irgendeine Ehekrise mit hineingezogen werden. Atemlos schielte sie vorsichtig durch den Türspalt, um zu sehen, ob die Luft rein war.
Die Tür nebenan schien geschlossen und die Bewohner unter ihnen kamen selten vor dem Abend zurück. Sie zählte langsam bis zwanzig, dann öffnete sie die Tür komplett und huschte mit leisen Schritten ins Treppenhaus hinaus.
Das vorherige Stimmengewirr schien verebbt. Ruhe lag im Treppenhaus. Vorsichtig und um keine Geräusche zu verursachen, schlich sie die erste Etage hinunter. Alles in Ordnung. Keine Menschenseele zu sehen. Nachdenklich ging sie zum Nachbarhaus. Ob sie sich diese Schreie nur eingebildet hatte?
„Das hättest du sehen sollen“, begann Lenchen direkt an der Haustür mit einer Stulle in der Hand. Nach ihrer extravaganten Modenschau trug sie nun wieder ihre schlabbrige Jogginghose und ein blassblaues T-Shirt.
„Der komische Typ von nebenan hat eine Frau verprügelt. Das war ein Geschrei. Sie ist vor ihm davongerannt, als wäre der Teufel hinter ihr her.“ Mayonnaise zierte ihre Oberlippe, die bei jedem Wort auf und ab schwankte.
Maria erschien direkt neben Anna-Lena. „Wir haben alles gehört. Sie hat so laut geschrien, dass ich dachte, ich muss die Polizei rufen. Hast du denn nichts mitbekommen bei der Gernoldschen?“
Tina schüttelte leicht den Kopf, blickte aber nicht in die Runde, um ihre Lüge nicht zu enttarnen.
„Sie war halb nackt und ist schreiend rausgerannt. Der Kerl hat nicht einmal versucht sie einzufangen, sondern hat sie einfach in dem kurzen Kleidchen fahren lassen. Zustände sind das, seit er hier wohnt. Dabei war es vor einem Jahr noch so ruhig. Und nun? Erst monatelanger Baustellenlärm, dann hat er jetzt ständig diese vielen Frauen um sich. Ich weiß gar nicht, wie viele er sich jede Woche neu anschleppt. Neulich ist er gleich mit drei von denen hoch in seine Wohnung. Also wenn die Gernolds mal wieder da ist, dann werde ich sie mal fragen, was das für ein Kerl ist. Da muss man Angst um euch Mädchen haben mit so einem Sittenstrolch in der Nachbarschaft … Nicht, dass er nebenan einen illegalen Puff eingerichtet hat. Hier in unserer Straße …“
Tina verschwand in ihrem Zimmer. Irgendwie hatte sie beim Gedanken an den neuen Nachbarn kein Bild im Kopf von einem Casanova, der die Straße unsicher machte. Vielleicht sollte sie sich einmal auf die Lauer legen und schauen, wie so ein Mensch aussah.
Anna-Lena behauptete später gar, dass diese Frauen immer komplett vollgemalt wären und sie aussähen als kämen sie direkt vom Strich.
Okay, überlegte Tina, dann werde ich jetzt auch mal schauen, was das für ein Typ ist, der hier so viel Frauenverkehr hat.
„Außerdem schläft er morgens immer so lange. Was ja kein Wunder ist, wenn er die Nacht zum Tag macht“, gluckste Anna-Lena allwissend. „Dabei sieht er nicht mal schlecht aus …“
„ANNA-LENA“, kam es barsch von Maria, als sie deren Geplänkel hörte. „Mit dem Typen lässt du dich nicht ein. Er grüßt nicht einmal, wenn er an mir vorbei geht. Das gibt es nicht. Dabei müsste er mich inzwischen kennen, wo ich doch immer den Müll raustrage, wenn er in die Einfahrt rast.“
Tina runzelte die Stirn. Dass irgendeiner auf den Garagenvorplatz rast, war ihr nie aufgefallen. Dafür bestand auch keine Möglichkeit, denn der Platz war sehr eng. Außerdem gehörte es seit jeher zu Tinas Aufgaben, den Müll hinauszubringen. Dass ihre Stiefmutter dies jetzt so häufig für sie erledigt hätte, war ihr ebenfalls komplett entgangen.
Anna-Lena verbrachte den Abend mit einer Freundin im Kino, sodass sie in den nächsten beiden Stunden nicht zu sehen wäre.
Anton genoss seinen Herrenabend bei Bier und Kartenspiel mit Freunden in der Kneipe und Maria quälte Migräne, sodass sie im abgedunkelten Schlafzimmer lag und keinen Mucks hören wollte.
Tina zerrte derweil die schwere Mülltonne vor das Haus, als ein sportlicher Wagen auf das Nachbargrundstück fuhr.
Der dunkelblaue BMW war ihr bekannt, aber sie wusste nicht, wem er gehörte und trödelte etwas, indem sie die welken Blätter vom Strauch pflückte, um zu sehen, wer aussteigen würde.
Familie Dickens fuhr einen Van und das Pärchen im Erdgeschoss hatte zwei VW-Golfs, und da Frau Gernolds keinen Sportwagen hatte, musste dieses Gefährt …
Mit einem Sprung stand der dunkelhaarige Fahrer leichtfüßig neben seinem Fahrzeug. Die Frau vom Beifahrersitz setzte in einem – für diese Temperaturen – ungewöhnlich langen Kleid vorsichtig die Füße in ihren High Heels auf die unebenen Pflastersteine. Sie brauchte einen Augenblick, bis sie sicher neben dem Sportwagen stand.
„Wenn ich gewusst hätte, dass du mit so einem Auto kommst, dann hätte ich das Kleid nachher erst angezogen …“, maulte die Blondine mit einem dick geschminkten Kussmund. Tina starrte das Frauenzimmer nur an. Der Begriff „vollgemalt“ traf es recht deutlich. Die Frau war über und über mit Schminke im Gesicht maskiert, sodass sie künstlich und distanziert wirkte.
Der junge Nachbar kam salopp an und reichte ihr wie ein Gentleman den Arm, damit sie nicht über die Pflastersteine stolperte.
„Du musstest dich ja unbedingt vorher anziehen. Bei mir wäre auch Platz gewesen“, grinste er süffisant und zog den Haustürschlüssel aus der hinteren Hosentasche, während der Sportwagen sich blinkend selbst verriegelte.
Als das Pärchen ins Haus trat, stand Tina immer noch mit offenem Mund, leicht versteckt am Kirschlorbeerstrauch, und starrte ihnen hinterher.
Das war der ungehobelte Bursche, der neulich in der Bäckerei den Kuchen geholt hatte. Seine Stimme würde sie nicht so schnell vergessen. Sein Haar fiel ihm wie neulich fransig ins Gesicht und seine Jeans hatte auch schon bessere Zeiten gesehen.
„Okay, dann weiß ich jetzt wenigstens, wer der Frauenheld in unserer Straße ist“, murmelte sie. Wie konnte es nur sein, dass so ein gutaussehender Typ sich einerseits leger kleidete, dann aber in Begleitung so schicker Frauen war. Ob er, wie Maria meinte, wirklich Geld mit den Frauen wie ein Zuhälter verdiente?
Sie stöhnte innerlich bei diesem Gedanken und schüttelte den Kopf. Eine merkwürdige Gestalt. In diesem Punkt musste sie Maria ausnahmsweise recht geben.
Am nächsten Morgen ging es Tina nicht gut. Ihr Rücken brannte immer noch und es dauerte lange, bis sie sich endlich für die Bäckerei aus dem Bett geschält hatte.
Anna-Lena trödelte beim Frühstück herum und Maria maulte, weil Tina vor dem Frühstück keine frische Milch beim Bauern geholt hatte, sodass Lenchen zum Bio-Müsli die ungesunde H-Milch trinken musste, wo doch gar keine Vitamine mehr drin seien.
Tina bewegte sich absichtlich so wenig wie möglich. Anna-Lena sagte nichts dazu, sondern ignorierte es wie immer, wenn ihr Vater vom sogenannten Herrenabend zurückkam. Noch lag Anton von letzter Nacht verkatert im Bett. So würde er heute entweder nicht oder erst später im Amt erscheinen.
Tina verschwand so schnell es ihr möglich war nach draußen, um zur Arbeit zu verschwinden. Draußen überschwemmten Tränen ihr Gesicht und sie hoffte, dass der notdürftige Verband, den sie sich angebracht hatte, bis zum Abend halten würde und sie sich heute nicht so oft bücken musste, denn jede Bewegung schmerzte höllisch. Eine Situation, die sie seit Jahren kannte.
In der Mittagspause durchforstete sie die Mietangebote der Tageszeitung, die für die Gäste auf den Tischen lag. Allein die Kaltmiete trieb ihr schon den Angstschweiß auf die Stirn. Wie sollte sie es nur hinbekommen sich eine eigene Wohnung leisten zu können, wenn sie zudem bei dem geringen Gehalt noch das Mobiliar anschaffen musste?
Frau Lopez betrachtete sie aufmerksam, weil die sonst so lebensfrohe Tina ihr heute wieder einmal so schweigsam erschien. Es gab Tage, da könnte sie schwören, dass Tina unter Depressionen litt. Darauf angesprochen deutete die Auszubildende nur an, dass sie schlecht geschlafen hätte. Diese Erklärung benutzte Tina immer, wenn anderen ihr Verhalten auffiel. Sie wusste aus Erfahrung, dass man sie dann in Ruhe ließ. Gelogen war das noch nicht einmal, da sie in solchen Nächten kaum ein Auge zubekam.
Frau Lopez nickte mitfühlend, als kannte sie das Problem, nachts lange wach zu liegen. Tina nickte dazu nur, aber ihre Gedanken schweiften ab.
Der Tag verging zäh wie Kaugummi und sie war froh, dass die anderen Frauen heute zu einem späten Sommerfest außer Haus gingen und Anton im Büro die Spätschicht übernahm. Freiwillig, wie er es gerne bezeichnete. Doch alle wussten, dass er scharf auf die Nachtzuschläge war.
Tina verzog sich in ihr kleines Zimmer, das allein ihr Reich war, dann cremte sie sich in aller Ruhe so gut wie möglich ihren Rücken ein. Hier war sie für sich. Mehr brauchte sie nicht. Mehr wollte sie nicht. Sie zog sich die Kopfhörer über und lauschte dem geliebten Meeresrauschen, um zu entspannen.
„Das kann jetzt nicht dein Ernst sein“, maulte Sam zerknirscht, während er am Schreibtisch saß und sich bedröppelt seine letzten Aufnahmen ansah.
„Samuel, es ist mein Ernst. Wir können davon nichts gebrauchen. Wir brauchen etwas Natürliches. Ich weiß, dass deine Mädchen klasse posieren. Sie kann ich sehr oft verwenden, aber der Kunde will eine natürliche Schönheit ohne viel Schnickschnack. Von mir aus im Slip und
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Michelle Robin
Cover: www.pixabay.com
Tag der Veröffentlichung: 09.09.2022
ISBN: 978-3-7554-2070-5
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