Cover

Geplant war das nicht ...

Text: © Michelle Robin        

 

Cover: © pixabay.com

 

 

 

  

 

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit der Zustimmung der Autorin gültig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, sowie das Speichern und Verarbeiten in elektronischen Medien. Auch das auszugsweise Verwenden des Textes bedarf der vorherigen, schriftlichen und ausdrücklichen Zustimmung der Autorin.

 

Die Geschichte ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und von der Autorin nicht beabsichtigt.

Neustart nach den Ferien

Die Sonne spendete wohltuende Wärme, obwohl die Sommerferien längst vorüber waren. Nur ab und zu überraschte eine starke Böe, um den nahenden Herbst anzukündigen.

Patricia fuhr gut gelaunt die Straße entlang. Aus dem Lautsprecher ihres Autos dröhnte Musik und sie summte leise mit, wobei sie mit ihren Fingern im Takt des Refrains auf das Lenkrad schlug. Unbeschwerte Vorfreude auf ihren Arbeitstag lag in der Luft.

Nach dem Eklat am Ende des letzten Kindergartenjahres, als zwei Mitarbeiterinnen die Einrichtung verlassen mussten, blickte Patricia inzwischen wieder hoffnungsvoll in die Zukunft.

Endlich sah sie die Möglichkeit, pädagogische Konzepte sinnvoll zu überarbeiten und Neues zu gestalten. Ihre Leitungsarbeit im Kindergarten konnte sie jetzt wieder ohne unnötige Konflikte wahrnehmen und wollte diese schreckliche Zusammenarbeit mit den Ex-Kolleginnen endlich hinter sich lassen, um sich an den positiven Seiten ihrer Arbeit zu erfreuen. Patricia liebte ihre Arbeit und steuerte ihren Wagen schwungvoll auf die kleine Ortseinfahrt zu, die sie zu „ihrem“ Kindergarten bringen würde. Heute begann ihr drittes Jahr in der fünfgruppigen Einrichtung und sie war dankbar dafür, dass die verbliebenen Erzieherinnen und der eine männliche Erzieher sie dabei aktiv unterstützten.

In Erinnerung an den neuen Erweiterungsbau verspürte sie eine tiefe, innere Freude, als sie das Gebäude erblickte. Das riesige Außengelände bot noch ungenutztes Potenzial und sie sah für dieses Gelände unzählige weitere Möglichkeiten. Der Traum verfolgte sie, diesen Außenbereich ebenfalls zu erneuern, um ihn noch kindgerechter zu gestalten. Hier sollte außen und innen ein Wohlfühlort für Kinder und Erwachsene sein.

Eine Mutter winkte ihr beim Vorbeifahren zu. Patricia erwiderte es  ihr durch das offene Fenster, denn sie kannte Frau Brehmers Tochter von den vergangenen Jahren noch sehr gut.  

Nach dem Abschluss des Studiums hatte Patricia eine Arbeitsstelle in der Nähe ihrer Eltern in Süddeutschland gesucht, um in deren Haus eine günstige Bleibe während ihres obligatorischen „beruflichen Anerkennungsjahres“ zu erhalten. Einzig diese praktische Überlegung hatte sie zunächst in den Süden getrieben, wo sie seit zwei Jahren eine kleine Dachgeschosswohnung im Elternhaus bewohnte. Zwei Generationen unter einem Dach und dennoch getrennt durch die Wohnungstüren, erschien ideal.

Patricia gefiel es, den Erweiterungsbau mit den Erziehern und dem Architekten zu planen und Arbeiten vor Ort zu organisieren. Von Anfang an wusste sie, dass hier ein einzigartiges Gebäude in allem entstand.

Der Aufwand hierfür hatte sich gelohnt und das bauliche Ergebnis und das neue Team konnten sich nach der belastenden Bauphase wirklich sehen lassen.

Das Extra-Lob vom Fachberater beim Einweihungsfest, weil sich die pädagogische Arbeit während dieser Zeit ebenso weiterentwickelt hatte, war ihr noch in guter Erinnerung. Zudem rechneten es die Kindergarten-Eltern dem Erzieherteam hoch an, dass kein einziger Tag während der Bauzeit ausfallen musste und die Erzieher bei zu großem Baustellenlärm auf Ausflüge und Waldtage zurückgriffen, damit die Kinder trotzdem versorgt waren.

 

Die Bewegungen ihrer Hände folgten immer noch dem Rhythmus der Melodie.

Die Geschwister Müller, winkten, als sie sie überholte und riefen ihr lautstark zu: „Paddy! Paddy!“  Patricia lächelte, als sie deren Stimme noch etliche Meter weiter hörte, als sie bereits abgebogen war. Die Kinder liebten sie und ihr ging es genauso.

Sie freute sich auf ihre Arbeit und hatte schon unzählige Ideen für die kommenden Monate, wenn nicht sogar für Jahre …

Da sie im letzten Jahr mehr Zeit auf der Baustelle als mit den Kindern verbracht hatte, sollte sich dies jetzt endlich wieder ändern.

Hauptsächlich aus diesem Grund freute sie sich auf diesen Tag. Direkt nach der einwöchigen Eingewöhnungsphase mit den vielen überwiegend jüngeren Kindern wollte Patricia heute unbedingt wieder mehrheitlich in ihren pädagogischen Beruf zurückkehren, anstatt mit den Handwerkern Ideen für die Einrichtung zu besprechen.

Der Schornsteinfeger, der vorüberging, winkte ihr schelmisch zu, was sie grinsend erwiderte. Direkt neben der Einrichtung am Kirchparkplatz hielt sie den Kleinwagen an.

Im Kofferraum stapelten sich, verpackt in Kisten, meterweise Stoffe.

Auf dem kurzen Weg vom Parkplatz zum Eingang des Kindergartens hätte Patricia am liebsten alle drei Klappboxen auf einmal getragen, um nicht noch einmal zu ihrem Auto zurückkehren zu müssen.

Deshalb kam ihr Pfarrer Meyer wie gerufen, der schmunzelnd auf sie zu ging, nachdem er sie auf dem Parkplatz, der direkt neben dem Pfarrhaus lag, erkannt hatte.

„Frau Klass, jetzt machen Sie aber mal langsam! Das ist doch viel zu viel. Da sollte ich Ihnen wohl besser helfen.“

Lächelnd nahm er ihr die obere Kiste ab.

Patrizia erinnerte sich voller Dankbarkeit an ihre heimliche Stütze, Pfarrer Meyer, der sie in ihrem Kampf um pädagogische Neuerungen bisher immer unterstützt hatte.

Obwohl dieser freundliche Herr bereits den älteren Semestern zuzuordnen war, zeigte er meist ein offenes Ohr für ihre Vorschläge. Er war ein wunderbarer Vertreter seines Berufsstandes, ein herzensguter Pfarrer, dem grundsätzlich das Wohl der Kinder am Herzen lag – zumindest, soweit es sich finanzieren ließ…

„Oh, danke, Herr Pfarrer, das ist wirklich sehr lieb! Ich fürchte, ich habe meine Kräfte doch ein wenig überschätzt”, gab sie ehrlich zu. Pfarrer Meyer musterte den Inhalt der Kisten und schien vor allem an den neuen Stoffen in warmen Farben, die obenauf lagen, interessiert zu sein.

„Gestern hatte ich ein amüsantes Gespräch mit einem ehemaligen Schulfreund, der in einem Einrichtungshaus arbeitet.“

„Aha“, kam es zurückhaltend. Pfarrer Meyers kritischem Blick nach zu urteilen, befürchtete er, dass dieser Eröffnung eine weitere Kostenlawine folgen würde, die sie bei der nächstbesten Gelegenheit ins Rollen bringen wollte.

„Stellen Sie sich vor, er hat mir die Stoffe doch tatsächlich einfach so geschenkt“, berichtete Patricia mit einem spitzbübischen Blick. „Da dachte ich, wir könnten mittags vielleicht neue Vorhänge für die Nordseite nähen. Im Moment sind noch nicht alle Kinder da und deshalb müsste es eigentlich zu schaffen sein.“ Wenn sie wieder einmal eine ihrer berüchtigten Ideen präsentierte, war ihre schelmische Miene absolut bühnenreif.

„Wollen Sie damit sagen, dass Sie überhaupt nichts für die Stoffe bezahlt haben?“, hakte der Pfarrer vorsichtshalber noch einmal nach, um ganz sicherzugehen, dass er sie eben richtig verstanden hatte. Ohne den geringsten Zweifel würden diese Stoffe farblich perfekt zu dem neuen Anstrich der hinteren Räume passen.

„Ja”, bestätigte sie knapp. Weil sie sich gerade auf die fünf Treppenstufen konzentrieren musste, fiel ihre Antwort kürzer aus als sonst.

Wie es Frau Klass immer wieder gelang, mit dem kleinstmöglichen finanziellen Aufwand an wahre Schätze zu gelangen, konnte der Senior nur neidlos bewundern. Um ehrlich zu sein, musste er zugeben, dass er von ihr zu Beginn alles andere als begeistert gewesen war. Damals hätte er statt einer examinierten Studentin aus einem weit entfernten Bundesland nämlich viel lieber eine ortsansässige Erzieherin eingestellt. Weil aber sonst niemand bereit war, sich den zu der Zeit noch herrschenden Stress mit den ehemaligen Erzieherinnen anzutun, hatte er sich trotz seiner Bedenken für Patricia entschieden.

Da sie gerade frisch aus Westfalen kam, hatte sie von dem Chaos vor Ort zunächst nicht die geringste Ahnung. Vielleicht hätte sie es sonst auch nicht gewagt, hier einzusteigen. Ihn beeindruckte bei ihrem Vorstellungsgespräch positiv, dass sie von Anfang an ehrlich gewesen war. Ihren eigenen Worten zufolge wollte sie nur für ein Jahr bleiben, um ihr Anerkennungsjahr zu beenden. Schon bald darauf kam es in ihrer Zusammenarbeit mit den beiden ehemaligen Erzieherinnen zu den ersten Krisen, was befürchten ließ, dass sie nach einem Jahr tatsächlich wieder abspringen würde. Während der schwierigen und anstrengenden Bauphase wäre dies aber für alle ein Albtraum gewesen. Noch mehr als für alle anderen galt dies für ihn, wenn die gesamte Mehrarbeit an ihm hängen geblieben wäre.

Um sich selbst zu entlasten und um ihre Position im Team der Erzieher zu stärken, hatte er ihr einen erheblichen Entscheidungsspielraum eingeräumt. Weil er wusste, dass ihre beiden Kolleginnen schon mehreren Leitungskräften das Leben schwer gemacht hatten, war ihm seine Entscheidung leichtgefallen und er hatte die befristeten Arbeitsverträge der beiden Problemfälle nicht mehr verlängert.

Seitdem gestaltete sich die Arbeitsatmosphäre wesentlich entspannter. Patricia Klass hatte die Fäden in der Hand und ihre Mitarbeiter würden für ihre Vorgesetzte die Hand ins Feuer legen. Bisher war ihm eine derartige Harmonie innerhalb des Teams und nach außen hin vollkommen fremd gewesen.

Seitdem im Kindergartenalltag Ruhe eingekehrt war, sprachen die Eltern mit offener Bewunderung über die Kindergartenarbeit.

Dies bestätigte, dass er die richtige Wahl mit ihr als Leitung getroffen hatte.

„Das ist ja großartig!”, stellte er fest und nahm ein Stück Stoff heraus. Im Geiste dankte er Gott, dass er ihr so bedenkenlos vertrauen konnte.

„Ich hoffe nur, dass wir es innerhalb der nächsten Tage schaffen, bevor noch mehr neue Kinder eintreffen“, warf Patricia ein. Gerade die kleinsten Kinder forderten grundsätzlich die besondere Aufmerksamkeit des Teams ein.

Er nickte ihr aufmunternd zu. „Meine Schwester Rosa kann Ihnen bestimmt helfen, falls ...”

Allen war bekannt, dass seine Schwester im Pfarrhaushalt genug zu tun hatte.

„Danke, das ist sehr nett von Ihnen, aber ich hoffe …”, dabei versuchte Patricia, ihren Schlüssel für die Eingangstür aus der Hosentasche zu fischen. Er kam ihr zuvor und benutzte seinem Universalschlüssel.

„Sie schaffen es auch allein, ich weiß.“ Bei diesen Worten zwinkerte er ihr aufmunternd zu. Seine schelmische Art kannte sie inzwischen. Pfarrer Meyer wusste, dass Patricia eine Frau der Tat war, die sich nicht von ihren Zielen abhalten ließ.

Im Gegensatz zu ihren Vorgängerinnen verstand sich Patricia hervorragend mit dem freundlichen Pfarrer, was ihre Chancen erheblich verbesserte, ihre Ideen erfolgreich umzusetzen.

In Krisensituationen war er für Patricia zu einem unschätzbar wertvollen Ansprechpartner geworden, dessen Unterstützung sie nicht als selbstverständlich betrachtete. Es tat ihr gut, diesem zuverlässigen Seelsorger  vertrauen zu können. Seine langjährige Erfahrung nutzte er ausnahmslos zum Wohl seiner Gemeinde, die ihm spürbar am Herzen lag. Eine noch bessere Grundlage für eine konstruktive Zusammenarbeit konnte sie sich nicht vorstellen.

Da man ihn bei einer Beerdigung erwartete, winkte er ihr zum Abschied zu. Pfarrer Meyer kannte alle seine Schäfchen persönlich und pflegte regen zwischenmenschlichen Kontakt auch außerhalb der Gottesdienstzeiten.

Viele schätzten es, in der kleinen Gemeinde einen eigenen Pfarrer zu haben.

 

Nachdem Patricia die Bürotür aufgeschlossen hatte, stellte sie die Kisten ab, bevor sie das gesamte Gebäude lüftete und überprüfte, ob auch wirklich alles in Ordnung war.

Ihr Umzug aus einer Großstadt in diesen beschaulichen Ort hatte zwangsläufig viele ihrer Lebensgewohnheiten verändert, obwohl es natürlich auch für rund 4000 Einwohner alle lebensnotwendigen Geschäfte und Anlaufstellen gab. Momentan sorgte das Neubaugebiet an der Ortsgrenze für einen langsamen Anstieg der Einwohnerzahl, was dem Ort zu mehr Abwechslung verhalf. Ihre neue Heimat war ein übersichtlicher Ort der Ruhe, was sich allmählich zu ändern schien.

Das Neubaugebiet zog Menschen aus umliegenden Städten an, was den üblichen Trott aufmischte und das dörfliche Umfeld mit neuen Herausforderungen konfrontierte.

Patricia gefiel das Leben in der Gemeinde. Hier gestaltete sich der Kontakt zu den Familien persönlicher und intensiver, als sie es in einem großstädtischen Kindergarten jemals erlebt hatte. Familiengeschichten wiederholten sich in den verwandtschaftlichen Beziehungen der Dorfbewohner. Die Einwohner des kleinen Ortes kamen ihr dabei wie eine einzige große Familie vor.

Da in der dörflichen Idylle jeder jeden kannte, wussten die Nachbarn über manche der Kinder mehr als die betreffenden Eltern. Was dabei der Wahrheit entsprach und was einer zu regen Fantasie entsprang, galt es herauszufinden.

 

Martin richtete gerade seine Gruppe ein. Im gesamten Team war er der ruhigste Mitarbeiter. Bei den Kindern erfreute er sich außerordentlicher Beliebtheit. Ob es an Martin selbst oder aber am Fehlen vieler Papas lag, wenn sie arbeits- oder familienbedingt viel zu selten in Erscheinung traten? Martin wirkte wie ein echter „Naturbursche“. Heute wollte er mit den Kindern draußen am Weidenhaus bauen, damit es den letzten Schliff bekam. Das herrliche Wetter bot sich hierzu an. Bald würde der feuchte Herbst Einzug halten.

Mit einem großen Palaver erschienen die beiden Quasselstrippen Joana und Melanie, die sich lautstark und fröhlich über die neueste Mode unterhielten, während sie erst einmal frischen Kaffee für alle Mitarbeiter aufsetzten.

Die korpulente Joana vertrat die Meinung, Schwarz würde ihr am besten stehen und gleichzeitig ihre überflüssigen Pfunde kaschieren. Melanie, so dünn wie eine Bohnenstange, fand, sie sollte zusätzlich besser noch ein paar farbige Akzente setzen, um ihr Outfit aufzupeppen.

Inzwischen kannte Patricia die beiden gut genug, um zu wissen, dass sie sich voll und ganz auf die Kinder konzentrieren würden, sobald ihr morgendliches Gequassel beendet war. Aus diesem Grund ließ sie die beiden nach ihrer Ankunft morgens erst einmal zehn Minuten in Ruhe. Erfahrungsgemäß funktionierte anschließend alles reibungslos.

Petra kam heute überraschend und für sie völlig untypisch ein paar Minuten zu spät. Deshalb entschuldigte sie sich sofort bei allen, wobei sie erklärte, dass sie auf dem Weg von der Kreisstadt in den kleinen Ort nicht mit einem Stau gerechnet hatte.

Patricia sah sie irritiert an.

„Du warst heute Morgen schon einkaufen?“

Immerhin war Petra die einzige Mitarbeiterin aus der Gemeinde, die fußläufig nur wenige Meter vom Kindergarten entfernt wohnte. Aus dem Grund gehörte ein morgendlicher Stau normalerweise nicht zu ihrem Gesprächsthema.

„Welches Geschäft ist denn schon so früh geöffnet?“

Noch während sie diese eher beiläufige Frage aussprach, schluckte Petra nervös.

„Nein, ich war nicht direkt einkaufen“, wich sie aus und eine Röte schlich sich auf ihre Wange.

Patricia fiel auf, dass ihre Lieblingserzieherin ein brandneues Kleidungsstück trug, obwohl Petra die Welt der Mode in der Vergangenheit eher weiträumig umschiffte. Als Patricia sie aufmerksam musterte, spürte sie, dass noch etwas anderes in der Luft lag. So unentschlossen verhielt sich ihre Kollegin sonst nie.

„Vielleicht sollten wir beide heute Mittag bei George einen Eiskaffee trinken?“, schlug sie ihr deshalb vor. Noch im selben Moment nickte Petra erleichtert, als hätte sie vorher nur nicht gewusst, wie sie es am besten formulieren sollte.

„Dazu lade dich heute sogar ein, weil ich nämlich eben meine Gehaltsabrechnung bekommen habe und jetzt offensichtlich etwas mehr verdiene.“ Patricia grinste sie verschmitzt an, um Petras ungewohnt ernste Miene ein wenig aufzuheitern.

Die Angesprochene lächelte verlegen. Statt ihr zu antworten, umarmte die Erzieherin ihre Chefin spontan. Im Laufe ihres gemeinsamen Kampfes um den Status der Leitung und um das optimale Erziehungskonzept hatten die beiden Frauen in den vergangenen Jahren entdeckt, dass sie sich gut verstanden. Aus Kolleginnen waren Freundinnen geworden.  

 

Nachdem sich Patricia um die Post gekümmert hatte, begrüßte sie einige Eltern, die ihre Kinder gerade in die Einrichtung brachten. Damit nahm der Alltag im Kindergarten seinen Lauf.

Während überall fröhliches Lachen und Plappern erklang und ein Kind im Flur wegen des Abschiedsschmerzes weinen musste, ging Patricia zu ihrer Kollegin Sabine, um mit ihr ein erstmaliges Treffen der „Großen“ in der Einrichtung zu organisieren.

Sabine präsentierte ihr noch ein paar neue Ideen, die sie mit ihr zusammen verwirklichen wollte. Auf ihr erstes gemeinsames Projekt hatten sich die beiden Frauen schon lange gefreut.

Die Kinder hörten bei diesem besonderen Treffen gespannt zu, weil sie unbedingt wissen wollten, was sie in den kommenden Wochen noch alles erleben würden. Nach einer ausführlichen Vorstellungsrunde, in der sich jeder Teilnehmer des „Maxi-Projekts“ mit für ihn typischen Worten und Bewegungen beschreiben durfte, war das Treffen für diese Woche beendet und der Vormittag vorüber. Am Ende der Spielzeit sangen die Kinder noch ein Lied, bevor sie abgeholt wurden oder die anderen ein zweites Frühstück verzehrten, weil sie noch länger in der Einrichtung blieben.

Ungefähr zwanzig Kinder verschwanden daraufhin mit zwei Kolleginnen in der Kinderküche, um dort ihren Mittagsimbiss zu sich zu nehmen, bevor der verlängerte Vormittagsdienst begann. Die restlichen 90 Kinder wurden an den beiden Ausgangstüren von ihren Eltern abgeholt und gingen zum Mittagessen nach Hause. Am Nachmittag würden die meisten von ihnen aber wieder in der Einrichtung sein. Somit war der Kindergarten auch am Nachmittag sehr gut besucht. Ob dies hauptsächlich an der zunehmenden Nachfrage nach einer nachmittäglichen Betreuung oder eher an dem Konzept der Einrichtung lag, konnte Patricia bisher nicht feststellen. Trotzdem hoffte sie natürlich, dass es die Zufriedenheit der Familien mit „ihrer“ Einrichtung zeigte.

In diesem Augenblick registrierte sie eine völlig aufgelöste, schicke zirka 50-jährige Frau auf, die eben gekommen war, um die beiden dreijährigen Zwillinge Robin und Daniel abzuholen. Da die beiden Jungen von ihr alles andere als begeistert zu sein schienen, trotteten sie auf dem Weg zum Parkplatz nur widerwillig hinter ihr her.

„Ist das die Oma von Robin und Daniel?“, wollte Patricia von Joana, die neben ihr an der Tür stand, wissen.

Diese schüttelte den Kopf. „Nein, die Frau arbeitet für den Vater. Aber meistens holt sie die Jungs ab. Es scheint zwischen den Dreien nicht allzu gut zu laufen. Oder wie siehst du das?“

Offenbar war die Kollegin zu demselben Schluss gekommen. Auch für Patricia bestand daran kein Zweifel.

„Hat der Vater der Zwillinge eine Firma? Warum arbeitet diese Frau für ihn?“

Joana schaute sie vollkommen entgeistert an, als ob sich Patricia gerade einen Scherz erlaubt hätte.

„Nein, er hat keine Firma. Er ist Arzt.“

„Aha.“ Komisch, dass ein Arzt seine Arzthelferin hierher schickte. Patricia nahm sich vor die Anmeldeformulare der Zwillinge, die sie noch nicht kannte, genauer anzusehen.

Dieser Fehler hätte mir nicht passieren dürfen, schalt Patricia sich.

„Robin müssten wir sowieso einmal genauer anschauen. Seit den Ferien dreht er hier so auf, dass ich ihn kaum noch bändigen kann“, gestand Joana, die bekanntermaßen ihre liebe Not mit wilden Jungen hatte.

Auf den ausdrücklichen Wunsch ihrer Eltern hin wurden die Zwillinge von Anfang an in derselben Kindergartengruppe untergebracht. Als Patricia von ihren Kolleginnen darüber informiert wurde, reagierte sie verhalten.

„Ja, ich habe ihn heute auch mehrmals gehört – und dich übrigens auch“, stellte die Leiterin sachlich fest. Ab und zu schlug Joana in Bezug auf ihre Lautstärke etwas über die Stränge. Trotzdem war sie kein bisschen aggressiv. Es lag einfach an ihrem Temperament und an ihrer Stimme, die stressbedingt an Lautstärke zunahm.

„Ja, heute war wirklich wieder einmal der Wurm drin. Das merke ich den Zwillingen jedes Mal deutlich an. Es tut ihnen nicht gut, wenn sie zu lange zu Hause sind.”

„Wie meinst du das?”

„Robin braucht eine starke Hand, damit er sich nicht alles erlaubt. Sonst stellt er nämlich blitzschnell alle Regeln infrage. Damit provoziert er nicht nur mich, sondern auch die anderen Kinder.“

Joana schilderte ihr, was sie am Vormittag erlebt hatte, aber Patricia hatte zufällig selbst einige Szenen mitbekommen und ebenfalls bemerkt, dass Robin eifrig dabei war, seine Grenzen auszutesten.

Seit den Ferien benahm er sich angeblich noch auffälliger als vorher, was Joana überhaupt nicht gefiel. Deshalb brauchte ihre Kollegin bei diesen Kindern manchmal Unterstützung, um am Ende nicht auf dieselbe Art wie die Kinder zu reagieren.

„Kannst du ihm diese starke Hand bieten?“, hakte Patricia vorsorglich nach, um die dramatischen Schilderungen zu unterbrechen.

Joana seufzte. „Na ja, in manchen Situationen schon, aber ich muss auch an die Kleinen denken, die in den nächsten Wochen kommen. Schließlich kann ich mich nicht die ganze Zeit über auf ein einziges Kind konzentrieren, das schon seit Monaten bei uns ist. Das wäre völlig unmöglich, zumal ich mich zuerst um die Neuen kümmern muss.“

Patricia spürte deren Unzufriedenheit. Manche Kinder benötigten eine längere Eingewöhnungszeit. Die Zwillinge waren aufgrund ihres Umzugs noch vor den Ferien als „Notfall“ kurzfristig aufgenommen worden. So lange waren sie noch nicht in der Einrichtung, da die Ferien die Eingewöhnungszeit unterbrachen.

„Und was ist mit Daniel? Ist er auch so wild wie sein Bruder?“ Erstaunlicherweise hatte Joana den gleichaltrigen Jungen noch nie erwähnt. Ihre Kollegin schüttelte den Kopf.

„Nein, Daniel ist ruhig. Von ihm höre ich meistens keinen einzigen Ton. Heute hat er aber wieder eingenässt und sich anschließend nicht einmal gemeldet. Stattdessen hat er sich in den Nebenraum verdrückt.“

Patricia stutzte. „Er hat sich nicht bei dir gemeldet, um frische Sachen zu bekommen?“

Joana schüttelte den Kopf.

„Eigentlich meldet er sich grundsätzlich nie bei mir. Er ist auffallend ruhig, zieht sich zurück und spricht kaum ein Wort – auch jetzt nach den Ferien nicht. Wir wollten ja die Ferien noch abwarten. Also, sprechen kann er in jedem Fall, zumindest mit seinem Bruder. Ab und zu bekomme ich das mit, aber mir gegenüber bleibt er stumm wie ein Fisch. Manchmal kommt es mir so vor, als ob er in seiner eigenen kleinen Welt lebt.“

Diese Beschreibung brach Patricia beinahe das Herz.

Oftmals empfanden es Lehrer und Erzieher angenehmer mit ruhigen Kindern zu arbeiten, statt sich mit den lauten Rebellen wie Robin herumschlagen zu müssen. Es fiel Betreuern oft nicht auf, dass ein Kind die ganze Zeit über allein blieb und sich nicht bemerkbar machte.

In Patricias Ohren schrillten die Alarmglocken dafür umso stärker.

Offensichtlich achteten alle nur auf Robin, während sie seinen Bruder übersahen. War es denn nicht viel besorgniserregender, wenn ein Kind so still wurde, dass man es nicht einmal mehr bemerkte und man dadurch vielleicht seine Wünsche und Bedürfnisse übersah?

Im Anschluss an dieses beunruhigende Gespräch nahm sich Patricia im Büro noch einmal die Anmeldekarten der beiden Kinder vor, um zu überprüfen, welche Angaben sie enthielten.

Warum kann ich mich an dieses Aufnahmegespräch nicht erinnern? Nicht einmal die Gesichter der Eltern habe ich mir gemerkt.

In der Regel dienten diese wichtigen Erstgespräche vor allem dazu, die Kinder, ihre Familie und ihre Lebenssituation so gut wie möglich einschätzen zu können. Dies war für die Gruppeneinteilung von entscheidender Bedeutung, Es war aber nichts bezüglich der Herkunft vermerkt.

Ungläubig drehte Patricia die Karteikarte in ihrer Hand hin und her. Die einzige Information lautete: Keine anderweitige Versorgungsmöglichkeit für die Kinder. Deshalb sollten sie möglichst noch vor den Sommerferien, wenn die Gruppen urlaubsbedingt leerer waren, aufgenommen werden.

„Notfälle“ wurden sonst immer ausführlich beschrieben.

Einen eventuellen weiteren Grund hätte man Patricia sonst mitteilen müssen.

Tief in Gedanken versunken, betrachtete sie die Karteikarte in ihrer Hand. Am Schriftbild erkannte sie, dass die entlassene Kollegin Angela diese verkürzten Anmerkungen verfasst hatte. Ihre prägnante Handschrift kannte sie nur zu gut.

Zu dumm! Diese ehemalige Kollegin würde sie auf keinen Fall anrufen. Nach all ihren Streitgesprächen, die ihr bei dem bloßen Gedanken daran bis heute noch Magenschmerzen bereiteten, verbot sich dies von selbst.

Angela hatte das Aufnahmegespräch im Mai geführt, bevor sie damit begann, sich fortlaufend krankschreiben zu lassen. Obwohl eine Vertretung diese Aufnahmegespräche nur sehr selten übernahm, war diese Ausnahme im letzten Kindergartenjahr aus verschiedenen Gründen mehrmals erforderlich gewesen. Dafür, dass ausgerechnet Angela diese Aufgabe erfüllt hatte, musste es aber einen besonderen Grund gegeben haben. Bei wichtigen Anlässen übernahm sonst Petra ihre Stellvertretung. Patricia las den Inhalt der Karteikarte noch einmal aufmerksam durch:

 

Name des Vaters: Mischa Berger – Arzt

Name der Mutter: Vera Berger – Ärztin

Dahinter war klein ein „vst.“ vermerkt.

Patricia wunderte sich über das ihr bisher unbekannte Kürzel und nahm sich vor, Petra so bald wie möglich zu befragen.

Ansonsten waren keine Erkrankungen der Kinder und keine Besonderheiten aufgeführt, die es zu berücksichtigen galt.

Die Eltern gaben die Kreisstadt als Wohnort an, die man mit dem Auto von hier aus in wenigen Minuten erreichen konnte. Wenn die Eltern in der Gemeinde arbeiteten oder die Großeltern hier im Ort wohnten, durften die Kinder natürlich hier im Kindergarten aufgenommen werden.

Also hatten Daniel und Robin täglich noch eine Heimfahrt im Auto vor sich, während die anderen Kinder meist mit dem Fahrrad oder zu Fuß abgeholt wurden.

Nur die berufstätigen Eltern, die auswärts arbeiteten, brachten ihre Kinder morgens mit dem Auto in den Kindergarten. In einem kleinen Ort, in dem alles mühelos zu Fuß erreichbar war, bildete dies zum Glück eher die Ausnahme.

Unabhängig davon, wie sehr sich Patricia auch anstrengte, konnte sie sich weder an das Gesicht des Vaters noch, was wohl wahrscheinlicher gewesen wäre, an das Gesicht der Mutter erinnern. Im Zusammenhang mit den Zwillingen sah sie ausschließlich junge Gesichter vor sich, die im Wechsel zum Abholen der Kinder erschienen waren.

Die Abholliste enthielt die Namen mehrerer Personen, die dazu berechtigt waren, die Zwillinge abholen zu dürfen.

Aus juristischen Gründen war es prinzipiell verboten, die Kinder an Erwachsene zu übergeben, die nicht auf dieser Liste standen. Dies spielte vor allem in Scheidungskriegen vor der endgültigen Regelung des Sorgerechts eine entscheidende Rolle.

Im Vergleich mit anderen Kindern standen für die Zwillinge außergewöhnlich viele Namen auf der Liste. Wenn man bedachte, dass die Familie erst kürzlich hierhergezogen war, schienen sie schon erstaunlich viele Einwohner zu kennen.

Die beiden Jungen gefielen Patricia. So unterschiedlich sie auch auftraten, fand sie beide sehr lieb. Patricias Gefühl sagte ihr, dass sie bei ihnen auch einen Stein im Brett hatte, hauptsächlich bei Robin, dem Wildfang. Manchmal musste sie ihn nur anschauen und schon ließ er von seinem unerlaubten Vorhaben ab. Offenbar hatte Robin sie von sich aus als Chefin akzeptiert, ohne dass sie erst großartig aneinandergeraten mussten.

Daniel übernahm eindeutig die ruhigere Rolle. Noch vor den Ferien hatte er aber auch einen erfreulich guten Kontakt zu ihr aufgebaut und sich in ihrem Büro lebhaft mit ihr unterhalten. Da er in der Gruppe wenig oder überhaupt nicht sprach, schien dies eine Menge zu bedeuten. Besonders gern erzählte er Patricia von seinem Vater, den er abgöttisch zu lieben schien.

Vielleicht sollte sie die Eltern so bald wie möglich zu einem Gespräch einladen, um die beiden endlich kennenzulernen.

Diesen Gedanken unterbrach Petra, die an ihre Bürotür klopfte.

„Bist du soweit? Wir wollten doch zusammen einen Kaffee trinken gehen.“

Dass Petra etwas auf dem Herzen lag, spürte Patricia überdeutlich.

Beim Eintreten erkannte Petra die Anmeldeunterlagen der Berger-Zwillinge.

„Diese Jungen tun mir unendlich leid“, kam es sofort. „So ein tragischer Unfall ist ja selbst für Erwachsene nur schwer zu verkraften.“

„Welcher Unfall?“

„Der Verkehrsunfall, bei dem ihre Mutter ums Leben kam …“

Patricia schluckte. Erst jetzt begriff sie das kleine Kürzel – „vst.“ für „verstorben“.

Vielleicht wäre ein detaillierteres Aufnahmegespräch an dieser Stelle doch sinnvoller gewesen. Danke, Engel Angela, meine liebe Ex-Kollegin!

„Angela hat es nur einmal kurz erwähnt, aber weil es nicht hier passiert ist, weiß es sonst keiner. Sie sind erst vor Pfingsten hergezogen und meiner Meinung nach wechseln sich viel zu viele verschiedene Leute beim Abholen der Kinder ab. Die Frau, die heute kam, ist zum Beispiel die Haushälterin und gar nicht für die Kinder zuständig. Dass sie keinen Bock darauf hatte, war ja nicht zu übersehen.“

Patricia schluckte erneut. Wie gut, dass Petra darüber informiert war. Sie war ein Schatz! Es ergab auch viel mehr Sinn, eine Haushälterin mit dem Abholen der Kinder zu beauftragen als eine Arzthelferin.

 

Wie egoistisch muss dieser Vater sein, wenn er nach so einer Familientragödie seine Kinder auch noch aus ihrem gewohnten Umfeld riss? Denkt er vielleicht mal eine Sekunde an seine Kinder?

Die Gedanken rasten durch Patricias Kopf, was sie dem Vater alles mitteilen wollte.

„Wann ist die Mutter der Jungen denn eigentlich gestorben?“, wollte Patricia wissen.

„Das ist jetzt ein oder zwei Jahre her. Ganz so genau weiß ich es nicht mehr. Robin hat mir aber erzählt, dass sie sich gar nicht mehr richtig an sie erinnern können, nur noch anhand von Fotos.“

Patricia beruhigte sich wieder ein wenig. Wortlos sahen sich die beiden Frauen an.

„Herr Berger arbeitet hier im Krankenhaus und ich glaube, dass die meisten Frauen nur allzu gern bereit wären, ihn zu trösten. Er sieht absolut scharf aus, … also … ähm … finde ich“, gestand Petra verlegen. „Nur leider sind wohl viel zu viele Frauen dieser Meinung und deshalb befürchte ich, dass die Zwillinge in den Ferien so einiges erlebt haben. Für die Kinder ist das alles eine Katastrophe, aber daran können wir nun einmal nichts ändern.“

„Dann soll er sich endlich eine feste Freundin suchen, damit die Jungen nicht diesem permanenten Wechsel ausgesetzt sind! Für die Kinder ist dieser Lebensstil doch ein einziger Albtraum!“ Offensichtlich konnte sich Patricia nicht mehr davon abhalten, entschieden für das Wohl der Kinder einzutreten.

Petra nickte zustimmend. „Außerdem ist Herr Berger wegen seines Jobs ja auch nur sehr selten zu Hause. Vielleicht verschanzt er sich sogar hinter seiner Arbeit. In der Klinik hört man jedenfalls nur Gutes über ihn. Zumindest in medizinischer Hinsicht scheint er ein absolutes Ass zu sein. Meine Mutter arbeitet dort ab und zu in der Nachtschicht und lobt ihn in den höchsten Tönen. Bei seinen Kollegen ist er auch sehr beliebt.“

Patricia fand sein Verhalten den Kindern gegenüber absolut unverzeihlich. Wie konnte es dieser Vater nur über sich bringen, beruflich so erfolgreich, aber nie für seine Kinder da zu sein?

„Daniel hat heute wieder eingenässt“, murmelte Patricia. „Meinst du etwa, das ist rein zufällig passiert?“

Petra antwortete mit einem Schulterzucken. „Bei Jungen dauert es oft etwas länger. Aber eins steht vollkommen außer Frage: In der letzten Woche sind die beiden Kinder völlig überdreht hier aufgetaucht. Robin braucht dringend jemanden, der ihm seine Grenzen aufzeigt, und Daniel?“

„Daniel sehnt sich nach einer Schulter, an die er sich kuscheln kann“, antwortete Patricia, ohne zu überlegen. „Bei der Haushälterin scheint das nicht zu klappten. Sie konnte vorhin mit keinem der beiden viel anfangen.“

Petra stimmte ihr zu. Nachdenklich biss sich Patricia auf die Unterlippe. Für den morgigen Tag hatte sie sich schon längst klare Aufgaben gestellt. In jedem Fall würde sie sich einzeln mit den beiden beschäftigen, um endlich herauszufinden, wie es ihnen wirklich ging. Und diesen Workaholic würde sie sich so schnell wie möglich vorknöpfen. Was für ein widerlicher Typ musste ein Vater sein, der seine Kinder ständig anderen aufs Auge drückte?

Petra reichte ihr den kleinen Rucksack, den Patricia als Handtaschen-Ersatz bevorzugte.

Beim Verlassen des Büros deutete Petra auf den Stapel der Stoffe.

„In der nächsten Woche willst du doch nicht etwa anfangen, hier zu nähen?“ Natürlich war diese Frage eher rhetorisch gemeint, doch Patricia schüttelte energisch den Kopf.

„Nicht in der nächsten Woche, sondern in dieser Woche. Insgesamt nimmt das nur einen einzigen Nachmittag in Anspruch und die neue Praktikantin hat doch als ihr Hobby Nähen angegeben. Dann wollen wir doch mal sehen, ob sie das hinbekommt!“

Petra schluckte. Bisher hatte sie diesem Hobby ihrer Praktikantin noch nicht sonderlich viel Bedeutung beigemessen.

Bei Patricia durfte man den Mund grundsätzlich nie zu voll nehmen, was die neue Praktikantin auch bald begreifen würde.

Die Siebzehnjährige trug, wenn es um Kleinigkeiten ging, oft genug zu dick auf. Bei der Vorstellung, dass ihrer Praktikantin eine nützliche Lektion bevorstand, konnte sich die Erzieherin das Grinsen nicht mehr verkneifen.

„Aber in der nächsten Woche, wenn die Neuen kommen, möchte ich sie gern wieder in meiner Gruppe haben“, warf Petra vorsichtshalber ein.

Patricia zwinkerte ihrer Freundin zu: „Ich bin zwar keine geübte Näherin, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ich die Sachen in spätestens vier Stunden fertig habe. Mal sehen, ob sie mich schlägt!“

Die beiden Frauen lachten. Also würde dies die erste große Bewährungsprobe für die Praktikantin darstellen. An den ersten Tagen war diese hier ohne pädagogische Kenntnisse so selbstsicher aufgetreten, dass den Erzieherinnen die Spucke wegblieb. Schon bald würde sich zeigen, wie viel noch davon übrigblieb, wenn sie für eine Weile mit Patricia zusammenarbeiten würde. Manchmal mussten die Mitarbeiter auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt werden. Zur Not würde Patricia die Näharbeiten auch zu Hause erledigen, aber den Spaß wäre es ihr in jedem Fall wert. Anschließend würde es Petra mit der Jahrespraktikantin vielleicht etwas leichter haben.

Die Besserwisserei der neuen Mitarbeiterin ging den anderen Kolleginnen inzwischen ebenfalls gegen den Strich. Einzig deswegen wollte Patricia ihr ein wenig die Flügel stutzen. Von einer minderjährigen Auszubildenden musste sich keine erfahrene Erzieherin herumkommandieren lassen. Petra war eine begnadete Erzieherin. Von ihr konnte jeder etwas lernen, auch eine Auszubildende, die gerade frisch von der Schulbank kam und noch keine Berufspraxis vorweisen konnte.

Gut gelaunt hakte sich Petra bei ihrer Freundin ein und sie machten sich auf den Weg zu ihrem Eiscafé um die Ecke. Dort gab es im Umkreis das beste Eis. Leider gab es in diesem Ort nur zwei Lokale, die erst in den Abendstunden öffneten und beliebte Treffpunkte für ein Feierabendbier darstellten.

Auch das vor einigen Monaten eröffnete Bistro in einer Seitengasse nahe des Marktplatzes war nicht zu verachten und sollte demnächst von ihnen unter die Lupe genommen werden. Das dortige Angebot der alkoholfreien Cocktails zu erschwinglichen Preisen hörte sich ebenfalls verlockend an. Zusätzlich standen vielversprechende Kleinigkeiten auf der Imbiss-Karte, die sich für die Mittagspause als eine angenehme Abwechslung darstellte.

„Neuerdings pflegst du also engere Kontakte zu unserer Kreisstadt?“

Daraufhin errötete Petra augenblicklich.

„Wie man es nimmt“, erwiderte sie leise, bevor sie ihrer Freundin wieder in die Augen schaute. „Dort wohnt Bernd.“

Mehrere Sekunden lang musterte Patricia sie stumm und erinnerte sich an die  neuen Kleidungsstücke ihrer Kollegin.

„Du sprichst doch nicht etwa von dem Maler, der im Kindergarten gearbeitet hat?“ Daraufhin färbte sich Petras Gesichtsfarbe dunkler. Die sonst übliche Souveränität der kompetenten Mitarbeiterin wirkte wie weggeblasen.

Während der Bauphase hatte sich dieser Bernd auffallend häufig in Petras Gruppenraum aufgehalten und sie ständig um Hilfe gebeten. Schon damals war es Patricia merkwürdig vorgekommen, dass er Petra nahezu ununterbrochen um Hilfe bitten musste. So unbeholfen schien der junge Maler in seinem Beruf eigentlich nicht zu sein.

Von Anfang an war Petra von den Malerarbeiten, die der Einrichtung das letzte i-Tüpfelchen verliehen, restlos begeistert. Dies erwähnte sie sogar regelmäßig in ihren Gesprächen mit den Eltern der Kinder.

„Paddy, ich …“, die Erzieherin stockte, „ich wollte eigentlich noch gar nicht heiraten.“

Patricia runzelte irritiert die Stirn.

„In den Ferien hatte ich ständig ein schlechtes Gewissen, weil ich nicht wusste, ob ich es dir sagen soll, aber Paddy, er ist so süß!!!“

Jetzt musste Patricia doch laut lachen. „Dass du verliebt bist, ist doch wunderschön!“

Nun schien sich Petras Gesichtsfarbe in ein gleichbleibendes Rot zu verwandeln, was Patricias Vermutung bestätigte. Die beiden waren gleich alt und dieser Bernd schien ein sympathisches Schlitzohr zu sein.

„Und wo liegt jetzt das Problem? Es ist doch großartig, wenn du ihn gern hast! Und er? Wie sieht er es?“

„Ihn stört unser Pfarrer und er meint, dass wir vielleicht Ärger kriegen, wenn wir jetzt schon, hm, na ja, du weißt schon. Paddy, ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie es weitergehen soll.“

Interessanter Gedanke, dachte Patricia und schluckte.

Immerhin handelte es sich bei Petra um die einzige Erzieherin aus dem Ort, die ihre Festanstellung in der kirchlichen Einrichtung direkt im Anschluss an ihre Ausbildung bekommen hatte.

„Bernd meint, dass Pfarrer Meyer bestimmt möchte, dass wir sofort heiraten. Deswegen soll es noch keiner von den anderen Erziehern erfahren.“ Mittlerweile wirkte das ununterbrochene Rühren in ihrem Eiskaffee so, als ob sie eine Überflutung herbeiführen wollte.

„Aber doch sicher nicht sofort! Ihr kennt euch doch kaum.“

Petra zuckte die Achseln.

Lächelnd drückte Patricia die Hand ihrer Freundin, die sich endlich ein wenig beruhigte und schließlich verschmitzt lächelte.

Was kann es Schöneres geben als wahre Liebe?

„Ich freue mich riesig für dich, Petra, ganz ehrlich. Das ist doch wunderschön für euch beide!“ Was dies für ihre Kollegin bedeutete, konnte sich Patricia gut vorstellen. Schon seit langem hatte Petra nach einem passenden Mann Ausschau gehalten, war dabei am Ende aber jedes Mal von einer hübscheren Konkurrentin ausgestochen worden. Deshalb bedeutete der Beruf ihr alles. Wahrscheinlich war sie tatsächlich dafür bestimmt, die perfekte Erzieherin oder eines Tages sogar Mutter zu werden. Inzwischen sehnte sie sich schon viel zu lange nach eigenen Kindern. Vielleicht war der junge Maler auch ein Familienmensch. Jedenfalls wünschte Patricia ihr dies von ganzem Herzen.

„Petra, ihr habt euch doch gerade erst gefunden. Lernt euch doch erst einmal besser kennen. Schließlich leben wir doch nicht mehr im Mittelalter und deshalb musst du ja nicht gleich den erstbesten Mann heiraten, weil es dem Pfarrer vielleicht gefallen würde. So altmodisch ist Pfarrer Meyer bestimmt nicht!“

Jetzt musste Patricia den alten Herrn auch noch verteidigen.

„Paddy, er möchte keine wilde Ehe. Das weiß ich genau.“

Nachdem die Leiterin einen Moment lang darüber nachgedacht hatte, was man in der heutigen Zeit eigentlich als eine wilde Ehe bezeichnete, verwarf sie diese Frage wieder. Natürlich hatte der kirchliche Einfluss die Gemeinde geprägt. Petra, die hier geboren wurde, war ein Kind dieser mehrheitlich katholischen Gemeinde.

„Wollt ihr denn schon zusammenziehen?“

Entschieden schüttelte Petra den Kopf. „Nein, wir kennen uns ja noch gar nicht so richtig.“

„Eben … und weil ich nicht weiß, was meine Kolleginnen in ihrer Freizeit so alles treiben, kann ich mich dazu auch nicht näher äußern. Ich bin aber felsenfest davon überzeugt, dass Pfarrer Meyer genau weiß, dass wir uns nicht mehr im päpstlichen Mittelalter befinden, nicht wahr, meine verliebte Petra?“ Verschmitzt grinste sie ihre Freundin an.

„Du glaubst also nicht, dass er mir kündigen wird?“

„Hallo? Mausi, du bist seine und vor allem MEINE allerbeste Erzieherin und deshalb wird er dir niemals den Laufpass geben. Außerdem könnte er das nur über meine Leiche durchsetzen. Heutzutage ist es doch schon lange kein Kündigungsgrund mehr, dass du eine Nacht mit deinem Sonnyboy verbracht hast. Wenn der Pfarrer das anders sehen sollte, müsste er sich vorher mit mir anlegen oder mir kündigen. Und genau das wird er nach allem, was bisher geschehen ist, wohl erst einmal nicht vorhaben, schätze ich.“

Bestätigend schüttelte Petra den Kopf. Ihnen war beiden klar, dass Patricia Klass nie im Leben gekündigt werden würde. Inzwischen war Pfarrer Meyer zu einem heimlichen Fan der Leiterin seines Kindergartens geworden. Das wusste längst der ganze Ort. Außerdem stand wegen des Erzieherinnen-Debakels die Leitungsstelle lange leer, sodass alle froh waren, dass Patricia sich getraut hatte, diesen Hexenkessel zu übernehmen.

„Vielleicht solltest du Bernd deine Zuneigung aber besser nur ganz privat schenken und damit nicht gleich vor den Kolleginnen oder vor den Eltern prahlen, damit sich die wenigen überdurchschnittlich konservativen Eltern nicht beschweren. Offiziell weiß ich nichts und danach fragen wird mich auch niemand. In deinem Privatleben musst du selbst am besten wissen, mit wem du dich … herumtreibst.“ Dass Patricia ihr bei diesen Worten verschwörerisch zuzwinkerte, brachte Petra wieder zum Schmunzeln. Damit war alles geklärt.

Nachdem sie sich lachend in die Arme gefallen waren, begann Petra, wie im Rausch von ihrem wunderbaren Bernd zu schwärmen. Patricia schmunzelte und freute sich für ihre Freundin, die zum ersten Mal in ihrem Leben auf einer rosaroten Wolke zu schweben schien. Tief in ihrem Herzen wünschte sie den beiden alles Glück der Welt, was sie im Anschluss an Petras Redefluss auch in rührenden Worten zum Ausdruck brachte. Daraufhin umarmten sie sich noch einmal.

Schon seit Wochen war Petra mit Abstand die bestgelaunte Kollegin. Wenn dieser Bernd der Grund dafür war, konnte Patricia diesen Menschen nur herzlich willkommen heißen!

 

 

Alltag im Kindergarten

Am nächsten Morgen kam Robin laut schimpfend in den Kindergarten.

Frau Huth presste ihre Lippen aufeinander, als ob sie sich die bissigen Bemerkungen, die ihr auf der Zunge lagen, nur dadurch verkneifen könnte. Es schien vor ihrer Ankunft ein Problem gegeben zu haben, das jetzt zwangsläufig mit in die Einrichtung schwappte. Patricia ging hinaus in den Flur, um die Ursache herauszufinden. Frau Huth wirkte hoffnungslos überfordert.

Daniel zog schweigend seine Straßenschuhe aus, um in die Hausschuhe zu schlüpfen. Robin begann lauthals zu schimpfen, wobei er seine Schuhe wutentbrannt in Patricias Richtung warf.

„Robin!“ Der schrille Ruf der Haushälterin klang hysterisch.

„Guten Morgen, Robin! Na, du scheinst heute Morgen ja besonders viel Kraft zu haben“, eröffnete Patricia in aller Ruhe das Gespräch. Dabei stellte sie die Holzkiste der Kinderwerkbank auf einen kleinen Tisch, um die Hände frei zu haben und die Jungen begrüßen zu können.

„Das ist so doof, so doof!“, maulte der schwarzhaarige Junge. „Jedes Mal ist das so und dabei wissen alle, dass ich das nicht will.“

„Was möchtest du denn nicht, junger Mann?” Bei dieser leisen Frage beugte sich Patricia zu Robin herunter.

„Ich will, dass Papa uns abholt!“, brach es aus ihm heraus. Obwohl er seine Meinung nicht so redegewandt zum Ausdruck brachte, nickte Daniel sofort bestätigend.

„Ja, Papa soll kommen“, flüsterte er kaum hörbar.

„Na, vielleicht kann es euer Papa ja bald wieder einmal einrichten“, versuchte Patricia zu beruhigen.

„Im Moment geht das überhaupt nicht“, unterbrach Frau Huth in einem eiskalten Ton. „Dafür hat er viel zu viel zu tun.“

Diplomatie gehörte nicht zu den Stärken dieser Frau.

„Immer nur Arbeit, immer nur Arbeit. Ich hasse ihn!“ Diesmal schrie Daniel und begann herzzerreißend zu weinen, bis sein ganzer Körper bebte. Sein Elend zeigte sich in dem kleinen Körper mit einer solchen Wucht, wie es nie zuvor jemand sah. 

Patricia setzte sich zu ihm und nahm ihn sanft in den Arm. Augenblicklich fiel Daniel ihr am Körper bebend um den Hals, als wollte er sich bei ihr festhalten.

Robin stand mit vor Schreck geweiteten Augen dabei, als er seinen wenige Minuten älteren Bruder so weinen sah. Damit hatte er nicht gerechnet, denn normalerweise übernahm Daniel die ruhige, tragende Rolle zwischen ihnen. Daran, dass es den beiden Kindern überhaupt nicht gut ging, gab es nicht den geringsten Zweifel.

Frau Huth unternahm noch einen letzten Versuch, die Krise mit Worten zu bereinigen und begann in einer Aufzähllitanei zu berichten, was ihr Vater alles für seine Söhne tat und wie er sein Geld verdienen musste. Dabei stellte sie sich so ungeschickt an, dass Patricia sich schließlich gezwungen sah, die Frau kurzerhand zu verabschieden. Sobald sie den Mund aufmachte, glich Frau Huth dem sprichwörtlichen Elefanten im Porzellanladen. Sie konnte oder wollte nicht mit den Kindern zurechtkommen und schien absolut nicht in der Lage, sich in deren verzweifelte Lage hineinzuversetzen.

Sachliche Argumente konnten bei Dreijährigen in so einer Situation nichts erreichen. Patricia erschütterte die Gefühlskälte der Haushälterin im Umgang mit den Jungs. Hatte diese Frau denn überhaupt kein Gespür für deren Bedürfnisse?

Joana begegnete ihrer Chefin mit Daniel auf ihrem Arm und mit Robin an ihrer Hand auf dem Weg in ihr Büro. Behutsam und leise schloss sie die Tür hinter ihnen.

Anschließend hing Joana sofort das „Bitte nicht stören“- Schild an die Außenseite der Bürotür, damit keiner zufällig eintrat.

Glücklicherweise erfüllte das Schild seine Aufgabe, sodass Patricia Zeit blieb mit beiden Kindern zu sprechen und zu spielen. Robin ging als Erster zu seiner Gruppe zurück.

„Paddy ist klasse!“, rief er zusammenfassend in den Raum, während er Joana zur Begrüßung die Hand reichte. Damit war er an diesem Morgen endgültig in seiner Gruppe angekommen.

Der Wutausbruch, der alle vor einer Stunde so sehr erschreckt hatte, schien wie weggeblasen zu sein. Erstaunt stellte Joana fest, dass der sonst so wilde Robin an diesem Morgen ruhig und ausgeglichen spielte. Später wollte sie ihre Chefin fragen, wie es ihr gelang, diesen Rebellen zu verzaubern.

Zur selben Zeit beschäftigte sich Daniel auf dem Spielteppich in Patricias Büro mit bunten Bausteinen. Dabei suchte er regelmäßig den Blickkontakt. Es kam ihr beinahe so vor, als ob er sich vergewissern wollte, dass sie sich immer noch Zeit für ihn nahm.

Jedes Mal, wenn er ihren Blick suchte, schenkte Patricia ihm ein liebevolles Lächeln. In diesen Momenten wurde ihr bewusst, wie schrecklich einsam und verlassen sich der kleine Daniel in der Obhut der dominanten Haushälterin fühlte.

Es war nicht zu übersehen, wie sehr Daniel die Zeit mit ihr genoss. Den ganzen Vormittag über wich er nicht von Patricias Seite und sie ließ ihn bei sich, während sie Büroarbeit erledigte.

Als die anderen Kinder abgeholt wurden, ging Daniel von ganz allein zu seinem Mittagsimbiss, nachdem er die Sozialpädagogin noch einmal umarmt hatte.

Die Zwillinge gehörten zu den Kindern, die täglich die maximal mögliche Zeit in der Einrichtung verbrachten. Zum Mittagessen holte man sie nie nach Hause. Theoretisch bestand diese Möglichkeit, aber Patricia vermutete, dass der Vater ganztägig berufstätig war, was eine Versorgung in der Mittagszeit ausschloss.

Seit dem Ende der Ferien holte die Haushälterin die Kinder regelmäßig ab. Vor der Abholzeit ließ sie sich aber nie blicken. Jedes Mal kam sie erst während den letzten Minuten der Öffnungszeit angerauscht. Für die Zwillinge musste es furchtbar deprimierend sein, immer als Allerletzte abgeholt zu werden. Oder blieben sie lieber im Kindergarten als bei Frau Huth?

Wer die Kinder am Nachmittag betreute, wusste niemand in der Einrichtung. Den Anspielungen auf dieses Thema war Frau Huth an den vergangenen Tagen geschickt ausgewichen. Einmal hatte Daniel leise erwähnt, dass Frau Huth nach ihnen sah. Sein Blick sprach Bände dabei.

Nachdem sie gegangen waren, konnte Patricia die Erinnerung an die traurigen Augen der Jungen nicht mehr abschütteln. Sie ahnte, dass die Kinder lieber den ganzen Tag über in der Einrichtung bleiben würden. Dies sprach zwar für den Kindergarten, aber leider nicht für die Harmonie in ihrem Zuhause. Auch an den folgenden Tagen zeigte sich keine Änderung.

Herr Berger brachte die Kinder nie selbst in den Kindergarten. Sie kamen schlecht gelaunt in der Einrichtung an und wünschten sich, Zeit bei Patricia zu verbringen. Fast schien es, als hätten sie sich ihre persönliche Ansprechpartnerin inzwischen selbst ausgesucht.

Robin hörte problemlos auf Patricia, die er verehrte.

Daniel suchte fortlaufend ihre Nähe und half ihr regelmäßig im Büro, wenn es zum Beispiel etwas zu sortieren, Bleistifte aufzuräumen, Blätter zu bemalen oder Briefmarken aufzukleben gab. Vielleicht ermöglichte ihm dies, innerlich zur Ruhe zu kommen.

 

Am Donnerstag, als nur noch fünf Kinder im langen Vormittagsdienst betreut wurden und Patricia mit ihnen allein war, weil die diensthabende Sabine sich gerade auf der Toilette befand, passierte es.

Patricia hatte die Ankunft des Mannes nicht bemerkt. Als sie den Flur entlanglief und verzweifelt versuchte, mit einem übervollen Tablett mit getöpferten Rohlingen die Balance zu halten, sprach sie von hinten urplötzlich eine klare, tiefe Männerstimme an:

„Sind meine Kinder noch in der Gruppe?“

Patricia fuhr der Schreck in alle Glieder, weshalb sie sich viel zu schnell umdrehte. Dabei stürzte beinahe die Kugel von Emily ab, die diese in minutenlanger Arbeit gerollt und kunstvoll verziert hatte.

Unsicher balancierte sie das Tablett aus, um ein weiteres Malheur zu verhindern. Glücklicherweise blieb das runde Objekt im letzten Moment auf dem Tablett liegen und es fiel auch nichts anderes herunter.

Das war knapp, rauschte es durch Patricias Hirn und sie überlegte krampfhaft, wer dieser Mann sein konnte.

„Ihre Kinder?“ Verdammt noch mal, welche Kinder gehörten zu diesem Unbekannten? Mit absoluter Sicherheit hatte sie ihn noch nie zuvor gesehen. Dieser Mann wäre ihr bestimmt aufgefallen.

Der schwarzhaarige Typ in Jeans und einem weiten Hemd beobachte sie amüsiert dabei, wie sie sich alle Mühe gab, das schwere Tablett sicher abzustellen, ohne dabei etwas zum Einsturz zu bringen. Dass er sie mit seinem Auftritt aus dem Gleichgewicht gebracht hatte, war ihm durchaus bewusst.

„Meine Kinder“, wiederholte er, wobei er sie nicht aus den Augen ließ. Sein Blick schien zu zeigen, dass er Gefallen an Patricia gefunden hatte, aber er erklärte nicht näher, wer er war und wen er abholen wollte.

Während Patricia überlegte, wie sie ihn möglichst geschickt nach seinem Namen fragen könnte, öffnete sich die Tür zum Gruppenraum und ein dunkelhaariger Wirbelwind rannte auf sie zu.

„Papa!!!“ Noch freudiger hätte er seinen Vater unmöglich begrüßen können. „Danni, Papa ist da!“ Mit diesen Worten fiel Robin seinem Vater um den Hals. Der junge Mann schloss ihn in seine Arme und drehte sich lachend mit ihm im Kreis.

Bei diesem Anblick musste Patricia schmunzeln. Mit Herrn Berger hätte sie hier nie im Leben gerechnet. Keine zwei Sekunden später stürmte Daniel in den Flur. Auch er hatte seinen Vater gehört.

„Hallo, mein Großer!“, begrüßte ihn Herr Berger, bevor er auch ihn in den Arm nahm. Jetzt trug er den einen Jungen rechts und den anderen links. Patricia nahm das wunderschöne Bild in sich auf, wie sich die Jungen überglücklich an ihren Vater schmiegten, der übermütig lachte.

Als Zeugin dieser Begegnung erkannte sie die Liebe der Jungen zu ihrem Vater. Wärme erfasste Patricia bei diesem Anblick. In Erinnerung an die bekannte Eisscholle, die sonst die Kinder abholte, ging sie bisher davon aus, dass deren Vater genauso herzlos war. Ein Irrtum wie sich jetzt feststellte.

Erst nach einer ganzen Weile ließ Herr Berger die beiden wieder herunter. Seine Augen strahlten immer noch vor Lachen, als er sie vorsichtig auf dem Boden absetzte. Dass es ihm eine Freude bereitet hatte, seine Jungen zu überraschen, war nicht zu übersehen.

Verlegen strich sich Patricia ihr Haar aus dem Gesicht. „Es tut mir leid, dass ich Sie nicht erkannt habe.“ Weil sie gerade aus dem Matsch-Raum kam, bedeckte eine Kruste aus Ton ihren Handrücken, sodass sie die zum Gruß gereichte Hand peinlich berührt zurückzog.

„Kein Wunder, denn wir kennen uns ja noch nicht!“ Sein Lächeln wirkte ansteckend. Als sie die Töpferspuren auf ihrem weißen T-Shirt bemerkte, schluckte sie. Ihn schien dies sichtlich zu amüsieren.

„Papa, das ist Paddy“, rief Robin, um die Fronten zu klären.

„So, so, das ist also Paddy“, kam es sachlich. Diese Auskunft schien vollkommen auszureichen. Daraufhin musterte er sie noch gründlicher, bis Patricia diesen Blick auf eine unerklärliche Weise als unangenehm empfand. Außerdem hätte sie ihn viel lieber zu einem offiziellen Elterngespräch eingeladen, statt ihm hier in ihrer verschmutzten Arbeitskleidung gegenüberzustehen.

„Meine beiden Jungen schwärmen in einer Tour von Ihnen“, teilte er ihr schmunzelnd mit.

Will er sich jetzt etwa bei mir einschmeicheln?

„Dann ist es doch schön, dass Sie einmal persönlich vorbeikommen. Bisher wusste ich nicht einmal, ob es Sie wirklich gibt.“

Mit Sicherheit hatte er den Unterton herausgehört und auch richtig gedeutet. Ein paar Sekunden lang standen sie sich wortlos gegenüber.

„Die Öffnungszeiten des Kindergartens sind nicht gerade als arbeitnehmerfreundlich zu bezeichnen. Zu meinen Arbeitszeiten passen sie nicht wirklich“, blieb er sachlich. Es sah so aus, als wollte er sich nicht auf Diskussionen einlassen.

„Eigentlich wollte ich Ihren Kindern schon einen Brief mitgeben, damit ich einmal mit Ihnen sprechen kann, Herr Berger.“

Diesmal stutzte er. „Sie wollten mich sprechen? Gibt es denn irgendwelche Probleme? Danni und Robby, zieht euch bitte schon einmal an und holt eure Sachen!“

Ohne zu zögern, machten sich die Kinder auf den Weg.

„Vielleicht wäre es hilfreich, wenn Sie sich ab und zu ein wenig Zeit für ihre Kinder nehmen würden.“

„Machen sie denn Probleme?“, hakte er etwas ungeduldiger nach. Weil sie ihm vorher noch nicht geantwortet hatte, klang diese Frage wie eine Anklage. Einen Moment lang betrachtete sie ihn, ohne darauf zu reagieren. In seiner Stimme hatte sie eine innere Anspannung wahrgenommen und fragte sich, was ihn so nervös machte.

„Sie können mir jederzeit einen Termin vorschlagen und ich richte mich gern nach Ihrem Dienstplan“, schlug sie ausweichend vor. So zwischen Tür und Angel und ohne eine gründliche Vorbereitung wollte sie kein Gespräch aus dem Ärmel schütteln. Diesmal war er derjenige, der nicht sofort antwortete.

„Ist es wichtig?“, wollte er anschließend wissen.

Wie viel bedeuten ihm seine Kinder?, fragte sie sich, ohne zu antworten.

„Also, das kann ich schon irgendwie organisieren. Nur in den letzten Wochen war mein Zeitplan ziemlich … eng“, murmelte er, ohne noch länger auf ihre Antwort zu warten. Letzteres war niemand entgangen.

„Wie sieht es denn in dieser Woche aus?“ Damit verschwand die junge Frau in ihrem Büro, um ihren Terminkalender zu holen. Herr Berger nutzte die Gelegenheit, um einen Blick in den Raum zu werfen, wobei er die Lego-Steine auf dem Spielteppich entdeckte. Das Büro diente als Aufenthaltsort für Kinder und für Erwachsene. Erneut richtete er seinen Blick auf sein attraktives Gegenüber.

„Für mich würde es am Mittwoch, am Donnerstag oder am Freitag passen. Also haben Sie die freie Wahl.“

„Frühmorgens oder spätabends wäre es mir persönlich am liebsten“, gestand er zerknirscht.

Als sie um sieben Uhr morgens vorschlug, antwortete er mit einem Schulterzucken. „Der Donnerstag wäre ganz gut, aber geht es vielleicht auch etwas später? Dann könnte ich mir noch ein bisschen Zeit für die Jungs nehmen beim Frühstück.“

Dass er die Zeit mit seinen Kindern genießen wollte, ließ sie lächeln. Ohne es zu bemerken, hatte er eben einen Pluspunkt erzielt.

„Acht Uhr? Oder lieber noch später?“, fragte sie nach.

„Perfekt, acht Uhr passt hervorragend, weil ich dann in der Klinik keine Termine verschieben muss.“

Zustimmend notierte Patricia die Uhrzeit in ihren Kalender. Wenigstens ließ ihr dieser Termin noch einen Tag Zeit, damit sie sich ihre Beobachtungen durch den Kopf gehen lassen konnte. Zunächst musste sie ihren negativen Eindruck von Herrn Berger revidieren. Sicherlich hatte er als alleinerziehender Witwer  mehr als genug um die Ohre.

War es vielleicht ein Fehler, dass ich diesen Rabenvater in Gedanken verflucht habe? Offensichtlich lieben ihn die Kinder von ganzem Herzen und er sie ebenfalls. Auf dieser Grundlage würde das Gespräch wenigstens nicht allzu schwierig werden.

„Papa, Papa, darf ich mitkommen?“, fragte Robin, der seine Schuhe gerade falsch herum angezogen hatte.

Als er ihn ansah, musste Herr Berger lachen. „Selbstverständlich nehme ich dich mit. Ich bin doch heilfroh, wenn ich dich bei mir habe, Robby.“ Dabei bückte er sich zu seinem Sohn herunter, um ihm die Schuhe richtig herum anzuziehen.

In diesem Augenblick kam auch Daniel auf sie zu, der seine Schuhe richtig angezogen hatte.

„Gehen wir jetzt zusammen ins Schwimmbad?“, wollte Daniel wissen.

Herr Berger strich sich durchs Haar. „Stimmt, das hatten wir ja eigentlich für heute geplant, aber ich dachte, wir sollten eure Oma vielleicht noch einmal in der Reha besuchen, bevor sie in der nächsten Woche endlich wieder nach Hause kommt.“

„Au ja, wir gehen zu Oma!“, riefen die beiden im Chor, wie es Zwillinge manchmal tun.

„Dort gibt es auch ein Schwimmbad und eure Oma nimmt euch bestimmt gern mit ins Becken, wenn ihr das unbedingt wollt.“

„Jaaa“, lautete die auch diesmal synchrone Antwort auf seinen Vorschlag.

Jetzt lächelte auch Patricia und freute sich mit ihnen. Zweifellos hatte Herr Berger ein gutes Händchen für die beiden.

„Kurz nach unserem Umzug aus Finnland hatte meine Mutter leider einen schweren Unfall, nach dem sie mehrere Wochen lang im Krankenhaus bleiben musste. Zum Glück war die Reha aber ein voller Erfolg und jetzt kann sie schon wieder einigermaßen laufen“, erklärte er ihr.

„Davon wusste ich nichts“, gestand sie.

Ich wusste nicht einmal, dass die Familie aus Finnland hierhergezogen ist.

In diesem Moment hätte sie Angela umbringen können.

„Hat Ihnen Frau Huth etwa gar nichts davon erzählt?“, fragte er verwundert.

Patricia schüttelte den Kopf.

„Na ja, vielleicht sollten wir uns wirklich einmal etwas ausführlicher unterhalten“, meinte er augenzwinkernd, als er bemerkte, dass dieser Weg der Kommunikation nicht funktionierte. Obwohl er das Recht dazu gehabt hätte, schien er überhaupt nicht nachtragend zu sein. Ein solcher Mangel an Informationen war Patricia im Umgang mit einem Elternteil vorher noch nie untergekommen. Es war ihr mehr als peinlich.

Hilfe, jetzt meint er bestimmt, ich wäre eine Vollidiotin!

„Ja, das denke ich auch“, gestand sie erleichtert auf seine Anmerkung, woraufhin er entspannt lächelte.

„Bisher müssen Sie ja einen ziemlich schlechten Eindruck von mir gehabt haben, Frau … ähm …“, stotterte er, als könnte er sich nicht an ihren Nachnamen erinnern. „Paddy“ klang in seinen Ohren eher wie der Kosename der Kinder.

„Klass … Patricia Klass.“

Noch während sie ihren Namen aussprach, schmunzelte er.

„Patricia Kaas?“

Natürlich war diese Assoziation schon vielen in den Sinn

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Michelle Robin
Cover: www.pixabay.com
Tag der Veröffentlichung: 01.02.2021
ISBN: 978-3-7487-7355-9

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /