Sara sieht nach einer langen Mobbinggeschichte bei dem unbekannten Logistikunternehmen "Wintermann" die Möglichkeit, in ihren Beruf wieder neu einzusteigen. Sie freut sich auf das Vorstellungsgespräch, bei dem sie sich gute Chancen einräumt. Dass das Gespräch unter sehr merkwürdigen Umständen stattfindet, schwächt ihre anfängliche Euphorie ein wenig.
Als sie wenige Tage später dennoch als neue Mitarbeiterin dort mit einsteigt, spürt sie in vielen Details, dass ihr neuer Boss einige Geheimnisse birgt, die sie einerseits irritieren, aber auch neugierig machen. Gerne möchte sie wissen, was hinter seinem Leben im Höhlendasein steckt und warum seine Stimme in ihr längst verschollene Erinnerungen neu erweckt.
Als sie erfährt, woher sie Ben Winter kennt, ist noch längst nicht alles geklärt, denn die Vergangenheit hat unangenehme Spuren hinterlassen ...
Alle Personen sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen ist rein zufällig.
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An dieser Stelle ein dickes Dankeschön an meine Kolleginnen, Freunde, Probeleser, Korrekturleser und meine Lektorin Christiane Müller, ohne die ich diese Story nie veröffentlicht hätte. Es hat Spaß gemacht mit euch diese Herzensgeschichte zu entwickeln.
Allen Lesern wünsche ich eine gute Unterhaltung.
Liebe Grüße
Michelle Robin
Das warme, grelle Licht der Sonne ließ die zahlreichen Fenster der hohen Außenfassade des Gebäudes hell erstrahlen. Staunend stand Sara Sommerfeld vor dem riesigen Bauwerk, das jeden Betrachter allein schon durch sein äußeres Erscheinungsbild beeindruckte.
Vor ihr stand die Firma Wintermann im Glanz der Sonne.
Bevor sie sich erneut der Fassade zuwandte, atmete sie erst einmal tief durch.
Aus dem Internet hatte Sara erfahren, dass sich die seit Jahren zu den drei größten Logistikunternehmen des Landes gehörende Firma durch ihre hohen Umsätze und durch ihre millionenschweren Gewinne auszeichnete.
Sie hatte über hervorragende Verbindungen im Inland und im Ausland, über kompetente Mitarbeiter und über einen dynamischen Chef gelesen, der aktuell für mehrere Bereiche neue Mitarbeiter suchte. Diese Stellenanzeige schien ihr einen echten Neuanfang und ihre ersehnte Chance zu versprechen, endlich wieder in ihrem erlernten Beruf arbeiten zu können. Innerhalb von wenigen Tagen hatte ihre Bewerbung das Personalbüro der Firma Wintermann erreicht, und jetzt freute sie sich über die zweite Einladung zu einem Vorstellungsgespräch – diesmal beim Chef persönlich.
Nachdem das erste Gespräch mit dem Personalchef erfolgreich verlaufen war, sollte sie heute einen Schritt weitergehen und in einem Auswahlgespräch den Firmenboss kennenlernen, mit dem sie Hand in Hand arbeiten würde. Dies verstärkte in ihr die Hoffnung, steigerte aber gleichzeitig ihre Aufregung, da dieser Tag für die Stellenzusage entscheidend war.
Kurz vor 14 Uhr betrat sie pünktlich das weitläufige Firmengelände, um sich an der Hauptrezeption der weltweit agierenden Import- und Export-Firma zum Vorstellungsgespräch anzumelden. Heute sollte der ausschlaggebende Termin in der Chefetage stattfinden. Bei diesem Gedanken schlug ihr Herz viel zu schnell.
Tief in ihrem Inneren befürchtete Sara, dass sie keine allzu vielversprechenden Aussichten haben würde, in dieser Firma Fuß zu fassen. Trotzdem war ihr die halbseitige Stellenanzeige in der auflagenstärksten Zeitung des Landes in der vorherigen Woche direkt ins Auge gesprungen, und sie war fest entschlossen, im Rahmen ihrer Möglichkeiten aus dieser Chance das Beste zu machen. Mehr als eine Absage konnte sie sich nicht einfangen. Zumindest dessen war sie sich sicher. Obwohl ihre speziellen Zusatzqualifikationen und ihre sprachlichen Fähigkeiten in den meisten Bereichen verlangt wurden, ließen die finanziellen Leistungen viel zu oft auf sich warten. Hier sah sie nun endlich eine neue Perspektive. Ihre anfänglichen Bedenken bezüglich einer zu geringen Bezahlung hatte die Auskunft des Personalchefs zerstreut. Dass diese Stelle für sie perfekt wäre, ließ sie ihre innere Stimme mehr als deutlich spüren.
Mittlerweile versuchte sie nun schon seit Monaten, wieder in ihrem Job unterzukommen. Ohne ein entsprechendes Zeugnis oder das altbekannte Vitamin B war ihr der Weg in die oberen Etagen aber verbaut. Dies hatte sie inzwischen leidvoll erfahren müssen. Trotzdem wollte sie unter gar keinen Umständen noch einmal einen Schritt auf ihren ehemaligen Vorgesetzten zugehen und ihn um ein faires Zeugnis bitten, das ihren tatsächlichen Leistungen entsprach. Seine Macht über sie hatte er bis hin zu der endgültigen Demütigung durch ihre Kündigung vor vier Monaten auf jede erdenkliche Art und Weise missbraucht. Offiziell nannten sie es eine Trennung in „gegenseitigem Einvernehmen“, obwohl sie beide wussten, dass die Wahrheit völlig anders aussah. Genau genommen floh Sara vor einem Arbeitgeber, der seine Kompetenzen im Umgang mit ihr mehr als grob verletzt hatte.
Zumindest konnte sie ihre derzeitigen Lebenshaltungskosten seit der „betriebsbedingten Kündigung“ durch das Arbeitslosengeld bestreiten.
Da sie wegen der für die Zukunft drohenden Mietschulden aber nicht schon in absehbarer Zeit auf der Straße landen wollte, benötigte sie dringend neue Einnahmen. Aus diesem Grund hatte sie der weithin bekannte, gute Ruf der Firma Wintermann trotz allem dazu bewogen, sich für eine neue Bewerbung in ihrem bisherigen Arbeitsbereich zu entscheiden. Zum Glück war es ihr gelungen, mit ihrem Auftreten vor dem Personalchef ausreichend viele Pluspunkte zu sammeln, damit sie zu einem weiteren Gespräch mit Dr. B.J. Winter persönlich eingeladen wurde.
Sie freute sich sehr darüber, ihren zukünftigen Vorgesetzten dadurch VOR ihrer Anstellung kennenzulernen. Bei ihrer letzten Arbeitsstelle, die sie zurückblickend als eine absolute Katastrophe betrachtete, war dies leider erst im Nachhinein der Fall gewesen. Erst viel zu spät hatte sie diesen schwerwiegenden Fehler schmerzlich erkannt.
Plötzlich fiel ihr ein möglicher, erschreckender Grund für ihre Sondereinladung im Anschluss an das Gespräch mit dem Personalchef ein:
Bestimmt will er heute das letzte Zeugnis sehen, das ich neulich absichtlich nicht dabei hatte.
Schnell überprüfte sie noch einmal ihr ansprechendes Outfit, mit dem sie die Hoffnung verband, die Entdeckung des Schandflecks in ihrem ansonsten tadellosen Lebenslauf noch für eine Weile auf die lange Bank schieben zu können.
Ihre Recherchen im Internet hatten ergeben, dass Herr Winter vor zwei Jahren von seiner Frau geschieden wurde. Darüber hinaus gab es über ihn persönlich keine näheren Informationen. Deshalb hatte sie den Eindruck gewonnen, dass er es anscheinend unbedingt vermeiden wollte, im Licht der Öffentlichkeit zu stehen. Im Gegensatz dazu hatte sie seine ehemalige Frau, die sich die Gunst der Presse gern zunutze machte, auf mehreren Internet-Seiten entdeckt. Offenbar schien ihr zukünftiger Vorgesetzter ein gebranntes Kind zu sein, seitdem ihn zu viele Menschen enttäuscht hatten. Vielleicht ließ sich dies ja sogar ein wenig mit ihrer jüngsten beruflichen Erfahrung vergleichen. Alle diese Gründe hatten sie zu dem Entschluss gebracht, sich so gut wie nur möglich in Szene zu setzen, aber gleichzeitig dafür zu sorgen, dass sie nicht ausschließlich wegen ihres Geschlechts eingestellt würde. Diese bittere Erfahrung lag hinter ihr und auf eine Wiederholung konnte sie gern verzichten.
Bei diesem Gedanken seufzte sie leise. In sämtlichen Einzelheiten hatte sie sich die Strategie für ihren Auftritt an diesem Tag noch gar nicht richtig zurechtgelegt. Jetzt quälte sie die Befürchtung, dass sie wegen dieses einen schlechten Zeugnisses oder, besser gesagt, wegen des fehlenden Zeugnisses ihrer letzten Arbeitsstelle hier vielleicht doch eine Abfuhr erhalten würde. Mit Sicherheit funktionierte der Buschfunk in den oberen Etagen nach wie vor hervorragend. Aber wäre sie denn überhaupt noch einmal eingeladen worden, wenn ihr vorheriger Chef sie bereits im Vorfeld verpetzt hätte?
Ihre Gedanken liefen zunehmend Amok.
Aber warum sollte dieser Winter mich überhaupt noch sehen wollen, wenn ich sowieso schon auf der Abschussliste stehe? Oder funktioniert seine Kommunikation mit anderen Firmen glücklicherweise so schlecht, dass mir die missliche Lage wegen des Zeugnisses erspart bleibt?
Im Ausstellungsraum des Unternehmens wanderte ihr Blick über die mit Pokalen, Trophäen und Urkunden bestückten Vitrinen.
Als sie neugierig näher herantrat, studierte sie die beruflichen und sportlichen Auszeichnungen der Mitarbeiter, die sich wirklich sehen lassen konnten. Allem Anschein nach wurde der Gemeinschaftssinn in dieser Firma überdurchschnittlich hoch eingestuft, worauf vor allem die sportlichen Erfolge hinwiesen.
Sara schluckte. Genau das gehörte zu den Dingen, die sie im vergangenen Jahr an ihrem vorherigen Arbeitsplatz vermisst hatte. Dabei ging es ihr natürlich nicht im Wesentlichen um den Sport, sondern viel mehr um gemeinschaftliche Unternehmungen. Von ihren bisherigen Erlebnissen in der harten Schule einer rücksichtslosen Ellenbogengesellschaft hatte sie die Nase gründlich voll. Wie schon viele vor ihr war sie dabei auf der Strecke geblieben und höchstwahrscheinlich würde es auch in Zukunft vielen ähnlich ergehen.
Dienten diese Ausstellungsstücke in dem weiträumigen Vorraum des Erdgeschosses wohl nur dazu, neue Mitarbeiter zu beeindrucken, oder handelte es sich schlichtweg um eine Werbemaßnahme für neue Investoren?
„Frau Sommerfeld?“ Mit dieser Frage riss sie eine ungefähr gleichaltrige Mitarbeiterin, die plötzlich hinter ihr stand, aus ihren Gedanken.
„Dr. Winter ist jetzt bereit, Sie zu empfangen.“
Erwartungsvoll folgte Sara der jungen Blondine in einem kurzen, weißen Rock bis zu dem Aufzug, der sie in die Chefetage heraufbringen würde.
Die exklusive Einrichtung an ihrem Ziel zeigte ihr augenblicklich, dass sie sich jetzt in einer der oberen Etagen befanden. Wie überall bezog sich dies selbstverständlich nicht ausschließlich auf die Räumlichkeiten, sondern ebenso auf das Einkommen.
Hoffentlich vergeige ich es nicht! Dieser Gedanke ging ihr seit Stunden fortlaufend durch den Kopf.
Die ausgesprochen luxuriös wirkende, einladende Polsterlandschaft im Foyer dieser Etage war für Besucher bestimmt, aber Frau Redling, wie die ruhige Sekretärin hieß, führte sie direkt zu einer großen Eichenholztür am Ende des Flurs. Dort blieb sie kurz stehen, als ob sie sich erst sammeln müsste, bevor sie zaghaft anklopfte.
Auf ein barsches: „Herein“, hin öffnete die Sekretärin die Tür.
„Herr Dr. Winter, hier ist Frau Sommerfeld.“
Da Sara neben der Tür stand, konnte sie noch nichts sehen, aber der lauten Stimme nach zu urteilen, schien dieser Chef eine gewaltige Durchsetzungskraft zu besitzen. Diese Tonlage duldete ganz sicher keinen Widerspruch.
Kein Wunder, dass die Sekretärin sich vor ihm fürchtet!
Sara atmete noch ein letztes Mal tief durch, bevor sie sich langsam an Frau Redling, die seltsamerweise auf dem Flur stehen blieb, vorbei in den großen Raum hinein wagte.
In dem großzügigen Büro fiel ihr erster scheuer Blick auf ein zweiflügeliges Panoramafenster auf der linken Seite und auf den wuchtigen, beinahe schon majestätischen Schreibtisch mit mehreren Ledersesseln auf der rechten Seite. Durch eine Jalousie und einen Vorhang am Fenster war der Raum leicht abgedunkelt. Nur auf dem Schreibtisch war eine kleine Lampe eingeschaltet, die den Arbeitsbereich des Chefs optimal ausleuchtete. Dieses Bild erweckte in Sara den Eindruck, dass er es wohl vermeiden wollte, zu viel Strom zu vergeuden.
Aber warum lässt er dann nicht einfach durch die großen Fenster das Tageslicht herein? Das Sonnenlicht wäre doch wesentlich angenehmer und würde im gesamten Raum für Helligkeit sorgen.
Wegen der ungewöhnlichen Beleuchtung wirkte das Büro ein wenig schummrig, was Sara nicht gerade als einladend empfand. Dadurch konnte sie alles nur schemenhaft erkennen, während sie sich selber so fühlte, als würde sie im Rampenlicht stehen.
Nachdem ein kurzes: „Danke!“, erklungen war, ließ Frau Redling die schwere Holztür leise ins Schloss fallen.
Sara schluckte nervös und wartete auf das, was nun folgen würde. Ihrer Erfahrung nach waren grundsätzlich die Vorgesetzten für die Eröffnung der Vorstellungsgespräche zuständig. Demzufolge erwartete sie zumindest eine Begrüßung oder den Hinweis, dass sie sich setzen dürfte, aber beides blieb aus. Angestrengt versuchte sie, in dem düsteren Raum irgendwo eine Gestalt ausfindig zu machen.
„Guten Tag“, grüßte sie Mr. Unbekannt schließlich, wobei sie ihren Blick auf den Schreibtisch richtete. Auf diesem lagen mehrere aufgeschlagene Akten, die darauf hindeuteten, dass hier jemand gerade seine Arbeit unterbrochen hatte. Mehr und mehr verstärkte sich in ihr das Gefühl, im falschen Film zu sein, zumal sie noch immer keinen einzigen Ton vernommen hatte. Handelte es sich hier vielleicht um ein ihr bisher noch unbekanntes Spiel, um einen speziellen Test für neue Mitarbeiter? Bestand ihre Aufgabe jetzt etwa darin, ihn in dem dunklen Raum zu finden?
Versteckt er sich vielleicht unter dem Schreibtisch oder ist er ... - sie schaute zu dem geschlossenen Schrank – ... auf eine mysteriöse Art und Weise ganz verschwunden?
„Guten Tag!“, erklang auf einmal eine tiefe Männerstimme aus dem Dunkel hinter ihr. Erschrocken fuhr sie herum. Da sein Gesicht aber komplett im Schatten lag, konnte sie es unmöglich erkennen. Im Gegensatz dazu stand sie direkt vor dem Fenster, wodurch er sie problemlos in Augenschein nehmen konnte.
Er war ein deutliches Stück größer als sie, schien auffallend muskulös zu sein und hatte breite Schultern und dunkles Haar, das im Licht der Schreibtischlampe glänzte.
Während sie in der Dunkelheit auf seine Begrüßung gewartet hatte, musste Dr. Winter sie heimlich beobachtet haben. Ob dies ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war, konnte Sara noch nicht sagen. Zumindest hatte sie einen so seltsamen Beginn eines Vorstellungsgesprächs vorher noch nie erlebt. Dieser Mann war offenbar für Überraschungen gut.
„Warum sollten wir uns bei dieser Stelle eigentlich für eine Frau entscheiden?“, fragte er sie ohne eine vorherige Begrüßung.
Peng! Der Kerl liebt die Provokation. Hier gibt es keine Zeit für Geplänkel und für Höflichkeitsfloskeln.
Zum Glück hatte sich Sara gewissenhaft auf dieses Gespräch vorbereitet. Deshalb erzählte sie ohne Zögern im Stehen von ihren Erfahrungen bei ihren letzten beiden Arbeitsstellen und von ihrem Wunsch, diese an ihrem neuen Arbeitsplatz zu nutzen. Wortlos hörte er ihr zu, wobei er sie ununterbrochen musterte und sie für keine einzige Sekunde aus den Augen ließ.
„Würden diese Fähigkeiten denn auch zu unseren Kunden passen?“, hakte er nach. Aus diesem Einwand wollte Sara gern heraushören, dass er ehrlich an ihr als Mitarbeiterin interessiert war. Aber bevor sie beginnen konnte, noch einmal auszuholen, um ihm zu beweisen, dass sie haargenau die Richtige war, winkte er ab. Über ihren bisherigen Werdegang schien er bereits ausreichend informiert zu sein.
„Sara Sommerfeld.“
Der Klang seiner Stimme irritierte sie, da sie Sara an etwas aus ihrer Vergangenheit erinnerte. In diesem Augenblick fiel ihr aber beim besten Willen nicht ein, was es genau war.
„Kennen wir uns nicht schon von irgendwoher?“, wollte er wissen.
Sara schluckte und ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Die Art und Weise, wie er ihren Namen aussprach, brachte tief in ihrem Innersten verschwommene und längst vergessene Erinnerungen zum Vorschein, die sie schnell wieder verdrängte, weil sie leider nicht wirklich greifbar waren. Diese Gedanken ließen sich einfach nicht richtig einordnen.
„Ich habe noch nie hier gearbeitet und wohne auch noch nicht allzu lange in dieser Stadt“, wich sie seiner Frage aus.
Inzwischen hatten sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt, wodurch ihr das Lächeln, das ihm kurz über das Gesicht huschte, nicht entging. Er stand noch immer im Schatten seines großzügigen Büros, das ihm allein zu gehören schien, da es nur einen einzigen Schreibtisch gab. Dr. Winter war aber zu weit von ihr entfernt, um es ihr zu ermöglichen, bei der spärlichen Beleuchtung sein Alter schätzen zu können. Wie ein alter Mann wirkte er aber nicht.
So überlegen, wie er hier gerade mit ihr sprach, behandelte er mit Sicherheit jeden seiner Mitarbeiter, um allen deutlich klarzumachen, wer hier der Chef im Hause war. In seiner Nähe hatte kein anderer Platz. In diesem Moment empfand sie zumindest sein Verhalten ihr gegenüber als so überheblich, dass sie erschauderte.
„Es ist schon lange her“, murmelte er. Dabei drehte er sich zum Schreibtisch um und unterschrieb ein Dokument.
Was meint er damit? Was ist schon lange her?
„Ich werde darüber nachdenken“, unterbrach er plötzlich das Gespräch. „Neben Ihnen ist noch ein anderer Kandidat im Rennen, ein junger Mann. Mein Personalchef wird sich bei Ihnen melden, wenn wir uns entschieden haben.“
Bei diesen Worten gab er ihr ein Blatt Papier und sie erhaschte einen kurzen Blick auf ein ebenmäßiges Gesicht mit einer geraden Nase. Mehr konnte sie auf die Schnelle nicht erkennen.
Als sie sich für die Fahrkostenabrechnung bedankte und zur Tür wandte, hielt er sie überraschend zurück.
„Wo war eigentlich die letzte Arbeitsstelle? Das habe ich den Unterlagen leider nicht entnehmen können.“
Sara zögerte. Wenn sie jetzt ehrlich war, könnte ein einziges Telefonat ihre derzeit einzige Chance zunichtemachen. So weit war sie in den letzten Monaten noch nie gekommen. Damit lag ihre aktuelle Trefferquote immerhin bei bisher unerreichten fünfzig Prozent. Jetzt konnte nur noch ein kräftiges Daumendrücken helfen.
„Die Unterlagen dazu reiche ich Ihnen nach, wenn mich Ihr Personalchef anruft“, wich sie aus. Gleichzeitig näherte sie sich der Tür, um sich schnell davonzuschleichen.
„STOPP!“
Urplötzlich erinnerte sie seine Stimme an den Donner bei einem Erdbeben. Wie von der Tarantel gestochen, ließ sie die Türklinke zu Tode erschrocken wieder los.
Was für ein Organ!
Obwohl sie mittlerweile zitterte, konnte Sara sich ihm unmöglich entziehen, so gern sie diesen Raum jetzt auch verlassen hätte. Ihr Herzschlag beschleunigte sich immer mehr. Ohne die richtige Antwort auf seine Frage würde sie vergeblich auf den Anruf des Personalchefs hoffen. Das musste er ihr nicht näher erklären. Der eisige Blick, mit dem er sie kurz strafte, reichte vollkommen aus, um ihr den Ernst der Lage klarzumachen. Verunsichert richtete sie ihren Blick auf den Boden.
Verdammt, sie konnte einfach nicht erkennen, wie er wirklich aussah und wie alt er war, während sie selber wie auf dem Präsentierteller im Licht vor ihm stand. Nervös biss sie sich auf die Unterlippe. Dabei kam es ihr seltsamerweise so vor, als würden seine Augen grell leuchtende Laserstrahlen aussenden. Nur zu gern wäre sie blitzschnell vor diesem Blick geflohen.
Ihr Herz raste und ihre Stirn fühlte sich glühend heiß an.
Hilfe, was soll ich jetzt bloß tun? Riskiere ich es, ihm die Wahrheit zu sagen, oder lüge ich einfach? Das alte Spiel „Wahrheit oder Lüge“ habe ich schon in meiner Kindheit gehasst.
„Wer war der letzte Arbeitgeber?“ Dieser Ton ließ ihr endgültig keinen Ausweg mehr.
Verzweifelt begriff Sara, dass sie verloren hatte. Im selben Augenblick spürte sie, wie sich eine eiskalte Hand um ihr Herz zu legen schien. Jetzt kam es nur noch darauf an, diesen Raum mit Anstand zu verlassen. Eine andere Wahl blieb ihr nicht mehr.
Ich darf jetzt nur nicht die Fassung verlieren, befahl sie sich in Gedanken wieder und wieder, als wäre es ihr persönliches Mantra.
Erst nach einigen Sekunden gelang es ihr, den Kloß in ihrer Kehle herunterzuschlucken. Dass Herr Winter seinen Blick weiterhin starr auf sie gerichtet hatte, machte ihr dies alles andere als leicht.
„Thomson“, krächzte sie. Diesen gottverfluchten Namen hatte sie eigentlich nie mehr hören oder gar aussprechen wollen.
„Thommy Thomson?“, vergewisserte er sich. Da es ihr unmöglich war, weiter zu sprechen, nickte sie nur stumm zur Bestätigung.
Die beiden Männer kennen sich also auch noch persönlich. Sonst hätte er ihn Thomas genannt und nicht diesen Kosenamen verwendet.
Aufmerksam betrachtete er sie aus der Entfernung von wenigen Metern. Offensichtlich schien er wenigstens zu spüren, dass er damit einen wunden Punkt getroffen hatte.
Alles oder nichts. Jetzt muss ich bei der Wahrheit bleiben.
„Ich habe einen Auflösungsvertrag unterschrieben. Das steht auch in meinem Zeugnis. Aber da Sie das ja jetzt wissen, werden Sie wohl kein Interesse mehr daran haben, mich einzustellen.“
Sara spürte, wie sein Blick auf ihr ruhte. Obwohl sie seine Augen noch immer nicht genau erkennen konnte, machten sie ihr Angst. Erneut schaute sie zu Boden.
„Ein Auflösungsvertrag stellt für mich kein Ausschlusskriterium dar“, warf er nachdenklich ein.
Bevor er sie nach dem Grund für die Kündigung fragen konnte, fuhr sie schnell fort: „Das allein vielleicht nicht, aber wenn Sie lesen, was Thomson in mein Zeugnis geschrieben hat, werden Sie Ihre Meinung mit Sicherheit ändern. Ganz genau aus diesem Grund wollte ich es Ihnen ja auch besser gar nicht erst zeigen.“
Nach wie vor musterte er sie so intensiv, als würde er bis auf den Grund ihrer Seele blicken wollen. Diesen Gedanken fand sie absolut erschreckend und sie blendete lieber aus, was er dort wohl alles entdecken könnte.
Winter trägt die Verantwortung und wird bei der Besetzung dieser Stelle keine Fehlentscheidung treffen. Logisch, aber diese Ausschreibung ist nun einmal wie für mich gemacht. Wenn er mir doch nur die Chance geben würde, ein paar Tage zu Probe zu arbeiten, könnte ich es ihm beweisen ...
Wortlos deutete er mit seiner Hand auf einen der Sessel. Sara zögerte kurz, da das Vorstellungsgespräch im Grunde genommen ja schon beendet war – und das im Stehen. Momentan wäre es ihr sogar lieber gewesen, daran auch nichts mehr zu ändern.
Warum will er sich jetzt doch mehr Zeit nehmen? Meine Nervosität beruhigt das nicht gerade.
„Also, was genau ist passiert?“ Bei dieser Frage schenkte ihr Dr. Winter ein Glas Wasser ein, das er ihr anschließend reichte.
Dabei konnte sie deutlich sehen, dass seine Augen hellblau waren. Aufmunternd lächelte er sie an. Urplötzlich erinnerte nichts mehr an sein bisheriges dominantes Verhalten.
„Das glaubt mir ja doch keiner. Deshalb wollte ich von dort zuletzt ja auch nur noch so schnell wie möglich weg.“
„Vielleicht interessiert es mich aber?“ Auf einmal klang seine Stimme angenehm weich. Anscheinend wollte er sie nicht erneut erschrecken. Trotzdem ließ er nicht locker.
Verdammt, diese Augen. Habe ich ihn früher doch schon einmal irgendwo gesehen? Irgendwie …
Entschlossen wischte Sara diesen Gedanken beiseite, wobei sie tief durchatmete, um sich zu sammeln. Jetzt war sie fest entschlossen, den Drahtseilakt zu bewältigen, so ehrlich wie möglich die richtigen Worte zu finden.
„Ich hatte dort eine tolle und interessante Arbeit, die mir wirklich viel Spaß gemacht hat. Meine Kollegen waren total nett und es gab immer eine Menge Aufträge und Kontakte zu allen möglichen Firmen ...“
Verlegen drehte sie das Wasserglas in ihrer Hand. Den Rest sollte sie wohl besser verschweigen.
„Aber?“, hakte er gnadenlos nach, um die Gesprächspause abzukürzen. Auch weiterhin ließ er sie für keinen einzigen Moment aus den Augen, was sie nur noch nervöser machte, schrecklich nervös. Unruhig rutschte sie auf ihrem Stuhl hin und her.
Dann hatte sie ihre Entscheidung endlich getroffen. Sie würde einfach bei der Wahrheit bleiben und das Risiko eingehen, dass Winter ihr anschließend eine Abfuhr erteilen würde, falls er tatsächlich mit Thomson befreundet war. Diese Gefahr stand nahezu greifbar im Raum. Um ihre Gedanken zu ordnen, atmete sie noch mehrmals tief durch.
„Thomas Thomson vertrat die Meinung, dass er die Überstunden mit mir auf eine andere Art nutzen könnte …“ Jetzt war es heraus, aber auf die schmutzigen Details wollte sie nicht näher eingehen.
Winters Blicke schienen sie zu durchbohren.
„Und diese Überstunden sollten … nicht mehr … sein?“, fragte er diplomatisch nach. Es klang beinahe so, als würde seine Betonung darauf hinweisen, dass er genau verstand, was sie mit dem Begriff „Überstunden“ ausdrücken wollte.
„Das alles ist vollkommen gegen meinen Willen geschehen“, brach es schließlich, völlig ungewollt, aus ihr heraus. Die grauenhaften Erinnerungsbilder, die ihr bei diesen Worten durch den Kopf gingen, konnte sie beim besten Willen nicht mehr aufhalten. „Als er sein Ziel nicht erreichen konnte, hat er versucht, mich zu erpressen. Er stellte mich bloß und überschüttete mich mit Arbeit, die nicht meinem Aufgabenbereich entsprach. Meine Urlaubsanfragen blieben auf einmal unberücksichtigt und zusätzlich zu all dem hat er in der Firma permanent Gerüchte über mich verbreitet. Sein Ziel bestand einzig und allein darin, …“ Was dieser Scheiß-Typ von ihr gewollt hatte, konnte sie aber doch nicht in Worte fassen. Dies empfand sie eindeutig als zu intim.
„Ja?“
Darauf ging sie nicht mehr ein. Stattdessen fuhr sie ein wenig gefasster fort: „Deshalb wollte ich kündigen, als ich eine Einstiegsmöglichkeit bei einer anderen Firma gefunden habe. Aber dem Inhaber dieser Firma hat er dann auch Lügen über mich erzählt. Er hat mich des Diebstahls bezichtigt, bis ich schließlich nur noch darauf wartete, dass er mir endlich selber die Kündigung anbot, weil ich für die Firma seiner Meinung nach nicht mehr tragbar war.“
In Wahrheit ist er über die Schmach meiner Weigerung, ihm als Sex-Sklavin zu dienen, nicht hinweggekommen.
Mittlerweile fühlte sich ihr Kopf von Minute zu Minute heißer an. Ihr gesamter Frust und ihre unbeschreibliche Wut waren im Raum deutlich spürbar.
Winter hüllte sich in Schweigen, ließ sie aber auch weiterhin nicht aus den Augen. Es kam ihr so vor, als wollte er sich vergewissern, dass sie die Wahrheit sagte. Unruhig rutschte sie auf ihrem Stuhl hin und her, was den Eindruck erweckte, als wollte sie am liebsten so schnell wie nur möglich verschwinden. Bis heute belastete sie dieses Thema so stark, dass sie es unmöglich noch genauer erklären konnte.
„Wann war das?“
„Die Kündigung? Im Dezember. Dadurch hat er sich mein Weihnachtsgeld dann auch noch sparen können.“ Diese Bemerkung hätte sie sich vielleicht besser verkneifen sollen, aber ihre grenzenlose Wut und die tiefe Demütigung saßen dafür noch viel zu tief. Wenn es nicht so tragisch gewesen wäre, hätte sie darüber lachen können. Beinahe trotzig presste sie ihre Lippen aufeinander, weil es ihr jetzt endgültig klar war, dass sie ihre Chance hier gerade gründlich vergeigt hatte. Diese schrecklichen Erinnerungen waren noch viel zu frisch und zu nah, weshalb sie ihre Horror-Erlebnisse noch lange nicht objektiv betrachten und erst recht nicht sachlich darüber sprechen konnte. Sie wusste, dass kein Arbeitgeber der Welt eine neue Mitarbeiterin einstellen würde, die solche Geschichten über ihren vorherigen Chef erzählte. Eine Anzeige gegen ihren ehemaligen Vorgesetzten schien ihr ohne Zeugen und ohne Beweise ebenso aussichtslos zu sein. Schließlich hatte Thomson oft genug betont, dass sein bester Freund Anwalt war. Im Vergleich dazu stand sie ganz allein da – damals genauso wie heute.
Sie ahnte, dass sie jetzt wohl besser gehen sollte, um sich wenigstens noch einen kleinen Rest von Würde zu bewahren.
Warum schaut er mich nur an, ohne einen Ton von sich zu geben?
„Ich möchte dieses Zeugnis gern sehen“, entschied er plötzlich leise.
Sara schluckte. Da sie nach dem bisherigen Verlauf dieses Gesprächs überhaupt nicht mehr damit gerechnet hatte, glaubte sie zunächst, sich verhört zu haben.
„Aber …“
Seltsamerweise schienen seine Augen auf einmal graublau zu sein und ihr eisiger Blick ließ sie frösteln.
„Ich möchte es wirklich sehen!“, fügte er wesentlich sanfter hinzu.
Daraufhin nickte sie zaghaft, während sich ihre Gedanken weiterhin hoffnungslos im Kreis drehten.
Er glaubt mir kein einziges Wort. Was in dem Zeugnis steht, wird er aber glauben, und dort steht, dass ich lüge, stehle und Daten veruntreue.
Dieses Zeugnis stellte eine peinliche Bloßstellung dar, durch die sie nie wieder eine Stelle als Führungskraft finden würde. Deshalb bestanden ihre einzigen realistischen Möglichkeiten jetzt eigentlich nur noch darin, sich als eine ungelernte Kraft zu bewerben oder diese einjährige Tätigkeit schlichtweg unter den Tisch fallen zu lassen und zu behaupten, sie hätte ein Jahr lang im Ausland gejobbt oder ihre Großmutter gepflegt.
Mit diesem Zeugnis blieb ihr nicht die geringste Spur einer Chance, sich für eine neue Stelle in den oberen Etagen bewerben zu können. Als ihr Thomson dieses Abschiedsgeschenk überreicht hatte, war er mit Sicherheit von innerer Genugtuung erfüllt gewesen. Schlicht und einfach war es die Quittung dafür, dass sie sich geweigert hatte, seine exotischen sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen.
„Natürlich“, brachte sie krächzend hervor, obwohl sich alles in ihr dagegen sträubte. Immer noch schien sie Winters Blick zu durchbohren. Sie fühlte sich ihm ausgeliefert und konnte längst nicht mehr klar denken.
Mit zitternden Händen, die sich überhaupt nicht mehr so anfühlten, als würden sie zu ihr gehören, zog sie eine Klarsichthülle aus ihrer Aktenmappe, um sie ihm zu geben. Im Anschluss daran las er den Text mehrere Minuten lang, ohne dass ihr seine Mimik auch nur ansatzweise verriet, was ihm dabei durch den Kopf ging. Plötzlich sprang er auf.
„Dieses Zeugnis gehört in die Mülltonne.“ Sara erschrak über die deutlich erkennbare Wut in seiner Stimme. Fast befürchtete sie, er würde sie gleich persönlich angreifen. Zu Tode erschrocken stand Sara auf.
Jetzt ist endgültig alles aus!
Seine Augen waren vor Wut verzerrt und er brachte für eine Weile keinen weiteren Ton heraus. Wenn Blicke töten könnten, hätte er in diesem Moment zweifellos einen Mord begangen. Aufgrund ihrer zunehmenden Panik schlug Saras Herz viel zu schnell.
„Ich glaube, ich gehe dann besser“, murmelte sie, um ihn nicht noch mehr zu verärgern. Er nickte nur stumm und reichte ihr das Original zurück.
„Dieses Zeugnis muss unbedingt verschwinden. Das darf nie wieder ein Arbeitgeber zu Gesicht bekommen.“ Bei diesen Worten drehte er sich zum Fenster und kehrte ihr den Rücken zu. Von seiner Seite aus schien das Gespräch damit beendet zu sein.
Durch sein Verhalten vollkommen irritiert, nickte sie bestätigend. Anschließend öffnete sie die Tür, um genauso leise zu verschwinden, wie sie gekommen war. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, ob es richtig gewesen war, ihr Geheimnis mit Winter zu teilen. Zumindest hatte sie nach verschiedenen Praktikumstätigkeiten und nach einer zweijährigen, befristeten Arbeit ein beeindruckend positives Feedback erhalten. Jetzt fehlte in der chronologischen Reihenfolge aber ein Jahr Arbeitszeit, was in jedem Lebenslauf negativ auffallen würde, vor allem, wenn man eine langfristige Anstellung anstrebte. Im Alter von 28 Jahren wäre es für sie eigentlich an der Zeit, ihren beruflichen Zielen näherzukommen. Diese Arbeitsstelle mit ihren vielfältigen Entwicklungsmöglichkeiten wäre dafür exakt richtig gewesen. Das sagte ihr ihre innere Stimme mit hundertprozentiger Gewissheit. An diesem Nachmittag hatte sie das Verhalten dieses Winters in vielerlei Hinsicht total irritiert. Warum er zum Beispiel so wütend auf ihr Zeugnis reagiert hatte, verstand sie nicht im Geringsten.
Ist das einfach nur seine persönliche Art, mit Frauen umzugehen? Mit Aggressionen allererster Güte?
Wenn man der Boulevardpresse Glauben schenken konnte, hatte seine Ex-Frau nach der kurzen Dauer ihrer Ehe eine Abfindung in Millionenhöhe kassiert. Offensichtlich hielt Winter jetzt – als einer der begehrtesten Singles im gesamten Land – die Fäden wieder fest in seiner Hand. Zumindest hatte sie gelesen, dass er seit der Scheidung von seiner Frau Amelie alles andere als ein Kostverächter war. Aus diesem Grund vermutete sie, dass sich die Frauen in seinem Privatleben wohl gegenseitig die Türklinke in die Hand gaben.
Wäre es deshalb nicht vorstellbar, dass er die Frauen an seiner Seite als nichts anderes als unbedeutende Bettgeschichten betrachtete und dass er so wütend auf Sara war, weil sie das ganz ähnliche Verhalten von Thomson absolut negativ dargestellt hatte. Vielleicht sah Winter in Frauen auch nicht mehr als eine wertlose Beute für seine Sex-Abenteuer? In diesem Fall wäre sie um ein Haar vom Regen in die Traufe gekommen … Na, dann prost Mahlzeit!
Bei diesem Gedanken seufzte sie wieder. Eigentlich konnte sie noch nicht einmal genau sagen, ob sie diesen Muskelberg als gutaussehend empfand. Ob er wohl den ganzen Tag lang in dieser Schattenwelt lebte und nur im Nachtleben sein wahres Gesicht zeigte?
Sie fuhr ihren Laptop hoch, um ein aktuelles Foto von Winter zu finden, was sich als ziemlich schwierig erwies. Zweimal hatte man ihn bei internationalen Meetings von der Seite abgelichtet und einmal war das Bild total verschwommen, weil er die Paparazzi offenbar im letzten Moment erwischt hatte. Auf dieser Aufnahme hielt er seine Hand vor sein Gesicht, da er sich so kurz nach seiner Scheidung wohl nicht gern fotografieren ließ. Im Gegensatz dazu schien es seine Ex-Frau zu genießen, sich nur zu gern freiwillig in allen erdenklichen Posen ablichten zu lassen. Auf einem Foto konnte man sogar deutlich erkennen, wie sie direkt nach der Scheidung mit einem Siegeslächeln aus dem Gerichtsgebäude trat.
Die aufgetakelte Blondine war Sara auf Anhieb unsympathisch. Wenn zwei Jahre Ehe mit einer Abfindung in Höhe von mehreren Millionen Euro endeten, konnte es mit der Liebe allem Anschein nach nicht weit her gewesen sein. Zumindest auf den Fotos erweckte Winters Ex-Frau eindeutig den Eindruck, als wäre die Scheidung für sie ein voller Erfolg gewesen. Aber konnte denn eine Scheidung, die Trennung von einem geliebten Menschen, jemals ein Gewinn sein?
Nachdenklich schluckte Sara.
Wenn Winter seine Frauen aber vielleicht tatsächlich so schlecht behandelte, war es unter Umständen wirklich ein Triumph, durch die Scheidung endlich von ihm befreit zu werden.
Sara seufzte. Dieser Nachmittag würde in jedem Fall als das merkwürdigste Vorstellungsgespräch ihres Lebens in die Geschichte eingehen.
Entschlossen zog sie das Lügen-Zeugnis aus ihren restlichen Unterlagen hervor, da sie es garantiert keinem weiteren Vorgesetzten mehr vorlegen würde. Um vollkommen sicherzugehen, verbrannte sie es anschließend im Bad. Dabei stellte sie sich vor, dass sie Thomson selber verbrannte. Nachdem es zu Asche zerfallen war, fühlte sie sich unsagbar erleichtert. Sie nahm sich fest vor, bei ihrem nächsten Vorstellungsgespräch, falls es für sie denn überhaupt jemals wieder eines geben würde, schlichtweg zu behaupten, sie hätte ein Jahr lang ihre Oma am anderen Ende des Landes gepflegt. Mittlerweile lag ihr Tod zwar schon einige Jahre zurück, aber in dieser besonderen Notlage hätte ihre Oma ganz sicher vollstes Verständnis dafür gehabt, dass sie gezwungen war, ihre Lebenszeit ein wenig zu korrigieren. Diese kleine Notlüge konnte Sara problemlos mit ihrem Gewissen vereinbaren. Von jetzt an wollte sie ausschließlich nach vorn blicken und diesen widerlichen Thomson endlich für alle Zeit ad acta legen.
Der dicke, gepolsterte DIN A4-Briefumschlag, der zwei Tage später eintraf, wies keine Besonderheiten auf. Nur der Absender ließ Sara völlig überrascht innehalten:
Winter – Import und Export
Na, dann schicken Sie mir meine Bewerbungsunterlagen also wieder zurück.
Im ersten Moment wollte Sara den Brief eigentlich lieber gar nicht erst öffnen, aber gegen Abend siegte ihre Neugier. Nachdem sie es gewagt hatte, staunte sie Bauklötze, als anstelle der zurückgesandten Bewerbungsunterlagen ein mehrseitiger Arbeitsvertrag auf ihren kleinen Couchtisch fiel.
Sara schlug sich vor Überraschung die Hand auf den Mund und konnte es kaum fassen.
Zusätzlich enthielt der Umschlag einen Brief mit der Unterschrift des Personalchefs.
Sehr geehrte Frau Sommerfeld,
Auf den ausdrücklichen Wunsch von Herrn Dr. Benedikt Josua Winter hin stellen wir Sie sehr gern in unserem Unternehmen ein. Es freut uns sehr, Sie als unsere neue Mitarbeiterin begrüßen zu dürfen.
Wir wünschen Ihnen alles Gute und freuen uns auf unsere Zusammenarbeit!
Mit freundlichen Grüßen
Peter Galvagni
P.S. Um Ihre Anstellung nicht weiter herauszuzögern, bitten wir Sie, den unterschriebenen Arbeitsvertrag in den nächsten Tagen persönlich in unserem Personalbüro abzugeben.
Sara jubelte aus tiefstem Herzen. Als ihr Arbeitsbeginn war bereits der nächste Erste in der kommenden Woche vorgesehen. Vor Freude schloss sie kurz die Augen, bevor sie, vollkommen überwältigt von ihrem unverhofften Glück, durch die Wohnung tanzte. Damit hätte sie nach diesem merkwürdigen Gespräch nie im Leben gerechnet. An diesem schicksalsträchtigen Abend verdrängte ihre grenzenlose Freude all ihre Bedenken.
Wow! Endlich eine neue Stelle! Vielleicht ist mein neuer Chef ja doch nicht so übel. Immerhin hat er mich am Ende trotz allem dem anderen Bewerber vorgezogen.
Plötzlich stutzte sie.
Oder er hat er sich etwa nur für mich entschieden, weil ich eine Frau bin?
Dieser Gedanke bereitete ihrem Freudentaumel schlagartig ein Ende.
Verdammt, wenn das auch so ein Arsch wie dieser Thomson ist, na, dann gute Nacht! Ich lasse mich wohl besser nie mit ihm allein in einem Raum blicken. Unter Zeugen wird er mir ja wohl bestimmt nicht an die Wäsche gehen.
Haben eigentlich alle Frauen in den oberen Etagen mit diesem Problem zu kämpfen?
Nach diesen Überlegungen durchsuchte sie schnell ihren Kleiderschrank. Ab sofort würde sie nur noch Rollkragenpullover und hochgeschlossene Blusen zu ihren Jeans tragen und ihre lange, dunkle Mähne sittsam zu einem strengen Zopf zusammenbinden. Sicher ist sicher. Diese einmalige Chance auf den perfekten neuen Arbeitsplatz wollte sie sich auf gar keinen Fall kaputtmachen lassen. Deshalb war ihr klar, dass sie von jetzt an ständig auf der Hut sein musste.
Die ersten Arbeitstage verliefen außerordentlich ruhig. Frau Redling, die permanent unsicher wirkende Sekretärin, unterstützte Sara, die ihre Ansprechpartner vor Ort nach so kurzer Zeit ja noch nicht kannte. Dadurch gelang es Sara, sich unerwartet schnell einzuarbeiten und sich auf ihre eigentliche Arbeit besinnen zu können. Die beiden Frauen verstanden sich hervorragend.
„Herr Winter ist wirklich ein guter Chef“, war das Einzige, was Lotte Redling wiederholt von sich gab, wenn Sara sie fragte, was sie von ihm hielt. Wie sie zu dieser Einschätzung kam, konnte Sara nicht herausfinden. Da sich ihr eigenes Büro in unmittelbarer Nähe des Chefbüros befand, hörte sie ihn, wenn er mit anderen Mitarbeitern in seinem dunklen Raum verschwand. Ansonsten hatten sie an den ersten beiden Tagen keinerlei Kontakt. Sobald er in seinem Reich verschwand, schien es ihn auf Nimmerwiedersehen zu verschlucken.
„Alle Achtung! Du bist wirklich schnell“, staunte Lotte, die eigentlich Charlotte hieß, aber nicht so genannt werden wollte.
„Deine Vorgängerin hat dafür mehr als eine Woche gebraucht.“
„Aha.“ Mehr fiel Sara dazu nicht ein. Schließlich konnte sie ihre ihr völlig unbekannte Vorgängerin ja nicht beurteilen.
„Sie hat dem Chef so lange schöne Augen gemacht, bis er sie nicht mehr hier haben wollte. Eigentlich hätte er nach dieser unliebsamen Erfahrung lieber einen Mann an deinem Arbeitsplatz gesehen. Zumindest war das sein Wunsch, als er die Stellenausschreibung aufgab. Aber wie es aussieht, hat er es sich dann doch noch anders überlegt.“ Nach dieser Feststellung lächelte die graue Maus sie schüchtern an und verließ das Büro, weil Sara noch mehrere Briefe zu tippen hatte und Lotte ihre neue Vorgesetzte nicht dabei stören wollte.
Anschließend führte Sara noch einige Telefonate, bevor sie bei einer Tasse Kaffee später erneut nachhakte.
„Demzufolge war ich also nicht seine erste Wahl“, versuchte sie das vorherige Gespräch fortzusetzen.
Lotte schüttelte den Kopf. „Nein. Das hat natürlich überhaupt nichts mit dir zu tun, aber ich glaube, er hatte einfach gründlich die Schnauze voll davon, dass ihm jemand so penetrant hinterher dackelt. Und genau das hat Anna getan. Das kannst du mir glauben.“
Das wird er mit mir garantiert nie erleben. Schließlich lebe ich wesentlich lieber im Tageslicht, als wie ein Maulwurf in einer dunklen Höhle dahinzuvegetieren. Außerdem ist mein Bedarf an einem zu engen Arbeitsverhältnis mit meinem Vorgesetzten bereits mehr als ausreichend gedeckt.
Sie öffnete das Fenster ihres Büros und steckte den Kopf heraus, um die frische Luft einzuatmen. Die Frühlingssonne wärmte ihre Haut. In Gedanken versunken schloss sie für einen Moment ihre Augen, um die angenehme Wärme auf ihrem Gesicht zu genießen. Dabei bändigte sie ihre wilde Mähne mit einem Haargummi zu einem neuen Zopf, damit ihr die Locken nicht ständig ins Gesicht fielen. Als sie sich wieder dem Raum zuwandte, erstarrte sie beinahe vor Schreck.
Im Türrahmen stand ein großer Mann mit dunklen Haaren, kobaltblauen Augen und einem stechenden Blick, der sie aufmerksam musterte.
Sie schluckte. Im Tageslicht hatte sie ihn noch nie zuvor von vorn gesehen.
Er war es. Er musste es sein. In ihrem kleinen Büro stand B.J. Winter höchstpersönlich und betrachtete sie schweigend von Kopf bis Fuß. Seit gestern hatte sie ihn nur ab und zu im Vorbeigehen gesehen und sie hatten kein einziges Wort miteinander gewechselt. Jetzt stand er ihr zum ersten Mal direkt gegenüber. Wenn sie dies vorher geahnt hätte, wäre sie rechtzeitig auf die Damentoilette verschwunden, um für eine vorzeigbare Frisur zu sorgen.
Gehört es eigentlich zu den Kündigungsgründen, sich auf die Schnelle die Haare zu richten?
Nervös strich sie sich über den Kopf, um auch noch die letzten verirrten Locken wenigstens einigermaßen im Zaun zu halten. Dabei spielte es doch im Grunde überhaupt keine Rolle, wie sie aussah. Mit Sicherheit war er nicht gekommen, um ihre Frisur in Augenschein zu nehmen.
Groß und muskulös stand er vor ihr. Sein anthrazitfarbener Anzug betonte die intensive, helle Farbe seiner Augen, die einen faszinierenden Kontrast zu seinem dunklen Haar bildete. Gegen ihren Willen musste sie sich eingestehen, dass ihr dieses außergewöhnliche Zusammenspiel zwischen Hell und Dunkel gefiel.
Wortlos sah Sara ihn an. Da sie ja nur ein paar Sekunden lang aus dem Fenster geschaut hatte, gab es doch hoffentlich nichts zu kritisieren. Ihre bisherige Arbeit war längst erledigt und die anschließende Aufgabe für die Buchhaltung lag ihr bereits vor. Unglücklicherweise hypnotisierte sie sein Blick dermaßen, dass sie beinahe das Atmen vergaß.
„Ist alles in Ordnung, Sara?“, fragte ihr Chef mit seiner tiefen Stimme.
Wow, was für eine göttliche Stimme!
Auf ihrem Rücken spürte sie plötzlich ein leichtes Prickeln.
Sie nickte nur kurz und hatte nicht die leiseste Ahnung, warum er zu ihr gekommen war. Bisher hatte er sich noch nie in ihrer Nähe blicken lassen. Vollkommen überrascht schaute sie zu ihm auf. Während sie versuchte, ihren Atem wieder unter Kontrolle zu bringen, musterte sie ihn unauffällig.
Er war mindestens einen Kopf größer als sie. In seinen hellblauen Augen lag ein fast schon überirdischer Glanz, der auf ihren Oberarmen eine Gänsehaut erzeugte. Der Anblick eines Mannes hatte sie noch nie zuvor so stark beeindruckt.
Was passiert hier gerade?
In seiner Gegenwart schlug ihr Herz plötzlich schneller.
Mit langsamen Schritten ging er zu ihrem Schreibtisch, wo er, ohne ihre Antwort abzuwarten, die oberste Akte aufschlug.
„Kann es sein, dass wir uns schon kennen?“, fragte er mit einem rätselhaften Blick. Allein der Klang dieser Stimme! Erstaunt sah Sara zu ihm auf. Tief in ihrem Inneren regte sich etwas vollkommen Neues und Unbekanntes, das sie unmöglich deuten konnte. Dabei erinnerte sie sich daran, dass er ihr genau diese Frage schon einmal gestellt hatte.
Für einen kurzen Moment schien sein Mund zu zucken.
„Ich … ähm … weiß es nicht.“
Irgendwie kommst du mir tatsächlich bekannt vor. Aber woher sollte ich dich kennen?
Urplötzlich erhellte ein Lächeln sein Gesicht. Dies hätte sie sich bei ihm vorher beim besten Willen nie vorstellen können. Wenn er bisher im Flur an ihr vorbeigegangen war, wirkten seine Augen stechend kalt und seine gesamte Mimik so eisig, als ob er jede Art von Freundlichkeit für immer aus seinem Leben verbannen wollte.
„Hier sind die neuen Unterlagen“, wechselte er schnell das Thema, wobei er mit seinem Finger auf zwei Akten zeigte. Jetzt ließ seine sachliche Souveränität keine weiteren Überlegungen mehr zu und seine erneute Unnahbarkeit erschreckte sie auf eine seltsame Art und Weise. Mit absoluter Sicherheit wusste er viel mehr, als er ihr gegenüber zugeben wollte.
„Die Termine stehen schon fest. Jetzt fehlen nur noch die Berechnungen und die Entscheidung, welche Fahrzeuge wir auswählen.“
Als er ihr Büro verließ, folgte ihm Saras nachdenklicher Blick.
Was will er denn bloß in Wirklichkeit von mir? Der Name „Winter“ sagt mir überhaupt nichts und hier habe ich auch noch nie zuvor gearbeitet. Seine Firma kannte ich vorher gar nicht. Also, woher sollte ich ihn kennen?
Während sie die Rechnungen vorbereitete, dachte sie an ihre beiden ehemaligen Arbeitsstellen, um herauszufinden, ob sie vielleicht dort schon irgendwann mit Wintermann zusammengearbeitet hatte.
Zwei Stunden später war sie immer noch keinen einzigen Schritt weitergekommen. Mit diesem Unternehmen hatte sie tatsächlich noch keinen Kontakt gehabt. In dieser Stadt war sie auch nicht zur Schule gegangen. Nachdem sie eine Zeit lang im Ausland gelebt hatte, war sie erst vor einem halben Jahr auf der Flucht vor Thomson und seiner permanenten Anmache hierher zurückgekommen. Anders konnte sie es nicht formulieren.
Ist Winter vielleicht auch in New York gewesen? Bin ich ihm dort irgendwann in einer Disco oder bei meiner Au-pair-Familie begegnet?
In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Diese große, ungemein stark wirkende und attraktive Persönlichkeit mit einem beeindruckenden Charisma hätte sie bestimmt nicht vergessen. Nein, sie kannte ihn definitiv nicht, konnte aber inzwischen gut verstehen, dass es Frauen gab, die ein Auge auf ihn geworfen hatten.
Dieser Gedanke brachte sie zum Lächeln. Winter sah wirklich unverschämt gut aus, ehrlich gesagt, viel zu gut. Seine Überheblichkeit und der Hauch von Arroganz, die ihn umgaben, sprachen sie auf eine unerklärliche Weise an. Selbstverständlich würde sie dies niemals zugeben. Nach dem, was ihr Lotte erzählt hatte, war sie ganz gewiss nicht so dumm, ihre neue Arbeitsstelle zu gefährden. Nach ihren bisherigen Erfahrungen war es in jedem Fall mehr als ratsam, bloß nichts zu riskieren. Arbeitsplätze mit diesem Profil gab es schließlich nicht wie Sand am Meer. Das hatte ihr das vergangene Jahr überdeutlich gezeigt.
Deshalb bestand ihre persönliche Aufgabe jetzt darin, die Probezeit so gut wie nur irgendwie möglich zu bestehen. Das war alles, was sie wirklich wollte.
Bei der Firma Wintermann vergingen die Tage wie im Fluge und sie genoss es, ihre eigenen Aufgaben ohne jegliche Einmischung von Winter bearbeiten zu können. Ab und zu begleitete sie Lotte in der Mittagspause in die firmeneigene Kantine, wo sie nach und nach auch die anderen Angestellten kennenlernte.
Ihre Arbeit und vor allem das positive Umfeld gefielen ihr von Tag zu Tag besser. Genau das war es, was sie in all den Jahren gesucht hatte, – eine Arbeit, die ihr wirklich Spaß machte. Endlich hatte Sara keine Bauchschmerzen mehr, wenn sie in die Firma musste. An jedem neuen Morgen kam sie gern und sie arbeitete schnell und engagiert. Zumindest bekam sie von mehreren Abteilungen wiederholt diese erfreuliche Rückmeldung.
„Geben Sie Sara diese Unterlagen! Sie soll sich darum kümmern.“
Das war eindeutig seine Stimme.
Eigentlich ist es schon komisch, dass er keinen anderen als mich generell mit dem Vornamen anspricht!
Als sie in den Flur hinaus trat und Winter bei Lotte am Empfang entdeckte, durchfuhr sie ein leichtes Kribbeln.
„Da ist sie ja“, stellte er fest und schon winkte er sie zu sich. „Wir brauchen ein detailliertes Angebot für einen einmaligen, später vielleicht regelmäßigen Transport in diesem Umfang. Ich lasse Ihnen die Unterlagen da. Unser Kunde muss das Angebot spätestens morgen haben. T.F. wartet darauf.“
Nach dem letzten Satz schluckte Sara erschrocken. Hoffentlich hatte sie sich eben nur verhört.
„T.F.?“ Ihre Stimme klang heiser, als sie die Unterlagen in Empfang nahm.
„Thomson Fruits“, erklärte Lotte leise, weil sie meinte, die Abkürzung wäre ihr noch nicht bekannt.
Sara schluckte und ihr Mund war auf einmal staubtrocken. Ihr fehlte der Mut, Herrn Winter anzusehen, obwohl sie deutlich spürte, dass sein Blick auf ihr ruhte. Natürlich wusste er nur allzu gut, dass sie gerade diese Firma viel besser kannte, als sie es jemals gewollte hatte, und dass sie dieses Unternehmen aus tiefster Seele verabscheute.
„Ich weiß nicht, ob ich das …“ Eigentlich wollte sie ihm klarmachen, dass sie diese Aufgabe unmöglich übernehmen konnte, aber er schüttelte entschieden den Kopf, bevor sie die Gelegenheit ergreifen konnte, ihn an ihre Abneigung zu erinnern.
„Als meine Vertretung zu agieren und Angebote dieser Art zu erstellen, gehört zu den wesentlichen Kernpunkten dieser Arbeitsstelle.“
Sara gelang es nicht, auch nur einen einzigen Ton hervorzubringen. Das musste er ihr wirklich nicht erklären. Aber wie konnte er ausgerechnet dies von ihr verlangen, obwohl er genau wusste, was der Chef dieser Firma ihr angetan hatte.
Mehrere Sekunden lang sahen sich alle drei schweigend an. Lotte wirkte sichtlich irritiert. Bisher hatte Sara noch nie versucht, sich vor einer Arbeit zu drücken. Ganz im Gegenteil! Hier schien sich aber gerade Ärger anzubahnen. Schnell wandte sich die blonde Sekretärin anderen Aufgaben zu, um nicht weiter zu stören.
„Kann Tom Berger das nicht übernehmen? Schließlich hat er doch viel mehr Erfahrung … und …“
Bei Saras kläglichem Versuch, dieser Aufgabe zu entkommen,
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Michelle Robin
Cover: Cover created by © HS-CoverDesign
Lektorat: indig1512@gmail.com
Tag der Veröffentlichung: 15.02.2018
ISBN: 978-3-7438-8122-8
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