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Amphore



Thomas Heinrich Wenninghaus, mit Betonung auf Wenninghaus, oder Tom, für seine Freunde. Allerdings mit einer großzügigen Ignoranz auf Heinrich, dem Namen seines verstorbenen Großvaters, den er zu seinen Ehren weitertragen
musste. Doch man kann gewisse Dinge auch im Stillen ehren, sagte Tom immer, wenn jemand so vertraut mit ihm wurde, dass er oder sie diesen ungeliebten Vornamen ausgegraben hatte. Damit war das Thema für ihn abgeschlossen.
„THW, zum Chef!“, rief jemand durch die Tür des Großraumbüros. Tom nahm das aber nicht wahr. Mit glasigen Augen las er den neuesten Aufmacher
einer Konkurrenzzeitschrift über das historische Porzellandesign von Fanny Garde, der Manufaktur Royal Copenhagen. Mit eher geringem Interesse
registrierte Tom, dass diese Schöpfung als Dänemarks Nationalservice betrachtet wurde. Geschirr war nicht sein Steckenpferd, aber er musste wissen, was der Markt der Antiquitäten und Kleinodien gerade für wichtig hielt. Schließlich hatte er sich als Quereinsteiger nach dem Abbruch seines Geschichtsstudiums als Journalist bei ‚Amphore’, dem Fachblatt für Antiquitätenhändler und Kunsthistoriker,
hochgearbeitet.
„Tom“, flüsterte ihm eine Kollegin zu, „du solltest den Chefredakteur nicht warten lassen.“
Ohne sie anzusehen, fragte er: „Sag mal, wann hatten wir das letzte Mal was mit edlem Geschirr aus dem 18. oder 19. Jahrhundert?“
Doch ihr Mund formte eindeutig aber lautlos: „Chef!“
„Der Chef?“, fragte Tom tonlos zurück, sichtlich verwirrt. Die Kollegin nickte.
„In welcher Ausgabe?“ Sofort rief er die Suchmaschine der Redaktion im Intranet auf.
„Wenninghaus!“, tönte es lautstark durch den Raum. Die Augen der Kollegen wanderten zwischen Tom und dem Chef hin und her.
Tom reckte den Kopf und fragte unbekümmert: „Sie haben gerufen?“
Doch der war schon wieder in seinem Büro verschwunden, die Tür auffordernd an die Wand knallend.
Einige der Anwesenden schüttelten den Kopf, andere pressten die Hand vor den Mund, damit man ihr gehässiges Lachen nicht sehen konnte. Tom packte
seine Schreibmappe und machte sich auf den Weg, vorbei an Dutzenden von Schreibtischen mit den unvermeidlichen Gummibäumen. Tom achtete nicht auf
die neugierigen Blicke, sondern kramte in seinen Notizen, damit er dem Chefredakteur sofort von der Porzellangeschichte erzählen konnte.
„Sie haben nichts gelernt, schreiben mittelmäßige Berichte und tingeln durch Bibliotheken und Museen, um Ihre diversen Studentenliebschaften aufzufrischen“,
fuhr der Chefredakteur Tom mit hochrotem Gesicht an. „Jeder da draußen“, dabei zeigte er ungefähr in die Richtung des Fensters, durch das er das Großraumbüro überwachen konnte, „hat mehr gelernt und an Erfahrungen mitgebracht als Sie. Trotzdem treibt mich ein irrsinniger Impuls dazu, gerade Ihnen diesen Auftrag zu geben, ich muss verrückt sein!“
„Sie meinen das Kaffeehausgeschirr der Dänen?“, fragte Tom vorsichtig.
„Häh?“
Der Gedanke, dass sein Mitarbeiter nicht ganz richtig im Kopf sein könnte, stand dem Vorgesetzten regelrecht ins Gesicht geschrieben. Bevor er sich
weitere unpassende Bemerkungen anhören musste, fuhr der Chef fort:
„Comte Lafayette ist tot.“ Der Chefredakteur hielt seinem Mitarbeiter ein schlecht leserliches Fax unter die Nase.
„Lafayette, der Kunstsammler?“, fragte Tom.
„Das habe ich erwartet: Sie wissen sofort, wovon ich spreche.“
„Natürlich sagt mir der Name etwas. Wir hatten doch vor fünf Jahren, ich hatte gerade bei Ihnen angefangen, einen Artikel über ein paar seltene spanische Duellierpistolen mit Silberbeschlägen, die bei Christie´s gehandelt wurden.“
Tom hielt kurz inne, um nachzudenken, dann fuhr er fort: „Der Käufer war, glaube ich, der Franzose. Keiner konnte ihn für ein Interview bekommen, so blieb nur ein Artikel aus dem Off. Er soll ziemlich zurückgezogen leben … äh … gelebt haben.“
„Irgendwo bei Limoux. Südfrankreich. Kommen Sie noch vor der Auktion an Fotos und Geschichten zu seiner Sammlung.“
„Wie?“
„Machen Sie sich an die Erben ran.“
„Die Erben?!“
„THW! Mann! Gehen Sie Ihrer Nase nach! Spielen Sie Detektiv! Das ist Ihr Abenteuer“, schwärmte der Chefredakteur. „Das wäre eine Aufgabe nach
meinem Geschmack. Aber ich muss leider hier bleiben.“
„Und die Kosten?“
„Quittungen. Und, THW, übertreiben Sie es nicht.“
Tom schnappte sich das Fax, das ihm sein Chef noch immer unter die Nase hielt und versuchte, die unleserlichen Hieroglyphen zu entziffern.
„Machen Sie die Tür zu, wenn Sie gehen, ich habe zu arbeiten.“
Als THW zu seinem Schreibtisch zurückkam, war das dänische Geschirr vergessen. Er suchte im Internet sofort fieberhaft nach dem Original des Zeitungsartikels.
„Lafayette, Kunstsammler, Limoux, Christie´s …“, murmelte Tom, als er auf den Flachbildschirm starrte. „Wie soll ich da den Erben rauskriegen, muss hinfahren, irgendeine Behörde für Erbschaftsangelegenheiten aufsuchen … Christin!“
„Christin?“, fragte Kollege Herbert von rechts und bemühte sich, den Namen möglichst französisch klingen zu lassen. „Wer ist denn das? Eine Urlaubsbekanntschaft?“
Tom sah ihn nur gedankenverloren an.
„Was sagt nur deine Freundin dazu, Tom?“ Kollegin Dagmar zu Toms Linken schüttelte tadelnd den Kopf.
Er fuhr herum: „Welche?“
Herbert kicherte. Von links kam eine empörte Unmutsäußerung.
„Wie halten das die armen Frauen bei dir nur aus?“, setzte Dagmar nach.
„Du kennst dich mit dem Porzellandesign im königlichen Dänemark aus, weißt aber bestimmt nicht, dass zum Candle-Light-Dinner auch eine Kerze gehört.“
„Wieso …?“ Tom verstand kein Wort.
„Weil wir auch schon ein Probeessen hatten“, brummte sie mit überzogen traurig klingender Stimme.
„Wenn du eine zu viel hast“, zog ihn Herbert von rechts auf, „ich kann Kerzen ganz elegant, sozusagen aus der Hüfte, entzünden. Du darfst meine Nummer
jederzeit weitergeben.“
Tom wusste nicht, worauf er zuerst antworten sollte.
„Alles Schufte“, brummte Dagmar weiter vor sich hin, als sie sich erneut ihren Bildschirm widmete.
„Aber“, setzte Tom an, „Christin ist eine ehemalige Studienkollegin und sie ist jetzt …“
„Ja, ja“, unterbrach Herbert, „du hattest während deines abgebrochenen Akademikerstartversuchssemesters
mehr … Studienkolleginnen …“, er betonte
die Bezeichnung ungehörig lasziv, „als ich während meines ganzen Studiums, sämtliche Praktika und Volontariate eingeschlossen.“
Dagmar murmelte nur: „Schufte, alles Schufte.“
„Ich war vielseitig interessiert und Christin …“, versuchte er es wieder.
„… war Vollblutfranzösin?“, vervollständigte Herbert den Satz.
„Ja, woher weißt du das? Und außerdem war sie interessiert an …“
„… an Schuften“, warf Dagmar ein.
„Nein, nicht am Schuften“, korrigierte Tom, „sondern an den Werken des französischen Malers François Clouets.“
„Das ist doch der mit den nackten mittelalterlichen Frauen.“ Herbert horchte grinsend auf.
„Christin sagt, der mit der ersten selbstbewussten Darstellung der Frau, aber …“, erklärte Tom.
„… aber?“, unterbrach ihn Dagmars strenge Stimme.
„Aber was?“
„Mich interessiert mehr, was du zum Selbstbewusstsein der Frauen zu sagen
hast“, hakte sie nach.
„Das sagt Christin, die jetzt Leiterin eines Museums ist“, sagte Tom, froh, den Kern seiner Information endlich herausgebracht zu haben.
„Dann ist sie bestimmt eine selbstbewusste Frau“, zog ihn Herbert fröhlich weiter auf.
„Und Schuft bleibt Schuft“, hörte Tom noch von der anderen Seite, aber er verzichtete auf weitere Erklärungen, zog sein abgegriffenes Adressbuch aus
dem Jackett und nahm den Hörer ab. Umständlich wählte, wartete und kämpfte er sich, lautstark französisch fränkelnd, durch die Leitung.
„Oui! Oui! Christin! …“, hallte es durch das Großraumbüro.
Schließlich Stille.
„Mist“, sagte Tom, als er auflegte, „sie wohnt nicht mehr im Studentenwohnheim.“
„Warum sollte eine Frau Magister Museal auch im Studentenwohnheim residieren?“, versetzte Dagmar betont zynisch von links.
„Gute Frage“, dachte Tom laut.
„Tom, du solltest deine alten Beziehungen noch intensiver pflegen“, lächelte Kollege Herbert höhnisch.
„Woher weißt du eigentlich, dass sie im Museum arbeitet?“, fragte Dagmar.
Dann strahlte sein Gesicht plötzlich, als hätte er eine Erleuchtung. Ohne ein weiteres Wort hackte er auf seine Tastatur ein. Nach ein paar Minuten hob er
wieder den Kopf und sagte: „Klick und fort!“ Und zu Dagmar: „Dein Hinweis, dass ich ihre E-Mail-Adresse habe, war genial. Woher wusstest du eigentlich
davon?“ Sie schüttelte den Kopf und murmelte mehr bei sich: „Das wusste ich gar nicht! Das Einzige, was ich sicher weiß ist, dass du ein Schuft bist.“
Tom machte sich wieder daran, die Online-Ausgabe der Zeitung zu ermitteln, deren verschwommenes Fax er in Händen hielt. Es schien sich um ein südfranzösisches Regionalblatt zu handeln. Weiter kam er nicht, weil sein Französisch nur für Liebesschwüre reichte.
„Tarammdiedeldü“, meldete das E-Mail-Postfach.
„O, schon Antwort“, freute sich Tom.
Sofort waren die Kollegen rechts und links zur Stelle und starrten mit ihm auf den Bildschirm.
„Crapule“, las Tom umständlich. Seine Kollegin gackerte los. Die beiden Männer glotzten sie mit großen Augen an.
„Meine Rede: ein Schuft“, kicherte sie. Aber Tom ließ sich davon nicht irritieren.
„Lafayette war ein bekannter Kunstsammler, der in Südfrankreich sehr zurückgezogen lebte. Es haben sich richtige Legenden um seinen Reichtum gebildet.
Wenn man denen glauben darf, liegt in seinem Keller der Heilige Gral gleich neben Aladins Wunderlampe. Viele Kunsthändler, aber auch Museen suchten Kontakt zu ihm, doch der Mann war unnahbar. In den letzten Jahrzehnten hat er nur noch Mittelsmänner auf Auktionen geschickt, wenn millionenschwere
Kleinodien gehandelt wurden. Sein Tod gestern kam überraschend. Große Geheimhaltung. Gerüchte sprechen von einem unnatürlichen Tod. Andererseits
dürfte er so jung auch nicht mehr gewesen sein. Für diese Info erwarte ich ein romantisches Dinner, dann bringe ich dich sogar bis zu seinem Château. Dort soll der Sternenhimmel besonders schön sein, Christin.“ Zufrieden blickte Tom nach rechts und nach links.
„Kollegen, so wie es aussieht, muss ich mich für eine wichtige Dienstreise nach Südfrankreich abmelden.“ Er schaltete seinen Monitor aus, schnappte sich
Adressbuch und Fax und tänzelte pfeifend zur Tür hinaus.

Christin



„Tommi!“, rief die adrette Dame leidenschaftlich, als sie ihm im seriösen grauen Kostüm mit knielangem Rock durch die Eingangshalle des Musée Petite
entgegenrannte. Von allen Seiten hallte der Ruf wider. Einzelne Besucher blickten suchend nach der Ursache der Ruhestörung, die sie von den archäologischen
Funden des Aude-Tals ablenkten.
„Mon chèr, Tommie!“
Tom lächelte selbstsicher, als er die zierliche Chefin dieses imposanten Museums auf sich zustürmen sah. Weder die strenge Kleidung, noch die vergangenen
Jahre hatten ein Gefühl der Entfremdung in ihnen aufkommen lassen. Wie damals lief Christin verliebt auf ihn zu. Es sah aus, als wäre aus der Studentin
nie eine erwachsene Frau geworden.
Erwartungsvoll breitete Tom seine Arme aus, um die geliebte Freundin zu begrüßen. Gleich einem flatternden Schmetterling, mit Kribbeln im Bauch,
schmiegte sie sich an ihn.
„Mon chèr, mon amour.“ Küsschen rechts und Küsschen links. Tom genoss die Begrüßung. Doch sie endete im wahrsten Sinne des Wortes schlagartig.
Christin riss sich los. Mit ihrer noch vor wenigen Augenblicken so zarten Hand schlug sie Tom ins Gesicht.
„Du Schuft!“, schrie sie.
Tom wusste nicht, wie ihm geschah. Einen Herzschlag später lag Christin wieder in seinen Armen und küsste ihn leidenschaftlich. Gleichzeitig spürte er einen Kniff in seinem Po, da riss sich seine alte Freundin schon wieder los.
„Los, komm“, drängte sie. „wir fahren gleich zum Château.“
Tom blieb kaum Zeit, nach Luft zu schnappen.
„Warum die Eile?“, flötete er sie an.
„So ein Schuft wie du kann nicht in meinem Museum bleiben.“
O, wie liebte er ihren französischen Akzent, gleichgültig, ob sie ihn beschimpfte oder mit ihm turtelte. Rasch löste sie sich aus seinen Armen und klapperte auf ihren hochhackigen Schuhen energisch an ihm vorbei zum Ausgang. Für einen Augenblick sah Tom der kleinen burschikosen Frau in ihrem strengen Kostüm hinterher.
Pure Leidenschaft, dachte er und setzte sich schnell in Bewegung, um ihr artig zu folgen, denn er wollte nicht schon wieder ihren Unmut auf sich ziehen.
Kaum aus der Tür, ergriff sie verstohlen seine Hand und sie gingen, verliebt wie einst, zum Leihwagen, den der Journalist am Flughafen gemietet hatte.
„Du fährst“, ordnete Christin unmissverständlich an.
„Du kennst dich hier besser aus“, entgegnete Tom.
„Aber deine Hände sollen sich ausschließlich mit dem Lenkrad beschäftigen, mon chèr.“
Als beide im Fahrzeug saßen - ein kleines spritziges Cabrio - strahlte Tom, das Lenkrad fest umfasst, seine Freundin an. In freudiger Erwartung eines romantischen Tages betätigte er den Knopf, der das Verdeck öffnete.
„Du bist noch genauso schön …“
„Nicht reden“, unterbrach ihn die Museumschefin. „Die D118 nach Carcassonne.“
Sie suchte im Radio einen Sender mit melancholischen Chansons. Christin tat so, als würde sie konzentriert zuhören. Also schwieg auch er und folgte der Straßenbeschilderung nach Nordwesten, vorbei an gemütlichen Cafés und kleinen Parks. Tom fühlte sich wie in einer anderen Welt, als er durch die engen Gassen fuhr.
Später, als sie die Landstraße nach Carcassonne, vorbei am Menhir ‚La Pierre Droite’, einem 11-Tonnen-Block aus der Jungsteinzeit, hinaus fuhren, spürte Tom permanent Christins Blick wie von einem Brennglas fokussiertes Sonnenlicht auf seiner rechten Wange. Er hörte förmlich ihre Gedanken, wie sie rätselten, was aus dem einstigen Liebhaber geworden war und wie sie heute zu ihm stehen sollte.
Ruhig, aber angefüllt mit der Spannung ungestillter Neugier über den jeweils anderen, rollte das Cabrio gemächlich durch die Arkaden. Der Fahrtwind, der
sanft über die Windschutzscheibe nach oben strich, wirbelte zärtlich durch ihre Haare. Christins brünettes, sorgfältig hochgestecktes Haar löste sich unter den
beharrlichen Angriffen der Luftströmung. Wilde Locken sprangen aus der Umklammerung zahlreicher Haarspangen, hüpften über die Nase der Museumschefin und flohen dann nach hinten. Als hätte sie den Anspruch auf ein steifes und korrektes Äußeres, wie es in ihrer Position erwartet wurde, plötzlich aufgegeben, löste sie ihre Haarpracht. Gleich einem Strudel freigewordener Leidenschaften
hüllte sie ihr zartes Gesicht in wildes Chaos. Genüsslich strich sie die Locken zurück, damit sie im Fahrtwind wehen konnten.
Dadurch wurde Tom abgelenkt. Sekundenlang starrte er in ihre hellen grünen Augen. Sog die Lebendigkeit, die sie ausstrahlten, in sich hinein. Blickte auf die
roten Lippen, deren Berührung er nur zu gut kannte und in diesem Augenblick schmerzhaft vermisste. Ihr markantes, Willensstärke ausstrahlendes Kinn, das
sanft in ihren zarten Hals floss, ließ in Tom die Erinnerung und tiefe Gefühle an viele romantische Abende wieder auferstehen.
Polternd ratterte das rechte Vorderrad über den Schotter am Straßenrand. Tom erwachte aus seinen Träumereien. Doch Christin war schneller und griff
ihm ins Steuer. Knapp verfehlten sie den nächsten Baum. Erschrocken trat Tom mit aller Kraft auf die Bremse. Da sie nicht allzu schnell unterwegs waren, blieb der Wagen nach wenigen Metern stehen. Doch der Schwung reichte aus, um Christin mit einem Schreckschrei nach vorne zu schleudern, bevor der gespannte Sicherheitsgurt sie zurückwarf. Völlig aufgelöst erwiderte Tom den Blick seiner Begleiterin, die ihn mit erschrockenen Augen unter den zerzausten
Haaren, die ihr wild ins Gesicht hingen, anstarrte. Ihr noch vom Schrei geöffnete Mund war zu viel für Tom. Sofort stürzte er sich auf Christin. Presste seine
Lippen auf ihre. Christin reagierte unmittelbar. Bog und streckte auch ihren Körper, soweit es der Gurt zuließ, und bot ihren Mund dar. Genoss seine
Liebkosungen auf ihren Wangen bis hinauf zu ihren geschlossenen Augen und wieder hinunter zum Hals.
„Mon chèr, Tommi“, stieß Christin hervor.
Tom deutete diesen Ruf als Einladung und suchte, hektisch atmend, mit seinen Lippen weitere sinnliche Wege über Christins Gesicht. Doch der Sicherheitsgurt war unerbittlich. Augenblicklich wollte Tom sich losschnallen. Christin nutzte diese kurze Pause, umfasste mit beiden Händen zärtlich das Gesicht ihres Begleiters und sagte mit der sinnlichsten Stimme, die sich Tom vorstellen konnte: „No, mon chèr Tommi.“
Mit einer Mischung aus Enttäuschung und Verständnis blickte er sie an. Dann lächelte er kurz, setzte sich wieder bequem in seinen Sitz und gab Gas.
„Was weißt du von Lafayette?“, fragte er sachlich, froh, das Thema wechseln zu können.
„Nicht viel mehr, als in der Zeitung stand“, antwortete sie schnell und konzentrierte ihren Blick nun auf den Verlauf der Straße. Die Schönheit der südfranzösischen Allee schien von einem Moment auf den anderen keinen Einfluss mehr auf die beiden
zu haben. Über die sich bereits rötlich einfärbende Sonne, die einen wundervollen Sonnenuntergang ankündigte, sprach ebenfalls niemand. „Nur, dass er
ein leidenschaftlicher Kunstsammler war. Viele unbekannte Stücke sollen in seinem Keller lagern.“
„Hatte er ein bestimmtes Fachgebiet, auf das sich seine Sammlung bezog?“
„No, nicht dass ich wüsste“, schüttelte Christin den Kopf, „man glaubt, dass sich verschollene Originale großer Meister wie auch seltene etruskische Vasen
in seinem Besitz befinden, äh … befanden. Alles durcheinander.“
Tom brummte kurz zur Bestätigung seiner Annahme, dass er sich in diesem Fall vor allem auf seine Nase verlassen musste.
„Es soll alles unter den Hammer kommen?“, fragte er nach.
„Oui, bei Christie´s in London.“
„Das kann der passionierte Sammler aber nicht verfügt haben.“
„Das war sein missratener Sohn. Der Glückliche erbt alles und es ist ihm codeegal.“
Solche Verballhornungen wählte Christin nur in den Augenblicken, in denen sie etwas wirklich hasste. „Der Lebemann und Partylöwe schwimmt in Geld.
Wahrscheinlich verscherbelt er alles, um seinem Vater posthum noch eins auszuwischen.“
„Kann man mit dem Mann reden? Das sind internationale Kunstschätze, die er in seinen Händen hält, die kann man doch nicht so einfach wegwerfen!“ Der Kunstliebhaber in Tom ereiferte sich, der Journalist Tom aber wurde neugierig.
„Das ist wohl das bittere Los der Kinder, die alles haben und alles bekommen“,
sagte Christin. „Sein Vater konnte ihn noch mit Ach und Krach zu einem
Jurastudium zwingen. Aber seine Kanzlei in Paris scheint nicht zu laufen. Das hat er ja auch nicht nötig.“
Tom schüttelte verständnislos den Kopf. „Hat jemand Einfluss auf ihn? Kann ihn jemand zur Vernunft bringen?“
„Soweit ich weiß, gibt es niemanden“, überlegte Christin. „Er wechselt die Mädchen wie die Enten. Doch …“
Tom lachte, vor allem wenn sie in ihrem wundervollen französischen Akzent Sätze hervorbrachte, die eine andere Bedeutung hatten als die ihnen zugedachte.
Christin blickte ihn irritiert an.
„Es ist in Ordnung, sprich weiter“, forderte Tom sie auf.
„Ich habe Unsinn geplappert?“
„Nur wunderschönen“, säuselte er.
Christin riss sich sichtlich zusammen und berichtete weiter: „Es scheint ein Model zu geben, mit dem er öfter gesehen wird, schreibt das ‚Boulevard’.“
„Ein Model“, stieß Tom verächtlich hervor. „Das passt ja. Fremde Federn, fremde Kohle, jung und dumm.“
„Der Beruf eines Models ist sicherlich anstrengender als deiner, mon Tommi“, wies ihn Christin zurecht.
„Aber dass sich so ein … äh … Model an einen reichen Nichtsnutz hängt, passt doch ins Klischee, oder?“
„Vielleicht nicht Klischee, sondern Liebe?“, gab sie zu bedenken.
„Ich glaube eher: Partys, Sex und Kokain.“
„Du bist so unromantisch“, beschwerte sich Christin. „Kennst du nicht das Märchen von Cendrillon, von Aschenputtel?“
Tom lachte verächtlich. „Das Frauenmärchen?“
Christin spielte die Empörte. „Frauenmärchen, Frauenfilm. Muss alles mit Romantik nur für Frauen sein? Ich kenne deine romantische Ader gut und kann
nicht glauben, dass du das Märchen von Cendrillon als Frauenmärchen bezeichnest.“
„Zumindest ist im Märchen der Prinz der Gute“, versuchte Tom das Thema zu wechseln. „Aber ist der Lafayette-Sprössling in unserem Märchen nicht der
Böse? Der, die Liebe seines Vaters verkauft?“
„Aber vielleicht rettet ihn das Model eines Tages mit ihrer Liebe?“, schwärmte Christin laut und streckte beide Arme in den Fahrtwind. Tom verkniff sich
ein Lächeln.
„Was ist mit der Mutter des Erben?“, fragte er sachlich weiter.
„O, das war tragisch.“ Christin zog ihre Arme wieder ein und verschränkte sie artig. „Sie starb etwa ein Jahr nach seiner Geburt bei einem Autounfall.
Fürchterlich!“
„Hat Lafayette seine Frau geliebt?“
„Na … türlich!“, wollte Christin aufschreien, bremste sich aber rechtzeitig, da sie fürchtete, Tom würde sich wieder über sie lustig machen. „Sie war die
einzige Frau in seinem Leben. Danach hat er sich noch mehr zurückgezogen.“
„Wie alt war Lafayette, als sein Sohn geboren wurde?“
„Weiß nicht, Mitte vierzig oder so.“
„Das ist nicht mehr jung“, bemerkte Tom.
„Seine Frau soll es gewesen sein“, sagte Christin. „Jung und schön, vielleicht 24.“
„Das ist wahrlich ein Altersunterschied, den sich viele Männer wünschen. Lass mich raten: Sie war Model?“ Dabei lächelte er seine Begleiterin frech an.
Beleidigt verschränkte Christin ihre Arme noch fester.
„Ich sollte dir eine hässliche, dürre Frau wünschen, die keine Widerrede duldet. Aber in die du dennoch hoffnungslos verliebt bist, mon Tommi.“
In diesem Augenblick erschien vor ihnen Carcassonne. Die malerische Stadt war gekrönt durch la Cité de Carcassonne selbst, die wie eine riesige trutzige Festung wirkte. Die Sonne glitzerte auf den Dächern der Türme des Château Comtal. Rund um den Hügel zog sich die wehrhafte Stadtmauer. Vom Anblick allein fühlte sich Tom ins Mittelalter versetzt, als die Herren über das Tal der Aude von ihrer Burg aus noch die alte Handelsstraße vom Atlantik zum Mittelmeer kontrollierten. Jeden Augenblick, so schien es ihm, konnte ein Kreuzritter auf den sanften, mit Weinstöcken bepflanzten Hängen erscheinen oder
ein Heer schwerer Kavallerie in Formation auf die Stadt zureiten. Tom war sprachlos.
„Ich lebe gern hier“, schwärmte Christin mit gedämpfter Stimme, als sie spürte, wie ergriffen ihr Begleiter vom Anblick der Stadt war. „Jede Gasse, jeder Winkel ist durchtränkt mit Geschichte.“
„Ist die Burg je erobert worden?“, fragte Tom interessiert, was er sich angesichts der Lage und des Aufbaus nicht vorstellen konnte.
„Tommi, die Burg ist die Stadt“, korrigierte Christin. „Die Altstadt, um genauer zu sein.“
Tom fuhr rechts heran, um besser schauen zu können.
„Nein“, sprach sie weiter, „erst mit dem Aufkommen der Artillerie der beginnenden Neuzeit verloren die hier verwendeten Konstruktionsprinzipien des
Burgbaus ihre Bedeutung.“
„Was bedeutet Carcassonne? Hat das was mit den wuchtigen Mauern und Türmen zu tun?“
Christin lächelte.
„Du würdest vielleicht sagen: ja. Die Bezeichnung geht auf die Regentschaft von Madame Carcas im Hochmittelalter zurück. Die Stadt wurde damals von
einem feindlichen Heer lange belagert. Die Vorräte waren aufgebraucht und Hunger machte sich breit. Da beschloss die Regentin ein Schwein zu mästen.
Als es fett genug war, ließ sie es über die Burgmauern werfen. Der Fürst der Angreifer war von der Tatsache, dass die Vorräte in der Stadt noch gut gefüllt sein mussten, wenn man offensichtlich noch Schweine mästen konnte, derart eingeschüchtert, dass er die Belagerung abbrach. Aus Freude darüber wurden
in der Stadt die Glocken geläutet. Das kommentierte angeblich der feindliche Feldheer mit der Bemerkung: Madame Carcas sonne, soviel wie ‚Madame Carcas
läutet’.“
„Ich möchte mit dir jetzt sofort durch die alten Gassen spazieren und die schönsten Weinstuben besuchen“, forderte Tom.
„No, Tommi“, fuhr sie mit ihrem gestreckten Zeigefinger vor seiner Nase hin und her. „Du biegst hier ab.“
Tom suchte nach der genannten Abzweigung.
„Dort die kleine Seitenstraße?“
„Oui!“
„Die ist gesperrt“, widersprach er angesichts des Verkehrsschildes.
„Aber nur dort entlang geht es zum Château Lafayette.“
„Ein THW lässt sich durch ein Schild nicht aufhalten.“ Tom wirkte abenteuerlustig und gab Gas.
Christin jauchzte vor Vergnügen über die Tatsache, mit ihrem ehemaligen Verehrer etwas Verbotenes zu tun.

ENDE DER LESEPROBE

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Texte: Alle Rechte vorbehalten.
Tag der Veröffentlichung: 01.04.2009

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