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„Schönen guten Morgen hier auf CBL-Radio! Es ist der 22. Oktober 2030, sieben Uhr. Die Meldungen des T…"


Leon sitzt bereits komplett uniformiert auf der Kante seines Bettes. Er hat diese Nacht kein Auge zugetan. Ebenso wie in der gesamten letzen Woche, und er Woche davor. Sein Gesicht hat jegliche gesunde Hautfarbe verloren, seine Augen sitzen tief in ihren Höhlen, als wollten sie sich vor der Welt da draußen verstecken. Er hatte die ganze Nacht nur an Sie gedacht. Er kennt nicht mal ihren Namen. Leon hat die Frau vor zwei Wochen im Einsatz erschossen. Er ist Einsatzpolizist im fünften Bezirk. Trübes Morgenlicht fällt durch das Fenster und taucht das Schlafzimmer in ein graues Zwielicht. Nach dem Vorfall ist Leon beurlaubt worden, heute ist sein erster Arbeitstag. Er streicht sich über das Gesicht, steht auf und geht langsam in die Küche.
Die Nacht ist fast taghell erleuchtet, riesige Scheinwerfer beleuchten die bedrohliche Szenerie. Leon zittert in seiner vollen Einsatzmontur. Er steht vor dem imposanten Bau des Ministeriums für Staatssicherheit, vor ihm steht ein drei Meter hoher Stahlzaun, hinter dem hunderte, wenn nicht sogar tausende Demonstranten versammelt haben. Es ist nun der dritte Tag für seine Schicht, und jeden Tag sind die Ausschreitungen schlimmer geworden. Eine nervöse Stimmung hängt in der Luft. Keiner von seinen Kollegen spricht. Einige zornige Demonstranten rütteln heftig am Zaun. Leon blickt hinter sich auf die großen Fahnen mit dem Regierungsemblem, die an der Front des Ministeriums hängen. Ein Schild wird über den Zaun geworfen und zerschellt fünf Meter vor der Reihe aus Polizisten. Es trägt die Aufschrift „Weniger Kameras, weniger Polizisten, mehr Toleranz!“


Leon verlässt das Haus. Dichter Nebel hängt wie ein grauer Schleier in der menschenleeren Straße. Er steigt in seinen Wagen, fährt die Auffahrt hinab und beginnt seinen Weg ins Präsidium. Die Stadt erscheint ihm seltsam fremd. Auf den Straßen sind kaum Menschen zu sehen, die neuen Notstandsverfügungen der Regierung scheinen zu wirken. Nach einiger Fahrtzeit biegt er auf den Parkplatz der Polizeiwache ein, parkt seinen Wagen. Das Gefühl sich übergeben zu müssen kriecht seinen Hals hinauf, aber er kann es nicht. Leon lässt das Fester runter und atmet tief ein.
Der Stahlzaun ächzt unter der Last der Menschenmasse, dem ständigem Treten und Rütteln. Leons Herz schlägt wie verrückt. Eine Lautsprecherdurchsage fordert die Demonstranten zu Ruhe und Ordnung auf. Ohne sicht- oder hörbaren Erfolg. Ohrenbetäubender Lärm erfüllt die Luft. Leon blickt nach oben. Über ihnen kreist ein Helikopter, der einen grellen Lichtkegel über den Aufstand kreisen lässt. Er spürt, dass es wohl nicht mehr lange dauern wird bis die Demonstration gewaltsam aufgelöst wird.


Er betritt das Revier durch den Seiteneingang. Wortlos geht er an ein paar Kollegen vorbei. Er spürt, wie sich ihre Blicke in seinen Rücken bohren. Noch bevor er zu seinem Schreibtisch kommt, versuchen einige seiner Kollegen mit ihm ein paar tröstende, aufmunternde Worte zu wechseln. Die Gespräche tarnten sich Banalitäten, wie dem Wetter oder dem letzten Spiel der Heimmannschaft, enden aber meist mit Sätzen wie „Du kannst doch nichts dafür“ oder gar „das Schwein hat’s verdient“. Leon schweigt, nickt ab und zu um sein Desinteresse an Konversation nicht ganz so offensichtlich erscheinen zu lassen. Zwei Stunden später bittet er seinen Vorgesetzten früher Feierabend machen zu dürfen.
Wieder fliegt ein Schild über den Zaun und prallt einige Meter vor Leon auf den Boden. Ed, der Kollege neben ihm, bietet ihm eine Zigarette an. Leon nimmt dankend an. Ed ist Ende 40, mehrfacher Vater, erzählt oft von seiner Familie. Beide klappen die Visiere ihrer Einsatzhelme hoch und fangen an zu rauchen. Wieder ertönt die Stimme aus dem Lautsprecher die die Demonstranten zur Ruhe auffordert. Er und Ed smalltalken ein wenig. Er ist froh über ein wenig Auflockerung. In dem Moment als Leon seine Zigarette auf den Boden schnippst trifft Ed ein Pflasterstein unter dem rechten Auge und er fällt zu Boden.


Leon sitzt auf dem Teppich seines Schlafzimmers, vor ihm steht eine kleine Kerze. Draußen ist es schon dunkel geworden. Das warme, flackernde Licht der Kerze erleuchtet das Zimmer kaum. Er hockt regungslos da, blinzelt in die Flamme. Seine Gedanken sind wie ein Bienenschwarm. Neben ihm liegt ein Tütchen mit dem Rest Heroin, das er abends gekauft hat.
Mit beiden Händen versucht Leon die riesige Wunde in Eds Gesicht abzudrücken. Überall Blut. Panik ergreift ihn. Eds rechter Wangenknochen ist vollkommen zersplittert, die Konturen seines Gesichtes sind nicht mehr auszumachen. Ein lautes, knirschendes Geräusch lässt Leon herumfahren. Der Zaun ist unter der Masse und den ständigen Angriffen gebrochen. Augenblicklich drücken die ersten Menschen herein. Leon weiß nicht was er tun soll. Einige der Aufständischen laufen bereits auf sie zu. Sein Verstand schaltet aus, die Angst übernimmt. Mit zittriger Hand zieht er seine Waffe und feuert in Richtung der Öffnung. Sofort scheucht die Menge auseinander. Eine Frau mit langen schwarzen Haaren steht regungslos da, erschrocken die Augen aufgerissen. Als sie an sich herunterblickt zeichnen sich auf ihrer weißen Bluse zwei dunkelrote Flecken ab. Sekunden später sackt sie zusammen. Leons lässt die Pistole fallen, er sackt auf seine Knie. Erschrocken realisiert er was er getan hat. Mit weit aufgerissenen Augen kniet er auf dem Pflaster. Mit Tränengaswerfern werden die Menschen zurückgetrieben. Zwei seiner Kollegen schleifen ihn zurück, er wehrt sich nicht. Er ist leer.


Gläsernes Mondlicht fällt durch das Fenster. Eine Träne läuft seine Wange hinab, tropft auf den Teppich. Er hält seine Waffe in der Hand. Sie kommt ihm unglaublich schwer und kalt vor. Er ist ganz ruhig. Der letzte Gedanke bevor er abdrückt ist „das Schwein hat’s verdient.“

"Wie viel Mühe kostet die Niederschlagung und Verhütung von Aufständen: Geheimpolizei, andere Polizei, Spitzel, Gefängnisse, Verbannungen, Militär! Und wie leicht sind die Ursachen für Aufstände zu beseitigen."

— Leo Tolstoi

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Tag der Veröffentlichung: 13.01.2009

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