Cover

Sorglos und dynamisch nimmt er die letzten Stufen, verlässt den in der Sonne glitzernden Hochhauskomplex. Er lächelt zufrieden. Verständlich, wenn man gerade den Deal seines Lebens gemacht hat. Wie viel er dabei verdient hat weiß er noch nicht genau, aber mit Sicherheit mehr als normale Menschen in zwei, drei Leben. Zielstrebig geht er auf die auf ihn wartende Limousine zu. Den Security-Mitarbeiter, der gerade einen Obdachlosen vom Gehsteig vor dem Gebäude vertreibt, bemerkt er nicht. Der Chauffeur öffnet ihm die Türe, er lässt sich genüsslich auf der Lederrückbank nieder.
Wohin es denn gehen solle, fragt der Fahrer höflich. Er möchte zu seinem Appartement, und er denkt schon an die Flasche Champagner in seinem Kühlschrank. Links neben ihm findet er die heutige Ausgabe der Zeitung, die der Chauffeur wie üblich bereitgelegt hat.
Die Schlagzeilen auf der Titelseite beachtet er nicht, stattdessen schlägt er die erste Seite „Politik & Weltgeschehen“ auf. Er lässt seinen Blick erstmal über die Seite wandern. „Schwere Erdbeben in Zentralchina“ scheint ein wichtiges Thema zu sein, denn der Artikel mit der Überschrift „Sturmkatastrophe in Burma“ wirkt dagegen verschwindend klein. Burma, das erinnert ihn an irgendwas, jedoch bemüht er sich nicht weiter darauf einzugehen. Er beginnt den Erbeben-Text zu lesen. Als er jedoch zur Zeile mit „zehntausende Tote“ und „hunderttausende die alles verloren haben“ kommt beschließt er lieber aufzuhören. Er will sich seine gute Laune nicht verderben lassen. Ob ihm die Temperatur angenehm ist, will der Fahrer wissen. Ein wenig kühler könnte es schon sein. Bevor er umblättert fällt sein Blick noch auf die Fotos des Erbeben-Artikels. Ein Mann der zusammengekauert am Boden kniet, die Hände vors Gesicht haltend, und ein kleines Mädchen, das weinend vor Trümmern steht, die wohl mal ein Haus waren. Dass das Mädchen wenige Tage nach dem Foto an einer Infektion starb, ahnt er nicht. Die zweite Seite hat die gleiche Überschrift wie die erste, weswegen er den dortigen Artikeln eher weniger Aufmerksamkeit schenkt. Nachrichten vom Bürgerkrieg in Darfur mit 200000 Toten und Millionen von Vertriebenen, oder von Frauen die im Iran, die wegen Ehebruch hingerichtet wurden, bleiben ungelesen.
Auf der nächsten Seite steht in großen Buchstaben „SPORT“. Sport hat ihn eigentlich noch nie sonderlich interessiert.
Rot. Während der fast endlos erscheinenden Wartepause an der Ampel blickt er kurz zum Autofenster hinaus auf die Straße. Eine mit schwer aussehenden Tüten bepackte Frau schiebt einen Kinderwagen den Gehsteig entlang. Sie wirkt gestresst und verzweifelt. Dass sie allein erziehend ist und keine Ahnung hat wie sie die letzte Monatsmiete bezahlen soll wird er nie erfahren.
Grün. Er blättert weiter auf die Boulevard-Seite. Vergnügt liest er die Missgeschicke, Romanzen und Verwicklungen der Reichen und Schönen. Auf der nächsten Seite ist er ganz in seinem Element. „Finanzen & Wirtschaft“ ist oben auf der Seite zu lesen. Für die meisten ist das ganze nur ein undurchschaubares Gewirr von Zahlen und Tabellen. Doch nicht für ihn. Auf den ersten Blick sieht er erfreut, dass der Preis für Lebensmittel erneut gestiegen ist. Erfreut deshalb, weil er eine große Menge an Optionen von Mais und Reis hält. Groteskerweise wird genau in dem Moment ein Mann verhaftet der für sich und seine Familie aus Verzweiflung Brot stehlen wollte. Routiniert liest er noch ein paar Tabellen nach, überschlägt grob die Gewinne und Verluste. Die Wagentür geht auf. Er hat gar nicht bemerkt, dass der Wagen angehalten hat, so vertieft war er. Er steigt aus, bedankt sich beim Fahrer und geht die Stufen zur Eingangshalle hinauf, voller Vorfreude auf den gekühlten Champagner und das Abendessen mit seiner Verlobten. Dass während der Fahrt irgendwo auf der Welt 247 Kinder an Unterernährung gestorben sind weiß er nicht.
Woher auch?

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 22.10.2008

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /