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«Piep, piep, piep»
„Guten Morgen, sie hören CBL-Radio, am 02. Januar 2030, 06:00 Uhr. Nochmals ein frohes neues J...“


Jaason ist ein Mann mitte 30, mit unordentlichen, in allen Richtungen abstehenden Haaren, zerknautscht wirkendem Gesicht und er ist ziemlich angepisst. Die Nacht war wieder mal viel zu kurz und er hatte einen mächtigen Brummschädel. Jede Zelle seines Körpers schien sich gegen das Aufstehen zu wehren. Doch es half nicht viel. Wenn er noch mal zu spät zur Arbeit kommt kann er sich einen neuen Job suchen. Unbeholfen torkelt er Richtung Küche. Die Frage ob er sich ein Frühstück machen soll oder nicht erübrigt sich nach dem Blick auf den Küchentisch. Dutzende von leeren Flaschen standen auf dem kleinen, alten Holztisch. Ausweichplan: Ein sauberes Glas finden, mit Wasser füllen, zwei Aspirin und eine von diesen Pillen schlucken. Der erste Teil erweist sich als am schwierigsten, Jaason braucht mindestens 5 Minuten um ein halbwegs ordentliches Glas zu finden. Er schnippst die zwei Aspirin ins Wasser und benutzt die daraus entstehende Flüssigkeit um die Pille zu hinunterzuspülen. Als er das Glas wieder absetzt fällt sein Blick auf seine alte Pinnwand. Alte Fotos und Zeitungsausschnitte überziehen sie. Die meisten Fotos zeigen ihn Arm in Arm mit seiner Ex-Frau. Früher, da sind sie immer gemeinsam auf die Demos gegangen. Aber diese Zeiten sind vorbei. Von den Zeitungsartikel prangen Schlagzeilen wie „Neues Anti-Terrorgesetz in Kraft“ oder ähnliches. Mühsam bewegt er sich in Richtung Badezimmer um sich gesellschaftsfähig zu machen. Jaason muss sich sputen, der Bus wartet nicht auf ihn. Draußen ist es kalt und es regnet. Schlimmer noch ein Regen-Schnee-Gemisch. Richtig geschneit hat es schon seit Jahren nicht mehr. Er zieht den Kragen seiner Jacke hoch und geht hinaus auf die Straße. Die Überwachungskameras auf dem Weg zur Bushaltestelle braucht er nicht mehr zu zählen, er weiß die Zahl. 23, zumindest die, die man sehen kann. Er setzt sich in die Bushaltestelle und starrt in das städtische Grau. Doch weiter hinten, an einem verfallenen Haus prangt ein roter, auf die Entfernung nicht genauer identifizierbarer Fleck. Der Bus fährt vor. Bevor Jaason einsteigt nimmt er noch einen kräftigen Schluck aus seinem Flachmann. Ein kurzer, unauffälliger Augenscan und ein grün aufleuchtendes Lämpchen signalisiert dem Busfahrer, dass Jaason eine Dauerfahrkarte besitzt. Er nimmt in einer der hinteren Reihen Platz. Ziellos blickt er zu Fenster hinaus. Draußen schieben sich schier endlose Menschenmassen über den Gehsteig um in die Arbeit zu kommen. Der Bus muss wegen einer Baustelle eine andere Route nehmen. Jaason streicht über seinen 3-Tage-Vollbart. Sie fahren durch eine verrufene Gegend. Heruntergekommene Häuser, zerbrochene Schaufenster und Autowracks säumen sich die Straße entlang. Und selbst die Polizei, die sonst immer überall zu sein scheint, zeigt hier keine Präsenz. Und wieder einer dieser komischen roten Flecke, diesmal an einem abgebrannten Haus. Die rote Farbe leuchtete fast, verglichen mit den verkohlten Ziegeln und dem ganzen Grau außen herum. Doch der Bus bewegte sich zu schnell um genauere Details auszumachen. Er wendet sich wieder dem Inneren des Busses zu. Die Frau schräg rechts vor ihm liest gerade Zeitung. Jaason selbst vermeidet es eher die Zeitung zu lesen oder gar Nachrichten anzusehen. Die beiden älteren Männer hinter ihm diskutieren gerade über einen Anschlag auf die Hauptstadt, bei dem anscheinend wieder dutzende Menschen umgekommen sind. Er greift in die Innentasche seiner Jacke, zieht seinen Flachmann heraus, schüttelt ihn kurz prüfend und nimmt einen Schluck. Der Bus hat die trostlose Gegend verlassen und begibt sich zielstrebig Richtung Innenstadt. Alte Ziegelhäuser werden nach und nach von modernen Hochhauskomplexen abgelöst. Riesige, wunderschöne Frauengesichter lächeln auf ihn herab, preisen die verschiedensten Produkte und Marken. Bald werden sie ankommen. Jaason steht auf und geht Richtung Ausgang um unnötiges Gedränge an der Ausstiegsstelle zu vermeiden. Der Bus hält, lautlos gleiten die Türen auseinander. Er tritt hinaus und stellt fest, das der Regen immer noch nicht nachgelassen hat. Die Luft stinkt nach Smog und Abgasen. Er stellt sich kurz unter das Dach der Bushaltestelle um sich ein Zigarette anzuzünden. Als er sein Feuerzeug wieder in die Jackentasche steckt fällt sein Blick auf die andere Straßenseite. Ein roter Fleck. Jaason beschließt sich das ganze mal näher anzusehen. Im morgendlichen Verkehrsstau ist es recht leicht auf die andere Straßenseite zu kommen, da die Autos öfter stehen als fahren. Aus einem Sportwagen dröhnt laute, elektronische Musik. Er stand nun direkt vor dem mysteriösen, roten Fleck.
Eine zur Faust geballte Hand. Darunter in Großbuchstaben die Worte „Break Free!“

. Wie gebannt starrt Jaason minutenlang auf das Bild. Seine Armbanduhr piepst zweimal kurz. Scheiße, Arbeitsbeginn. Hektisch begibt er sich wieder auf die andere Straßenseite. Völlig durchnässt betritt er das Büro. Von seinen Kollegen begrüßt ihn keiner. Er ist nicht sonderlich beliebt. Er will es nicht sein. Er setzt sich auf seinen anonymisierten Arbeitsplatz. Um ihn herum drei beige-graue Gipswände. Ein großer Stapel zu bearbeitender Aufträge wartet schon auf ihn. Zum Glück ist heute schon Freitag. Jaason beginnt den ersten Auftrag in den Computer zu übertragen. Er kann sich kaum konzentrieren. Immer wieder fallen seine Gedanken zurück auf das rote Bild. „Break Free!“

, diese Worte hatte er schon lange nicht mehr gehört. Zuletzt wahrscheinlich zu seiner aktiven Zeit als Demonstrant und Aktivist. Fast jeden zweiten Tag war irgendwo eine Demo. Bis schließlich auch noch nach und nach das Versammlungsrecht eingeschränkt worden war. Wehmütig blickt er auf den Aktenstapel vor ihm, wissend, dass er den pünktlichen Feierabend vergessen kann. Er tippt seine Personalnummer unter den Auftrag. Für seinen Abteilungsleiter besteht Jaason eigentlich nur aus dieser Nummer. Eine weitere Nummer in einer Statistik, die wieder nur aus Nummern besteht. Eigentlich ist jeder nur eine Nummer in irgendeiner Statistik.
Es ist bereits dunkel, als er das Bürogebäude als letzter verlässt. Es ist sogar schon äußerst spät, da seine Gedanke immer wieder zu dem roten Bild und dem Satz „Break Free!“

abgewandert sind. Es ist kalt. Jaasons Atem verwandelt sich in weiße Wölkchen, nur um kurze Zeit wieder zu verschwinden. Mit zitternden Händen zündet er sich eine Zigarette an. Ein Blick auf die Uhr sagt ihm, dass er den letzten Bus bereits verpasst hat. Die Bushaltestelle ist nur schwach beleuchtet. Eine mit roter Farbe gesprühte Faust. Jaason geht darauf zu. Ein Bewegungsmelder aktiviert die zwei Leuchtstoffröhren und die halbkugelförmige Überwachungskamera, an der nun eine rote LED blinkt. Die Faust befindet sich direkt unter dem Schild mit der Aufschrift „Für ihre Sicherheit überwacht.“

und dem Symbol der Regierung. Darunter wieder mit roter Farbe gesprüht der Schriftzug: „All power to the people!“

. Er ist sich sicher, dass das Bild morgens noch nicht dort war. Er greift in die Farbe. Sie ist noch nicht ganz trocken. Jaason blickt sich um, sieht jedoch niemanden. „All power to the people.“

. Der Nachthimmel glimmt in einem hellen gelb-grau, kein Stern ist zu sehen. „All power to the people!“

. Von fern ist eine Polizeisirene zu hören. “All power to the people!”

, die Worte lassen ihn nicht los, wie es schon „Break Free!“ getan hatte. In Gedanken versunken beginnt er seinen Nachhauseweg. Unterwegs trifft er noch dutzende von den roten Bildern, jedes mit einem anderen Text.

„Guten Abend. Es ist der 3. Januar, 22 Uhr. Die Nachrichten: Die Zahl der Todesopfer des Anschlages in der Hauptstadt ist nach oben korrigiert worden, sie liegt nun bei 243. Die Regierung hat zur Wahrung der Sicherheit vorübergehend Ausgangssperren für folgende Personengruppen erteilt: Pakistanis, Ara…“


Jaason hat das Radio abgestellt. Er steht auf, verlässt die Küche Richtung Flur. Er nimmt seinen Parka streift ihn sich über. Dabei fühlt er die Dose roter Farbe, die er heute Nachmittag gekauft hat, in der Innentasche. Draußen regnet es mal wieder. Er zieht sich die Kapuze seiner Jacke tief ins Gesicht. Entschlossen setzt den ersten Fuß nach draußen, in die Nacht. Er lächelt.

"Jene, die grundlegende Freiheit aufgeben würden, um eine geringe vorübergehende Sicherheit zu erwerben, verdienen weder Freiheit noch Sicherheit."

— Benjamin Franklin

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Tag der Veröffentlichung: 17.10.2008

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