Alles fing mit Tränen an
(Wenn Vieles viel zu einfach erscheint,
dann liegt das daran,
dass es ein Märchen ist.)
Denn das Lamm in der Mitte vor dem Thron wird sie weiden
und zu den Quellen führen,
aus denen das Wasser des Lebens strömt,
und Gott wird alle Tränen von ihren Augen abwischen.
(Offb 7,17)
Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen:
Der Tod wird nicht mehr sein,
keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal.
Denn was früher war, ist vergangen.
(Offb 21,4)
Ich verlasse mein Haus und sehe auf der anderen Seite, im Garten, meine Nachbarin. Sie weint.
Langsam gehe ich auf sie zu und frage sie nach dem Grund: „Ist unsere Zeit denn nicht zum Heulen? In allen Bereichen, sogar im Glauben.“ „Da hast Du wohl recht.“ gebe ich ihr zögerlich zur Antwort und denke mir: ‚Aber mit weinen wird auch nichts anders.‘ Aber ich bin von ihrem Kummer so sehr berührt, dass ich schließlich auch zu weinen anfange.
Menschen gehen missbilligend vorbei: „Das ist doch nicht zu glauben. So was tut man doch nicht in aller Öffentlichkeit. Das ist doch Privatsache. Das macht man im stillen Kämmerchen, hinter verschlossener Tür.“
Schließlich kommt eine Person auf uns zu und stellt zwei Gefäße unter unsere Tränen, in denen sie aufgefangen werden. Dann wischt sie uns die Tränen ab und erklärt dazu: „Dass ich euch die Tränen abwische, soll euch Mut und Zuversicht schenken.“ Dann zeigt sie uns den Inhalt der Gefäße. Unsere Tränen sind zu Perlen geworden. Wir staunen und sie fährt fort: „Die Perlen sollen euch zeigen, wie wertvoll eure Tränen sind. Wenn ihr ein offenes Herz habt, dann begießt ihr mit euren Tränen, den Ackerboden eures Herzens. Dann kann die Liebe wachsen und gedeihen. Diese Liebe ist es, die etwas zum Besseren verändern kann.“ Wir stehen noch ganz benommen da, doch sie geht stillschweigend weiter.
„Hast Du das alles verstanden?“ frage ich meine Nachbarin. „Nicht wirklich. Nur soviel, dass wir unsere Perlen verschenken sollen.“ Ich bin erstaunt: „Und an wen?“ Sie überlegt kurz: „Gehen wir einfach gemeinsam los. Dann werden uns schon Menschen begegnen, die unsere Perlen brauchen.“ Ich bin etwas skeptisch, aber trotzdem machen wir uns gemeinsam auf den Weg.
Uns begegnet ein Bettler. Er meint natürlich, dass die Perle, die meine Nachbarin ihm hinreicht, eine billige Imitation ist und wir ihn auf den Arm nehmen wollen. Mürrisch meint er: „Ich brauche keinen billigen Ramsch. Ich brauche Hoffnung.“ In diesen Moment beginnt die Perle zu strahlen und er schaut sie sich genau an. Er kann es kaum glauben: Er sieht in der Perle genau das, was er braucht. Schnell nimmt er die Perle an sich und verschwindet sofort. Scheinbar hat er Angst, die Perle, die ihm jetzt so wertvoll geworden ist, nicht behalten zu dürfen.
Meine Nachbarin und ich sind ganz verwundert und beginnen vor Freude zu weinen. Lächelnd meint sie: „So schnell können wir unsere Perlen gar nicht verschenken, wie wir neue dazu gewinnen.“ Fröhlich gehen wir weiter.
Vor uns spielt eine Kinderschar. Aber es ist trübes Wetter und so will bei ihnen keine rechte Freude aufkommen. Wir schenken jedem von ihnen eine Perle. Plötzlich wird es heller. Jedes Kind kann in seiner Perle die Sonne, in dem schönsten Farben, leuchten sehen. Die Kinder sind begeistert und erfinden sofort ein ganz tolles, neues Spiel. Auch wir sind begeistert und unser Herz ist voll Freude.
Plötzlich hören wir laute Stimmen: Ein älteres Ehepaar streitet miteinander. Wir halten ihnen je eine Perle hin. Sie sind über uns empört, weil wir ihren Streit stören und so fallen sie lautstark über uns her. Nachdem sie sich wieder beruhigt haben, schauen sie sich die Perlen näher an und können darin erkennen, wie sehr sie sich immer noch lieben. Jetzt fällt ihnen das gegenseitige Verzeihen nicht mehr schwer. Dankbar nehmen sie die Perlen an und beschließen, immer wenn sie wieder einmal Streit haben, die beiden Perlen zu tauschen, damit sie an ihre Liebe zueinander erinnert werden.
Kurz darauf begegnet uns ein junger Mann: „Ich liebe meine Freundin. Aber ich weiß nicht, ob ich sie heiraten soll. Ich weiß nicht, ob ich ein guter Ehemann und ein guter Vater sein werde. Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll.“
Ich halte ihm eine Perle hin, er nimmt sie und macht eine dummes Gesicht, weil er nichts damit anzufangen weiß. Plötzlich geht ihm ein Licht auf:
Er hält die Perle an sein Ohr und kann so die Stimme seines Herzens hören.
„Genau so werde ich es machen.“ nimmt er sich vor.
Er bedankt sich herzlich und geht, um seinen Entschluss in die Tat umzusetzen.
Wir hören ein Baby schreien. Als wir uns näheren, steht eine viel zu junge Mutter, total am Ende mit ihren Nerven, völlig hilflos vor dem Kinderwagen.
Meine Nachbarin reicht ihr eine Perle. Sie ist verwirrt, was das bedeuten soll, aber sie nimmt sie an. Nachdem sie sie in Händen hält, geht plötzlich ein Lichtstahl zu ihrem Herzen und einer zum Herzen ihres Kindes. Sie kann jetzt an sich selbst fühlen, wie es ihrem Kind geht, was es braucht und warum es schreit.
Verlegen lächelt sie uns zu: „Er braucht frische Windeln.“ und verschwindet im Haus.
Später haben wir erfahren, dass sie eine vorbildliche Mutter geworden ist und sogar ältere Mütter, die mit ihren Kindern Probleme hatten, sie um Rat fragten und dass sie meistens helfen konnte.
Einige Zeit später kommen wir durch einen finsteren Wald. Räuber überfallen uns. Sie nehmen uns die Perlen weg und sperren uns ein.
Wir untersuchen das Gefängnis sorgfältig, aber es gibt keinen Ausweg.
Die Lage ist trostlos. Wir können nicht einmal weinen.
Wir wissen nicht wie lange wir schon hier sind, als sich plötzlich die Tür öffnet. Wir drücken uns an die gegenüberliegende Wand, weil wir Schlimmes befürchten.
Aber wie staunen wir, als wir erkennen, dass es der Bettler ist, dem wir unsere erste Perle schenkten. Er hält meiner Nachbarin eine Perle hin: „Die kann ich nicht annehmen. Die hat Dir doch Hoffnung geschenkt.“ Der Bettler lächelt: „Das ist nicht die Perle, die Du mir geschenkt hast. Ich habe herausgefunden, wie eure Perlen zu Stande kommen. Das ist eine Perle von mir.“ Freudig nimmt sie meine Begleiterin entgegen und kann nun wieder weinen. Dann schenkt sie mir eine ihrer Perlen, so dass auch ich wieder weinen kann.
„Dann können wir endlich nach Hause gehen.“ freue ich mich. Doch unser Befreier ist anderer Meinung: „Die Räuber werden bald feststellen, dass der Schlüssel fehlt und euch dann verfolgen, weil ihr die einzigen seid, die sie genau beschreiben können. Ihr müsst für eine Weile untertauchen.“ „Wohin sollen wir den gehen?“ frage ich ratlos. Aber sie antwortet, wie immer, frohgemut: „Lass uns einfach losgehen. Das andere wird sich dann schon ergeben.“ Also bedanken wir uns noch einmal herzlich und machten uns auf den Weg.
Wir sind noch nicht lange gegangen, da treffen wir die Kinder, denen wir am Anfang begegnet waren. Eines davon kommt auf uns zu: „Ihr schaut so betrübt aus. Braucht ihr Hilfe?“ Wir erklären ihm, dass wir uns verstecken müssen. Er freut sich darüber sichtlich: „Folgt mir.“ Wir folgen ihm und es bringt uns zu dem alten Paar, das sich wieder versöhnt hat, und erklärt ihnen unsere Lage. Die Alten meinen: „Wir haben eine große Wohnung, da können wir euch schon eine Zeitlang unterbringen.“ Wir nehmen das Angebot dankend an.
Die Zeit vergeht und wir glauben nicht mehr ernsthaft daran, dass uns die Räuber noch suchen. Deshalb verlassen wir ab und zu das Haus für kleine Spaziergänge. Mit der Zeit werden sie immer länger. Dabei begegnen wir den jungen Mann, der eine Entscheidung zu treffen hatte und der Frau mit dem Kinderwagen. Wir schauen etwas verwundert und der Mann erklärt uns: „Nicht was ihr meint. Sie ist meine Schwester.“
Dann schaut er auf seine Perle: „Ich sehe, dass es für euch Zeit ist, nach Hause zu gehen.“ Die junge Frau schaut ebenfalls auf ihre Perle und ergänzt: „Ihr sollt durch den finsteren Wald zurückkehren.“ Wir erschrecken und sie betont noch mal: „Durch den finsteren Wald. Die Perlen irren sich nie!“ Wir widersprechen nicht, bedanken uns und gehen weiter.
Wir kommen zum finsteren Wald und uns ist überhaupt nicht wohl. Heftig diskutieren wir, ob es richtig war diesem Ratschlag zu folgen und erwägen alles Für und Wider. Erst als es dämmrig wird, bemerken wir, dass wir über dem vielen Reden nicht mehr auf den Weg achteten und uns nun total verlaufen haben.
Plötzlich hören wir Geräusche und kurz darauf stehen die Räuber vor uns. Wir können nirgendwohin fliegen und befürchten das Schlimmste.
Ein Räuber stellt fest: „Ihr habt euch wohl verlaufen?“ Schwach nicke ich mit dem Kopf und er fährt fort: „Ihr braucht keine Angst zu haben.“ Ich traue ihm nicht. Doch unbekümmert fährt er fort: „Ihr braucht eine Unterkunft und etwas zum Essen. Folgt uns.“ Was bleibt uns anderes übrig, als seiner Anweisung zu folgen?
Nach einem langen Marsch kommen wir zu einem uralten, aber sehr großem, Haus, das schon fast zerfallen ist und nur notdürftig repariert wurde. Dort weist uns der Räuber zwei Zimmer zu und lädt uns zum Essen ein. Nachdem wir schweigend gegessen haben, frage ich ihn, was denn inzwischen alles passiert sei:
„Nachdem wir euch beraubt hatten, meinten wir nun reiche Leute zu sein. Wir wollten, mit unserem neuen Reichtum, ins Ausland fliehen und gaben jemanden die Anweisung, wenn wir in Sicherheit wären, euch frei zu lassen. Aber niemand wollte uns für die Perlen etwas geben, was all unsere Pläne durcheinander brachte. In der Aufregung vergaßen wir euch und ihr wärt wahrscheinlich verhungert. Aber der Bettler musste uns wohl, schon längere Zeit, beobachtet haben, und klaute uns den Schlüssel.
Nach dieser Enttäuschung, dass die Perlen wertlos seien, legten wir sie in eine Truhe. Aber jeder behielt eine für sich, falls man doch noch jemanden finden würde, der daran Interesse hätte.
Da passierte es: Plötzlich wurde uns bewusst, was wir für Talente und Fähigkeiten besitzen und waren erstaunt, weil wir das gar nicht geahnt hatten. Deshalb beschlossen wir ein neues Leben anzufangen.
Mit unserem ‚Ersparten‘ kauften wir diese Hütte und setzten sie, so weit es uns möglich war, in Stand. Auf der anderen Seite des Hauses ist ein kleiner Laden. Dort verkaufen wir alles Mögliche und auch ein paar selbst erzeugte Produkte. Das Geschäft geht gut und da wir unseren Kunden immer eine Perle schenkten, hatten wir bald viele Stammkunden.
Wir erwischten den Bettler, als er den Schlüssel heimlich zurückbringen wollte. Wir waren ihm dankbar, weil wenn ihr verhungert wärt, dann wären wir zu Mördern geworden. Also stellten wir ihn als Verkäufer ein und er machte seine Sache gut.
Eines Tages erwischten wir eine junge hübsche Frau, die umsonst einkaufen wollte. Wir wussten nicht was wir mit ihr machen sollten. Da empfahl uns unser Verkäufer sie als Verkäuferin einzustellen. Seitdem gingen die Geschäfte noch besser.
Jetzt denken wir daran, den Laden zu vergrößern. Einige Stammkunden sind bereit uns das Geld dafür vor zu schießen. Wenn der Laden weiterhin so gut läuft, dann können wir unsere Schulden bald abbezahlen.
Es ist einfach herrlich nicht immer Angst haben zu müssen, dass man erwischt wird. Auch ist es ganz toll, dass wir unsere Talente und Fähigkeiten jetzt wirklich nutzen können. Wir hätten uns nie träumen lassen, dass wir, eines Tages, noch so glücklich werden könnten.“
Am nächsten Tag gehen wir nach Hause und als wir gemeinsam im Garten stehen, wie ganz am Anfang, freuen wir uns, dass sich unsere Perlen so schnell überall verbreiten und so Vielen helfen ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen.
Wir sind einfach nur glücklich.
Texte: @ MicMam 2021
Tag der Veröffentlichung: 25.04.2021
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für alle, die nicht an der Welt verzweifeln wollen.