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Das Talent

 

Es war einmal ein kleiner Junge, der ganz passabel singen konnte und ein sehr gutes Gehör hatte. Er hörte so gut, dass seine Kameraden meinten, er würde auch Dinge hören, die sonst niemand vernehmen kann.
Als der Küster, der die Gottesdienste am Klavier begleitete, davon erfuhr, ließ er den Jungen zu sich kommen. Er führte ihn zu einem verstimmten Klavier und zeigte ihm, wie man es stimmt. Das gute Gehör von Albert war dabei sehr hilfreich.
Der Junge war davon total begeistert und wollte nun Klavierspielen lernen. Der Küster brachte es ihm bei. In jeder freien Minute übte der Junge, denn er war sehr ehrgeizig. Bald konnte ihm sein Lehrer nichts mehr beibringen.
Als Albert schon fast erwachsen war, hatte sich sein Talent bereits überall herumgesprochen. Deshalb bekam er ein Angebot aus der großen Stadt: Er könne dort Orgelspielen lernen und später einmal Domorganist werden. Von so etwas konnten viele nur träumen.
Aber er lehnte das großzügige Angebot ab, weil er einen Traum hatte: Er wollte ein berühmter Komponist werden. Er wollte seine Zeit nicht damit vergeuden, etwas Neues zu lernen, sondern nur seinem Traum nachjagen.
Mit dem gleichen Eifer, wie er seinerzeit Klavierspielen gelernt hatte, schrieb er jetzt ständig neue Melodien.
Seine Eltern konnten ihn nicht verstehen und meinten, dass es für ihn jetzt an der Zeit sei, sich seinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Seine Kameraden meinten, dass er in die weite Welt ziehen müsse, damit ihn schon viele Menschen kennen würden, ehe er einst berühmt sein würde.
Täglich träumte der Junge nun davon, dass er berühmt sei und überall, wo er schon gewesen war, Gedenktafeln an ihn aufgestellt wurden. Deshalb entschloss er sich, seine Heimat zu verlassen und sein Glück in der ihm noch unbekannten Welt zu suchen.

Die raue Wirklichkeit

 

Bald merkte er, dass das nicht so toll war, wie er sich das in seinen Träumen, vorgestellt hatte. Er musste abends in den Bars und Kneipen spielen, um eine Unterkunft, Essen und die Erlaubnis zu bekommen, das Klavier den ganzen Tag über benutzen zu dürfen. Das Gegröle der Besucher zu den Liedern, die er spielte, taten seinen Ohren weh. Manchmal spielte er auch eigene Lieder. Man fand sie zwar ganz nett, aber begeistert war niemand davon.
Besser war es, wenn er den Tag durch Klavierstimmen überbrücken konnte. Dann hatte er mehr Zeit zum Komponieren.
Aber viele Fragen ließen ihn nicht mehr los: „Warum lasse ich mich auf so ein elendes Leben ein? Muss ich mir nicht eingestehen, dass sich mein Lebenstraum nie erfüllen wird? Liegt es vielleicht daran, dass ich mich für das Leben, wie ich es jetzt führe, nicht begeistern kann? Wie sollen sich dann andere über mich begeistern können?“
Aber er war ein Dickkopf und wollte seinen Traum nicht aufgeben.

Die Unterkunft

 

Eines Tages kam er an einem riesigen, verwilderten Grundstück vorbei. Das Herrenhaus war wohl schon seit langer Zeit am Einfallen. Bald danach erreichte er eine freundlich wirkende Ortschaft und erkundigte sich nach Arbeit. Man ließ ihn auf dem Klavier in der Schule vorspielen und war bereit, ihn anzunehmen. Der Bürgermeister erklärte: „Es gibt hier einige Eltern, die wollen, dass ihre Kinder Klavier spielen lernen. Wir haben hier sogar ein begabtes Mädchen, dass sie im Singen ausbilden könnten. Aber wir haben keine Unterkunft für Sie. Es gibt hier kein leerstehendes Haus und keine Familie, die einen Fremden aufnehmen würde.“
„Ihr Angebot würde ich gerne annehmen. Das Gärtnerhaus, da draußen bei dem fast eingefallenen Haus, schien noch halbwegs in Ordnung. Kann ich nicht da wohnen?“
Der Bürgermeister erschrak: „Was sie gesehen haben, ist ein Geisterhaus. Jeder hält sich, besonders nachts, so weit wie möglich davon fern. Auch in großer Entfernung hört man nachts Geräusche, auch wenn man sie nicht deuten kann. Irgendwann haben die Besitzer das Haus verlassen und nur die Dienstboten zurückgelassen. Nach vielen Jahren haben auch die das Anwesen verlassen.
Man munkelt, dass sie einen aus der Familie zurückgelassen haben, weil er verrückt war. Der soll so einen Hass auf seine Familie gehabt haben, dass er nicht zur Ruhe und zum Frieden fand. Deswegen geistert er da noch herum.
Tatsache ist, dass das Haus baufällig ist und wegen Einsturzgefahr nicht betreten werden darf. Alle Türen sind fest verschlossen.“
„Geräusche in Häusern, besonders in der Nacht, sind doch ganz normal. Besonders in so einem alten Haus. Also davor fürchte ich mich nicht. Kann ich die Gärtnerwohnung haben?“
„Wenn sie das so sehen, können wir sie sicherlich herrichten, damit Sie ein gemütliches Schlafzimmer und ein wohnliches Esszimmer haben. Wenn Sie unser Musiklehrer werden, helfen ihnen viele Leute sicherlich gern dabei.“
Schon bald fühlte sich der junge Mann hier ganz zu Hause und hatte endlich eine feste Anstellung.
„Endlich mal ein Fortschritt in meinem Leben“, überlegte er sich, „Jetzt kann ich mich noch mehr aufs Komponieren konzentrieren.“

Der erste Erfolg

 

Viele seiner Schüler strapazierten sein Gehör und so musste er viel leiden. Aber an seiner talentierten Gesangsschülerin hatte er sehr viel Freude. Durch sein feines Gehör konnte er sie optimal ausbilden. Auch sie hatte einen Lebenstraum wie er: Sie wollte eine berühmte Sängerin werden und ihre Texte selbst schreiben.
Seit er diese Freude verspürte, wurden seine Kompositionen immer besser. Seine Schülerin nahm das zum freudigen Anlass, dazu Texte zu schreiben, was ihr sehr gut gelang.
Plötzlich konnten sich die Menschen für diese Melodien und Texte begeistern. Vor Ort und in den Nachbardörfern gab es keine Feier mehr ohne diese Lieder. Es war für die beiden einfach toll, dass sie Menschen begeistern konnten. Aber der junge Mann musste sich eingestehen, dass er es allein nicht geschafft hätte. So erkannte er, dass man sich oft helfen lassen muss, wenn man einen Traum verwirklichen will. Er war aber gar nicht neidisch, dass er seinen Ruhm teilen musste. Dazu fiel ihm das Sprichwort ein: Geteilte Freude ist doppelte Freude. Genauso empfand er es.
Diese Zeit war einfach herrlich. Aber das war den beiden natürlich noch nicht genug.

Was ist geschehen?

 

Über der vielen Arbeit, die Gärtnerwohnung herzurichten, dem Unterricht und vielem anderen, war er jeden Tag so müde, dass er so fest schlief, dass er nicht einmal gehört hätte, wenn eine Kanone in seiner Umgebung losgegangen wäre. So hörte er auch nichts von dem angeblich geisterhaften Treiben im Nebengebäude.
Eines Tages gönnte er sich einen freien Tag. Er machte einen langen Spaziergang und versuchte alles zu vergessen, was ihm natürlich nicht gelang. Immer intensiver musste er an seine Zukunft denken: Sollte er hier in aller Abgeschiedenheit bleiben? Konnte man hier überhaupt berühmt werden? Aber eigentlich wollte er hier nicht weg. Es war seine neue Heimat, in der er sich wohl fühlte.
Diesmal hatte er nur einen leichten Schlaf und mitten in der Nacht erwachte er, weil er ein Geräusch hörte. Es kam von draußen. Er öffnete ein Fenster. Da tönte vom Herrenhaus her Klaviermusik. Es waren viel schönere Melodien, als er sie jemals gehört hatte. Andächtig lauschte er der Musik, bis sie verstummte. Er ließ sich die Melodien noch mal durch den Kopf gehen und schlief dabei wieder ein.

 

 

 


Als er erwachte, kam er ins Grübeln: „Ich habe das so lebendig erlebt, als wenn es wirklich geschehen wäre. Aber das kann nicht sein. Niemand kommt in das Haus hinein und wenn da noch ein Klavier stünde, könnte man schon lange nicht mehr darauf spielen. Ist es möglich, dass mein Unterbewusstsein endlich die Melodie meines Lebens entdeckt hat und sie mir durch Träume offenbart? So muss es wohl sein.

Endlich ist es so weit

 

Als er dann wieder an seinem Klavier saß, versuchte er die Melodien nachzuspielen. Aber es gelang ihm nicht: Es waren zu viele und sie waren zu fremdartig.
Er war darüber schockiert und hoffte diese Melodien noch oft zu hören. Er musste versuchen, sie langsam nach und nach zu lernen. Er wollte sich auch etwas zum Schreiben bereitlegen, um sich notieren zu können, was ihm helfen würde, sich zu erinnern.
Da er diese Melodien jetzt wirklich jede Nacht hörte, war er nach langer Zeit in der Lage die erste zu spielen und niederzuschreiben. Begeistert machte sich seine Schülerin daran Texte dazu zu verfassen.
Das Eigenartige war, dass er die Melodien genau richtig auf dem Klavier spielen konnte, sie ihm aber trotzdem nachts mehr zu Herzen gingen.
Es dauerte fast noch zwei Jahre, bis er alle Melodien festhalten konnte. Er hatte nicht erlaubt, dass seine Melodien und die Texte dazu veröffentlicht wurden. Jetzt hatte er alles beisammen und jetzt war es die richtige Zeit, diese Lieder bekannt zu machen.
Bald sang man sie überall im ganzen Märchenland.

Am Ziel?

 

Kurze Zeit später stürzte das Herrenhaus endgültig ein. Der jetzige Besitzer des Anwesens meldete sich und war bereit den Schutt beseitigen zu lassen, alles wieder herzurichten und die riesige Anlage für Freiluftkonzerte kostenlos zu Verfügung zu stellen. Alle jubelten und schon bald fand dort ein vierzehntägiges Festival statt. Die neuen Melodien, die um die ganze Welt gingen, waren natürlich der Mittelpunkt, sowie Albert mit seiner Schülerin. Alle waren sie glücklich.
Wie groß war sein Erstaunen, dass sich jetzt die Melodien so anhörten, wie er sie nachts immer gehört hatte, also viel schöner, als er sie am Klavier spielen konnte.

Nach dem Fest lud der jetzige Besitzer den Komponisten für ein Wochenende zu sich ein. Er lebte in einem prächtigen Haus, mit einem eigenen See. An einem gemütlichen Abend fragte Albert ihn:
„Stimmt das eigentlich alles, was man sich von diesem Haus erzählt?“
„Ja, einer meiner Vorfahren war ein begnadeter Musiker. Nur alle anderen verstanden nichts von Musik. Musik spielen die Angestellten und nicht wir selbst, war ihre Meinung. Und wenn schon, dann nur intern.
Mit eigener Musik an die Öffentlichkeit zu gehen, das wäre im höchsten Maß peinlich, meinten sie. Doch das Genie war ein Sturkopf und bildete sich ein, dass er seine Melodien für die ganze Welt geschrieben hätte und man sie ihr nicht vorenthalten dürfe. Dieser Gedanke trieb ihn schließlich in den Wahnsinn, weil dies mit allen Mitteln verhindert wurde. Deswegen zogen meine Vorfahren aus und ließen ihn mit dem Personal zurück, bis er starb.
Ich glaube, dass er seine Melodien so oft gespielt hat, dass sie die ganze Atmosphäre in der Umgebung erfüllten und dass Sie in der Lage waren, diese Fülle im Herzen aufzunehmen. Das ist auch der Grund, dass auf diesem Grundstück die Melodien viel tiefer eindringen, als anderswo.
Da die Melodien jetzt auf der ganzen Welt bekannt sind, ist der Wunsch meines Vorfahren erfüllt und er wird jetzt wohl endlich seine Ruhe gefunden haben. Ihnen setze ich dafür für den Rest ihres Lebens eine Pension aus, mit der sie sich alles leisten können, was sie wollen.“
Da staunte der Gast nicht schlecht und wusste überhaupt nicht mehr, was er glauben sollte.


Ein ruhiger Lebensabend

 

Albert war zwar ein sehr guter Klavierspieler, aber für die Begleitung eines Weltstars reichte es doch nicht. So konnte er seine einstige Schülerin nicht in alle Welt begleiten.
Aber inzwischen war ihm klar geworden, dass er den Rummel eigentlich gar nicht liebte. Er sah ein, dass er der Welt etwas schenken wollte, aber nicht, wie er in seiner Jugend dachte, dass er berühmt und überall bekannt werden wollte. Er genoss es, keinen Klavierunterricht mehr geben zu müssen.
Bald fand er ein neues Gesangstalent. Mit ihr trugen sie bei allen Feierlichkeiten, nah und fern, seine alten Kompositionen mit den Texten, der inzwischen weltweit berühmten Sängerin vor. Es war so herrlich, wie in den alten Tagen, als er seinen ersten Erfolg hatte.
Bis zu seinem Tod bewohnte er das Gärtnerhaus und war glücklich und zufrieden, aber er hat nie wieder etwas komponiert.

Impressum

Texte: ©MicMam 2021
Bildmaterialien: O. O.
Tag der Veröffentlichung: 01.08.2022

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle deren Lebensziel es ist, Zufriedenheit zu erlangen.

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