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Der Weg der Toten




Otto hatte einen schweren Unfall. Wie durch ein Wunder blieb er unversehrt. Aber seit dem war er von panischer Angst befallen, was wohl passiert wäre, wenn er wirklich vor das Angesicht Gottes hätte treten müssen. Es war schrecklich für mich, weil er nicht mehr wirklich erreichbar war. Eines Tages zeigte er mir folgende Geschichte, die er geschrieben hatte:

Nachdem sich das Wetter eine ganze Woche nur von der schönsten Seite gezeigt hatte, begann sich der Himmel drohend zusammenzuziehen. Schon nach kurzer Zeit war es so dunkel, dass der Assistenzarzt des Krankenhauses das Licht in Zimmer 314 anzünden musste. Soeben hatte ihn der Priester herein gerufen, der dem sterbenden Patienten die letzte Ölung gespendet hatte. Kurz darauf verließ der Geistliche das Zimmer und der Kranke forderte auch den Arzt auf, ihn allein zu lassen. Doch dieser zögerte: „Sollte nicht wenigstens in ihrer letzten Stunde jemand bei Ihnen sein?“ Jedoch lächelnd antwortete der Sterbende: „In spätestens einer Stunde bin ich bei Gott. Ich habe immer nach seinen Willen gelebt und kann mir des Himmels sicher sein. Also gehen Sie ruhig.“ Der Arzt fixierte seinen Patienten noch einmal genau und da er keine Spur von Angst in seinen Zügen erkennen konnte, kam er dem letzten Wunsch des Patienten nach und ließ ihn allein. Ganz ruhig als ob er schlafen würde starb der Patient.
Auf einmal erwachte er wieder. Wo war er? Alles war so fremd. Er stand am Anfang eines schmalen Weges der immer geradeaus verlief und ins Unendliche zu führen schien. Rechts und links des Weges sah er, weit verstreut, einzelne mächtig hohe Bäume im schönsten Laub. Von dem Weg bogen viele kleinere und größere Straßen ab. Sie waren alle viel besser ausgebaut als der steinige und holprige Weg vor dem er stand. Der Rest der Landschaft war eine einzige im saftigsten Grün blühende Wiese. Tiere und Menschen konnte er nirgends erblicken. Verwundert ging er einige Schritte, bis er auf dem Weg stand. Aber wer beschreibt sein Erstaunen? Er spürte nicht wie er seine Füße auf den Boden aufsetzte. Jetzt fiel es ihm erst auf: Er spürte nichts und hörte nichts. Er wollte sich schlagen, um dies nochmal zu überprüfen, aber seine Hand ging durch sein Gesicht. Er probierte das gleiche mit einem Busch, der am Wegrand stand, aber wiederum schlug er nur durch die Luft. Was er sah, gab es also gar nicht? Bildete er sich denn wirklich alles nur ein? Jetzt wollte er zu dem nächsten Baum gehen, um zu sehen, wie er sich bewegen könne. Doch kaum hatte er den Weg verlassen, wurde es ihm schwarz vor den Augen und plötzlich war er im Nichts. Ein Gefühl der Angst überkam ihn. Plötzlich lag er wieder in seinem Krankenbett, erlebte die letzten Sekunden seines Lebens noch einmal und stand dann wieder vor dem engen schmutzigen Weg. Doch jetzt erkannte er mit einem Mal: Das ist der schmale Weg der zu Gott führt, die Seitenwege sind Umwege und Irrwege, die ich nicht gehen will. Auch darf ich nie wieder den Weg verlassen, denn dies führt ins Nichts und nochmals gibt es keinen Beginn. Nun beschloss er, den Weg, der ihn noch von seinem Ziel trennte zu gehen. Jedoch die Länge des Weges bedrückte ihn auf eigenartige Weise. Aber er sagte sich: „Ich habe mein ganzes Leben gottesfürchtig gelebt, also kann mich das letzte Stück auch nicht mehr erschüttern. Da ich ohne Sünde gelebt habe, werde ich wohl keine Umwege gehen müssen und schnell am Ziel sein.“ Nach diesen Gedanken machte er sich frohen Mutes auf den Weg. Und wieder kam es ihm zum Bewusstsein, wie eigenartig es war nichts zu hören und nichts zu spüren. Der Weg war sehr lang, doch er wurde nicht müde, obwohl er ziemlich steil nach oben verlief. Da erkannte er, dass die Steigungen des Weges die Mühsale in seinem Leben waren, die er für den Glauben ausgestanden hatte. Aber wie leicht war dieser Weg zu gehen im Vergleich zu dem, was von ihm im Leben gefordert worden war. An besonders steilen Stellen erinnerte er sich manchmal an den Lebensabschnitt den sie versinnbildlichten. Er freute sich, wie zügig er den Weg abschritt, denn die ersten neun Jahre hatte er schon geschafft. Da wurde der Weg auf einmal eben und kurz darauf stand er vor einer Mauer. Ein Weg ging links ab. „Soll ich diesen Umweg gehen? Was hab ich denn getan, dass mir der kürzeste Weg versperrt wird?“ so fragte sich der Tote. Doch dann ging er auf die Wand zu, um festzustellen, ob er durch sie hindurchgehen könne. Er war nur noch einen Schritt von ihr entfernt, als sie plötzlich vor seinen Augen zu verschwimmen begann. Er konnte nichts mehr deutlich erkennen, alles begann zu kreisen und dann war es mit einem Male dunkel um ihn.
Doch gleich darauf wurde es wieder hell und er sah das Haus seiner Eltern. Er erblickte in dem Haus seine Eltern und sich als kleinen Jungen. Seine Mutter las ihm gerade eine Missionsgeschichte vor, die ihn sehr begeisterte. Im nächsten Augenblick stand er im Sonntagsanzug da. Seine Eltern waren verreist. Wohlgemut begab er sich zur Kirche. Doch unterwegs begegnete er seinem Kameraden Tom. Dieser hielt ihn auf: „Wohin gehst Du?“ „Zur Kirche! Kommst Du mit?“ „Bist Du verrückt? Das ist doch alles nur Unsinn, komm lieber mit mir.“ Da packte ihn ein unheimlicher Zorn, denn er war sehr christlich erzogen. Sein Gesicht wurde vor Empörung feuerrot. Drohend fragte er: „Willst Du etwa behaupten, es gibt keinen Gott?“ „Hast Du ihn vielleicht schon mal gesehen?“ spottete der andere. Doch ehe er sich versah hatte er eine Ohrfeige im Gesicht, so dass er ins Schwanken kam. „Gibt es nun einen Gott oder nicht?“ schrie ihn sein Gegenüber zornentbrannt an. Der Befragte wich einige Schritte zurück, ging in Abwehrstellung und ballte die Fäuste. Dann brüllte er: „Nein, nur Idioten glauben an so einen Blödsinn!“ Da sprang sein Gegner auf ihn zu, die Faustschläge die er bekam nicht beachtend, und es entstand eine wilde Rauferei. Zuerst sah es so aus, als ob der Verteidiger die Schlacht gewinnen würde, denn er kämpfte überlegter. Aber schließlich unterlag er dem anderen doch, der mit blinder Wut auf ihn einschlug und immer wieder schrie: „Gibt es einen Gott? Gibt es einen Gott? ...“ Nun blieb Tom, da er schon überall blutete und seinen linken Arm vor lauter Schmerz kaum mehr heben konnte, nichts anderes übrig, als erschöpft zu keuchen: „Ja, es gibt ihn.“ Er musste es noch mehrere Male laut wiederholen ehe der andere von ihm abließ. Mit zerfetzten Kleidern und zerschundenen Körper, aber Stolz, diesen Gotteslästerer von der Wahrheit überzeugt zu haben, ging der Junge nach Hause, machte sich wieder für den Kirchgang zurecht und besuchte die nächste Messe.
Doch dann lag da auf einmal wieder der stark blutende Gegner am Boden. Sein Anblick war Mitleid erregend. Mühsam richtete er sich auf, betastete einige wunde Stellen und schrie vor Schmerz laut auf. Langsam humpelte er fort. Noch lange Zeit wurde er von sehr starken Schmerzen geplagt. Aber auch nachdem er diese, nach knapp zwei Monaten, kaum mehr spürte, ging er seinem Gegner sorgsam aus dem Weg und so sahen sie sich nie wieder. Als Tom einige Zeit später, wieder an einem Sonntag von einem anderen Klassenkameraden gefragt wurde, ob er die Messe besuchen würde, ergriff er in panischer Angst die Flucht. Es vergingen Monate und Jahre. Inzwischen war Tom erwachsen geworden. Er war in eine andere Stadt gezogen und war nun in einer Umgebung, wo man Gott nicht kannte. Jedoch freundete er sich eines Tage mit einem Arbeitskollegen an, dem die Religion noch etwas bedeutete. Er sprach jedoch niemals davon. Eines Tages lud sein neuer Freund ihn zu sich nach Hause ein. Tom folgte der Einladung sehr gern und so saßen sie gemütlich bei einem Abendessen zusammen. Der Gastgeber zeigte ihm anschließend seine Waffensammlung und so ganz nebenbei fragte er: „Glaubst Du eigentlich an Gott?“ Der Gast wurde totenbleich, schrie wie in Todesangst, fiel über seinen Gastgeber her und erwürgte ihn. Dann brach er hilflos zusammen. So fand ihn schließlich auch die Polizei. Da der Fall ganz eindeutig lag, war die Gerichtsverhandlung schon sehr bald. Der Angeklagte beteuerte immer wieder in Notwehr gehandelt zu haben und dass ihn sein Gastgeber gewiss im nächsten Moment mit einer der Waffen, die an der Wand hingen, getötet hätte. Dem Rechtsanwalt blieb nichts anderes übrig, als auf nicht zurechnungsfähig zu plädieren. Der Angeklagte wurde von einigen Ärzten untersucht, doch sie erklärten ihn für völlig normal. Deshalb wurde er zu lebenslänglichem Gefängnis wegen vorsätzlichen Mordes verurteilt. Der Angeklagte war völlig verzweifelt. Ein halben Jahr später nahm er sich in der Zelle das Leben.
Da stieg wieder Nebel auf und es wurde abermals dunkel um ihn und als er wieder alles klar erkennen konnte stand er auf dem schmalen Weg und neben sich sah er die Abzweigung, doch die Mauer war verschwunden, der Weg war frei. Er hatte also die Wahl, wo er gehen wollte. Da warf er sich zu Boden und faltete die Hände: „Herr, wegen dieser Tat soll ich den Umweg gehen? Ich kann Dich nicht verstehen. Ich hatte doch die beste Absicht. Mir tut es ja schrecklich leid, dass es so gekommen ist, aber ich konnte die Folgen doch nicht voraussehen. Ich bin mir wirklich keiner Schuld bewusst, aber wenn es Dein Wille ist, so will ich es tun.“ Er richtete sich nun wieder auf und schritt die Abzweigung entlang. Aber aus seinem Inneren kam immer wieder das Gefühl hoch, als wäre ihm Unrecht geschehen. Dauernd ertappte er sich dabei, dass er Gott Vorwürfe wegen des Umweges machte. Desto mehr er jedoch versuchte dieses Gefühl zu unterdrücken, desto stärker kam es in ihm auf. So wurde er ganz unwillig über sich selbst. Das Weitergehen bereitete ihm nur noch halb so viel Freude wie zuerst und er beeilte sich, um möglichst bald wieder auf den richtigen Weg zu kommen. Doch je schneller er lief, um so drückender belastete der Weg sein Gemüt. Fast wollte er schon verzweifeln, doch plötzlich überkam es ihn: Er blieb stehen und betete und wirklich seine Sinne wurden wieder fröhlicher und er konnte fast unbeschwert weiter marschieren. Bald wich auch noch der letzte Rest von Betrübnis, denn er bemerkte, dass der Seitenweg stark bergan führte. Schon bald war er wieder mit sich und mit Gott zufrieden und hatte nur noch sein Ziel im Sinn. Da erspähte er zu seiner großen Freude das erste Tier in dieser Umgebung. Es war eine weiße Taube, die genau in die Richtung flog, die er zu gehen hatte. Doch zu seinem großen Bedauern entzog sie sich bald seiner Sicht. Wiederum gab es weder Mensch noch Tier. Wieder war er ganz allein. Als sein Blick, der noch immer sehnsüchtig dem Vogel nachsah, sich wieder zur Erde senkte, gewahrte er den alten Pfad, der geradewegs zum Ziel führte. „So, nun gibt es keine Abweichung mehr vom Weg.“ freute sich der Wanderer. „Mein zwölftes Lebensjahr kann jetzt nicht mehr all zu fern sein, doch wie sehne ich mich danach ins hohe Alter zu kommen und dann endlich zu Gott.“
Doch da wurde der Weg wieder eben und er blieb entsetzt stehen. „Jetzt gibt es doch wirklich nichts mehr, was man mir noch im Entferntesten vorwerfen könnte. Oder willst Du mich etwa für mein gutes Leben bestrafen?“ Er dachte einige Zeit nach, wessen er jetzt noch beschuldigt werden könne, aber er hatte ein reines Gewissen und wusste sich wirklich nichts vorzuwerfen. Über diesen Gedanken stieg in ihm großer Ärger auf und er ging langsam weiter. Tatsächlich hier war schon wieder eine Mauer. Er blieb stehen, besann sich und schluckte seinen Ärger so gut er konnte hinunter. Er wollte demütig sein und konnte sich auch dazu zwingen. Er kniete sich auf die Erde und hielt die Hände vors Gesicht.
Wieder tauchte sein Elternhaus vor ihm auf. Seine Mutter saß leichenblass mit Weinkrämpfen am Küchentisch. Sein Vater versuchte vergebens sie zu beruhigen. Er wusste schon nicht mehr, was er noch tun solle, als die Küchentür sich öffnete und die Nachbarin das Zimmer betrat. „Kümmern Sie sich bitte um meine Frau,“ bat der Vater mit kaum vernehmlicher Stimme „ich werde weiter nach dem Jungen suchen.“ Danach verließ er fast fluchtartig die Wohnung. Einige Minuten später bekam seine Frau einen Ohnmachtsanfall. Die Nachbarin war zuerst so verwirrt, dass sie nur hilflos in der Wohnung umher sprang. Erst nach einer viertel Stunde eilte sie, so schnell sie ihre alten Füße trugen, zum Arzt.
Dies ereignete sich am Nachmittag, doch plötzlich war es dunkel und er sah seinen Vater und sich vor einer Kapelle, die weit außerhalb der Stadt lag, und er hörte sich auf die Frage seines Vaters, nach seinem Verbleib, stolz und selbstbewusst antworten: „Wusstet ihr denn nicht, dass ich in dem sein musste, was meines Vaters ist?“ Erst jetzt, so viele Jahre danach, fiel ihm das ernste und traurige Gesicht des Vaters auf, als er jetzt ganz langsam, fast zögernd, fragte: „Bist Du den Jesus?“
Es war schon fast Morgen, der Arzt war immer noch bei seiner Mutter. Doch er wusste nichts davon, denn der Vater hatte ihn, ohne ihm irgendeinen Vorwurf zu machen, zu Bett gebracht. Nun fragte der Vater mit bebender Stimme, weil er das Schlimmste befürchtete, den Arzt: „Wie geht es meiner Frau?“ Dieser antwortete bedächtig: „Sie wissen, dass ihre Frau schwer krank ist. Diesmal wird sie es noch überleben. Aber sie hat sich so aufgeregt, dass sie gewiss einige Jahre früher sterben wird.“ „Dabei war sie immer so tapfer und hatte sich nie etwas anmerken lassen.“ gab der Vater im niedergeschlagenen Ton von sich und es standen ihm Tränen in den Augen, obwohl er ein harter Mann war, der schon manches schwere Schicksal gemeistert hatte.
Sein Sohn sprang nun aus seiner knienden Haltung auf: „Ich bin nicht schuld! Ich bin nicht schuld! Ich kann nichts dafür!“ brüllte er wie ein Wahnsinniger. Doch er vernahm keinen Laut. Dem zum Trotz schrie er weiter: „Ich wollte meinen Eltern doch nur eine Freude machen und ihnen beweisen, wie nahe ich Dir bin. Musst Du mich denn mit jeder Tat, auf die ich stolz bin, zum Mörder machen? Ich bin nicht schuld!“ Dann gab er einen letzten Seufzer von sich: „Grausamer Gott!“ warf sich zu Boden und kam dort langsam wieder zur Besinnung. Eine geraume Weile war er ganz ruhig und in sich gekehrt.
Dann sprach er mit ruhiger Stimme: „Herr, ich verstehe Dich nicht, so sehr ich mich auch darum bemühe. Mir gelingt es mit dem besten Willen nicht mich schuldig zu fühlen am frühen Tod meiner Mutter. Ich wollte es schließlich nicht und hatte nur die beste Absicht. Aber Du hast mich unsicher gemacht und ich weiß nicht mehr, ob ich wirklich frei von Schuld bin. Aber ich kann sie nicht einsehen und deshalb nicht bereuen. Vergib mir bitte trotzdem, wenn etwas Unrecht war. Auf jedem Fall will ich Deinem Willen gehorchen und die Abzweigung gehen, auch wenn es mir sehr schwer fällt.
Von schweren Zweifeln geplagt, ob er etwa nur zu verstockt sei, um seine Schuld einzusehen, oder ob er wirklich frei von ihr sei, setzte er den unterbrochenen Weg wieder fort. Er dachte über das Problem sehr genau und seht gewissenhaft nach, und kam zu dem Schluss, dass er wirklich kein Schuldgefühl habe, dass er also nicht für die Tat verantwortlich gemacht werden könne, weil es ihm unmöglich war zu begreifen, was daran falsch gewesen sei. Auch kam ihm dabei in den Sinn, dass geschrieben steht, dass dem, der das Gesetz nicht kennt, also auf ihn übertragen, die Schuld nicht erkennen kann, wenig Schläge treffen werden, im Gegensatz zu dem, der das Selbe tut, aber das Gesetz kennt, also in der Lage ist seine Schuld zu erkennen, denn ihm werden viele Schläge angedroht. Als er diese Gedanken zu Ende gedacht hatte, erblickte er wieder die weiße Taube und er wusste, dass er bald wieder auf den richtigen Weg kommen würde – und wirklich, nach wenigen Schritten hatte er ihn erreicht. Dankend erhob er seine Augen nach oben und sprach: „Herr, ich danke Dir, dass mir dieser Umweg so kurz geworden ist und ich nun wieder auf dem richtigen Weg angekommen bin. Ich hoffe, dass ich jetzt möglichst schnell zu Dir finde. Es steht in Deiner Macht. Hilf mir bitte Herr, dass ich bald bei Dir bin. Die Ferne von Dir wird mir zur Qual. Ich wage es leider nicht mehr zu behaupten, es käme keine Mauer mehr, aber Herr ich bitte Dich, verschone mich davor, ich habe einfach die Kraft nicht mehr, noch einen Umweg zu gehen. Habe Erbarmen mit mir!“ Doch gleich darauf setzte er, seine ganze Glaubenskraft sammelnd, hinzu: „Nicht mein Wille geschehe, sondern der Deine.“ Kaum hatte er diese Worten von den Lippen gebracht, da spürte er es bereits, dass nicht seine Bitte, sondern letzteres geschehen werde. Fast war er neugierig, was es in seinem Leben noch alles geben sollte, was er nicht richtig gemacht hätte. Doch wenn er der Umwege gedachte, wurde ihm sehr bang. Sie kosteten ihm zwar keine körperliche Kraft, aber er fühlte sich jedes Mal von Gott zur Seite gestoßen und das setzte ihm schrecklich zu.
Und wirklich, hier war schon wieder so eine verhasste Mauer. Er trat mit wütenden und energischen Schritten vor sie hin und schloss die Augen: Er war jetzt schon ein junger Mann und unabhängig. Er ging gerade mit seiner Freundin spazieren. Es war die erste und letzte seines Lebens gewesen und wieder fühlte er es: Er was so unheimlich glücklich und zufrieden. Dieses Gefühl hatte er ein Leben lang wieder gesucht, doch nie mehr gefunden. Viele Wochen vergingen. Die fröhliche Zeit war zu Ende, sei stritten sich. Dabei hatten sie schon die Heirat geplant gehabt. Aber da hatten sie entdeckt, dass sie über gewisse Dinge doch eine sehr unterschiedliche Meinung hatten. Er hatte sich seine Frau als Haushaltssklavin vorgestellt, die dem Mann Untertan zu sein hatte. Ihre Vorstellung ging aber mehr in Richtung Gleichberechtigung. Darüber kam es zum großen Bruch. Doch das Ungeheuerlichste geschah erst einen Monat später. Als er wieder einmal verbittert durch die Straßen ging, begegnete er seiner ehemaligen Freundin, die er jetzt als ein treuloses, hinterlistiges Frauenzimmer betrachtete, mit seinem besten Freund. Sein Gesicht lief krebsrot an und spiegelte stärksten Zorn. Er überwand sich noch und grüßte seinen Freund kurz, dessen Begleitperson würdigte er sowieso keines Blickes, und eilte dann schleunigst davon. Von nun an ging er seinem Freund sorgsam aus dem Weg.
Diesem fiel das natürlich auf und er konnte ihn nach viel Mühe stellen. Er fragte ihn: „Warum gehst Du mir aus den Weg? Bist Du mir bös, dass ich jetzt Deine Freundin habe?“ „Aber ich gehe Dir doch gar nicht aus dem Weg, wenn Du allein bist, nur sonst, weil ich euch nicht stören will. Ich weiß doch, dass es eine Frau nicht gern hat, wenn ein Dritter dabei ist“, war die Antwort. Trotzdem fragte der Freund, der das nicht für die Wahrheit hielt, noch einmal: „Bist Du mir wirklich nicht bös?“ Wieder erhielt er eine ausweichende Antwort: „Ich habe doch keinen Grund dazu, Du hast mir doch nichts getan.“ Nachdem der Freund sah, dass alles keinen Wert hatte, machte er sich wieder auf den Weg. Doch die Sache ließ ihm keine Ruhe. Er wusste genau, dass ihm der Freund nur der Braut wegen bös war. Einige Monate später heiratete er sie. Nochmals bemühte er sich vergebens um eine erfolgreiche Aussprache. Solange ihn sein Freund so schnitt, konnte er mit seiner Frau einfach nicht so richtig glücklich werden. Deshalb versuchte er es ein halbes Jahr später noch einmal mit seinem ehemaligen Freund ins Reine zu kommen. Dieser wies ihn mit einer so brutalen Freundlichkeit ab, dass er total niedergeschlagen war. Er konnte diesen Bruch einfach nicht überwinden. Zur großen Freude seines ehemaligen Freundes ging die Ehe daraufhin in die Brüche. Der verzweifelte Gatte meldete sich, da er nicht mehr wusste, was er tun sollte und was das Leben für ihn noch für einen Sinn haben könne, bei der Fremdenlegion und galt kurz darauf als verschollen.
Wieder war alles schwarz, wieder sah er sich auf dem Weg und wieder war die Mauer verschwunden. Zu seinem eigenen Erstaunen hatte sein Zorn nachgelassen. Er fuhr nicht mehr wie ein Wilder auf. Nachdenklich nahm er die Hände vor die Augen und ein ganz eigenartiges Gefühl überkam ihn. Er spürte es ganz deutlich, dass er hier etwas falsch gemacht hatte. Bisher war er sich immer überzeugt gewesen, alles richtig gemacht zu haben, und dieses wirkliche, nicht künstlich erzeugte, Schuldgefühl verspürte er jetzt zum ersten Mal. Doch war er noch nicht in der Lage einzusehen, worin die Schuld bestand; aber siehe da, desto intensiver er darüber nachdachte, desto deutlicher wurde es ihm. Schließlich kam er, ebenfalls zum ersten Mal in seinem Leben, zur Einsicht und konnte plötzlich seine Fehler begreifen. Am liebsten hätte er sich in die Erde verkrochen, so schämte er sich. Doch da er das nicht konnte, warf er sich zu Boden und betete sehr lange Zeit. Dann wollte er endlich weitergehen, mehr den je bestrebt sein Ziel zu erreichen. Er war jedoch total erschöpft, wenn auch nicht körperlich, da er ja nichts spürte, so dass er sich außer Stande sah, den Umweg, der ihm angeboten worden war, zu nehmen.
So ging er zum ersten Mal den Weg gerade aus, obwohl er genau wusste, dass der Umweg für ihn bestimmt sei. Aber so sehr er sich auch zusammengerissen hatte, er hatte sich nicht für den längeren Weg entscheiden können. Sein Geist war einfach zu müde dafür. Zu seinem großen Erstaunen und zu seiner großen Freude ging anfangs alles gut, nur etwas Nebel kam auf. Schon dachte er, dass Gott Einsicht gehabt hätte und ihm den kleineren Weg zugestehen würde, mit nur einer kleinen Erschwerung durch den Nebel. Doch dieser wurde immer dichter und dichter, so dass der Tote kaum mehr seine Fuße sehen konnte. Da überkam ihn eine unheimliche Angst vor dieser Einsamkeit, die ihn jetzt mit aller Härte bewusst wurde. Doch was sah er da. Er glaubte seinen Augen kaum. Ein Mann kam aus dem Nebel. Ihm wurde klar, dass dieser Mensch, den ersten, den er seit seinem Tod gesehen hatte, sehr fromm gewesen war, dass er ihm aber trotzdem nicht helfen dürfe. Doch der Mann beachtete dies nicht. Er sah den Hilflosen stehen und winkt ihm, dass er ihm folgen solle. Neue Hoffnung schöpfend folgte dieser sofort. Er musste sehr schnell gehen, um seinen Führer folgen zu können. Doch selbst dazu fehlte ihm die Kraft und bald verlor er seinen Vordermann aus den Augen und wieder war er allein. Die Angst vor Einsamkeit und Verlassenheit überkam ihn wieder. Doch sie war jetzt, nachdem er wieder einen Menschen gesehen hatte, viel schlimmer als zuvor. Er verfiel in panische Angst, drehte sich um und rannte mit ungeheurer Geschwindigkeit zurück. Eigenartigerweise hinderte ihn in dieser Richtung kein Nebel. Als er die Kreuzung erreicht hatte, brach er zusammen. Ein Fluch lag ihm auf den Lippen, doch er beherrschte sich und betete, dass ihm Gott die Kraft geben möge weiter zu kommen.
Er bemerkte jedoch nur sehr wenig davon und kroch auf allen Vieren den Umweg. Er versuchte jetzt herauszufinden, wie er solche Erschöpfungserscheinungen haben konnte, ohne dass er irgendeinen Schmerz fühlte. Auch seine Hände und Knie wurden nicht wund. Diese Gedanken lenkten ihn etwas ab und so kam er, wenn auch recht langsam, doch voran. Mit der Zeit jedoch wurde ihm der Weg zur Höllenqual und er wollte sich schon hinlegen und aufgeben, als er plötzlich die ihm schon gut bekannte Taube erblickte. Doch plötzlich kam ein riesiger Adler und tötete die Taube. Zuerst wusste er nicht, wie er dies deuten solle, doch schließlich vermutete er, dass die Taube nun nicht mehr gebraucht würde, weil der richtige Weg, der jetzt bald kommen müsse, wohl endgültig das letzte Stück vor dem großen Ziel sei. Mit dieser neuen Hoffnung gestärkt, schaffte er es sogar sich aufzurichten und sich weiter zu schleppen.

Doch wie soll ich das Entsetzen beschreiben, als dem Toten, schon bevor er den Hauptweg erreichte, eine neue Mauer den Weg versperrte. Für ihn war es nun klar, dass ihn Gott nur verhöhne, sich seinen Spaß mit ihm mache. Er brach in ein heftiges und lang andauerndes Fluchen aus. Darauf beschloss er alle Wege, die zu Gott führen zu verlassen und irgendwohin, weitab von diesen Weg der Torturen, zu fliehen. Als er dazu sämtliche Seitenwege, die nur möglichst weit weg führten entlang ging, verspürte er auf einmal neue Kräfte und das Wandern wurde ihm auf einmal wieder ganz leicht. Schon bald war er in einer total fremden Gegend auf einer sehr breiten Straße. Jetzt hätte er den Rückweg auf keinen Fall mehr finden können und darüber war er sehr froh. Endlich war er unwiderruflich von diesen Weg der Schrecken und Qualen fort. Das beglückte ihn so, dass er sein Ziel, Zufriedenheit zu finden, für erreicht hielt. Dieses Glück dauerte sehr lange an, da er es schon immer gut verstanden hatte, sich mit seinen eigenen Gedanken zu beschäftigen.
Doch nach einer endlos langen Zeit, die länger als ein Leben währte, war es ihm, als hätte er alles durchdacht, worüber man überhaupt nachdenken kann. Es war ihm unmöglich neue Gedanken zu fassen; immer wieder kamen die alten in ihm auf. Da kam ihm wieder zu Bewusstsein, wie schrecklich die Einsamkeit und Verlassenheit war. Es war ihm unmöglich diesen Zustand fortzusetzen. Deshalb beschoss er die Hölle zu suchen. Gegen all das, was er schon durchgemacht hatte, und was ihm bevorstünde, wenn er nichts unternehmen würde, könne die Hölle nur eine Erlösung sein, dachte er bei sich. Mit unheimlicher Energie machte er sich auf den Weg. Doch endlich, nach endlos langem Suchen überkam ihn die Verzweiflung: Gott auf den er sein ganzes Leben gebaut hatte, verhöhnte ihn nur und selbst der Teufel, zu dem der Weg angeblich so leicht sei, schien ihn zu verschmähen; und hier so ganz allein, das ist eine unerträgliche Qual für ihn. Selbst die Möglichkeit sich zu töten um das Bewusstsein zu verlieren, war ihm genommen. Es gab für ihn nur noch eine Möglichkeit, vor der er zwar gewarnt worden war, aber etwas Schrecklicheres wie jetzt konnte es wohl kaum mehr für ihn geben. Vielleicht, so hoffte er im Stillen, ist das der Weg zur Hölle.
Ohne noch länger zu zögern verließ er die breite Straße, auf der er stand, vor Spannung, was nun geschehen werde. Wieder verschwand alles vor seinen Augen, wieder wurde es dunkel um ihn, doch dann kam nichts mehr. Er konnte jetzt nichts mehr sehen, nichts mehr hören, nichts mehr fühlen und sich auch nicht mehr bewegen, nur sein Bewusstsein hatte er noch, das er jetzt schon so oft verdammt hatte. Für das was jetzt folgte war alles Vorhergegangene nur eine Erholung gewesen. Sein Geist ließ immer wieder sein Leben bis zum jetzigen Zeitpunk ablaufen und immer hatte er zu dem, was gerade ablief, die gleichen mit der Zeit unerträglichen Gedanken. Dieser Zustand schien nicht vorüberzugehen. Doch viele Leben später begann sich der Film, der in seinem Geist ablief, zu verkürzen. Zunächst fielen nur die unwichtigsten Nebensächlichkeiten weg, dann immer bedeutendere Dinge, bis er schließlich nur noch seinen Tod und das was danach gefolgt war vor Augen hatte. Dann war da nur noch sein Tod, bis sich auch dieser noch verkürzte auf die Worte: In einer Stunde bin ich bei Gott! In einer Stunde bin ich bei Gott! In einer Stunde bin ich bei Gott! ... Dieser Hohn war unerträglich. Er wurde wahnsinnig, verrückt und kam in die nervenzerreißendsten Zustände und dies alles war seinem Bewusstsein ganz klar und das Schlimmste war, er konnte nichts dagegen tun. Er hatte nicht einmal die Möglichkeit zu toben, zu fluchen oder auf andere Weise seine Gefühle, gegen diese Zerstörung ohne Ende, loszuwerden. Worte können diesen Zustand natürlich nur andeuten.
Viele tausend Leben wurden auf der Erde noch gelebt. Doch dann kam, viele Millionen Jahre nach dem letzten Menschen der Zeitpunkt: Die Erde war vergangen, das Weltall bestand nicht mehr. Alles war nur noch ein einziges großes Nichts. Da erblickte unser Toter einen winzigen kleinen Lichtschimmer in ungeheurer Entfernung. Aber schon der bewirkte in ihm eine Freude und eine so große Hoffnung, wie sie noch nie ein Mensch auf Erden erfahren hatte. Das Licht wurde immer größer und mit ihm auch der Glückszustand des Toten, bis schließlich eine Gestalt vor ihm stand. Sie redete ihn an: „Was Du erlebt hast, war die Hölle; etwas Schlimmeres gibt es nicht. Doch Gott liebt alle Menschen, er lässt niemanden verloren gehen. Mach Dich auf: In Kürze wirst Du bei Ihm sein.“ Dann verschwand die Gestalt.
Der Tote stand wieder auf der breiten Straße und er konnte wieder hören und sehen. Das Glück und die Zufriedenheit, die ihn jetzt überkamen waren noch viel größer, als all das Schreckliche, das hinter ihm lag und schon das war so ungeheuer gewaltig gewesen. Er sang, schrie, hüpfte, rannte und gab seiner Freude auf jede nur erdenkliche Weise Ausdruck. Dann fiel er zu Boden und dankte Gott. (Auf die Idee, er könnte wieder betrogen werden, kam er überhaupt nicht.) Dies tat er sehr ausgiebig, etwa drei Leben lang. Aber es kam ihm vor, als wenn nur wenige Sekunden vergangen seien. Dann rannte er weiter, so schnell wie noch nie, denn sein Bestreben, sein Ziel jetzt doch noch zu erreichen, übertraf alles. Tiere tauchten auf in reicher Zahl und sie erhöhten sein Glück noch mehr. Menschen sah er jedoch noch keine. Deshalb meinte er, sie hätten das Ziel alle schon erreicht. Das veranlasste ihn, noch mehr zu eilen. Nur an jeder Kreuzung machte er Halt und sprach ein Gebet, worauf er sofort wusste, welcher Weg der Richtige war. Die Wege wurden jetzt schon wieder schmäler und er wusste, dass der Hauptweg nicht mehr allzu weit entfernt sein könnte.
Da sah er plötzlich neben dem Weg eine Frau. Als er sie ansprechen wollte, merkte er, dass sie in dem selben schrecklichen Zustand war wie er noch vor Kurzem. Er warf sich auf die Erde und bat Gott lange Zeit, dass dieser Frau das harte Los erspart bliebe. Doch es geschah nichts. Warum wollte ihn Gott nicht erhören? Hatte er nicht genug Zuversicht gehabt, dass Gott ihm helfen werde? Nochmals betete er inbrünstig mit dem stärksten Vertrauen, dass er erhört werde. Da wurde es ihm mit einem Male klar. Wie war er in den jetzigen, so himmlischen, Zustand gekommen? Nur dadurch, dass er die Hölle kennen gelernt hatte, war es ihm gelungen zur vollkommenen Glückseligkeit zu gelangen. Jeder muss diese unbeschreibliche Pein durchmachen, um die wahre Vollendung erreichen zu können. Bei dieser Besinnung fielen ihm auch wieder die Worte ein: „Er lässt niemand verloren gehen!“
Wieder stieg durch diese Erkenntnis seine Zufriedenheit, doch wusste er auch, dass sie erst dann wirklich vollkommen sein würde, wenn alle ihr Ziel erreicht haben. Kurz darauf bog er in den Hauptweg ein und konnte in der Ferne schon sein Ziel erkennen.

Ich war entsetzt: „Nein! So ist Gott nicht. Hast Du denn überhaupt nichts verstanden von Gottes Liebe?“

Sammelt euch Schätze im Himmel


Um ihn auf andere Gedanken zu bringen schrieb ich diese kleine Geschichte:

Es war einmal vor langer, langer Zeit, als ein Abt von uns, der von seinen Mönchen für heilig gehalten wurde, in seiner Zelle auf dem Sterbebett lag. Er verlor das Bewusstsein und fand sich auf dem Weg zum Himmel. Unterwegs begegneten ihm einige Wanderer die ebenfalls das Himmelreich suchten. Sie schlossen sich ihm an und er führte sie sicher auf dem langen und schwierigen Weg. Endlich kam das Ziel in Sichtweite: Nur noch eine letzte Hürde trennte sie vom Himmelreich. „Nachdem wir so viele Schwierigkeiten überwunden haben ist das auch kein Problem mehr.“ dachte sich der Abt und er freute sich mit seinen Begleitern auf die unmittelbar bevorstehende himmlische Herrlichkeit. Kurz vor dem letzten Hindernis stand der Engel des Herrn. Der erste Wanderer trat hinzu und der Engel des Herrn holte aus einer Höhle eine wunderbare Schatztruhe, auf der der Name des Hinzugetretenen stand. Der Engel des Herrn öffnete die Truhe ...
und sie war leer. Beschämt trat ihr Besitzer zur Seite. Nie hätte er gedacht, dass das Bibelwort "Sammelt euch Schätze im Himmel!" so wörtlich zu verstehen sei. Nun trat der zweite Himmelssucher heran und auch seine Schatztruhe wurde vor ihm hingestellt. Der Engel des Herrn öffnete auch diese ...
und sie enthielt ein paar gute Taten. Diese leuchteten und funkelten wie die schönsten Edelsteine. Der Wanderer trat zur Seite und dachte: „Besser als nichts!“ Nun schritt unser Abt siegessicher vor den Engel des Herrn, der auch seine Schatztruhe öffnete ...
Sie war übervoll von guten Taten, die so funkelten und glänzen, dass es den Augen weh tat. Stolz trat er zur Seite. Schließlich kam der letzte Wanderer ängstlich näher. Der Engel des Herrn öffnete seine Schatztruhe ...
und ein fürchterlicher Gestank verpestete die Luft. Die drei anderen rümpften die Nasen. Der Anblick war genauso entsetzlich: Es sah aus wie eine Odelgrube. Die anderen entrüsteten sich: „So etwas kurz vorm Himmel. Dass der sich überhaupt hier her traut. Das ist doch eine Unverschämtheit!“ Aber der Engel des Herrn schaute seinen Gegenüber freundlich an und forderte ihn auf weiterzugehen. Beschwingt setzte dieser seinen Weg fort, nahm schließlich einen kleinen Anlauf und sprang leichtfüßig über die letzte Hürde und hatte so sein Ziel erreicht. Nun warteten die anderen drei, dass auch sie der Engel des Herrn zum Weitergehen auffordern würde; aber er tat es nicht. Da meinte der Abt, dass die Aufforderung dazu sicherlich für alle gegolten hätte: Er nahm einen langen Anlauf, sprang, kam aber kaum vom Boden weg, und schlug fürchterlich gegen das letzte Hindernis. Nicht gerade fluchend aber doch heftig schimpfend humpelte er zurück.
Jetzt gingen die drei auf den Engel des Herrn zu und schauten ihn erstaunt an. Aber der Engel des Herrn schaute sie noch viel erstaunter an: „Habt ihr denn nicht verstanden, was ihr hier gesehen habt? Euer Begleiter hat all seine Probleme, Schwierigkeiten, Sorgen, Schlechtigkeiten, Gemeinheiten, Fehler und Sünden vor den Herrn gelegt und sie ihm geschenkt. Deshalb konnte er so unbelastet über die letzte Hürde springen und ist nun im Himmelreich. Euch hat der Herr doch auch Probleme, Schwierigkeiten, Sorgen, Schlechtigkeiten, Gemeinheiten, Fehler und Sünden mit auf den Lebensweg gegeben. Aber ich finde sie nicht in euren Truhen. Ihr habt sie für euch behalten und deshalb seit ihr zu sehr belastet, um die letzte Hürde nehmen zu können.“

Die Entscheidung




„Mein Gast schlug sein Buch zu“ erzählte der Magister weiter „und erzählte mir das Ende der Geschichte:“ „Kurz darauf erfuhr Rosa, dass sie unheilbar krank war und ihn wenigen Monaten sterben würde. Sie entschloss sich, sich zurückzuziehen um ihre letzten Tage ganz allein mir Gott zu verbringen. Deshalb verließ sie mich und schenkte mir zum Abschied ihr Tagebuch.
Damals wollte ich nur alles vergessen: Rosa, ihr Tagebuch, den Glauben – einfach alles. Deswegen habe ich das Buch erst vor Kurzem zum ersten Mal gelesen und es wurde mir klar, dass ich jetzt eine Entscheidung treffen musste. Wollte ich eine neue Beziehung suchen, oder mich ganz in den Dienst Gottes stellen oder sonst irgendwie das weitergeben, was sie mir beigebracht hatte. Ich entschied mich dafür hier einzutreten.“
Ich dachte eine Weile nach, dann meinte ich: „Rosa hat sogar Dich aufgegeben, weil sie ganz allein mit Gott sein wollte. Wenn Du eintreten willst, musst Du dieses Tagebuch aufgeben. Das heißt ich nehme es an mich und Du wirst es nie wieder sehen.“ Er erschrak. Das Tagebuch war ihm ans Herz gewachsen. Seine Liebe zu Rosa war wieder erwacht. Lang rang er mit sich. Aber schließlich verstand er mich und gab mir das Tagebuch.
Ich brachte ihn dann in eine leere Zelle und segnete ihn und seitdem war er in unserer Gemeinschaft.

Der junge Abt war sehr betroffen von dieser Geschichte und ohne ein weiteres Wort gingen wir auseinander und begaben uns auf unsere Zellen.

Impressum

Texte: MicMam 1996
Tag der Veröffentlichung: 18.02.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle, die vor einer Entscheidung stehen.

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