Eines Tages komme ich mit zerrissenen Kleidern, die ich mir erbettelt habe, bei einem Freund von mir in der Hauptstadt an. Er erkennt mich beinahe nicht wieder. Er schenkt mir Kleider und ich bleibe einige Tage bei ihm, bevor ich mich auf den Weg zum Schloss mache. Prinz Dona hat von meiner Ankunft erfahren und eilt mir schon im Schlosspark entgegen. Er ist sehr blass, denn er hat schon seit Monaten das Schloss nicht mehr verlassen. Außer sich vor Freude, über unser Wiedersehen, begrüßt er mich aufs Herzlichste. Wir gehen sofort zu dem großen Fest, das er mir zu Ehren vorbereiten ließ und feiern sieben Tage.
Am achten Tag lässt mich König Protec zu sich rufen. Ich eile sofort zu ihm und begrüße ihn mit einer tiefen Verbeugung. Momentan macht er ein verwundertes Gesicht und dann lächelt er mir huldvoll zu: „War Deine Reise erfolgreich gewesen?" „Ich habe gelernt, dass man von Miragetes nichts mitnehmen kann. Ich habe es mir leeren Händen verlassen." Der König schaut eine Weile nachdenklich vor sich hin bevor er zu sprechen beginnt: „Mein Volk hat seinen Prinzen schon lange nicht mehr gesehen und es hat große Sehnsucht danach. Mache mit Prinz Dona eine Reise durch das ganze Land." „Jawohl, mein König!" Mit freundlichem Kopfnicken gibt mir König Protec zu verstehen, dass ich den Saal verlassen darf.
Schon am nächsten Tag gehe ich mit Prinz Dona auf die Reise.
In jeder Ortschaft, die wir besuchen wird ein dreitägiges Fest zu Ehren des Prinzen veranstaltet. Er geht zu den Notleidenden und Bedrückten und kümmert sich um sie. Jeder kann jederzeit zu ihm kommen und bekommt Rat und Trost. Ich bin nur meist schweigend in seiner Nähe. Auch abends, wenn wir gemütlich beieinander sitzen und sich der Prinz von den Anstrengungen des Tages ausruht, sprechen wir nur sehr wenig. Wir schauen uns nur an und das tut uns beiden gut. Am Ende der Reise ist der Prinz total erschöpft. Zu Hause muss er sich erst einige Wochen ausruhen.
Nach seiner Genesung besuche ich ihn und frage: „Warum hast Du mich eigentlich die ganze Zeit nicht gefragt, ob ich bei meiner Mission erfolgreich war? Es könnte doch sehr bedeutend für Dich sein." „Weißt Du, das ist für mich gar nicht wichtig. Ich freue mich, dass Du wieder bei mir bist und dass ich für mein Volk da sein konnte, so dass das für mich überhaupt keine Rolle spielt. Es hat mich nur gewundert, dass Du mir kein Begrüßungsgeschenk mitgebracht hast, wie Du es sonst immer tatest, wenn Du von einer Reise zurückkehrtest." „Ich habe gelernt, dass man von Miragetes nichts mitnehmen kann. Ich kehrte mit leeren Händen zurück. Aber ich habe bei einem Freund bevor ich zurückkehrte einen Bericht über meine Zeit auf Miragetes geschrieben und den will ich Dir schenken." Der Prinz nahm den Bericht dankend an und als er abends allein war begann er zu lesen.
Auf Miragetes
Bericht meiner Erlebnisse auf Miragetes
Ich erwache im Land Intra auf Miragetes. Ich erhebe meinen Kopf und will mich umsehen, aber ich kann nichts erkennen – vor mir ist nur ein verschwommenes Rot. Ich setzte mich hin und ruhe einige Zeit aus und versuche dann von der Erde aus etwas zu erkennen. Verschwommen kann ich so etwas wie einen Blumenstängel erkennen. Ich schaue diesen Stängel aufwärts, doch alles bleibt verschwommen: „Bin ich nicht mehr der Herr meiner Sinne?“ Dies will ich nicht glauben und versuche mich immer wieder auf den Stängel zu konzentrieren. Nach vielen Versuchen kann ich ihn richtig sehen. Jetzt schaue ich mir die Blätter an – sie wechseln ständig ihr Aussehen: „Ist das eine Sinnestäuschung oder ist das in diesem Land normal?“ Dann betrachte ich die Blütenblätter mit dem gleichen Erfolg und will dann das Innere des Blütenkopfs bewundern. Aber dabei stelle ich fest, dass ich mich nicht erheben kann. Als ich die Blume von allen Seiten anschauen will, merke ich, dass ich mich überhaupt nicht bewegen kann – ich bin wie starr. Mir wird ganz eigenartig zu Mute: „Hat die Blume den Auftrag mich am Eintritt nach Miragetes zu hindern? Bin ich wirklich so machtlos, dass ich nichts dagegen tun kann? Ist in diesem Land eine kleine Blume schon mächtiger als ich? Wenn das so ist, dann muss ich mich mit der Blume anfreunden.“ Ich berühre sie und versuche sie zu streicheln, obwohl ich kein Mann von Gefühlen bin.
Es ist mir nicht möglich. Alle Versuche scheitern. Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich ganz mutlos: „Bin ich nicht einmal mehr in der Lage, das zu tun, was ich will?“ Mit der Zeit werde ich von diesem erfolglosen Bemühen ganz schwach und kraftlos, so dass ich vor Erschöpfung einschlafe – aber mit dem festen Vorsatz, weiter in das Landesinnere vorzudringen.
Ich träume, dass mich eine Stimme ruft – oder ruft sie um Hilfe? Ich kann es nicht unterscheiden. Mit aller Gewalt zwinge ich mich aufzustehen, um auf die Stimme zuzugehen. Auf meinen Schultern scheint eine zentnerschwere Last zu liegen, die mit jedem Schritt schwerer wird. Nachdem ich schon ein ganz beträchtliches Stück geschafft habe, verlassen mich die Kräfte und ich breche zusammen.
Ich erwache wieder, als ich gerade hinfalle. Mein fester Wille, weiter ins Land vorzudringen, muss mir ein Weitergehen im Schlaf ermöglicht haben. Aber ich bin jetzt wiederum am Ende meiner Kräfte. Vor mir ist eine andere Blume. Ich kann sie jetzt deutlich sehen. Der grünen Stiel, die braunen Seitenstiele, die grünen Blätter und der rosa Blütenkopf. Diese Blume hat auch Stacheln, wodurch sie mich an eine Rose erinnert. Ich kann mich wiederum kaum bewegen. Aber ich kann meine Hände, die immer noch unsichtbar sind, ausstrecken und die Blume berühren. Ich streichle sie ganz vorsichtig. Ich bin erstaunt, wie gut mir das tut. Ich habe das komische Gefühl, dass auch die Blume das liebt. Schließlich streichle ich sie sogar vorsichtig über die Stacheln und verletzte mich dabei erstaunlicherweise nicht. Trotz meiner Erschöpfung wird es mir ganz wohl ums Herz.
Ein Gefühl, dass ich noch nie gekannt habe. Mit einem wonnigen Gefühl übermannt mich wieder der Schlaf.
Diesmal träume ich von einer strahlenden Sonne und einer saftigen Wiese.
Nach dem ich wieder erwacht bin, fühle ich mich ziemlich frisch und munter. Aber meine Blume ist verschwunden. „Habe ich im Schlaf wieder meinen Standort gewechselt, oder kann sich in diesem Land sogar eine Blume bewegen?“ Ich vermisse sie und rufe nach ihr und meine auch eine leise feine Stimme zu hören. Aber sehen kann ich sie nicht. Nur ein mächtiger Baum fällt in mein Blickfeld. Aber er interessiert mich nicht. Ich will wieder Kontakt zu meiner Blume herstellen. Aber ich schaffe es nicht. Da ist nur der Baum. Da ich inzwischen erkannt habe, wie wichtig in diesem Land die Gefühle sind, streiche ich mit meinen Händen, die inzwischen wieder sichtbar sind, über die raue Rinde. Ich streichle den Baum und umarme ihn. Ich frage mich, wie es möglich ist, dass ich einen so riesigen Baum umarmen kann. Aber solche mathematischen Gesichtspunkte scheinen auf Miragetes keine Rolle zu spielen. Hier herrscht eine andere Wirk-
lichkeit. Jetzt ist der Baum für mich wichtig geworden und ich will ihn näher kennen lernen: „Sind die Pflanzen in diesem Land für mich wie Menschen?“ Ich schaue den Stamm herab und kann die Wurzeln sehen. Ich bin darüber schon gar nicht mehr erstaunt. Es ist nur eigenartig, dass die Wurzeln so klein sind – viel zu klein für einen so großen Baum. Ich gehe einige Schritte zurück, um auch die Krone sehen zu können. Aber es ist mir nicht möglich, der Baum ist zu hoch.
Nachdem ich noch ein Stück zurückgegangen bin, kann ich endlich die mächtige Krone, mit ihren prächtigen dunkelgrünen Blättern, sehen. Es ist ein herrlicher Anblick, den ich richtig genieße. Noch nie habe ich etwas mit so viel Freude wahrgenommen. Beim Zurückgehen habe ich bemerkt, dass ich mich auf einer Wiese mit Bodennebel befinde. Stellenweise spitzt ein bisschen Grün durch den grauen Nebel. Ich sehne mich danach, die Wiese ganz sehen zu können. Aber in absehbarer Zeit scheint dies für mich nicht möglich zu sein. Der Nebel ist dafür noch zu dicht. Mich überkommt die Lust, den Baum zu besteigen: „Aber wie soll das gehen? Er ist doch bis zur Krone völlig astlos, so das sich mir kein Halt bietet.“ Ich probiere es trotzdem, denn mir ist ja inzwischen bewusst geworden, dass ich hier nicht immer den gewohnten logischen Gesetzen unterliege. Ich versuche also wie an einer Kletterstange empor zu steigen und es geht wirklich. Da geschieht etwas Eigenartiges: Ich verwandele mich in einen Frosch, der mühelos am Baumstamm hinauf klettert. Ich bin mir nicht sicher, ob ich wirklich ein Frosch bin, oder ob ich mich nur als Frosch fühle und mich so sehe. Auf jeden Fall erreicht der Frosch, und somit auch ich, die Baumkrone. Ich bin überzeugt, dass der Frosch jetzt die grünen Blätter fressen wird, aber er tut es nicht. Er putzt sich nur und legt sich auf den Rücken. Da geschieht wieder etwas Seltsames: Plötzlich bin ich nicht mehr der Frosch, sondern sitze neben ihm in meiner ganz normalen Gestalt. Mir wird erst jetzt bewusst, dass ich zum ersten Mal in Intra die Gesellschaft eines Tieres habe.
Das ist etwas ganz Neues und irgendwie auch etwas Aufregendes, besonders weil ich ja noch vor wenigen Augenblicken auf so eigenartige Weise ganz eng mit diesem Lebewesen verbunden war. Ich frage ihn, ob ich ihn streicheln dürfe. Es ist für mich scheinbar selbstverständlich, dass ein Tier hierzulande sprechen kann. Er bejaht und ich streichle ihn am ganzen Körper. Da verwandelt er sich nach und nach in ein Baby. Mein Erstaunen ist sehr groß, obwohl ich in diesem Land schon einiges Ungewöhnliche erlebt habe. Doch dann bin ich schockiert: Ich kann den Kopf des Kindes nicht sehen. Ich streichle es und setzte es auf meinen Schoß, so dass wir uns Gesicht und Gesicht gegenüber sitzen. Angestrengt versuche ich sein Gesicht zu erkennen, aber es ist mir nicht möglich. Es hat jedoch einen Kopf – ich kann es deutlich fühlen. Ich lege das Baby auf den Rücken und liebkose es. Mir wird dabei ganz seltsam zu Mute. Danach rieche ich an seiner Haut, kann jedoch nichts riechen. Das Kind bewegt sich kaum: „Ist es vielleicht krank? Was soll ich da tun? Ich bin doch völlig hilflos. Ich habe ja überhaupt keine Ahnung von Kleinkindern und was ihm fehlen könnte.“ Ich lege es mit seinem Rücken auf meine Brust, so dass es in die gleiche Richtung schauen kann wie ich. Ich deute auf die Berge im Hintergrund und spreche zu meinem Baby darüber, was ich sehe. Wie ich auf diese Idee gekommen bin, weiß ich nicht, aber das Kind wird, zu meiner großen Erleichterung, etwas lebhafter und scheint an meinen Beobachtungen Interesse zu haben. Ich komme mir irgendwie wie ein Sieger vor und bin auch ganz stolz auf mich, dass es mir gelungen ist, das Kind für etwas zu interessieren.
Jetzt geschieht etwas Seltsames: Das Kind beginnt mich auf die Häuser, die den Bergen vorgelagert sind, aufmerksam zu machen. Ich habe sie vorher gar nicht beachtet. Dann deutet das Kind auf die Sonne. Sie ist gelb, verfärbt sich jedoch in orange mit einem gelben Rand und Strahlen, und nimmt dann wieder ihr ursprüngliches Gelb an. Der Himmel ist leicht bewölkt. Dann macht mich das Kind auf eine Wiese in weiter Entfernung aufmerksam. Es weiden dort Büffel, Elefanten, Tiger und Kamele. „Eine seltsame Zusammenstellung“ denke ich bei mir. Aber schon deutet das Kind zur Erde. Der Nebel ist inzwischen schwächer geworden. Als ich wieder konzentriert auf das Kind schaue, ist es mir möglich, seinen Kopf schemenhaft zu erkennen. Ich kann mir nicht ausmalen, was das zu bedeuten hat: „Hat das Kind auch irgendetwas gegessen, um unsichtbar zu werden, was jetzt Stück für Stück nachlässt? Aber wovon sollte man sich hier, in diesem Land, verstecken wollen? Natürlich bin ich hier noch viel zu fremd, um das beurteilen zu können.“ Auf jeden Fall fühle ich mich unwohl und wünsche mir, so bald wie möglich auch das Gesicht des Kindes richtig sehen zu können. Plötzlich reißt das Kind einen kleinen Zweig, mit ein paar Blättern, aus. Ich erschrecke, weil ich das Gefühl habe, dass das Kind den Frieden dieser Welt stört und verletzt. Ich hätte Angst davor, den Baum auf diese Weise zu verletzten. Aber das Kind gibt mir in aller Unschuld den Zweig mit der Aufforderung ihn neben mich auf die Baumkrone zu legen. Sobald ich den Zweig niedergelegt habe verwandelt er sich in eine Blume mit rosa Blüten. Die Blume gefällt mir:
Ich bin von ihrer einfachen bescheidenen Art ganz angetan. Deshalb spreche ich sie an und sie redet auch mit mir.
Sie macht mich auf den Fluss, kurz vor uns, aufmerksam und auf dessen Zufluss und Abfluss durch einen großen Teich. Die südliche Seite meiner neuen Umgebung ist mir jetzt dank des Kindes und der Blume schon fast vertraut. Immer wieder werde ich aufgefordert nach unter zu schauen und jedes Mal wird der Nebel dünner. Schließlich kann ich das Gras erkennen und es sind nur noch einige Nebelschwa-
den vorhanden. Die Landschaft unter mir ist dadurch immer freundlicher geworden und ich fühle mich immer fröhlicher. Bald darauf fordert mich der Strauß, zu dem die Blume geworden ist, auf, hinunter zu springen und ich folge seiner Aufforderung, erstaunlicherweise, ohne darüber nachzudenken. Mir kommt gar nicht der Gedanke, dass dies gefährlich sein könnte. Ich kann der Flug nicht beeinflussen und verlangsamen, was ich sehr gern tun würde. Ich schwebe zu Boden und komme dort wohlbehalten an. Nachdem ich so viel erlebt habe, lege ich mich ins noch feuchte Gras. Das Gras hat ein kräftiges Dunkelgrün und ist fett. Irgendwie gibt mir das Zuversicht. Ich schaue auf die strahlende Sonne und den noch etwas bewölkten Himmel und fühle mich richtig wohl. Dann sinke ich langsam in einen erquickenden Schlaf.
Ich träume, dass ich über die ganze Gegend hinweg fliege und mich an ihrer Schönheit erfreue.
Texte: ®MicMam 1996
Tag der Veröffentlichung: 04.03.2012
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für alle die ein neues Leben suchen.