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Kurz vor meiner Abreise lässt mir der König noch einen Apfel, eine Banane und eine Kokosnuss bringen. Es handelt sich um besondere Früchte, die man in einem sehr fernem Lande in einem kleinem Garten nur einmal in tausend Jahren ernten kann. Der Apfel hat die Eigenschaft, dass er einen nach seinem Verzehr für eine gewisse Zeit zum klügsten Menschen auf der Erde macht. Die Banane verleiht einem Menschen für eine gewisse Zeit Unsichtbarkeit und die Kokosnuss eine Zeit lang Unbesiegbarkeit. Der König hat mir also die größten Kostbarkeiten über die er verfügt für meine Reise geschenkt. Ich bin also bestens ausgerüstet.
Als Kaufmann prächtig gekleidet ziehe ich nach Osten. Ich halte diese Verkleidung für erfor-
derlich, da ich nicht will, dass mich jemand erkennt und nach dem Weg den ich ziehen will, fragt. Ich will unter keinen Umständen aufge-
halten werden und ohne Verkleidung bin ich einfach zu bekannt.


Lange komme ich zügig voran. Aber schließlich, schon weit hinter jeder menschlichen Behau-
sung, muss ich einen undurchdringlichen Wald durchqueren. Dabei muss ich mein Reittier und meine Tragtiere zurücklassen.
Mit zerfetzten Kleidern, den Geschenken des Königs und mit meinem Schwert komme ich völlig erschöpft auf der anderen Seite des Waldes an. Vor mir liegt eine unendliche freie Fläche, auf der nur in einiger Entfernung ein mächtiger Baum steht. Nach einer kurzen Erholungspau-
se schreite ich mutig weiter. Da höre ich ein ohrenbetäubendes Rauschen und der Himmel verfinstert sich. Ich schaue auf und sehe einen riesengroßen Adler, der im Sturzflug auf mich zukommt. Ich renne so schnell ich kann unter den mächtigen Baum. Ich erreiche das Ziel ge-
rade bevor der Adler zum Boden herab kommt. Er ist so groß, dass er mich mit seinem riesigen Schnabel nicht unter dem Baum hervorholen kann ohne diesen zu verletzen, was er offen-
sichtlich nicht will. Er erhebt sich wieder in die Lüfte und fliegt ganz knapp über den Baum hinweg.


Der Windzug reißt mich fast mit. Der Baum neigt sich stark. Der Adler wiederholt das Manöver immer wieder um mir Angst einzujagen, damit ich den sicheren Baum verlassen würde. Ich bin natürlich furchtlos.
Aber ich kann nicht ewig unter dem Baum blei-
ben. Ich habe ja nicht mal mehr Nahrungs-
mittel bei mir. Ich überlege mir: „Ein Kampf auf Leben und Tod ist wohl der einzige Ausweg. Meine Aussichten auf Erfolg sind gar nicht schlecht, denn schließlich besitze ich die wunderbaren Früchte und bin der beste Schwertkämpfer auf der ganzen Welt. Noch nie hat mich jemand besiegt.“ Doch dann höre ich auf meine Intuition und die gibt mir zu verstehen, dass ich Frieden und Versöhnung suchen soll und keinen Kampf. Es ist für mich ein schwerer innerer Kampf bis ich mich entscheiden kann, diesem Rat zu folgen. Ich schnalle mein Schwert ab und werfe es weit vor mich. Ich kann es jetzt nicht mehr bekommen, ohne dass mich der Adler erwischen kann.


Ich habe mich also ganz in seine Gewalt gegeben. Er beendet darauf seine Überflüge und setzt sich in einiger Entfernung auf den Boden, gibt aber keinen Laut von sich und reagiert auch nicht darauf, dass ich ihn anspreche. Als ich jedoch versuche weiter zu marschieren, verhindert er es, ohne mich zu verletzten oder zu töten, was ihm leicht möglich gewesen wäre.
Ich habe jetzt zwar keinen Feind mehr, aber meine Lage hat sich nicht verbessert. Mir bleibt nur noch ein ganz verrückter Schritt: „Nachdem ich mich um Frieden mit dem Angreifer bemüht habe, muss ich diesen Anfang konsequent fortführen.“ Es kostet mich eine furchtbare Überwindung meines Stolzes, aber schließlich nehme ich meine kostbaren Schätze und lege sie weit vor mich hin als Zeichen, dass ich sie ihm schenke. Jetzt habe ich mich ihm wirklich total ausgeliefert und ich habe selbst überhaupt nichts mehr. In solch einer ohnmächtigen und erbärmlichen Situation bin ich in meinem ganzen Leben noch nie gewesen.


Er nimmt meine Geschenke an sich und schaut mich freundlich an.
Dann beginnt er zu flüstern, was für mich immer noch wie Donner dröhnt: „Vielen Dank für Deine Geschenke. Ich bin hocherfreut, denn Du hast Deine Freiheit gerettet. Ich darf hier nie-
manden fortlassen, der irgendetwas besitzt. Du bist der erste, der sich von allem frei gemacht hat und somit frei ist!" „Wo sind all die Men-
schen, die vor mir hier waren?"
„Ich habe sie zu einer einsamen Insel geflogen, die noch kein Mensch auf Erden entdeckt hat." „Das ist wohl ein schreckliches Gefängnis für diese Menschen?" „Das müsste es nicht sein. Die Insel hat alles, was die Menschen zum Leben brauchen und sie könnten dort leben wie im Paradies. Aber jeder will der Herrscher über die Andern sein und so gibt es ständig nur Streit und Unfrieden." Ich brülle weiter: „Kannst Du mir den Weg in das Land Miragetes zeigen?" „Miragetes ist keine Land. Es ist eine eigene Welt und kein Mensch kann sie erreichen." Ich kann es nicht fassen:


Ich habe alles verloren und kann jetzt nicht einmal das Ziel erreichen. Ich kann mich ja nirgends mehr sehen lassen. „Muss ich wirklich ohne jeden Erfolg zurückkehren? Waren all meine Bemühungen umsonst?" „Nein, ich bin so froh, dass ich Dich nicht auf die einsame Insel fliegen musste, dass ich Dich in das Land Intra auf Miragetes bringen werde." „Das ist ja prima. Dann kann ich meinen Auftrag ja doch noch erfüllen." „Das weiß ich nicht. Du musst dort selbst schauen, wie Du zurecht kommst."
„Aber werde ich jemals wieder zurückkehren können?" „Ja, ich kann Dich von jedem Ort auf Miragetes abholen und hier her bringen, wenn Du im Traum nach mir rufst. Ich kann Dich auch jederzeit von hier wieder zu dem Ort zurück bringen, an dem ich Dich abgeholt habe."
„Erzähl mir von Miragetes. Wie ist es dort?" „Ich kann Dir von dieser Welt nichts erzäh-
len. Jeder sieht sie anders, fühlt sie anders und erfährt sie anders. Du kannst sie nur als Deine eigene Welt kennen lernen. Ich kann Dir nur einen Rat geben:


Fliehe nie vor einer Gefahr, lass Dich aber auch nicht auf Kampf oder Streit ein, sondern gehe mit allen Lebewesen liebevoll um." „Ich soll mit allen Lebewesen liebevoll umgehen? Ich habe keine Gefühle! Wie soll mir so etwas möglich sein?" „Du kannst es sicherlich lernen, wenn Du willst." „Nun, dann können wir mit der Reise beginnen." „In Ordnung, zieh Dich aus und schon können wir starten." „Mich ausziehen? Niemals! Ich käme mir vor wie ein Tier." „Unterschätze die Tiere nicht. Du solltest vor ihnen Achtung haben. Ich kann Dir nicht helfen. Man darf auf Miragetes nichts besitzen." „Das ist keine Besitz. Ich kann das einfach nicht tun!"
„Wenn mich jemand sieht, dass ich Dich so auf Miragetes fliege, bekomme ich Schwierigkeiten. Aber ich habe es Dir versprochen. Iss die Bana-
ne, dann kann ich Dich ungesehen auf Miragetes fliegen." Ich esse die Banane und kann mich plötzlich nicht mehr sehen. „Leg Dich auf meine Krallen und wir können starten.
Ich werde extra langsam fliegen, damit Du es aushalten kannst."


Ich befolge seine Anweisung und es geht mit rasender Geschwindigkeit nach oben. Am be-
dächtigen Flügelschlag sehe ich allerdings, dass der Adler für seine Verhältnisse wirklich ganz langsam fliegt. Schon bald ist auf der Erde nichts mehr zu erkennen. Dann fliegen wir in eine Wolke und es wird stockfinster. Mich überfällt ein furchtbares Gefühl der Verlas-
senheit und Einsamkeit. Ich bin in meinen Leben sehr viel verlassen und einsam gewesen, aber ein so schreckliches Gefühl hatte ich noch nie erlebt. Ich bekomme unheimliche Angst – ich, der Angst nie gekannt habe - und stehe kurz davor in Panik auszubrechen, da überfällt mich Bewusstlosigkeit.

Impressum

Texte: ®MicMam 1996
Tag der Veröffentlichung: 29.01.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle, die Abenteuer lieben.

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