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Eine junge Frau, fast noch ein Mädchen, betritt mit einem herzlichen "Guten Tag" das volle Wartezimmer.
"Guten Tag", kommt es nuschelnd von manchen zurück. Die anderen schenken ihr nicht weiter Beachtung. Das Mädchen schaut sich nach einem Platz um und setzt sich schließlich an einen Kindertisch mit Motorikschleife und einer Narzisse.
"Junge Dame, hier, neben mir, ist noch ein Platz frei."
"Schon in Ordnung", lächelt sie, "es gefällt mir hier." Das Mädchen schaut sich verwundert die verschiedenen Holzsteine an und beginnt träumend an einem Holzquadrat zu spielen, welchen sie zwischen ihre beiden Finger nimmt und langsam die verschiedenförmigen Stangen hochschiebt. Die Leute fangen an leise über sie zu reden und werfen ihr verächtliche Blicke zu.
Eine alte Dame in der hintersten Ecke des Raumes räuspert und schaut das Mädchen neugierig an: "Entschuldigung", alle Leute drehen sich zu ihr um, auch das Mädchen. "Was tun Sie denn da?"
Stille. Alle Augen richten sich wieder auf die junge Frau.
"Sieht man das nicht?", fragt sie mit ruhiger, kindlicher Stimme.
"Doch, doch, aber wieso tun Sie das?"
Das Mädchen lächelt. "Dieses Spielzeug erinnert mich immer an meine kleine Schwester. Früher sind wir selbst zur kleinsten Untersuchung zusammen hergekommen und saßen hier. Allerdings haben sie wohl ein neues gekauft. Sehen Sie sich das mal an! Schwarz, Grau und Weiß sind doch wirklich keine kinderfreundlichen Farben! Und runde Holzperlen konnte man leichter bewegen als diese Quadrate."
Einige Patienten widmen sich desinteressiert wieder ihren Zeitschriften, andere tun so, als würden sie nicht zuhören. "Sie meinte immer, dass ihre Haare genauso blond seien, wie die gelben Perlen. Lustig, nicht wahr?"
"Sie muss ein sehr reizendes Kind sein", sagt die alte Frau lächelnd.
"Ja, das war sie."
„Herr Achtermann?“
„Ja, komme“, antwortet der Mann, legt seine Zeitschrift mit einer großen Sanduhr auf dem Titelblatt ab und eilt der netten Frau hinterher.
„Sie war es?“, fragt jetzt eine andere Frau.
Das Mädchen nickt. „Sie ist nicht mehr bei mir, das Gleiche gilt für meine Mutter. Seit dem Autounfall bin ich alleine.“ Trotz der Geschichte, die sie wildfremden Leuten soeben erzählt, verliert sie ihr Lächeln nicht. „Aber ich weiß, dass es ihr gut geht und meine Mutter sorgt schon dafür, dass sie auch ohne mich zurechtkommt.“
„So jung und auf sich alleine gestellt? Was ist mit ihrem Vater?“, fragt die alte Dame besorgt.
„Siebzehn, um genau zu sein. Meinen Vater habe ich nie kennengelernt. Vielleicht werde ich ihn mal aufsuchen, an der ganzen Situation wird sich trotzdem nichts ändern.“
„Frau Lauzas?“
„Jaja, nicht jetzt. Lassen Sie bitte jemand anderen vor“, sagt die alte Frau und gestikuliert hektisch. „Wie lange ist das her, wenn ich fragen darf?“
„Es passierte letzten Herbst, das weiß ich noch ganz genau. Meine Schwester hatte ihren neuen rosanen Mantel an. Sie hätten sie sehen sollen, die Kleine war so süß! Rosa war ihre Lieblingsfarbe, selbst ihre Haargummis mussten rosa sein. Ich weiß nicht mehr, was meine Mutter trug, aber sie war sowieso die hübscheste Frau, die ich kannte.“
„Haben Sie ein Bild von den beiden?“, fragt die andere Frau.
Das Mädchen schüttelt den Kopf. „Nein. Die Erinnerungen sind das Einzige was mir übriggeblieben ist.“
In diesem Moment öffnet sich die Tür und Frau Lauzas will gerade anfangen zu nörgeln, dass die nette Frau bitte jemand anderen vorlassen solle, als ihr plötzlich der Atem stockt.
„Mama, Mama, sie mal! So viele bunte Perlen! Spielst du mit mir?“ Das blonde Mädchen läuft auf den Tisch zu und setzt sich auf den Platz, auf dem bis vor Kurzem die junge Frau saß.
„Gib mir noch schnell deinen Mantel“, sagt ihre bildhübsche Mutter. Das Kind reicht ihr ihren rosanen Mantel, dann setzt sich die Mutter neben ihre Tochter.
„Schau mal, eine Narzisse. Das war die Lieblingsblume deiner Schwester.“

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Tag der Veröffentlichung: 16.03.2012

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