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Meine Familie zu verlassen, wäre mir nie in den Sinn gekommen.
Auch jetzt nicht, wo wir in dieses neue, schreckliche Haus gezogen sind.
In diese neue, schreckliche Stadt, zu lauter schrecklichen Leuten. Alles war ganz anders als zu Hause.
Nein, ich fühlte mich nicht wohl.
Doch meine Mutter musste weg. Und ich zog mit.

„Hast du deine Kartons ausgeräumt?“
Meine Mutter war chaotisch. Schon gestern hatte ich ihr erzählt, dass ich fertig war und nun ihr helfen konnte.
Wäre es doch nie soweit gekommen. Ich lehnte meine Stirn gegen die kalte Scheibe und seufzte.
„Ja Mom.“
Ich sah die weißen Flocken in der gelblichen Straßenlaterne leise zu Boden fallen. Es lag eine dicke Schneedecke. Man hörte keine Kinder, keine Autos und keine Vögel, die über den Winter hier geblieben sein sollten.
Ich überlegte, was mein Vater jetzt wohl tat. Hals über Kopf hatte meine Mutter die Scheidung eingereicht. Sie hatte sich eingeengt gefühlt, nicht mehr glücklich. Sie wollte raus, ausbrechen, und nie mehr zurück blicken.
Ich konnte sie nicht alleine gehen lassen. Mein Vater bekam es hin, alleine zu wohnen. Jedoch nicht meine Mutter. Sie verlegte alles, vergaß alles und war furchtbar naiv.
Viel zu früh wurde sie mit mir schwanger. Mit siebzehn hatte sie mich bekommen, ungeplant aber immer gewollt. Ich war ihr einziges Kind.

„Kommst du mal bitte her?“
Ein letzter Blick auf die Straßenlaterne, dann drehte ich mich um und ging zu ihr.
„Weist du, wo der Karton mit den Dekosachen hin ist?“
„Mom, der steht noch im Auto.“
„Warum das denn?“
„Weil du ihn so lange dort lassen wolltest, bis es Zeit fürs dekorieren ist.“
„Ach so. Danke.“ Sie gab mir einen Kuss auf die Wange und ging hinaus zum Auto.
Sie war schön, nicht so wie ich. Sie hatte schwarze Locken, die ihr fast bis zu den Schultern gingen und schöne grüne Augen. Ich dagegen hatte die braune Farbe von meinem Vater geerbt. In meinen langen, welligen Haaren war sie und in meinen Augen. An mir war nichts Besonderes, nicht einmal meine Größe. Ich stach nie hinaus, war immer der Durchschnitt. Meine Mutter dagegen war wie die Sonne. Immer am strahlen, immer gute Laune und ein blendendes Aussehen.
Sogar ihre Lachfalten sahen neben ihren Augen aus, wie Sonnenstrahlen.
Ich ging zurück in mein Zimmer und warf mich aufs Bett.
Mit dem Kissen über den Kopf versuchte ich mir vorzustellen, ich wäre in meinem alten Zimmer. Mit den tollen, fliederfarbenen Wänden und dem Balkon.
Ich versank in meine alte Welt und ging schon bald in den Schlaf über.

Am nächsten Morgen weckte mich die Sonne. Ich hasste das kleinste bisschen Helligkeit im Zimmer, wenn ich schlafen wollte. Ein kleines Licht und schon war ich wach. Ich hatte vergessen die Vorhänge zu zuziehen, verdammt. Und wenn ich einmal wach war, dann blieb ich es auch.
Ich band meine Haare im Nacken zusammen und zog mir dicke Stricksocken an. Sie waren ein selbstgemachtes Geschenk von meiner Oma gewesen, als sie vorletztes Weihnachten noch gelebt hatte. Mittlerweile waren sie schon einige Male gestopft worden, aber ich liebte sie noch abgöttisch.
Ich hatte mich gut mit meiner Oma verstanden. Sie wusste über das Leben bescheid, war jung geblieben und gab mir einige Tipps, wie z.B. über das Schminken. Nicht, dass ich mich gerne schminken würde, aber im Fall der Fälle würde ich wissen wie es geht.
Meine Oma hatte mich mit erzogen. Sie hatte früh gemerkt, dass ihre eigene Tochter nicht in der Lage gewesen war, mich alleine groß zu ziehen.
Sie sagte immer: „Wer im Leben etwas erreichen will, der sollte sich alleine durchschlagen. Familie und Freunde halten einen nur davon ab, die Dinge zu tun, die du für richtig hältst. Doch leider wurden uns Verwandte und Freunde gegeben, darum ist es wichtig, dass du dich nur mit den Wichtigsten von all denen abgibst!“
„Wer sind die Wichtigsten?“ Hatte ich damals gefragt.
Sie hatte mich angelächelt und gesagt: „Die, mit denen du sofort abhauen würdest, ohne ein Ziel zu haben. Die, die dir so wichtig sind, dass dir alle anderen egal werden. Es wird viele Wichtige Menschen in deinem Leben geben. Aber sei dir bewusst, dass es nur Einen geben wird, für den du alles opfern würdest.“
Damals habe ich geglaubt, dass dieser Mensch meine Mutter wäre. Und irgendwie glaubte ich das noch heute. Freunde kamen und gingen, aber um meine Mutter bemühte ich mich am meisten. Sie hatte ihre störrischen Phasen, zu vergleichen mit den Gefühlsschwankungen eines pubertierenden Mädchens. Doch egal wie oft meine Mutter sagte, dass sie uns verlassen würde, dass sie alleine ihr Leben nachholen möchte, egal wie oft, ich habe immer um sie gekämpft. Bin bei ihr geblieben in jeder Zeit und machte mir mehr Sorgen um sie, als sie sich um mich.
Für sie war ich der Fels in der Brandung. Das siebzehnjährige Kind was in Wahrheit schon fünfunddreißig Jahre alt war. Sie meinte, mich könnte nichts erschüttern. Ich wäre stark, stärker als die meisten Menschen. Und ich würde meinen Weg finden. Egal wie und um welchen Preis.
Doch ich glaubte an den Weg, für immer für meine Mutter da sein zu müssen.

Ein paar Minuten blieb ich auf der Bettkante sitzen und sah mich um. Mein Zimmer hatte zwar wieder dieselbe, fliederfarbene Tapete, jedoch war es einfach nicht dasselbe. Ich hatte endlich neue Möbel bekommen, die jetzt alles noch fremder machten. Mein Fenster ging bis zum Boden und bis fast unter die Decke. Sowas, dachte ich, würde es nur als Terrassentüre geben. Aber es war ein ganz normales Fenster in einem unserer Schlafzimmer. Und da meine Mutter eh irgendwann dort hinaus gefallen wäre, habe ich es mir lieber gleich ausgesucht.
Ich stieß das Fenster auf, setzte mich hin und ließ die Beine baumeln. Ich konnte in unseren Garten sehen. Er war groß und hatte riesengroße Bäume. Unter einem stand unsere weiße Hollywoodschaukel. Ich liebte es darin zu sitzen und zu lesen. Sie war furchtbar kitschig aber unheimlich romantisch. Vor allem wie sie dort im Schnee stand. Unser Garten beinhaltete auch einen Pool, der jetzt natürlich abgedeckt, und somit nicht sichtbar war. Wir hatten Schnüre gespannt, damit man wusste, wo er sich befand und man nicht hinein fiel. Oder eher: damit meine Mutter nicht hinein fiel!
Der Himmel über mir war strahlend blau und die Sonne schien. Hoffentlich würde sie den Schnee zum Schmelzen bringen.
Ich ging in die Küche und deckte den Tisch. Kochte Kaffee und holte die Zeitung von draußen.
Noch maximal eine halbe Stunde und meine Mutter würde aufstehen. Sie war noch nie später als acht Uhr aufgestanden. Ich hingegen liebte den Schlaf, ich brauchte ihn. Am liebsten würde ich für immer schlafen, in meinem früheren Leben war ich bestimmt ein Siebenschläfer gewesen.
Meine Mutter wachte auf und der normale Wahnsinn begann.

Die letzte Ferienwoche ging schnell vorbei und für mich war es an der Zeit, meine letzten anderthalb Jahre Schule anzugehen.
Und ich hatte überhaupt keine Lust.

Vorgestern hatte ich meinen neuen Stundenplan per Post erhalten. Für mich stand jeden Montag zuerst Mathe an. Mathe war das schlimmste Fach für mich. Egal wie sehr ich mich anstrengte, ob mit oder ohne Nachhilfelehrer, ich würde nie besser als eine Fünf sein. Meine letzte Vier hatte ich in der sechsten Klasse.
Dafür liebte ich das Lesen. Ich verschlang die Bücher geradezu. Und somit glich das Hauptfach Deutsch dass andere, viel schrecklichere Hauptfach Mathe immer aus.
Ich setzte mich in meinen alten, roten Zweiergolf und fuhr los.
Meine Mutter hatte mir schon meine neue Schule gezeigt und wusste deshalb gleich, wo ich lang fahren musste.
Es waren schon einige Schüler da und ich stellte mich auf den Parkplatz. Einige musterten meinen alten Golf- warscheinlich dachten sie, sowas würde nicht mehr hergestellt werden.
Aber ich liebte ihn, er war alt aber treu. Das erste Auto mit dem ich fahren durfte,- zur Übung noch vor der eigentlichen Fahrstunde. Natürlich geheim.
Es hatte diesen speziellen Geruch nach …ja…das wusste ich nicht. Einen gemütlichen Duft der einem sofort sagt: Ich bin schon alt aber gepflegt. Setz dich rein und fahr mich durch die Welt.
Mein Vater nannte ihn einfach nur: Den Jugendauto- Duft.
Er war meine kleine Welt. Er war Verkehrsmittel, Kleiderschrank und Lebensraum. Ich liebte es zu fahren und dabei laut Musik zu hören. Jedoch nicht die Musik, die Jugendliche in meinem Alter hören würden.
Auf meinem Zettel stand, dass ich Mathe im Block C hatte. Angenervt schlurfte ich meiner persönlichen Hölle entgegen.
„Ah, Miss Bird. Herzlich Willkommen, ich hoffe sie können folgen. Wenn sie Fragen haben, dann wenden sie sich einfach an mich. Ich heiße Mr. Thommson. Setzten sie sich doch dort hin, zu Mr. Cornwell. Ja genau dort.“
Mr. Thommson war anscheinend einer der wenigen, sympathischen Mathelehrern auf dieser Welt.
Er wies mir den Stuhl neben einem Jungen zu, der mich schon ganz erwartungsvoll fixierte.
Ich setzte mich zu ihm. „Äm, hi.“
„Du bist Julie? Julie Bird? Ich heiße Rick. Wie lang bist du schon hier? Magst du Mathe?“
Rick, ein neugieriger, zu viel-fragender, aufdringlicher Sitznachbar. Toll.
„Ja, dass bin ich. Kennen mich hier alle schon so wie du? Und nein, ich mag kein Mathe. Und hier bin ich seit ca. einer Woche.“
Rick grinste. „Ja, natürlich bist du bekannt. Wir hatten keinen Neuzugang mehr, seit sieben Jahren. Alle erwarten dich, dass schöne Mädchen aus dem Süden.“ Er grinste noch breiter. Ich empfand es als unangenehm.
„Tja, dann sind hier wohl sicherlich bald alle enttäuscht.“
„Wieso das?“ Sein Grinsen schwand.
Ich warf ihm einen Das-siehst-du-doch-Blick zu und schaute nach vorne.
„Egal.“
Er schaute mich noch kurz fragend an, dann musste auch er nach vorne schauen, da Mr. Thommson den Unterricht begann.
Mathe war natürlich die Hölle gewesen. Nicht nur, dass Rick mich andauernd angestarrt hatte mit seinen braunen Dackelaugen. Nein, ich war natürlich drangenommen worden und konnte partout nicht auf die Lösung kommen.
In den nächsten zwei Stunden hatten wir Kunst, dass war wenigstens etwas. Zeichnen konnte ich, also hoffte ich auf eine Herausforderung. Doch ich wurde enttäuscht. Rick sagte mir, dass sie momentan Stillleben malten und war begeistert davon, dass er noch ein Fach mit mir hatte.
Er zog mich gleich mit sich und platzierte mich auf den Stuhl neben sich an einem der vier Blocktische. An unserem Tisch saßen noch ein Junge und zwei Mädchen.
Der Junge war hübsch, hatte schwarze, verwuschelte Haare und schwarze Augen. Im Gegensatz zu Rick, der mit seiner blonden Pilzfrisur nicht so mein Typ war.
Der dunkelhaarige Junge hieß Thomas und mir wurde sehr schnell klar, dass er ein Macho war. Ständig flirtete er mit den Mädchen und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. Mein Interesse an ihm schwand in diesen Minuten so schnell, wie ein Eiswürfel im Backofen.
Die Mädchen hießen Susan und Stephanie, wobei die Letztere nur Steph genannt werden wollte. Sie machte kein Geheimnis daraus, dass sie auf Thomas stand. Sie ging ständig auf sein Machogehabe ein, lenkte seine Aufmerksamkeit auf sich und warf allen Mädchen, darunter auch mir, Todesblicke zu, wenn man sich mit Thomas unterhielt.
Sie war mir furchtbar unsympathisch.
Susan dagegen war eher stiller und wirklich nett. Sie fragte mich zum Beispiel warum ich hierher gezogen war, wie es mir hier gefalle und wo ich wohnen würde.
Ich unterhielt mich die ganze Stunde mit ihr.

Als es klingelte und wir alle unsere Obstschale fertig abgemalt hatten, ging ich mit Susan in die Cafeteria. Wir holten uns Essen und Trinken und setzten uns zu den zwei Jungs an den Tisch.
Ich hatte nicht darauf geachtet, zu wem ich mich setzte und wie es mein Pech wollte, saß ich direkt zwischen Thomas und Susan. Als Steph ankam, verzog sie ihren Mund zu einer Schnute und funkelte mich an. Wenn Blicke töten könnten, wäre ich in diesem Augenblick zehn Tode auf einmal gestorben.
Ich schaute schnell weg, während sie sich zwischen Susan und Rick quetschte.
„Und, schmeckt dir das Essen hier?“ Thomas lehnte sich zu mir herüber und lächelte sein verführerischstes Lächeln. Es fehlte nur noch, dass an seinen Zähnen kleine Sternchen auf funkelten, wie bei den reichen Teenies auf MTV.
Ich sah ihn fragend an. „Warum sollte es mir nicht schmecken?“
„Ich weiß nicht, vielleicht möchtest du ja mal bei mir probieren.“ Er hielt mir eine volle Gabel vor mein Gesicht. Steph kochte.
„Nein danke.“ Ich schob seinen Arm beiseite und aß weiter.
„Mir kannst du gerne etwas abgeben!“ Steph versuchte wieder Thomas Aufmerksamkeit zu erlangen.
Ganz Gentleman ging er natürlich darauf ein, obwohl er immer noch mich taxierte.
Ich ließ meine Haare auf der einen Seite hinunterfallen und schuf somit eine Trennwand zwischen meinem und seinem Gesicht.
„Hey, Julie. Was hast du als nächstes?“
Rick ergötzte sich daran, wie ich Thomas eine Abfuhr nach der anderen erteilte. Anscheinend war das nicht bei jedem Mädchen hier der Fall. Mir war eh schon aufgefallen, dass sämtliche Mädchen in der Cafeteria sich nach ihm umdrehten und anfingen zu kichern, wenn ihre Blicke sich begegneten.
Ich sah auf meinen Stundenplan. „Sport.“
Ricks Miene deutete eindeutig darauf hin, dass er nicht mit mir Sport hatte.
Thomas hingegen drehte sich direkt aus der Unterhaltung mit Steph in meine Richtung und strahlte über das ganze Gesicht.
„Hey, ich auch! Und Steph auch!“ Er boxte ihr gegen den Arm. „Ist das nicht toll, Steph?“
„Ja…super.“ Sie war motzig und furchtbar wütend.
Susan lehnte sich zu mir und flüsterte mir zu: „Ignorier sie einfach.“
„Hast du auch Sport?“
„Nein, ich muss leider zu Bio.“ Sie meinte er ehrlich.
Auf dem Weg zur Sporthalle quasselte Thomas mich voll. Steph schlurfte neben ihm her und motzte.
Bei den Umkleidekabinen wurden wir Gott sei Dank getrennt.
Im Unterricht nahmen sie gerade Basketball durch. Ich selbst hatte das noch nie gespielt-obwohl ich es mir gerne im Fernsehen ansah. Heimlich freute ich mich auf die Stunde.
„Hier, bind deine Haare zusammen. Mrs. Huber mag es nicht, wenn die Haare offen sind.“
Ein rothaariges Mädchen hielt mir ein Haarband entgegen. Sie lächelte mich freundlich an.
„Danke.“
Ich band meine Haare zusammen.
„Ich heiße Charlotte. Und du?“
Wow, eine, die mich noch nicht kannte.
„Ich bin Julie. Die Neue, wie hier alle sagen.“
„Ach stimmt, du hast heute deinen ersten Tag, oder? Wie war er bis jetzt?“
Ich sah kurz Steph zu mir hinüber funkeln.
„Naja, geht so. Ich hatte schon bessere.“
Sie lachte.
„Bestimmt wird es bald besser.“
Wir zogen uns fertig um und gingen in die Halle.
Thomas stürmte auf mich zu und wollte mit mir und Charlotte zusammen die Aufwärmübungen machen.
Charlotte war dabei, und somit auch ich. Ich hatte keine Lust zu Steph eingeteilt zu werden und spürte schon deutlich ihren Blick im Nacken.
Charlotte war noch cooler, als ich zuerst dachte.
Sie hatte immer die passenden Antworten auf Thomas Flirtversuche. Sie waren wohl gut miteinander befreundet und auch wenn Thomas vielleicht mehr wollte, war für Charlotte ganz klar, wie sie mit ihm umgehen musste. Das gefiel mir. Auch ich wollte so sein. Vielleicht war Thomas als Kumpel ja doch nicht so schrecklich.
Wir spielten uns einige Male den Ball zu, warfen ihn auf den Korb und machten Laufspiele.
Dann ging es ans Eingemachte und wir wurden in zwei Mannschaften aufgeteilt. Thomas war in meiner Mannschaft und Steph. Na super. Charlotte war in der anderen. So wie es aussah, verstand sie sich mit jedem. Sie war anscheinend höchst beliebt und begehrt aber trotzdem cool und freundlich. Nicht überheblich oder arrogant.
Das Spiel ging los und Thomas half mir mit den Regeln. Ich bekam öfters den Ball und hatte schon bald Freude an dem Spiel. Doch dann wurde Steph gegen Thomas eingewechselt und ich lag öfter auf dem Boden, anstatt den Ball zu spielen. Immer wieder stellte sie mir ein Bein wenn niemand hin sah, schubste mich oder hielt mich an meinem T-Shirt zurück.
Einmal stand ich als Einzige frei, aber anstatt dass Steph einmal fair spielte, warf sie mir den Ball so feste zu, dass er durch meine Finger hindurch sauste und mich mitten ins Gesicht traf. Ich verlor kurz das Bewusstsein und landete auf dem Hallenboden. Als ich die Augen wieder aufschlug stand Charlotte über mir.
Die Trainerin hatte sich Steph zur Seite genommen und war lauthals mit ihr am Schimpfen.
Charlotte hingegen hielt mir ein Tuch unter die Nase. Sie blutete. Ich setzte mich auf und sah mich um. Alle standen um mich herum und schauten, ob es mir auch gut ging.
Stephanie wurde von dieser und der nächsten Sportstunde ausgeschlossen und das Spiel ging weiter. Charlotte durfte mit mir zur Umkleidekabine gehen.
„Geht es wieder?“
„Ja, außer dass mein Kopf brummt.“
„Das war ganz schön fies von Steph.“
„Sie hat schon seit heut Morgen etwas gegen mich.“
„Sie hat etwas gegen Jeden.“
Ich schnaubte. „Dass ist mir aber noch nicht aufgefallen.“
Wir setzten uns auf die Umkleidebank.
„Glaub mir, jeder hasst Steph und Steph hasst jeden von uns. Naja, alle außer Thomas. Er ist ihr Goldschatz. Aber das stört uns nicht weiter. Er ist eh nicht an ihr interessiert.“
„Aber an dir.“
Sie grinste.
„Thomas ist ein Charmeur. Er baggert alles an, was nicht bei zehn auf den Bäumen ist. Aber ja, du hast recht. Wir kennen uns schon seit wir klein sind. Und seit er weiß, was Liebe ist, versucht er mich herum zu bekommen. Aber wir sind nur Freunde. Und da es nicht klappt, versucht er sich bei Anderen. Auch wenn sie nicht dass sind, was er im Grunde will.“
„Dich.“
Sie grinste noch mehr.
„Er wird für immer nur ein Kumpel für mich sein.“
Wir zogen uns um und gingen in die Pausenhalle.
Als es läutete, entdecke Susan uns.
„Was macht ihr denn schon hier? Die Sportleute kommen doch immer erst gegen Ende der Pause. Hatte Frau Huber einen guten Tag?“
„Steph hat Julie ausgeknockt.“
„Was?“ Sie hatte vor Entsetzen den Mund weit aufgerissen. Sie setzte sich neben mich und fühlte mir die Stirn.
„Wie denn das? Ist alles wieder in Ordnung? Oh was für eine dämliche, blöde…“
„Sprichst du über Stephanie?“
Rick war dazu gekommen und grinste.
Als er mich jedoch sah, verging ihm das Grinsen und auch er war schockiert. Warscheinlich stimmte meine Vermutung, dass ich eine große, rote Beule am Kopf hatte.
„Du scheinst wohl eine echte Rivalin für sie dazustellen.“
„Scheint so.“
Nach und nach kam auch der Rest der Sportgruppe und schon bald waren alle in Gespräche vertieft.
Als es wieder klingelte, standen alle gemeinsam auf.
„Welches Wahlpflichtfach hast du jetzt?“
„Ähm“,, ich blätterte. „WPU 2.“
„Cool. Dann bist du bei uns.“
„Bei euch allen??“
Alle grinsten.
„Wenn die Elite zusammen bleiben kann, dann tut sie das auch.“
Thomas legte mir den Arm um die Schultern und zog mich mit ihnen.

Ich kam nach Hause und schlug die Tür lauter als beabsichtigt zu.
„Julie, bist du es?“
Wer sonst?
„Ja Mom, ich bin es.“
„Wie war die Schule?“
„Ganz gut.“ Ich hatte meinen Pony direkt über die Beule gelegt, damit sie meine Mutter nicht sah.
Sie kam um die Ecke mit einem Geschirrtuch in den Händen.
„Ist etwas passiert? Du klingst fertig.
„Nein, ist schon gut Mom.“
Die letzten zwei Stunden waren tatsächlich gut gewesen.
Ich war im kreativen Kurs und wir hatten ein altes, aber lustiges Farbspiel gespielt.
Der Raum war über und über mit Folie abgedeckt und vor einer Wand stand eine riesige, weiße Leinwand. Diese war über und über mit bunten Luftballons bestückt, in denen Farbe stecke. Unsere Aufgabe war es nun, mit Dartpfeilen möglichst viele Ballons zu treffen und somit ein Kunstwerk zu erschaffen. Es machte wirklich viel Spaß und ich war froh, dass Steph nicht dabei war. Sie hätte mich warscheinlich anstatt der Ballons abgeworfen.

Die Wochen zogen sich nicht so sehr, wie ich anfangs gedacht hatte. Ich verbrachte meine Schulzeit mit Charlotte, Susan, Rick und Thomas, mit dem ich allmählich besser klarkam. Er hatte wohl eingesehen, dass es mit uns nicht klappen würde und somit die Kumpelrolle eingenommen. Und diese Rolle stand ihm viel besser.
Ich hatte zuvor noch nie wirklich gute Freunde gehabt. Und nun hatte ich plötzlich vier Stück.
Sie hatten alle ihre Macken, Susan- war eher still und deshalb nicht sehr bekannt. Charlotte- war zu bekannt und deshalb auch oft bei anderen Leuten. Thomas- war immer noch Gentleman durch und durch und manchmal etwas zu übertrieben. Er war laut und beliebt. Und Rick..tja Rick. Er war eine Sache für sich. Und mir wurde außerdem noch schnell klar, dass es sich nie um mich als Freundin gedreht hatte bei ihm, sondern um meine etwas andere Art. Denn auch Rick war andersherum. Und er stand dazu, schwul zu sein. Er sagte mir, dass ich genau das Gegenteil gewesen wäre, was er erwartetet hätte. Keine blonde, dumme, zickige Tussi, die wie alle auf Thomas stand. Nein, ich war bodenständig, wusste was ich wollte, intelligent (außer in Mathe,- hatte er scherzhaft dazu gefügt) und ich stand nicht auf Thomas Machogehabe. Und so wurden wir ein Team, nachdem die Fronten geklärt waren.
Er war genauso, wie man sich seinen schwulen Freund vorstellt.
Er kam mich fast jeden Tag besuchen und wenn nicht, rief er mich an. Und dann quatschte er stundenlang mit mir. Wenn er kam, quatschten wir auch. Vor allem über Mädchensachen wie Jungs, Styling, Mode und Lästereien. Er war schon bald mein bester Freund. Oder eher meine beste Freundin.
„Bitte Rick.“
„Nein.“
„Warum nicht?“
„Darum.“
„Och komm schon, bitte.“
„Nein.“
Rick saß mit verschränkten Armen in meinem Zimmer und grummelte.
„Warum denn nicht???“
„Du bist kein Friseur.“
Ich verdrehte die Augen.
Ich hatte ihn bald soweit, dass ich ihm eine neue Frisur verpassen konnte. Ich musste nur hart bleiben.
Ich kniete mich vor ihn, sah ihn mit Schmollmund und Hundeaugen an und wimmerte: „Bitte!“
Und dann hatte ich ihn soweit.
„Naaaaaaaaa schöööön. Aber wehe du versaust es, dann bekommst du dieselbe Frisur von mir verpasst!“
Ich sprang auf und jubelte.
Ich platzierte ihn auf meinem Hocker vor dem Spiegel und fing an, wie ein professioneller Friseur über den neuen Look zu grübeln.
„Komm, du weißt doch eh schon seit Wochen was du schneiden willst!“
Ich tat schockiert. „Gar nicht wahr!!!“
Doch dann musste ich lachen und fing an, seine Pilzfrisur zu kappen.


„Und, wie gefällt es dir?“
Er sah prüfend in den Spiegel und fasste seine Haare an. Ich hatte ihm einen Beckham-Iro verpasst, was ihm viel besser stand.
„Na, ich weiß nicht.“
„Meckerst du etwa über meine Haarkünste?“Ich fuchtelte ihm drohend mit der Schere vorm Gesicht rum.
Er lachte. „Ok, ich geb es zu. Es sieht tatsächlich gut aus!“
„Ha!“
Ich zeigte ihm noch in verlangsamter Version, wie er den Style zu Hause nachmachen konnte und kamen dann wieder auf sein Lieblingsthema Jungs.
„Und, gefällt dir jetzt endlich mal einer?“
„Neee.“
„Warum nicht? Bobby zum Beispiel. Der ist doch lecker!“
Dank einer schwulen Tratschtante als Freundin kannte ich fast alle Schüler und konnte ihre Vor- und Nachteile auflisten.
„Bobby? Spinnst du?“
„Warum denn? Was hast du gegen ihn? Also wenn ich du wäre…“
„Dann hättest du schon die halbe High School abgeschleppt!“
„Das wäre durchaus möglich.“
„Du bist ein Schwein.“
„Nein, wenn eine Sau. Du vergisst, mit wem du hier sprichst.“
„Oh Entschuldigung. Du bist eine Sau.“
„Oh ja, eine Rampensau.“
Ich lachte.
„Nein ehrlich, hast du wirklich auf Niemanden dein Auge geworfen?“
„Nein, Rick. Auf niemanden. Wie du siehst, habe ich noch beide Augen.“
„Haha, sehr witzig! Und woran liegt das?“
„Ach…das sind so Kleinigkeiten. Die einen sind zu protzig, die anderen zu weichei-rig, die anderen Angeber und der Rest Trottel. Ich möchte jemanden, der gebildet ist. Der Ahnung von der Welt hat, weiß was er will und nicht nur auf die aktuellen Trends steht. Und der einfach etwas Besonderes ist. Das gewisse Etwas, du weißt schon…“
„Schätzchen, du wirst ewig Jungfrau bleiben.“
Ich streckte ihm die Zunge raus.
„Das sagt der Richtige!“
Er hob eine Augenbraue.
„Wie? Was? Mit wem?“
Er grinste.„Das errätst du nie!“
„Sag!!!“
„Sagt dir der Name, Oliver Kwan etwas?“
„Oli? Nein oder- er ist schwul???“
„Durch und durch.“
Ich musste mich setzen.
„Das hätte ich nie gedacht! Er spielt Football und alle Cheerleader lieben ihn!“
„Er verheimlicht es auch, es ist ihm peinlich. Aber wenn er sich mal wieder nach Liebe sehnt…“
„Dann was?“
„Tja… dann weiß er wo er hingehen kann.“
Ich verzog das Gesicht.
„Du bist wirklich eine Sau. Nein, ein Schwein bist du! Keine Sau!“
Er lachte leise.
„Und was ist mit seiner Freundin? Rose? Die Hübscheste der ganzen Schule? Stört dich das nicht?“
„Oli ist ein Arschloch, Julie. Und ich muss mir keine Gedanken machen. Ich weiß jedenfalls, wer die Person ist, mit der er spielt. Und die bin nicht ich. Also kann ich mich getrost zurück lehnen und warten, bis das Telefon klingelt.“
Ich war schockiert.
„Fühlst du dich nicht benutzt? Willst du nicht lieber…etwas Ernstes?“
„Klar, aber find mal einen in unserem Alter der dazu steht. Und außerdem ist Oli wirklich gut. Darauf verzichten möchte ich vorerst nicht.“
„Ok, das reicht, ich hab genug gehört. Außerdem wolltest du eh schon um fünf zu Hause sein, und das war schon vor einer halben Stunde.“
Als Rick gegangen war, ging ich in die Küche und bereitete das Abendessen vor. Als ich alles vorbereitet hatte, ging ich in mein Zimmer und öffnete das Fenster. Warme Luft strömte hinein.
Es war Mitte Mai geworden. Die Zeit ging wirklich schnell herum. Meine Mutter saß unten auf der Hollywood Schaukel. Ihr Buch lag auf ihrem Schoß, sie selbst schlief.
„MOM?“, brüllte ich aus dem Fenster. „Kommst du essen?“
Sie schrak hoch, schaute sich um und auf die Uhr und antwortete dann mit einem Nicken.

Am nächsten Morgen parkte ich wie üblich in unserer Standard-Reihe. Wir hatten unsere festen Parkplätze, die auch jeder tolerierte und unseren festen, allmorgendlichen Treffpunkt.
„Guten morgen ihr alle!“ Charlotte kam wie immer gutgelaunt herbeigelaufen und drückte uns allen einen Kuss auf die Wange.
„Warum so gut gelaunt, Charlotte?“
„Rick, ganz einfach: Sie freut sich mich zu sehen! Jeden Tag aufs Neue, stimmt`s nicht, Charlotte?“
„Jaja, du bist der Grund und der Mittelpunkt meiner Erde.“
„Hab ich`s doch gesagt!“ Thomas legte ihr den Arm um die Schultern und küsste sie auf die Backe.
„Für immer für sie da, egal für was, Mademoiselle!“
„Uh, dass war jetzt aber zweideutig, pass auf Charlotte!“
„Er verbrennt sich eh nur seine Finger an mir, keine Angst Rick.“
Weiter quatschend gingen wir zum Unterricht. Mathe stand mal wieder bei mir und Rick an.
Gott sei Dank konnte er es besser als ich und so brachte er mich mehr oder weniger mit durch das Halbjahr.
In Kunst redeten wir über das Thema Gefängnis, nachdem uns Susan gefragt hatte, ob wir schon einmal ein Gefängnis von innen gesehen hätten. Da wir dass beide noch nicht gesehen hatte, schilderte sie uns ihre Eindrücke. Sie wäre letztens dort gewesen und hätte es schrecklich gefunden. Die Insassen hätten offene Toiletten direkt neben ihrer Schlafstätte und alles wäre dunkel und kalt gewesen.
Auf die Frage, warum sie dort gewesen wäre, sagte sie nur, dass sie es interessiert hätte und sie durch ihren Onkel, der angeblich Polizeichef dort ist, reingekommen wäre.
Ich sah ihr jedoch an, dass dies nicht ganz der Wahrheit entsprach. Aber da ich Susan jetzt schon ziemlich gut einschätzen konnte, wusste ich, dass es ihr unangenehm wäre, wenn ich sie noch mehr ausgefragt hätte. Sie war ein sehr ehrlicher Mensch und log nur, wenn es sich absolut nicht vermeiden ließ. Warscheinlich hatte sie den besagten Onkel nur besucht, da er eigentlich in dem Gefängnis saß.
Stephanie war weiterhin nicht gut auf mich zu sprechen. Doch da ich mich nun gut mit Charlotte verstand, traute sie sich nicht mehr, mich so stark zu tyrannisieren. Denn wenn es Eine gab, die sie wegen Thomas noch mehr hasste, dann war es Charlotte. Aber an sie traute sie sich nicht heran.
Sportunterricht hatten wir seit letztem Monat draußen und waren zu Speerwerfen übergegangen.
Während ich darauf wartete dranzukommen, beobachtete ich Oli auf dem Footballfeld. Ich konnte einfach nicht glauben, dass er in Wahrscheit schwul sein sollte.
„Julie, du bist dran!“ Ich wurde von Thomas geschubst.
„Mrs. Huber hat dich jetzt schon das zweite Mal aufgerufen!“
Mit rotem Kopf ging ich zu meinem Speer und warf ihn so gut es ging. Ein Profi war ich darin nicht, dass stand fest.
Ich ging zurück zu Thomas und Charlotte, die sich gerade wieder rauften.
„Du sollst das lassen, Thom!“
„Warum? Du trägst doch extra so knappe Shorts!“
„Was hat er getan?“, schaltete ich mich ein.
„Mir in den Hintern gekniffen!“
Charlotte haute ihm von hinten über den Kopf.
„Au!“
„Das hast du davon!“
Immer wenn die Zwei zusammen waren, kabbelten sie sich.
Thomas wurde wohl nie müde, es immer wieder bei Charlotte zu probieren.
Ich hätte an seine Stelle schon längst aufgegeben. Es war glasklar, dass Charlotte sich niemals auf ihn einlassen würde. Und er könnte so gut wie jedes Mädchen hier auf der Schule haben.
Ich erinnerte mich daran, wie positiv er mir aufgefallen war, bevor ich gemerkt hatte, was für ein Typ Mann er ist.
Wäre ich nicht so anspruchsvoll, würde ich ihm warscheinlich auch hinterherlaufen.
Aber das war schon immer mein Problem gewesen. Ich hatte mich noch nie verliebt und somit auch keinen Freund gehabt. Ich wartete immer noch auf Mr. Perfekt, obwohl ich wusste, dass es ihn nicht gab. Ich würde als einsame Jungfer sterben, so wie es Rick vorausgesehen hatte.

Der Sommer war heiß und die Ferien begannen am ersten Juli.
Es standen uns also nur noch drei Wochen harte Schule bevor und alle waren damit beschäftigt Pläne zu schmieden.
Ich jedoch würde nicht wegfahren. Meine Mom und ich konnten uns dass nach dem Umzug nicht leisten und blieben lieber bei uns im Garten. Und da wir ja eh schon einen Pool besaßen…
Als ich gerade dabei war zu überlegen, was ich heute anziehen wollte, bemerkte ich, wie es draußen allmählich dunkler wurde.
Ich hatte erst zur vierten Stunde und konnte mir Zeit lassen. So wie es aussah, gab es heute wohl einige Sommergewitter und ich verzichtete auf meinen Rock.
Mein Kleiderschrank war die Hölle. Nichts war ordentlich gestapelt. Alles lag kreuz und quer und ich musste darin wühlen, um etwas finden zu können. Jetzt im Moment kramte ich nach einer schwarzen Hose, die prima zu meinem roten Converse-Oberteil und meinen roten Converse-Schuhen passen würde.
Als ich sie endlich gefunden hatte, richtete ich mich wieder auf und schlug meine Schranktüre zu.
In diesem Moment sah ich ihn zum allerersten Mal.
Ich stieß ein Kreischen aus, hielt mir die Hose vor meinen Körper und stolperte nach hinten auf mein Bett. Ein wildfremder Mann stand in meinem Zimmer und sah genauso erschrocken aus wie ich. Er hatte sich an die Wand gepresst und starrte mich an. Als ihm das bewusst wurde, hielt er sich schnell die Augen zu und stammelte schnelle Entschuldigungen.
„Raus! Raus!“
Der Mann öffnete schleunigst meine Tür und ging hinaus.
Nachdem sich mein Atem etwas beruhigt hatte, zog ich mich schnell an und öffnete unter Herzklopfen meine Tür. Der Mann stand im Flur und sah sich um.
Ich hatte Angst. Fast hätte ich die Türe wieder zu geschlagen, mich dahinter verbarrikadiert und die Polizei gerufen. Doch dann sah er mich, strahlte mich an, schrie: „Es hat funktioniert!“.Er kam mit großen Schritten auf mich zu, riss mich an sich und schleuderte uns im Kreis.
„WER SIND SIE???“
Als er mich wieder abgesetzt hatte, konnte ich nicht anders, als ihn anzuschreien.
„WAS WOLLEN SIE? UND WIE KOMMEN SIE ÜBERHAUPT HIER REIN???“
„Entschuldige, entschuldige, ich muss wirklich sehr, sehr unhöflich wirken. Wie ich genau hier rein gekommen bin, weiß ich nicht, aber wie ich heiße, kann ich dir verraten: Ich bin Timo. Timo Wood.“
Ich starrte ihn entsetzt an. Ich hatte gemischte Gefühle- zum einen hatte ich Angst vor diesem Mann und zum anderen war er das schönste Geschöpf, was ich bis jetzt gesehen hatte. Seine Schönheit blendete mich geradezu und machte es mir unmöglich, etwas zu sagen.
Als ich immer noch schwieg, ergriff er wieder das Wort.
„Ich denke, bevor ich dir genau sage, woher ich komme und warum ich hier bin, sollten wir uns setzen. Ich werde dir nichts tun, auch wenn du Angst hast. Ich bin in friedlicher Absicht hier!“
Ich ließ mich von ihm auf einen Stuhl setzen und klappte endlich meinen Mund wieder zu.
„Ich möchte dich nicht erschrecken, aber dass, was ich dir jetzt sage, könnte vielleicht komisch für dich klingen. Dich erschrecken oder dich durchdrehen lassen. Aber lügen tue ich nicht, also werde ich dir gleich die Wahrheit sagen. Bist du bereit?“
Mir schossen Informationen durch den Kopf und ich war alles andere als bereit. Ich stellte mir meine Mutter vor, einen Autounfall und sie als Leiche mitten auf der Straße. Oder meinen Vater, an einem Herzinfarkt gestorben. Tausende schreckliche Szenarios schossen mir durch den Kopf.
Der Mann deutete mein Schweigen als Ja.
„Ich komme aus der Zukunft.“
Wieder klappte mein Mund auf. Mit diesen Worten hatte ich nicht gerechnet. Anscheinend war ich verrückt, oder träumte diesen Schwachsinn. Es konnte jedenfalls nicht echt sein.
„Ich bin durch die Zeit gereist und hier gelandet, in deinem Zimmer. Bitte glaube mir. Ich sage nicht Sie, weil ich denke, dass du ungefähr in meinem Alter bist.“
Ich sah ihn an. „Warum, was denken sie, wie alt ich bin?“
Er runzelte die Augenbrauen. Auch ich kam mir lächerlich vor. Hier erzählte mir gerade einer, dass er aus der Zukunft kommt und ich habe nicht Besseres zu sagen, als das.
„Ich bin achtzehn Jahre alt. Und dich schätze ich so auf siebzehn? Achtzehn?“
„Siebzehn.“
„Und wie heißt du?“
„Julie.“
Er strahlte mich an, ganz entzückt davon, dass ich angeblich so cool reagierte. Natürlich war ich nur von außen cool. In meinem Inneren kämpfte die Vernunft gegen mein Bedürfnis, dieses schöne Gesicht anzufassen und überhaupt ihn berühren zu können.
„Welches Jahr haben wir?“
Mein Verstand nahm die Oberhand.
Ich funkelte ihn an. „Verarschen sie mich? Ich finde nämlich, dass es langsam genug ist!“ Ich war wieder auf den Beinen.
„Erstens, ich verarsche dich nicht. Ich weiß zwar nicht was das genau heißt, aber ich schätze es ist eine Art von – jemandem einen Streich spielen- oder? Und zweitens: Ich will nicht gesiezt werden! Das wird schon seit dem Einundzwanzigstem Jahrhundert nicht mehr gemacht.“
„Ok. Und woher kommst du?“ Diese Frage war eigentlich ironisch gemeint, aber er antwortete ganz ernst.
„Ich komme aus dem Jahre 2180 und hier habe ich den Beweis.“
Er zückte sein Portemonnaie und hielt mir eine kleine Karte mit einem Chip unter die Nase.
„Was ist das?“
„Mein Führerschein!“, sagte er verwundert.
„Kennt ihr hier so etwas noch nicht? Bin ich so weit zurück gereist?“
„Unsere sehen anders aus!“Ich war wütend, dass er uns als so unzivilisiert abstempelte.
„Naja egal, hier ist der Chip, siehst du? Und da drunter steht ganz klein das Datum, wann ich ihn gemacht habe. August 2179. Letztes Jahr.-Also,- von meiner Zeitrechnung aus.“
Ich sah auf das eingestanzte Datum und glaubte ihm. Das wiederum machte mich sauer auf mich selbst. Ich war nie so leichtgläubig und naiv gewesen. Doch ich konnte nicht anders, als ihm glauben.
Und es erschreckte mich, dass mich das so kalt ließ. Jeder andere wäre vor Schock umgefallen.
Und ich stand hier und vergötterte diesen Typ aus der Zukunft, den es nach meinem Verstand zumindest, gar nicht geben sollte.
„In welchem Jahr sind wir denn nun?“
„2009.“
„Wow! Ganze einhundert-einundsiebzig Jahre zurück! Zeig mir alles!“
Er durchkämmte unser Haus und ich sah ihm dabei zu. Er war groß, muskulös aber nicht protzig, hatte braune verwuschelte Haare- noch mehr als die von Thomas und diese wunderschönen braunen Augen. Seine Bewegungen waren geschmeidig, sie passten zu seinem Körper. Sein Grinsen ließ Eisblöcke schmelzen und bei seinen Händen wünschte man sich, sie würden einen anfassen und nie wieder loslassen.
„Was ist?“
Ich lief rot an. Ich hatte nicht gemerkt, wie ich ihn angestarrt hatte.
„Oh..ähm…es ist komisch wenn jemand Fremdes durch die Wohnung läuft! Und ja…“
„Und ja?“
Ich wurde noch roter.
„Du…du bist so…hübsch.“ Dunkelrot.
Ich konnte nicht anders, als die Wahrheit zu sagen.
Auch er lief rot an. „Ähm, danke.“
„Und ich hab so viele Fragen! Wenn du denn wirklich die Wahrheit sagst.“
Er kam grinsend auf mich zu. „Ich sage die Wahrheit. Und bestimmt so viele, wie ich an dich habe. Aber du zuerst.“
Er setzte sich mir gegenüber, faltete die Hände und sah mich durchdringend an.
Na super, meine Konzentration war weg. Seine Augen waren alles, an was ich denken konnte.
„Und?“
„Äh, ja..also….wenn du aus der Zukunft kommst, warum bist du dann so gekleidet wie wir?“
„Er lachte. „Hattet ihr niemals Trends aus den Achtzigern oder so etwas?“
„Ach so ist das….was tragt ihr sonst?“
„Ach weißt du, die Modewelt hatte schon alles. Es wird immer nur kopiert und kopiert. Das kennst du alles schon, also nichts Neues.“
„Ok. Fliegen eure Autos?“
„Wie kommst du denn darauf?“
„Naja, so stellen wir uns hier die Zukunft vor.“
„Nein, fliegen tun sie nicht. Aber sie schweben.“
Ich machte große Augen. „WOW!“
„Das ist nichts besonderes, du kannst dir gar nicht vorstellen, wie oft es dadurch Unfälle gibt, weil alle zu faul sind, auf Gegenstände, Personen oder so auf dem Boden zu achten.“
„Wenn du wüsstest…“
„Warum, wie bewegt ihr euch fort?“
„Soll ich es dir zeigen?“
„Klar!“
Wir stiegen ins Auto und ich fuhr los. Ich war immer noch sauer auf mich. Ich sollte eigentlich vor Angst gar nichts tun können. Aber ich spürte keine Angst. Nur Neugierde und den Wunsch, Timo alles zeigen zu können. Ich wollte es sein, die ihm alles zeigt. Mit der er redet. Zeit verbringt. Anschaut.
Und Gott sei Dank war es auch so. Ich fühlte mich schrecklich naiv. Dummes, kleines, naives Mädchen was ich war.

„Und wann beschleunigst du endlich?“
Wir fuhren mit hundert Km/h die Autobahn entlang.
„Beschleunigen? Reicht das nicht?“
Er glotze mich an.
„Wir fahren gewöhnlich viel, viel schneller.“
„Wir nicht. Nur manche fahren auf Autobahnen bis zu zweihundert Km/h.“
„Süß.“
Ich grummelte.
Wir fuhren den ganzen Tag durch die Gegend und ich musste überall anhalten, damit Timo aussteigen und alles anfassen und begutachten konnte.
Er stellte für uns ziemlich witzige Fragen wie zum Beispiel:
„Was sind das für komische Blöcke mit Glas?“
„Das sind Häuser, in denen Wohnen wir.“
„Ach so, ich dachte vorhin, wir wären in einer möblierten Höhle!“
„Warum das denn?“
„Naja, unsere Häuser sind aus speziellem Glas. Und vor allem: Nur aus Glas! Du kannst von innen alles sehen, aber von außen nicht hinein.“
„Ist das nicht furchtbar unangenehm?“
„Es ist ein Gefühl von Freiheit!“
„Na wenn du meinst…“
Und so ging es den ganzen Tag weiter. In unserem Haus erschrak er sich vor dem Toaster, als dort die Weißbrotscheiben hinausflogen.
Er hielt den Fernseher für ein hässliches Bild und fand es komisch, dass man das Bild und den Sender nicht mit den Fingern am Monitor verstellen konnte.
Begeistert war er vom Telefon. Immer wieder wählte er irgendwelche Nummern und sagte immer denselben Satz: „Ich telefoniere! Ist das nicht toll?“
Ich hatte mächtig viel Spaß mit ihm und abends waren wir beide erledigt.
Wir saßen an meinem Fenster und schauten in den Garten.
„Eure Welt ist schön.“
„Eure nicht?“
Er seufzte. „Nein. Sie ist voller Technik, überall sprichst du mit dämlichen Robotern, wirst kontrolliert und ausgekundschaftet. Hier hat man wenigstens noch seine Ruhe.“
Er sah mich an und grinste.
In meinem Bauch kribbelte es und ich konnte nicht anders, als ihn einfach toll und wunderschön zu finden.
„Du hast vorhin gesagt, ich wäre hübsch.“
„Ja.“
„Noch ein Beispiel aus meiner Welt. Denn das ist auch so gewollt. Es gibt kein Hässlich und kein Normal. Und das ist schrecklich. Unsere Gene wurde so verändert, dass alle Menschen fehlerfrei auf die Welt kommen. Während der Schwangerschaft kannst du zum Beispiel bestimmen, welche Haar und Augenfarbe dein Kind haben soll.“
Ich war überrascht und schockiert zugleich. So stellte ich mir die Zukunft nicht vor.
„Und du, du bist so…natürlich und trotzdem so hübsch!“ Er nahm mein Gesicht in seine Hand und strich mir mit dem Daumen über die Backe. In unserer Welt wärst du etwas Besonderes!“
Ich wurde rot. Dunkelrot. Ich war noch nie etwas Besonderes gewesen. Und ich hielt mich auch nicht für hübsch. Und nun sagte dieser Gott von Mann so etwas. Das ging gegen meinen Verstand.
„Ich muss wieder los.“
„Nein!“ Ich sprang auf. „Geh nicht!“
Er lachte. „Ich muss aber! Sonst kann ich nie wieder zurück! Alles wird zeitlich festgehalten!“
„Kommst du wieder?“
Er wurde ernst.
„Ich hoffe es, Julie. Du bist ein tolles Mädchen. So jemanden habe ich noch nicht kennengelernt. Es wäre schade, wenn wir uns nicht wiedersehen würden.“
Er hatte sich neben meine Tür gestellt, an genau den Platz, wo er vor zwölf Stunden aufgetaucht war.
„Bitte, bleib.“
Ich ging auf ihn zu und streckte eine Hand nach ihm aus.
Er nahm sie und küsste mir auf den Handrücken. „Lebe wohl, Julie.“
Und im nächsten Augenblick war er verschwunden.
Und mein Herz wurde leer.

Noch ganz benommen setzte ich mich auf mein Bett. Dass ich die Schule verpasst hatte, war mir egal. Ich war sehr traurig darüber, dass Timo gehen musste. Und selbst wenn dass alles nur ein Traum gewesen wäre, dann wüsste ich jetzt wenigstens, wie mein Traumtyp aussehen müsste.
Ich kringelte mich im Bett zusammen und schaltete mein Handy aus. Viele hatten probiert mich zu erreichen, aber es war mir egal. Timo war weg und hatte unwissentlich tausend Gefühle in mir ausgelöst.
Als ich am nächsten Morgen erwachte, dachte ich wirklich, dass alles nur ein Traum gewesen sein musste.
Ich ging ins Bad duschen. Danach in die Küche um zu Frühstücken. Und dort stand sie. Meine Lieblingstasse die eigentlich immer nur ich benutzte. Aber gestern Abend hatte ich sie ihm gegeben. Auch ein Zeichen meiner naiven Gefühle für ihn.
Und meine andere Tasse stand direkt daneben. Es war kein Traum gewesen.
Es war Samstag und ich holte erst einmal den Haushalt nach, den ich gestern nicht erledigen konnte. Meine Mutter war zu ihrer Freundin gefahren und würde erst Sonntagabend zurück kommen.
Den ganzen Tag dachte ich über Timo nach und an die Zeit, die wir gestern zusammen hatten.
Er war intelligent, einfühlsam, witzig und furchtbar neugierig. Ein wenig Tollpatschig auch, aber das kam bestimmt nur von „der neuen Welt“. Ich grinste in mich hinein, während ich Spätnachmittag spülte.
Teller um Teller wusch ich ab, ohne genau zu wissen, was ich überhaupt tat.
„Was gibt’s denn da zu grinsen? Spülen kann doch gar keinen Spaß machen!“
Ich ließ den Teller, den ich gerade in der Hand hatte fallen und wuselte herum.
„Timo!!!“ Dort stand er. Mein persönlicher Gott war wieder gekommen.
Ich rannte auf ihn zu und umarmte ihn. Dass dieser Ausbruch meiner Gefühle etwas zu übertrieben war, war mir egal.
Er lachte und erwiderte die Umarmung. „Mit solch einer Begrüßung habe ich aber nicht gerechnet!“
„Wie hast du das gemacht? Wie konntest du so schnell wieder hierher kommen?“
Damit hatte ich wirklich nicht gerechnet. Heimlich hatte sich ein winziger Teil meines Gehirns schon damit abgefunden, dass er nie mehr wiederkommen würde.
„Naja, ich habe keinen Beweis mitgebracht und musste deshalb noch einmal los. Ich habe ihnen aber gesagt, dass es dort schwer ist, Beweise zu finden und habe deshalb dieses Mal mehr Zeit.“ Er grinste.
Ich zog eine Augenbraue hoch.
„Du könntest einfach eine Scheibe Toastbrot mitnehmen, das weißt du?“
„Ja, ich weiß es. Aber die anderen nicht!“ Er strahlte mich an und in meinem Bauch wurde es warm und kribbelig.
„Oh das ist soo toll! Ich dachte schon, dass ich das alles nur geträumt hätte!“
Wie ein kleines Kind, was am Weihnachtsabend auf das Klingeln er Glocke wartet, hüpfte ich vor ihm auf und ab.
„Nein, ich bin echt!“ Er zwickte mich leicht in den Arm.
„Au! Stimmt.“
„Und, was machst du heute mit mir?“
„Worauf hast du denn Lust?“
„Hmm, ich weiß nicht. Wie wäre es denn mit Naturkunde?“
„Wie denn Naturkunde?“
„Na, ich will endlich all die Tiere sehen, die ich nur von Bildern kenne!“
„Wie zum Beispiel?“
„Eisbären, Füchse und so weiter.“
„Füchse sterben auch aus?“
„Anscheinend.“
„Das ist schade, ich finde Füchse so schön! Aber ok, dann gehen wir in den Zoo.“
„Klingt gut!“
Wir fuhren zum Zoo und stiegen aus.
„Ach das ist ein Zoo.“
„Wusstest du das nicht?“
„Nein, ich dachte das hieße bei euch Wald oder so. Natur…“
Ich prustete los. „Nein, ein Zoo ist ein Ort, an dem man Tiere anschauen kann.“
„Das sehe ich!“
Wir lachten beide und gingen hinein.
Timo fragte die Frau an der Kasse, wo er denn das Geld einwerfen sollte. Als die Frau dann erwiderte, dass sie das Geld bekommt, sagte er:
„Aber ich sehe bei ihnen überhaupt keinen Schlitz!“ Darauf wurde die Frau so wütend, dass ich Timo wegschubsen musste und ich die Karten kaufte.
Kaum waren wir zehn Meter von der Kasse entfernt, rechtfertigte sich Timo.
„Bei uns arbeiten doch nur noch Roboter!“
„Hier aber nicht! Es hat nur noch gefehlt, dass du der Dame die Münzen in den Ausschnitt geworfen hättest!“, zischte ich ihn an.
„Das wäre bestimmt lustig gewesen!“
Daraufhin mussten wir wieder lachen und wir gingen weiter durch den Zoo.
Da es schon gegen Abend war, hatten wir natürlich nicht so viel Zeit. Wir hielten nur bei den Tieren inne, die Timo nur von Fotos kannte. Er war ganz aus dem Häuschen als ich ihm sagte, dass man zum Beispiel Füchse auch in der Natur, zum Beispiel im Wald antreffen könnte.

Nach zwei Stunden mussten wir den Zoo verlassen und ich fuhr mit ihm zum Schloß hoch.
Ich wollte ihm meine Welt von oben zeigen.
Als wir ankamen gingen wir gleich auf die Mauer zu, die das Schloß von dem Abhang trennte.
Wir setzten uns auf sie und ließen die Blicke über die Stadt wandern.
„Wow.“
„Ja, ist schön, nicht wahr?“
„Es ist fantastisch. Eure Häuser waren mir zuerst unheimlich. Aber von hier sieht man ihre wahre Schönheit. Eure Stadt ist gemütlich!“
Ich lächelte ihn an.
„Ich hab ja gesagt, dass man sich in euren Häusern bestimmt nur unwohl fühlen kann!“
Er musste lachen und nahm ganz selbstverständlich meine Hand.
„Danke, dass du mir das gezeigt hast.“
Wir sahen uns in die Augen.
Einen kurzen Moment dachte ich, dass wir alleine auf dieser Welt wären. Doch dann tippte eine blonde Schönheit Timo auf die Schulter.
„Entschuldigung“, Mit ihrer Körpersprache grenzte sie mich ganz bewusst aus. „Hast du vielleicht Feuer?“ Sie hielt eine Zigarette zwischen ihre langen, rot lackierten Fingernägel.
„Ähm, nein. Tut mir leid.“
„Och, schade.“ Sie ging noch näher auf ihn zu und legte die Hand zwischen mir und Timo auf die Mauer. Ihr Arm trennte uns voneinander, ich sah nur noch ihren Hinterkopf.
Timo hatte meine Hand losgelassen.
„Kennst du dich dann vielleicht hier aus?“
„Auch nicht, aber fragen sie doch die Frau neben mir, sie wohnt hier.“
Die Blonde schenkte mir einen kurzen, arroganten Blick und stellte sich nun ganz zwischen uns.
„Ich dachte eigentlich, du könntest mir etwas zeigen.“
„Ich habe keine Ahnung wovon sie reden und ich würde mich jetzt gerne weiter unterhalten! Es tut mir Leid!“
Sie schenkte mir noch einen überheblichen Blick und verschwand dann.
„Genau solche Frauen triffst du bei uns ständig an. Und sie nerven einfach, findest du nicht?“
Ich antwortete ihm nicht. Zu groß war noch meine Verwunderung darüber, dass eine blonde Sexbombe gerade für mich stehen gelassen worden war.


Am nächsten Tag gingen wir Eis essen und ins Kino. Wir sahen uns einen Film an, den Timo als „alte Kamelle“ bezeichnete.
Wieder zu Hause angekommen, saßen wir schweigend auf der Hollywoodschaukel nachdem wir nicht mehr wussten, was es noch zu bereden gab.
„Und was tun wir jetzt?“ Es kam mir vor wie nach einer Ewigkeit, obwohl es nur knappe 15 Minuten gewesen waren.
„Worauf hast du denn Lust?“
Timo überlegte, dann sah er auf die Uhr.
„Mir bleiben noch 5 Stunden!“
„Warum, wie viel Uhr haben wir denn?“
„Es ist dreiundzwanzig Uhr.“
„So spät schon?“
Die Zeit war wie im Fluge umgegangen. Wir hatten uns unterhalten, was unsere Hobbies waren, was wir am liebsten aßen (Timo fand den Gedanken, Schwein zu essen furchtbar abstoßend) und was wir im Leben am liebsten hatten.
„Wenn es schon so spät ist, sollten wir nach rein gehen. Ich bin eh ziemlich kaputt.“
„OK.“
Wir gingen nebeneinander her und sagten nicht mehr viel. Timo gewöhnte sich allmählich an meine Welt und musste nicht mehr ständig alles hinterfragen.
„Julie?“
„Ja Timo?“
„Würdest du auch mal gerne meine Welt sehen?“
Ich blieb stehen und sah ihn an.
„Wenn du nicht willst, ist es auch ok.“
„Nein, …nein. Ich würde sehr gerne!“
Timo lächelte.
„Ich werde nachfragen, wenn ich dort bin. Ok?“
„Kann ich nicht gleich mitkommen?“, fragte ich wehmütig.
Ich wollte ihn nicht wieder gehen lassen. Ich wollte bei ihm sein.
„Und dich als Beweisstück mitbringen? Nein danke, wer weiß was die mit dir tun! Aber ich werde fragen, versprochen.“
Wir gingen weiter nebeneinander her. Schweigsam.
Irgendwann unterbrach ich die Stille.
„Ist es eigentlich auch so wie in den Filmen, dass wenn du heute zum Beispiel ein Insekt tötest, du die ganze Zukunft änderst?“
Timo überlegte eine Weile. Dann antwortete er mir:
„Ein Insekt wird wohl nicht solche Ausmaße an Zerstörung hinter sich herziehen. Aber wenn du zum Beispiel ein Kind abtreibst, zerstörst du vielleicht eine ganze zukünftige Familie. Vielleicht meine Tante oder meinen besten Freund.“
Erst jetzt wurde mir bewusst, dass Timos Vorfahren irgendwo momentan leben mussten und es auf sie ankam, ob Timo leben konnte oder nicht.
Timo war in dieser Welt weder geboren, noch bedacht.
Allein der Gedanke daran war unheimlich und komisch zugleich. Die Zukunft war so sensibel und verletzbar.
Als wir zu Hause ankamen war ich hundemüde. Doch ich wollte wachbleiben um Timo verabschieden zu können.
„Du legst dich jetzt hin und schläfst. Ich verspreche, dass ich nicht einfach abhauen werde.“
„Und was ist, wenn du mich nicht rechtzeitig wach bekommst?“
„Dafür sorge ich dann schon. Wenn es dich beruhigt, dann stelle ich einen Eimer mit kaltem Wasser vor dein Bett, mit dem ich dich dann abduschen werde!“
Ich sah ihn noch einmal prüfend an und gab dann nach.
„Na schön.“
Er grinste triumphierend.
Ich legte mich in mein Bett wo es sich Timo schon gemütlich gemacht hatte und rollte mich ganz zu ihm an die Seite. Er roch unbeschreiblich gut und so, in diesem Moment seine Körperwärme und Nähe zu spüren, löste bei mir ein Feuerwerk der Glücksgefühle aus. Am liebsten hätte ich mich gänzlich an ihn gekuschelt.
Timo fing an über meine Haare zu streicheln und ich war schon bald in Träume voller Liebe und Glück versunken.
Viel zu früh jedoch drang Timos Stimme wieder in mein Bewusstsein.
„Julie? Wach auf!“
Es dauerte einen Moment, in dem ich mich wälzte und unverständliches Zeug brabbelte. Doch dann erinnerte ich mich an die Tatsachen und war hellwach.
„Du musst schon los?“
„Ja leider.“
„Wann kommst du wieder?“
„So schnell wie möglich!“
Er stellte sich neben meine Tür und ich ging zu ihm.
„Ich werde dich vermissen!“
Er lächelte mich an.
„Oh warte!“
Ich rannte an ihm vorbei zur Küche.
Wieder bei ihm angekommen drückte ich ihm schnell eine Scheibe Toastbrot in die Hand.
„Dein Beweisstück!“
Jetzt grinste er noch mehr und beugte sich zu mir hinab.
Er gab mir einen hauchzarten Kuss auf die Wange und flüsterte:
„Du bist alles, was ich gehofft hatte hier zu finden.“
Und als er dies gesagt hatte, war er verschwunden. Seinen Kuss spürte ich noch brennend auf meiner Wange. Ich war allein.


„Junge Dame, was glauben sie eigentlich, wer sie sind?“
Ich war gerade mit einem Bein auf dem Schulparkplatz ausgestiegen, da packte mich grob eine Hand am Arm und zog mich hinaus.
Rick stapfte mit mir im Schwitzkasten den Parkplatz entlang und drückte mich auf eine Bank.
„So Kreuzverhör. Wo warst du, warum hast du nicht zurück gerufen, mit wem warst du unterwegs und warum hast du mich nicht vermisst?“
Er stand vor mir, beide Arme in die Hüfte gestemmt und fauchte wie eine wildgewordene Katze.
Ich konnte mir ein Lachen nicht unterdrücken.
„Beruhig dich! Ich erzähl dir ja alles!“ Fast alles. Alles bis auf die Tatsache, dass er Timo der Zukunft kommt. Denn dann erklärst du mich für verrückt.
„Ich höre!“
„Ich hab einen Typ kennen gelernt.“
Sofort wurde seine Mimik und Körpersprache anders.
Seine Augen weiteten sich und aus einem Mund kam nur ein schriller Aufschrei.
„Waaaas? Das ist ja super!!! Erzähl mir alles, wo hast du ihn kennengelernt? Habt ihr es schon gemacht? Und wenn wie ist er? Kenn ich ihn? Hat er einen schwulen Freund? Ist er gutaussehend? Hat er…“
„Rick!!! Stop!“
Er verstummte.
„Gut so! Also, kennengelernt habe ich ihn..ähm..vor meiner Tür. Ich bin mit ihm zusammen gestoßen als ich hinaus gegangen bin.“
„Julie, entschuldige, aber das ist erbärmlich.“
„Jaaa ich weiß. Hör zu jetzt! Er heißt Timo und ist achtzehn. Er sieht Thomas etwas ähnlich, hat aber dunklere Augen, ist größer und muskulöser..“ (Ein schmachtendes Seufzen von Rick) „Und auch vom Charakter ist er tausendmal besser. Nicht so ein Macho!“
„Und?“
„Was und?“
„Julieeee, wie ist er so?“
„Er ist lustig, und nett.“
„Das mein ich nicht!“
Ich brauchte einen Moment um zu kapieren, was er meinte.
„Rick!!! Ich bin nicht wie du! Natürlich haben wir noch nicht!“
„Schade. Aber somit haben wir dann wenigstens noch Klatsch für später übrig.“
Ich grummelte und zog ihn von der Bank hoch.
„Los, der Unterricht fängt an!“
„Jajaja…“


Am Ende der Schule wussten natürlich alle von „Julies neuem Typ!“. Rick hatte ganze Arbeit geleistet.
Susan war den ganzen Tag nicht da gewesen, was mir Sorgen machte.
Charlotte hatte mit Thomas angefangen mir Tipps und Ratschläge zu geben und fühlten sich völlig verantwortlich für mein Glück mit Timo.
Alle sahen uns schon zusammen und schmiedeten Pläne.
Deshalb war ich froh, als ich endlich meine Haustüre hinter mir schließen konnte und ich ruhe hatte.
Ich nahm das Telefon und rief Susan an.
Ihr war schlecht gewesen heute Morgen und war deshalb nicht da gewesen. Morgen würde sie aber wieder kommen.
Ich beendete das Telefonat sehr schnell und machte mich an den Haushalt.
Als meine Mutter von ihrer Freundin nach Hause kam, stand das Essen schon auf dem Tisch und sie erzählte mir ununterbrochen von ihren nächtlichen Streifzügen durch das Nachtleben.
Sie hatte einen Typ kennen gelernt und wollte nächstes Wochenende wieder hinfahren.
„Und du hast wirklich kein Problem damit? Fühlst du dich nicht vernachlässigt?“
„Mom, ich bin alt genug. Fahr ruhig und such dein Glück!“
„Julie, du bist die Beste!“ Sie drückte mir einen Kuss auf die Stirn und schnappte sich gleich das Telefon, um ihrer Freundin bescheid zu geben.
In diesem Moment fühlte ich mich wie eine Mutter, die ihrem Kind gerade erlaubt hatte, eine Stunde länger weg zu bleiben.

Ich ging spät ins Bett. Ich hoffte auf Timos Rückkehr. Hoffte überhaupt darauf, dass er wieder kam.
Ich lag in meinen Laken, schräg und die Decke zerknäult um mich herum. Ich wälzte mich von einer Seite auf die andere. Zum Schluss blieb ich auf dem Rücken liegen und schloss die Augen.
Ich musste mich beruhigen. Er würde schon wieder kommen.
Ich dachte nach.
Ich hatte mich unwissentlich aber im schnellsten Tempo in Timo verliebt und es nagte an mir, dass ich niemals wissen werden würde, ob er jemals zurück zu mir kommen würde oder nicht.
Leise hörte ich das Ticken der Uhr. Zeit war etwas Belangloses für mich geworden.
Zeit spielte keine Rolle mehr. Die Menschheit hatte es geschafft, der Zeit einen Tritt in den Hintern zu verpassen.
Mehrere Stunden ging es in meinen Gedanken so weiter, bis ich endlich einschlafen und von anderen Dingen träumen konnte.
Am nächsten Tag in der Schule kam Steph hochnäsig auf mich zu.
„Stimmt es?“, fauchte sie.
„Was stimmt?“
„Was alle erzählen. Dass du einen Freund hast? Wer ist es?“
Mit jedem Wort wurde sie schnippiger.
„Ich glaube kaum, dass es dich etwas angeht, Steph.“
Sie sah mich durchdringend an.
„Hast durch ihn wohl neues Selbstvertrauen bekommen, was?“
„Nein, ich weiß nur wem ich etwas erzählen möchte und wem nicht“, giftete ich zurück.
Sie warf ihre Haare in den Nacken und stolzierte davon.
Blöde Pute.
Ich ging weiter Richtung Block A und sah Thomas an der Ecke stehen und rauchen.
Er beobachtete Charlotte wie sie einen Typen zu Recht wies, der ihr wohl gerade einen dummen Anmachspruch gemacht hatte.
Ich stellte mich neben Thomas und wartete. Kurz darauf kam Charlotte wild schnaubend zu uns.
„Was bildet der sich ein? Denkt er wirklich, dass er Chancen bei mir hätte mit seinem blöden Spruch?“
„Was hat er denn gesagt?“ Thomas grinste schelmisch.
„Ich hab meine Telefonnummer verloren, kann ich deine haben?“, antwortet Charlotte im gespielt doofen Ton. „Das kann der doch nicht ernst meinen! Hört auf zu lachen!“
Tatsächlich fanden Thomas und ich den Spruch so Urkomisch, dass wir uns kaum noch ein bekamen vor lachen.
„Sei froh, dass du dich mit so etwas nicht mehr herum schlagen musst Julie.“
„Warum? Ich habe nie gesagt dass ich mit Timo schon zusammen bin. Das habt ihr euch alle selber zusammen gereimt!“
„Wie? Ich dachte das wäre schon beschlossene Sache?“
„Nein.“
„Na warte Rick…“ Und sie ging grummelnd zum nächsten Block.
„Irgendwann wird sie meine wahre Größe noch kennen lernen und ihr dann nicht mehr wiederstehen können!“ Thomas ging sich arrogant durch die Haare.
„Warum sagst du es ihr nicht einfach?“
„Sie weiß es doch. Aber sie will ja keinen festen Partner. Schule wäre wichtiger…“
„Thomas, Schule ist wichtiger!“
„Ja aber doch nicht hauptberuflich!“ Ich runzelte die Stirn über diese Aussage. „In unserem Alter ist man hauptberuflich Teenie mit wilden Hormonen!“
Ich stöhnte.
„Thomas, du bist primitiv!“
„Was? Stimmt doch!“
„Sei still jetzt. Susan kommt und sie sieht echt noch nicht gut aus.“
„Hi Leute.“
„Hi, wie geht’s dir?“
„Nicht so gut.“
„Warum?“
Sie blickte kurz zu Thomas und dann wieder auf den Boden.
„Ähm Thomas? Würdest du uns vielleicht kurz alleine lassen?“
„Warum?“ Er verzog beleidigt das Gesicht.
„Weil es nun einmal Dinge gibt, die Frauen nur unter sich klären!“
„Dann geht doch zu zweit aufs Klo!“
„Thomas!“
„Ja schon gut.“
Er räumte das Feld.
„Also erzähl, was ist los?“
Sie sah immer noch zu Boden und fingerte nervös an ihrem Reisverschluss herum.
Ich strich ihr mit der Hand über den Rücken.
„Susan?“
Es lief ihr eine Träne über das Gesicht.
Ich machte mir Sorgen.
„Ich sage nichts weiter, versprochen.“
Nach einem kurzen Moment fing Susan an, leise zu reden.
Ich musste mich zu ihr hinab beugen, um sie verstehen zu können.
„Ich…ich weiß einfach nicht wa...“
Doch in diesem Moment stieß Rick mit einem Ohrenbetäubenden „Hallo alle zusammen!“, in unsere Mitte und schlang seine Arme um unsere Schultern.
„Was geht aaaabbb???“
Susan lief schluchzend weg.
„Toll Rick! Du bist so ein Blödmann!“
Ich wollte ihr hinterher, doch Rick hielt mich fest.
„Warum beleidigst du deinen besten Freund?“
„Weil es meiner anderen besten Freundin sehr dreckig geht!“
„Oh!“ Sein Gesicht verdunkelte sich schlagartig, als ihm bewusst wurde, wobei er uns gestört hatte.
„Tut mir leid!“
Ich lief Susan hinterher. Doch sie war schon weg.
Den ganzen Tag fehlte sie in der Schule. Besorgt kippelte ich mit dem Stuhl und folgte keiner Sekunde lang dem Unterricht.
Als es klingelte sprang ich auf und fuhr zu Susans Haus.
Doch niemand war da.
Den ganzen Tag probierte ich sie anzurufen. Aber ohne Erflog. Nach einer Weile war ihr Handy ausgeschaltet und der Hörer von ihrem Festnetz beiseite gelegt worden.
Es wurde dunkel und ich versuchte es noch einmal, direkt bei ihr zu Hause.
Ich klopfte an die Tür.
Nach ein paar Sekunden fiel ein Schatten auf die Glastür. Er wurde immer größer und ihre Mutter öffnete sie einen Spaltbreit.
„Ach, hallo Mia. Wie kann ich dir helfen?“
„Hallo Mrs. Facette. Ist Susan da?”
Ihre Augen wurden weich als sie mir antwortete.
„Nein Mia.“
„Können sie mir dann sagen, was mit ihr los ist?“
„Auch das kann ich dir nicht beantworten.“
Sie wich meinem Blick aus.
„Bitte Miss! Sie wollte es mir heute sagen, aber wir wurden gestört! Ich möchte wissen, was mit ihr los ist!“
„Mia, das ist eine Sache die nur Susan etwas angeht. Wenn sie es dir sagen will, wird sie das auch tun!“
„Wo ist Susan?“
„Mia, es ist genug. Ich kann dir keine Auskunft geben.“
Ich wusste sehr wohl, dass mir ihre Mutter Auskunft geben konnte. Was war hier los?
„Aber..“
„Guten Abend Mia.“
Und sie schloss die Tür.
Laut grummelnd fuhr ich zurück nach Hause.
Susans Mutter hatte ich noch nie besonders leiden können.
Sie behandelte Susan wie ein rohes Ei.
Die Woche verstrich und es gab kein Zeichen von Susan.
Ich hatte versucht anzurufen, war vorbei gefahren und hatte noch mehrere laute Auseinandersetzungen mit ihrer Mutter. Doch ich kam kein Stück weiter.
Auch Timo kam nicht zu mir zurück, was mich noch um einiges mehr frustete.
Und das wiederum lies mich sauer auf mich selbst sein.
War ein Mann aus der Zukunft jetzt schon viel wichtiger, als meine beste verschwundene Freundin?
Ich war wütend. Auf mich und auf die Zwei.
Sie sorgten dafür, dass ich mich nicht auf den Unterricht konzentrieren konnte, obwohl es genau jetzt am wichtigsten war, gut aufzupassen und alles mitzubekommen.
Bald standen unsere Prüfungen an.
Meine letzten schulischen Monate.
Als es endlich Freitagnachmittag war und ich von der Schule heimkam, warf ich genervt und übellaunig meine Sachen in eine Ecke und warf mich aufs Sofa.
Ich nahm ein Kissen und schrie hinein. Es kam nur ein dumpfer Laut hervor.
„Alles in Ordnung?“
Ich wuselte herum. Ich hatte gedacht, dass meine Mutter schon weg gefahren wäre.
„Nein Mom, alles ok.“
„Und warum schreist du dann mein Kissen an?“
„Weil ich in der Pubertät bin und mich alles aufregt!“
Dieses Argument sah meine Mutter wohl als vollständig korrekt an und ging nicht weiter auf die Sache ein.
„Ich fahre jetzt los. Willst du wirklich nicht mit?“
„Nein. Fahr alleine und sorg dafür, dass sich bald wieder ein Depp vor mir als Vaterersatz aufspielen will!“
Sofort hatte ich ein schlechtes Gewissen. Ich sah meiner Mutter an, wie weh ich ihr damit getan hatte.
„Es..es tut mir Leid, Mom. Wirklich.“
„Nein..nein…“, schluchzte sie nach einer Weile, „ Ich hab schon verstanden.“
Ich ging auf sie zu.
„Mom wirklich. Ich bin einfach nur schlecht gelaunt und überlege nicht was ich sage. Natürlich freue ich mich, wenn du wieder einen Partner findest!“
Doch meine Mutter schluchzte nur weiter und verlies dann ohne ein weiteres Wort unsere Wohnung.
Noch wütender raste ich durch die Wohnung und fiel laut weinend auf mein Bett.
Ich schrie und schlug auf die Kissen ein. Warf meine Decke quer durch mein Zimmer und machte sämtliche Sachen aus Glas kaputt.
Doch mein Wutanfall bekam einen jähen Dämpfer, als ich die vertraute Stimme hörte.
„Oh…mein…Gott.“
Ich wirbelte herum und sah Timo ins Gesicht.
Wut und Traurigkeit waren verschwunden. Tiefe Erleichterung machte sich in mir breit und ich lief auf ihn zu.
Bei ihm angekommen drückte ich ihn ganz fest an mich. Er hielt mich während ich wieder anfing, an seiner Brust zu wimmern und schluchzen.
Eine Ewigkeit standen wir so da. Sein T-Shirt war nass von meinen Tränen und langsam schämte ich mich vor ihm.
Mein Zimmer sah aus wie ein Kriegsfeld und auch ich musste aussehen wie ein Zombie.
„`Tschuldigung dass du das mit ansehen musstest!“
Er hielt mich mit seinen Armen von sich weg und betrachtete mich.
„Was war los?“
„Ach nichst!“
Die Tränen stiegen wieder an und liefen über. All die letzten Sorgen und Ärgernisse flossen aus ihnen hervor.
„Nichts sieht aber anders aus!“
Er setzte mich aufs Bett und fing an, mein Zimmer aufzuräumen.
Ich tupfte mit einem Taschentuch mein Gesicht ab und half ihm.

Später lagen wir auf dem Bett, unsere Gesichter jeweils dem Anderen zugewandt.
„Willst du es mir nicht doch erzählen?“
„Nein.“ Meine Augenlieder flackerten. Mein Wutanfall war anstrengend gewesen und mein Körper forderte Ruhe ein.
Timo strich mir mit ein paar Fingern über meine Wange.
Unter seiner Berührung färbte sie sich rot. Mir wurde heiß.
Ich sah immer noch schrecklich aus. Mein Gesicht war durch die Tränen aufgedunsen und ich hatte rote Augen.
„Ich hab dich vermisst, Julie.“
Hallo? Sieht er nicht, wie schrecklich ich gerade aussehe?
Doch Timo kam noch näher.
„Und ich weiß, dass du mich auch vermisst hast.“
Viel näher. Ich spürte seinen warmen Atem auf meinen Lippen.
Die Schmetterlinge in meinem Bauch randalierten.
Ich schloss die Augen und spürte, wie er immer mehr zu mir rückte.
Gleich würde es endlich geschehen. Ich sah uns schon vor mir. Hand in Hand in der Zukunft. Zusammen, verheiratet und mit drei Kindern.
Und einem Hund.
Gleich würden wir den Grundstein unserer ewigen Liebe legen und immer mehr darauf bauen- niemals abreißen.
Ich hielt den Atem an. Timo war so nah, wie noch nie.
Er drückte mich an sich, unsere Lippen nur noch Millimeter von einander entfernt.
Doch ein lautes, penetrantes Klingeln lies ihn schlagartig aufschrecken.
Es war unsere Haustürklingel und ich verfluchte den Menschen, der es wagte, diesen kostbaren Moment zu zerstören.
„Was ist das?“
„Unsere Klingel!“
„Für die Tür?“
„Ja.“
„Oh Gott wie schrecklich.“ Er schaute angewidert. „Willst du nicht aufmachen?“
Nein wollte ich nicht. Ich wollte wieder zurück in die perfekteste Situation die ich jemals erlebt hatte.
Naja, fast. Außer mein Äußeres war alles perfekt gewesen.
Wollte zurück zu den Gefühlen, die ich eben gespürt hatte. Wollte zu der Wärme und zu der herannahenden Explosion zurück.
Ich stampfte zur Tür und lies den Summer an.
Es klackte unten im Flur und eine laute Rick-Stimme hallte durch den Flur.
„Ich bin`s!“
Ich stöhnte laut auf und überlegte blitzartig, ob ich Timo verstecken sollte oder nicht.
Doch Timo stand schon neben mir in freudiger Erwartung einen neuen Menschen aus der neuen Welt kennen zu lernen.
Rick blieb angewurzelt auf halber Höhe stehen und starrte Timo an.
Dieser begrüßte ihn freudestrahlend.
„Hi!“


Rick hatte nichts erwidern können. Und das sollte schon was heißen.
Erst als er die Treppe zu uns hoch geschafft hatte, hatte er ein wenig Stimme wieder erlangt.
„H…Hi. Und du bist…?“, hatte er gestottert, aber bei der letzteren Frage mich angesehen.
Timo war ganz selbstverständlich auf ihn zugegangen und hatte Rick eine Hand auf die Schulter gelegt.
„Du musst Rick sein! Ich hab schon viel von dir gehört.“
Er hatte Rick in die Wohnung hineingeschoben, der mich nur noch ungläubig mit offenem Mund anstarren konnte und sich führen lies.
Nun saßen wir drei im Wohnzimmer und betretenes Schweigen herrschte.
„Ja, Rick….. das ist….Timo.“
„Hi.“
Timo grinste.
„Ja..und… ähm…Timo, dass ist Rick.“
Rick hielt ihm die Hand hin um ihn nochmals richtig zu begrüßen. Doch Timo sah nur verwundert auf Ricks rechte Hand und tat nichts.
Ich ging schnell dazwischen.
„Ähm, da wo Timo herkommt, kennt man solche Bräuche nicht!“
Ricks Augenbrauen hoben sich.
„Wo kommst du denn her?“
„Aus dem Jah...“
„Ja…panischen Dorf Kyoka!“, fiel ich ihm ins Wort.
Timo sah mich erstaunt an.
„Aber das stimmt nicht! Ich komme aus…“
„Jaaa du hast Recht“, fiel ich ihm wieder dazwischen, während ich ihn anfunkelte. „Entschuldigung, ich verwechsle das Dorf immer mit dem Nachbarort. Sein Dorf hieß Kyoki!“
Wieder funkelte ich ihn an, damit er endlich merkte, dass er nicht die Wahrheit sagen sollte.
Timo verstand zwar nicht richtig, aber gab es auf, seine Herkunft richtig stellen zu wollen.
„Japan? Du siehst nicht aus wie ein Japaner! Und heißt auch nicht wie einer. Warum warst du da?“
„Ähm…weil…“
„Weil Timo Deutsch ist und damals in Deutschland geboren wurde, ehe er mit seinen Eltern nach Japan auswanderte!“
„Und da lernt man so gutes Englisch?“
„Ich kann viele Sprachen!“
„Welche noch?“
Ich spürte Unheil herannahen. Doch zu meiner Überraschung führte Timo ganz normale Sprachen auf.
„ Naja, natürlich Deutsch. Und Spanisch und Italienisch und Griechisch. Alle Länder, die meine Eltern mochten.“
„Mochten?“
„Ja sie sind leider schon verstorben.“
„Oh, das tut mir Leid. Unter normalen Umständen oder warum so früh?“
„Sie waren der Lybarischen-Krampf-Krankheit erlegen.“
Rick schaute mich fragend an.
„Das..das ist bestimmt nur eine Krankheit, die es in den Japanischen Dörfern gibt, oder Timo?“
„Ja.“ Er sah mich verständnislos an.
Ich ließ einen lauten, gekünstelten Gähner los um Rick verständlich zu machen, dass er gehen sollte.
Ich sah theatralisch auf die Uhr und lies ein: „Was schon so spät???“ durch den Raum hallen.
„Rick sorry, aber Timo und ich sind sau müde….“
„Aber es ist doch noch früh!“
Noch ein Gähner meinerseits.
„Ja ist ja gut…“ Rick erhob sich langsam vom Sessel. Ich begleitete ihn noch zur Türe, wo er mir ein „Wir reden Montag!“ zu zischte.
Ich schloss die Türe hinter ihm und ging zu Timo zurück ins Wohnzimmer.
Er saß auf der Couch, die Arme vor der Brust verschränkt.
„Was ist?“
Ich wollte nicht, dass Timo mich so ansah.
„Das weißt du ganz genau!“
„Nein weiß ich nicht. Also sag es mir!“
„Na, das mit dem japanischem Dorf! Warum soll ich nicht sagen, woher ich komme?“
„Hallo? Timo?“ Ich klopfte auf seinen Kopf. „Bist du da? Es ist doch total logisch, dass du das nicht sagen kannst! Die Leute hier würden dich für verrückt erklären und einweisen lassen! Niemand würde dir glauben!“
„Du hast mir geglaubt!“
„Ich..ich..“
„Ja?“
„Du weißt ganz genau, dass ich nun einmal..ja…geblendet von dir war. Aber andere Menschen sind nicht so dumm und naiv wie ich!“
„Red keinen Stuss. Naiv bist du nicht!“
Ich verstand die Neckerei und wuschelte ihm durch die Haare.
„Sei du mal nicht so frech!“
„Und du nicht so besorgt!“
Er packte meine Arme und zog mich zu ihm auf die Couch.
Ich legte meinen Kopf auf seine Brust und lies mir durch die Haare streicheln.
Minutenlang lagen wir schweigen da, bis Timo sich regte.
„Geblendet hab ich dich also?“
„Ja!“
Er lachte schelmisch.
„Lach nicht! Ich kann ja nichts dafür, dass du so Perfekt bist!“
„Perfekt? Ich?“
„Ja, natürlich. Schau dich doch einmal an und dann die Menschen hier. Oder besser gesagt mich! Eine graue Maus neben einer gottgleichen Kreatur. Pf!“
„Jetzt redest du wirklich Stuss! Komm mal in meine Welt, wie perfekt du da wärest. Alle Menschen wünschen sich, so zu sein wie du. Natürlich!“
Ich verdrehte die Augen.
„Glaub mir, Julie. Du bist etwas ganz Besonderes!“
Sein Daumen strich über meine Lippen.
Und dann, ganz zart und langsam, fanden seine Lippen meine und brachten uns unbemerkt einen kleinen, aber bedeutsamen Schritt näher zueinander.

Ich lag im Bett und wälzte mich.
Nie im Leben würde ich schlafen können!
Tausend Gefühle tobten in mir und warteten darauf, erwidert zu werden.
So oft hatte ich mir über den perfekten Augenblick Gedanken gemacht.
Wo sollte es sein? Und wie? Was würde ich sagen?
Und dann war es passiert. Einfach so. Nachdem wir uns verbal gekabbelt hatten.
Und wie es war? Na, wie schon. Einfach perfekt. Trotz komischer Situation, unbequemer Lage auf der Couch und berührtem Schweigen danach.
Ich wusste nämlich überhaupt nicht, was ich hätte sagen können. Ich war einfach zu perplex gewesen. Und zu Emotional. Er hatte mich damit schlichtweg umgehauen.
Denn ich war in seinen Armen zusammengesackt und nicht mehr aufgewacht.
Das Letzte, an was ich mich erinnern kann ist, dass ich in meinem Bett aufgewacht war und Timo besorgt über mir stand. Als er meine Regung bemerkt hatte, hatte er mich sofort in die Decke eingewickelt und gesagt, dass er nun in die Apotheke gehen würde und ich ja im Bett liegen bleiben sollte. Am Besten noch etwas schlafen sollte.
Und nun lag ich hier und wartete. Wach.
Ich hörte die Tür unten aufgehen und jemanden die Treppe hochrennen.
Zwei Sekunden später stand Timo in der Tür und begutachtete mich.
„Wie geht es dir?“
„Gut!“
„Das glaub ich dir nicht. Hier, nimm das.“
Er warf mir eine grüne Schachtel zu.
„Ich will aber nicht! Mir geht es super!“
„Nimm sie!“
Er sah mich grollend an.
Ich kapitulierte wie ein kleines Kind.
„Gut.“
Stolz setzte er sich zu mir auf den Bettrand.
Er fühlte meine Stirn.
„Was war los gewesen?“
„Ich weiß nicht. Ich war einfach weg….“
„Ich dachte schon, ich hätte sonst was angestellt!“
„Ich glaub meine Gefühle haben sich einfach zu extrem auf meinen Kreislauf ausgewirkt!“
„Wenn so etwas geht?!“
„Weiß nicht. Glauben wir es doch einfach!“ Ich grinste ihn an.
Er sah mich noch einmal prüfend an und kam dann anscheinend zu dem Entschluss, dass es mir wieder gut ging, da er zurück grinste und mir mit seiner Hand über die Wange strich.
„Kleine Julie. So süß!“
„Red nicht über mich wie über ein kleines Kind! Ich bin siebzehn! „
„Kleine Julie, regt sie sich wieder auf…“
Ich schubste ihn von der Bettkante.
„Sei ja vorsichtig! Ich wirke vielleicht zerbrechlich aber trotzdem habe ich Kraft!“
Timo stand grinsend wieder auf und strich mir über die Haare.
Langsam könnte er doch wieder mal mehr Gefühl für mich zeigen.
Ich grummelte innerlich und stand auf.
„Was machst du?“
„Ich gehe an die frische Luft.“
„Darf ich mit?“
„Du wirst sogar gezwungen!“
Er ging neben mir die Treppe hinunter und aus der Tür.
Auf dem Weg nahm ich seine Hand. Er blieb stehen und sah argwöhnisch hinab.
„Was ist?“
Er flocht seine Hand geschickt aus meiner hinaus und ging weiter.
„Nichts. Ich mag das nur nicht!“
Ich runzelte die Stirn und wollte etwas erwidern. Doch ich tat es nicht.
Hatte Timo jetzt soviel Angst, dass ich noch einmal umkippen könnte?
Oder warum war er wieder nur so kumpelhaft zu mir?
War mein Ohnmachtsanfall so erschreckend gewesen, dass er es lieber sein lies, mit mir zusammen sein zu wollen?
Oder hatte er in den Stunden, in denen ich weg gewesen war bemerkt, wie durchschnittlich ich doch war, wenn ich ihm nichts aus der neuen Welt zeigen konnte?
Hatte er es sich anders überlegt?
Wie lange war ich ohnmächtig gewesen? Eigentlich konnte es doch gar nicht so lange gewesen sein.
Oder?
Timo steuerte auf eine Parkbank zu. Wir waren ein Stück durch den Wald gegangen, hinter dem eine riesige Wiese den Abhang hinunter säumte. Hinter den letzten Bäumen stand die besagte Bank und offenbarte einen Blick über die weite Ebene.
Hinter den westlichen Bergen versank langsam die Sonne.
Timo jedoch setzte sich nicht auf die Bank, sondern auf den Abhang davor.
Ich nahm neben ihm Platz.
„Wollen wir uns nicht lieber auf die Bank setzen?“
„Nein. Hier ist so viel Natur. Ich möchte sie direkt berühren und auskosten.“
Ich sah ihn verwundert an. Er reagierte auf meinen Blick.
„In meiner Welt, gibt es hier keine Wiese mehr. Überall stehen Hochhäuser.“
Er wurde traurig. „Dabei ist die Natur so schön.“
Schweigend saßen wir da und sahen der Sonne beim untergehen zu.
Ich hielt es nicht aus und startete noch einen Versuch, Timo wieder näher zu kommen.
Ich nahm seine Hand und hielt sie fest.
Wieder wollte er seine Hand lösen, doch ich ließ es nicht zu.
„Was machst du da?“ Ich funkelte ihn an.
„Was machst du da? Sollte doch wohl ich sagen!“
„Warum?“
„Ich lasse mich nicht gerne führen. Und mir vorwerfen, dass ich keine Ahnung habe.“
„Wovon redest du?“ Ich war total verdattert.
Timo wirkte wirklich gekränkt.
Ich verstand die Welt nicht mehr.
Und das Schlimmste für mich, Timo wollte mich nicht mehr.
Mir kamen die Tränen hoch und ich wandte mich von ihm ab. Mit verschränkten Armen saß ich dort, mit drei Metern Abstand zwischen uns.
Als er meine Wut und Trauer bemerkte, sprang er auf und kam auf mich zu.
Er kniete sich neben mich und versuchte mir in die Augen zu schauen.
„Julie! Was ist los?“
Ich erwiderte nichts und konzentrierte mich darauf, nicht wie ein kleines Kind loszuheulen.
„Bitte rede mit mir. Ich glaube, du hast etwas falsch verstanden!“
Bei seinem letzten Satz konnte ich nicht mehr an mich halten. Ich sprang auf die Beine und fauchte ihn unter Tränen an. „Ja habe ich! Erst küsst du mich und dann lässt du mich wieder fallen! Die blöde, kleine, süße Julie wird sich schon keine Hoffnungen gemacht haben! Ihre blöden Gefühle hat sie sich nur ausgedacht oder sogar falsch gedeutet!“ Ich vergrub mein Gesicht schluchzend in meinen Händen.
Timo kam auf mich zu und umarmte mich. Hielt mich.
Ich schnappte immer wieder nach Luft und rang um Atem.
„Was meinst du damit, ich hab dich fallen lassen?“
Ich konnte nichts sagen. Ich bekam so schon keine Luft mehr.
„Denkst du wirklich, dass ich dir das nur vorgetäuscht habe? Das ich nichts für dich fühle? Das ich dich jetzt fallen lassen wie eine rohe Kartoffel?“
Ich nickte und schluchzte wieder laut.
„Julie, du bist wirklich dumm!“ Er lachte. Ich hätte am liebsten noch mehr geweint.
„Sieh mich an!“ Er nahm mein Gesicht aus meinen Händen und hielt es gerade. Ich musste ihn ansehen.
„Julie, ich liebe dich. Und ich werde dich nicht fallen lassen!“
Ich schluchzte immer noch, jedoch war der Schmerz von eben etwas verklungen.
Ich bekam endlich wieder Wörter aus meinem Mund.
„Und warum behandelst du mich dann wie einen Kumpel?“
„Tue ich doch gar nicht!“
„Doch! Du küsst mich nicht, du hältst nicht meine Hand und..und….“ Wieder fing ich an zu weinen.
„Aber, wir haben uns doch schon geküsst?“, fragte Timo verwirrt.
Ich lachte ungläubig. „Ja, wow, super! Ein einziges Mal!“
Jetzt sah Timo verwirrt aus.
„Und?“
„Was und?“
„Das reicht doch,…oder?“
Ich sah ihn ungläubig an. „Ich glaube, deine Eltern haben vergessen dir zu zeigen, was Liebe ist!“
„Liebe ist, sich zu küssen und dann zu wissen, dass man zusammen ist. Dann konstruiert man irgendwann Kinder und zieht zusammen, bis sie da sind!“
Bei seinen Worten fielen mir fast die Augen aus dem Kopf.
„Was hast du da gerade gesagt? Kindader konstruieren?“
„Das hab ich dir doch schon einmal erklärt. Kinder kann man sich zusammenstellen, wie man sie will. Deswegen sind ja alle so `perfekt´!“
Ich schüttelte den Kopf. Das konnte ich mir einfach nicht vorstellen.
„Und was meinst du mit `Man küsst sich und weiß dann, dass man zusammen ist´?“
Timo seufzte.
„Es heißt das, was ich gesagt habe. Man küsst sich und dann ist man zusammen.“
„Und dann?“
„Wie und dann?“
„Was kommt danach? Wohl doch noch mehr Liebe…und Küsse? Oder?“
Timo sah mich verständnislos an.
„Ähm, nein. Man hat sich doch schon geküsst. Warum sollte man es dann noch einmal tun?“
Wieder schüttelte ich den Kopf. Timo hatte aus seiner Welt ein ganz anderes Verständnis von Liebe intus.
„Liebt ihr anders?“
„Ja.“ Ich hatte mich beruhigt und rückte näher an Timo heran.
„Erklärst du es mir?“
„Nein, ich zeige es dir.“
Ich beugte mich zu ihm vor. Ganz langsam, da Timo immer noch skeptisch schaute.
Kurz vor seinen Lippen verharrte ich.
„Mach die Augen zu.“
Timo gehorchte wiederwillig.
Bevor ich ihn küsste, strich ich sanft mit meinen Fingern über seine wunderschönen Gesichtszüge.
Unsere Lippen trafen aufeinander. Erst ganz zart und weich- es war kaum mehr als ein Hauch- dann meinerseits aus stärker und fester. Timo saß dort wie eine Statue.
Ich schlang die Arme um seinen Hals und drückte mich an ihn.
So lange hatte ich darauf gewartet, Timo so küssen zu können.
Meine Lippen wurden fordernder, ich stürzte mich regelrecht auf Timo. Auf Timo, den wundervollsten, schönsten und tollsten Menschen, die die Erde jemals zu Stande gebracht hatte.
Oder bringen wird.
Während ich Timo noch immer küsste, nahm ich seine Hände und legte sie mir auf die Taille.
Dort ruhten sie erst ein paar Augenblicke, bevor sie langsam anfingen, mich richtig zu berühren. Er strich mir über den Rücken, drückte mich auch an sich und fing endlich an, den Kuss richtig zu erwidern.
Timo taute regelrecht auf und war nun genauso fordernd wie ich.
Als meine Luft knapp wurde, löste ich mich aus unserer Verkeilung und rang nach Atem.
Timo saß da, verdutzt und mit großen Augen.
„Das war Wahnsinn!“
Er kam auf mich zu und küsste mich wieder. Und wieder. Und wieder.
Ich fühlte mich federleicht und schwindelig.

Die Sonne ging gänzlich unter und wir saßen immer noch auf dem Abhang. Timo hatte sich mit dem Rücken an die Bank gelehnt und ich saß nun vor ihm zwischen seinen Beinen.
Ich lag an ihm und streichelte seine Hand.
Ich hatte ihm gezeigt, dass für uns Händchen halten zur Liebe gehört, genau wie aneinander lehnen und küssen.
Mit seiner freien Hand spielte er mit meinen Haaren.
Es wurde dunkel und es fing zu regnen an.
Ich sprang auf, doch Timo blieb sitzen.
„Wohin willst du?“
„Ich will mich unterstellen! Komm, es regnet doch!“
Ich nahm Timos Hand und versuchte ihn hoch zu zerren.
Er bewegte sich kein Stück.
Stattdessen zog er mich erneut zu sich heran und küsste mich.
Ich vergaß alle Nässe und alle Tropfen, spürte nur noch ihn und seine Berührungen.
Wir küssten uns sanft, während der Regen an unseren Haaren hinab lief.
Als wir zu Hause ankamen, waren wir von oben bis unten durchnässt.

Das Wochenende mit Timo ging schnell vorüber und nun lag ich in meinem Bett und wollte nicht einschlafen, wie ein trotziges, kleines Kind.
„Du schläfst jetzt, Julie!“
„Nein!“
„Du hast morgen Schule!“
„Nein!“
„Oh doch und du wirst hingehen! Du hast bald Prüfungen!“
„Aber du gehst weg!“
„Ich verspreche dir jetzt zum hundertsten Mal, dass ich nicht weggehen werde!“
Ich schmollte. Ich hatte so Angst, dass Timo weg sein könnte, wenn ich meine Augen wieder aufschlug.
„Du bleibst.“
Er verdrehte die Augen.
„Du bist so ein Dickkopf!“
„Ebenso wie du!“
„Dann werden wir wohl so nicht weiter kommen!“ Er seufzte.
Ich kuschelte mich an ihn und drückte seinen Arm an meinen Körper.
„Hältst du mich jetzt die ganze Nacht fest?“
„Jap.“
Wieder ein Augenrollen.
Irgendwann fielen mir die Augen zu und fing an zu Träumen.
Am nächsten Morgen erwachte ich und sah sofort nach, ob Timo da war.
Er saß mir gegenüber auf einem Stuhl und las ein Buch.
„Morgen!“, sagte ich fröhlich.
Er zuckte vor Schreck zusammen und blickte auf.
Dann lächelte er.
„Siehst du, ich bin noch da!“
Er legte das Buch beiseite, kam auf mich zu und gab mir einen Kuss.
„Siehst du, wie leicht dir das jetzt fällt?“
Er grinste.
„Ich wusste nicht, dass Küssen und Nähe so viel Spaß machen kann! Hab doch Rücksicht auf mich, den unwissenden Typ aus der Zukunft!“ Er zwickte mich in den Arm.
Ich lachte.
„Steh auf jetzt, sonst kommst du zu spät zur Schule!“
„Jaaa Mama!“
Ich stand auf und ging ins Bad. Ich wusch mich, putzte die Zähne und machte mich fertig.
Wieder in meinem Zimmer zog ich mich an,- Timo war dafür kurz rausgegangen, obwohl es mir nichts ausgemacht hätte,- und packte meine Schulsachen.
Timo hatte in der Küche schon den Tisch gedeckt und wartete auf mich.
In dem Moment, als ich mich zu ihm setzten wollte, ging eine andere Tür auf.
Ich hatte ganz vergessen, dass meine Mutter nachts wieder gekommen sein musste.
Ich zog ihn hoch und schubste ihn in mein Zimmer.
„Los, los, beeil dich, sie darf dich nicht sehen!“
„Is ja gut…“
„Such dir ein Versteck! Um acht geht sie auf die Arbeit, dann kannst du wieder rauskommen, bis ich komme.“
Ich drehte mich um und wollte gehen, doch Timo sagte leise:
„Julie?“
Ich schaute ihn nochmals an und er lächelte mich an.
„Bis nachher“, hauchte er und küsste mich sanft.
Viel zu schnell löste er sich von mir und schloss die Tür.
„Julie?“
„Ja Mom!“
Ich ging in die Küche.
„Hast du Besuch?“ Sie zeigte auf den zweiten Platz auf dem Tisch.
„Ähm, nein Mom. Das….das hab ich für dich gemacht. Ich dachte wir frühstücken heute mal zusammen, damit du mir erzählen kannst, wie es war!“
Die perfekte Ausrede. Sobald es sich um sie drehte, war sie Feuer und Flamme fürs Erzählen.
„Also“, fing sie an, kaum dass wir uns gesetzt hatten, „Es war super! Wir sind abends in so einen Pub gegangen- der hieß „Smashing Puppies“ und haben die ganze Nacht fast nur getanzt! Wir hatten so viel Spaß! Und am nächsten Tag, hat er mir ein Restaurant gezeigt. Die Krabben waren einfach göttlich!“
Sie sprudelte weiter, aber ich hörte nicht mehr richtig zu.
In Gedanken war ich wieder bei meinen Sorgen.
Dass Timo weg sein würde, wenn ich nachher kam und nur vielleicht wieder zurück gehen durfte.
Nicht zurück nach Hause. Nein, zurück zu mir.
„Hast du gehört Schatz? Nächstes Wochenende!“
„W..was? `Tschuldigung, Mum, ich war gerade nicht ganz da!“
Sie sah mich tadelnd an.
„Chris.“ Als würde das alles erklären…
Als ich immer noch fragend drein schaute, erklärte sie weiter.
„Chris kommt nächstes Wochenende zu uns!“
„Oh!“ Ich schluckte. „Toll!“
„Keine Angst, Liebes. Er wird dir gefallen! Und..“ Sie schaute mich höchst schelmisch an, ich amchte mich auf alles gefasst: „Das Beste an ihm, er hat auch einen Sohn! In deinem Alter! Und er kommt auch mit! Ist das nicht prima!“
Na ganz klasse…
„Ja, toll Mom.“
Sie setzte ihren Träumer-Blick auf und kam ins Schwärmen.
„Vielleicht magst du ihn ja auch und dann hast du auch endlich mal einen Freund und lernst auch endlich mal die Liebe kennen. Oh Julie, das wäre so schön!“
Mir verging der Appetit. Ich wollte niemanden. Niemanden außer Timo. Niemals würde ich einen anderen wollen.
„Ich muss jetzt los.“
Sie sah enttäuscht aus.
„Bis heute Nachmittag dann!“
Ich gab ihr einen Kuss auf die Wange und flüchtete aus der Küche.

Auf dem Schulhof traf ich als Erste Charlotte.
„Hi, na Julie. Wie geht es dir?“
„Mir geht es gut! Und dir?“
„Alles Bestens. Du wirst erstaunt sein, sie haben die Plakate schon für den Abschlussball schon auf gehangen!“
Ich stöhnte.
„Was für ein Thema?“
„Die Siebziger.“
„Oh Gott… Ich glaub, ich geh nicht hin!“
„Ach komm Julie, dass wird bestimmt lustig! Wir alle in Bunt, vielleicht mit so großen, weiten Röcken und so nach außen geföhnten Haaren…“
Ich wusste, dass sie ihr Outfit schon im Kopf hatte.
Sie würde eh die Ballkönigin werden.
„Hi ihr zwei!“
„Hi Thomas!“. Sagten wir im Chor.
„Wie geht ‘s, wie steht’s? Hattet ihr ein tolles Wochenende?“
„Auf jeden Fall.“
„Ich nicht, wir haben eine Klausur in Geografie- dafür musste ich büffeln.“
Charlotte verzog angewidert das Gesicht. Sie mochte Geografie nicht.
Wir gingen ein Stück weiter. Vor dem Hauptgebäude trafen wir auf Steph.
„Hi Thomas!“
„Hi.“
Er ging einfach an ihr vorbei, obwohl sie direkt vor ihm stehen geblieben war.
Sie schmachtete ihm nach und schaute mich danach zornig an.
„Wo steckt dein Freund, Julie? Ich dachte du hättest einen, aber man sieht ihn nie!“
„Das ist ja wohl mein Problem oder?“
„Du hast bestimmt gar keinen. Alles nur ein Vorwand.“
„Ja, stimmt. Weißt du Steph. In Wahrheit bin ich mit Thomas zusammen, aber wir wollten dich nicht kränken, deshalb haben wir es verheimlicht!“
Steph wurde kreideweiß. Sie sah zu Thomas, der neben Charlotte stehen geblieben war.
Einen kurzen Moment nur zögerte er, dann strahlte er uns an, kam auf uns zu und stellte sich neben mich, die Hand über meinen Schultern.
„Oh ja Steph. Wir sind zusammen, ich hoffe es ist nicht schlimm für dich. Aber du warst einfach nicht gut genug, weißt du. Julie hier, die ist viel, viel besser. Tut mir Leid.“
Und als wäre dass nicht schon Schauspiel genug gewesen, drückte er mir auch noch einen kurzen, flüchtigen Kuss auf.
Steph sah angeekelt zu und wurde grün im Gesicht.
Dann ging sie, die Nase hoch erhoben, davon.
„Das war klasse!“ Charlotte kam auf uns zu und lachte.
„So genug geschauspielert.“, sagte ich.
„Ja, sonst denkt Charlotte hinterher, wir wären wirklich zusammen und dann sucht sie sich einen anderen, obwohl sie doch weiß, dass ich ihre große Liebe bin!“
„Thomaaaaas!“ Charlotte verdrehte die Augen aber grinste dennoch.
„Ich muss jetzt los, sonst komm ich zu spät zu meiner Klausur. Wir sehen uns in der Pause.“
„Und ich muss los zu Deutsch!“ Auch Thomas eilte davon.
Ich schlurfte weiter zu Mathe, doch kurz vor der Türe, hielt mich eine Hand davon ab.
„Oh nein, du kommst mit!“
Rick schleppte mich auf die Mädchentoilette.
„Rick. Das ist das Mädchenklo!“
„Ja und?“
Stimmt, Rick war in erster Linie ein Mädchen.
„Wir müssen zu Mathe!“
„Mathe fällt heute aus, hast du es noch nicht gelesen?“
„Nein.“ Ich jubelte innerlich. Doch ich hatte Angst vor dem Kreuzverhör, dass mir direkt bevor stand.
„Ok. Wir sind in einer Toilette, niemand sonst ist hier und ich will jetzt sofort die Wahrheit wissen.“
„Sonst?“
„Sonst kündige ich dir sofort die Freundschaft!“
Das konnte wirklich nur ein Mädchen sagen…
„Och Rick, du weißt doch schon alles!“
„Nein. Du hast mich angelogen. Dass ist nicht dein Freund!“
„Doch ist er!“ Es klang aggressiver als ich beabsichtigt hatte.
„Ja, vielleicht ist er es, aber er ist falsch, er ist komisch..du verheimlichst mir etwas über ihn! Ich weiß es!“
Ich seufzte. Rick entging nie etwas.
„Ok. Aber du musst mir drei Sachen schwören.“
Er strahlte. „Kein Problem!“
„Erstens“, ich zählte mit den Fingern mit, „ Du hältst mich danach nicht für verrückt! Zweitens, du erzählst keinem anderen davon! Und drittens: Du machst anschließend keine dummen Witze darüber, weil du mir vielleicht nicht glauben wirst!“
„So schlimm kann es doch nicht sein!“
„Oh doch!“
Und ich erzählte ihm alles über Timo. Bei jedem weiteren Satz, machte er noch größere Augen.
Es tat gut, endlich jemandem von ihm erzählen zu können und vor allem meine Sorgen teilen zu können.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 27.08.2009

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