Das Ende der Einsamkeit; nach dem Verlust der Heimat kreuzen Vater und Tochter durch die Weiten des Alls. Und machen eine zauberhafte Entdeckung. Stichwort: Spezies
Ein Gesicht auf der Tribüne; im Jahre 1990 erblickt Andreas im Stadion einen etwas ungewöhnlichen Fan. Dekaden später kommt es zu einem wahrlich bizarren Wiedersehen. Stichwort: Zeitreise
Midas kalte Gold; die Pyramidenkreatur erfüllt der reichen Carola ihren Wunsch, Dinge in Gold verwandeln zu können. Doch die Gabe lässt den schlimmsten Albtraum Realität werden. Stichwort: Gier
Das Ende der Reise; das interstellare Objekt ist nicht das, wonach es ausschaut. An Bord befindet sich eine ganz spezielle Pracht. Stichwort: Bewusstsein
Das Konzert im Gottesstaat; in ferner Zukunft findet in einer Theokratie ein Konzert statt. Es ist dieses eine Reise in die tiefsten Abgründe einer spirituellen Menschenseele. Stichwort: Dystopie
Die Münze auf der Matratze (Bündel I); nach einem seltsamen Traum findet der Namenlose eine seltsame Münze in seinem Bett. Stichwort: Träume
Zeit ohne Gräber (Bündel II); Das traurige Leben der depressiven Alexandra endet sich schlagartig, als aus einem vorbeifahrenden Auto eine Münze geworfen wird. Stichwort: Multiversum
Nachdem ihre Welt der Vernichtung einher gefallen war, nahmen Vater und Tochter an Bord des kleinen Sternenschiffes eine letzte Mahlzeit vor dem großen Schlaf zu sich. Das Essen kam aus der Konserve, besaß einen hohen Gehalt an Nährstoffen und Vitaminen, schmeckte dafür aber chemisch. Noch immer glänzten Spuren von Tränen über den Verlust ihrer Heimat und der geliebten Menschen in ihren dunklen Augen. Der Papa erzählte der Sechsjährigen noch eine Geschichte von Prinzessinnen und Zauberwäldern, wo es weder Leid noch Tod gab, bevor sie sich in ihre Tiefschlafkammern begaben und die Technik sie in tiefste Ruhe versetzte; eine Ruhe, welche keine Träume kannte.
Nun steuerte die weitere Reise der Quantencomputer. Er, dem der Vater aufgrund des Verlustes von Mutter und Gattin die programmierte Seele eines weibliches Digitalwesen gegeben hatte, überwachte auch die Lebensfunktionen der zwei Passagiere, die sich nun auf dem direkten Weg in den allertiefsten Winterschlaf befanden. Darüber hinaus existierte lediglich noch der Tod.
Geht ein Mensch in die Tiefschlafkammer, so wird zuvor noch eine spezielle Substanz eingenommen. In dem Kabuff selbst kommt der Schlaf dann recht langsam, doch wenn er kommt, dann kommt er mit der gewaltigen Kraft eines Hammerschlages. Bevor dieser Effekt eintrat, blieben Vater und Tochter etwa fünfundvierzig Minuten Zeit. Der Papa hörte sich beim Warten eine Dokumentation über ein lang zurückliegendes Sportereignis an, weil er nicht erinnert werden wollte an Tod, Leid und Zerstörung. Obgleich die Tochter gerade erst in das Alter eines Schulkindes kam, spürte sie jedoch sehr genau, dass ihr Vater das Geschehene somit zu verdrängen versuchte, als habe es sich tatsächlich niemals ereignet. Sie selber hörte zum Einschlafen ein Hörspiel über einen sprechenden Elefanten und erkannte, dass die Geschichten in einer Welt spielten, die so niemals würde real sein können. Noch vor ein paar Tagen hätte sie geglaubt, dass dieser sprechende Elefant in seinem ruhigen Zoo, in dem das schlimmste Ereignis aus dem Diebstahl zweier Krokodilbabys oder kleineren Geldsorgen des Tierparks bestand, Realität war. Aber nach dem Verlust der Heimat und aller geliebter Menschen, sah man von dem Vater ab, musste das junge Mädchen feststellen, dass das wahre Leben ein gänzlich anderes war. Die Medikamente, die sie und Papa kurz nach der Flucht genommen hatten, linderten den seelischen Schmerz ein wenig, ausblenden vermochte die Arznei es jedoch nicht. Indem sich die Tochter ganz fest in die Welt der Phantasie hineinträumte, schaffte sie es fast, den Schmerz zumindest für den Moment zu vernichten. Beinahe konnte sie dabei den Zoo im Sonnenschein daliegen sehen. Ihre Gedanken wurden unzusammenhängender, so wie das häufig beim Einschlafen passiert. Bei der Hörspielreihe gab es selbstverständlich einen Erzähler; eine melodische, friedliche, männliche Stimme voller Sanftheit und guter Laune. Helena, so hieß die Sechsjährige, fragte sich, wie der Erzähler immer das Geschehen rund um den sprechenden Elefanten im Blick haben konnte und kam zu dem Schluss, dass er entweder eine Drohne nutzen oder mit einem Niederatmosphärenluftschiff reisen musste. Sie wollte auch gerne über der Welt des lieben Dickhäuters schweben. Dann übermannte sie der Winterschlaf.
Lange ging die Reise durch die Galaxie. Kleine und große, gerade geborene und längst verstorbene Sterne wurden in der Distanz passiert, während im Vorbeiflug etwaig vorhandene Planeten durch die Computermama gescannt wurden mit der Hoffnung, dass es dort lebensfreundlich sei, um eventuell eine neue Heimat zu finden.
So zogen sie ganze 78.000 Erdstandardjahre durch die Weiten des Kosmos. Dann erreichte das Schiff ein Sternensystem, in dessen Mittelpunkt eine recht durchschnittliche Sonne brannte, wenn man es auf Größe und Helligkeit bezog. Wie bei jedem Sternensystem, welches auf dem Weg unbekannter Länge passiert wurde, aktivierte die Rechnermama ihr hoch sensibles Scanfernerkundungssystem. Der vierte Planet vom Zentrum aus gesehen stach derartig aus dem Ozean aller bislang geprüften Himmelskörper heraus, dass der Computer sich veranlasst sah, Vater und Tochter zu wecken.
Ein menschliches Wesen nach fast achtzigtausend Jahren aus dem Tiefschlaf zu wecken, erforderte Zeit und ein strenges Vorgehen nach einem medizinischen Plan. So dauerte es beinahe eine Woche, bis Vater und Tochter am Tisch saßen und die chemisch schmeckende Astronautennahrung zum Frühstück zu sich nahmen. Während der Aufwachphase hatte der Quantencomputer bereits mit der Annäherung an den Planeten begonnen. Durch das große Fenster im Aufenthaltsraum konnte man ihn bereits sehen. Der Himmelskörper schimmerte hellblau in der Distanz.
„Das ist wirklich ein seltsamer Planet“, erklärte die Maschine mit sehr sanfter Stimme, die tatsächlich an jene der verstorbenen Mutter und Ehegattin erinnerte. „Es scheint keine Flora und Fauna zu geben, dafür aber fließendes Wasser und eine Atmosphäre, welche derjenigen auf der Erde ungemein gleicht mit einer Übereinstimmung von 99,97 Prozent. Dazu gibt es auf dieser Welt sehr viel Wasserstoff. Das ist eindeutig.“
„Papa, das Essen schmeckt widerlich. Ich möchte frisches Obst. Am besten Äpfel, Birnen und Erdbeeren“, quengelte Helena.
„Ich wünsche mir auch frisches Obst“, stimmte der Papa zu. „Oh wie sehr ich das tue.“
Gute zwanzig Stunden später trennte sich eine Landungskapsel von dem interstellaren Raumschiff, welches nun im Orbit um den unbekannten Planeten kreiste.
Weitere zwei Stunden später traten Vater und Tochter in eine neue Welt hinein, wie sie fremdartiger und bizarrer kaum sein konnte. Die einzige Sache, welche entfernt an die Erde oder deren Kolonien erinnerte, war die Tatsache, dass man hier ebenso atmen konnte. Der Himmel war pechschwarz, obgleich die gelbe Sonne im Firmament stand. Wie Mutter Quantencomputer es prophezeit hatte, gab es hier weder Pflanzen noch Tiere oder gar höheres Leben mit Intelligenz. Auch existierten keinerlei Hügel, Berge oder sonstige Erhebungen. Der Boden war gänzlich flach und gab seltsam unter den Schritten ein wenig nach, als sei er nicht vollkommen fest. All das wurde durchzogen von kleineren Strömen fließenden Wassers, welche die Größe von irdischen Bächen besaßen. Bequem konnten die beiden Menschen darüber hinwegsteigen. Der Vater beugte sich hinab und trank einen Schluck von der Flüssigkeit, indem er beide Hände vereint wie eine Art Schöpfkelle verwendete.
„Das Wasser schmeckt wundervoll. Besseres habe ich noch nie getrunken. Aber hier scheint es nichts zu Essen zu geben. Ich zweifele daran, dass dieser Ort eine neue Heimat für uns werden wird“, erklärte er.
„Oh Mensch, Papa! Ich habe mir so sehr ein paar Obstbäume gewünscht, aber hier ist nichts. Jetzt müssen wir weiter diese Pampe im Raumschiff futtern“, beschwerte sich die Kleine und sie erinnerte den Vater dabei beinahe erschreckend an seine geliebte, längst verstorbene Gattin.
Fast 80.000 Jahre bist du nun schon tot, Liebling. Wo magst du nun wohl sein? Wie ist es da? Werden wir uns wiedersehen?
Fast hätte er diese Gedanken laut ausgesprochen und er spürte den Schmerz, der nun uralt, dafür aber keinen Deut gemindert war.
Die wütenden Worte der Kleinen schienen noch in der milden klaren Luft zu hängen, da geschah etwas Unglaubliches. Gleich goldenen Sternenstaubes flimmerte etwa zwei Meter von Vater und Tochter entfernt die Luft. Das Flimmern besaß die Form einer Wolke und die Größe eines ordinären Einfamilienhauses. Schnell erkannte man grobe Umrisse und dann verschwand das goldene Schauspiel wie ein Theatervorhang, welcher ruckartig fällt. Nun standen sie da; zehn Bäume, die unter der Last von Birnen und Äpfeln zusammenzubrechen drohten. Sie wurden von einer hufeneisenförmigen Hecke von Sträuchern umrandet, an denen riesige Erdbeeren vor lauter gesunder Röte förmlich funkelten.
Der Kleinen fiel vor lauter Erstaunen die Kinnlade herunter, während der Vater ein pistolenförmiges Objekt aus dem Rucksack kramte und die Mündung auf die Früchte richtete. Über das Display dieses Gegenstandes zogen Ziffern und Buchstaben vorüber.
„Und Papa! Und Papa?“, rief die Tochter aufgeregt aus, wobei ihre Augen leuchteten.
„Nicht giftig. Essbar und voller wertvoller Vitamine“, erklärte der Vater.
Er hatte noch nicht ausgesprochen, da stürmte die Tochter auf die Sträucher los und begann damit, sich Erdbeeren in den Mund zu schieben mit der Regelmäßigkeit eines Maschinengewehrs. Auch der Vater fackelte nun nicht lange. So saßen sie am Rande eines der Bäche, ließen die baren Füße ins lauwarme Wasser baumeln und schmatzten voller Hochgenuss Birnen, Äpfel, Erdbeeren.
„Boah, Papa, ich habe noch nie so gutes Obst gegessen. Ich möchte nicht anderes mehr essen“, jubelte die Tochter.
Die Stimme ertönte mehr in ihren Köpfen und, was sehr merkwürdig daherkam, auch in ihren Herzen sowie den Seelen. Sie klang weder männlich noch weiblich, dafür aber äußerst gutmütig, liebevoll und barmherzig.
„Ich freue“, sprach die Stimme, „mich so sehr, dass ihr da seid. Mein Leben ist derart einsam, dass es manchmal gar wehtut. Ich kann mich nicht erinnern, wie lange schon kein Wesen bei mir gewesen ist. Ich kann lesen, was in euren Herzen ist. Daher habe ich das Obst für euch erschaffen.“
„Wer bist du?“, fragte der Vater leise. Es ließ sich nicht leugnen, dass sowohl die Tochter als auch der Vater ein Quantum Angst verspürten. Daran konnte auch der süße Klang der Stimme nichts ändern.
„Ich bin. das Lebewesen, welches der Computer eures Raumschiffes für einen Planeten gehalten hat. Aber ich bin ein Geschöpf, das lediglich diese Form von der Evolution bekommen hat und um einen Stern kreist, der mir immer die Wärme und Nahrung gibt, dass ich existieren kann. Deshalb ziehe ich um eben diese Sonne meine Bahnen. Doch ein solches Dasein ist verbunden mit dem Los der Einsamkeit. Normalerweise ist unsere Spezies dazu evolutioniert worden, um eben ein Leben als Solitär zu führen. Doch bei mir hat diese Evolution wohl einfach nicht hinhauen wollen. Denn ich brauche ganz dringend Gesellschaft. Die Meinigen, zu denen aber kein Kontakt besteht, würden mich wohl als sensiblen Genfehler bezeichnen und mit Hohn und Spott überziehen. Aber ich bin nun mal so, wie ich bin. Daher freue ich mich über eure Gesellschaft, dass ich vor Freude hüpfen täte, wenn ich es denn könnte.“
Bei der Kleinen war die Angst mit einem Schlag gänzlich verschwunden.
„Wie hast du es geschafft, dieses tolle Obst so schnell zu zaubern? Bei uns auf der Erde hat das immer voll lange gebraucht, bis man das vom Baum pflücken konnte“, fragte sie.
„Mein Wesen besteht zu 99,27 Prozent aus reinem Wasserstoff. Mein Körper besitzt die Eigenschaft, diesen Wasserstoff als Grundbaustein in alle anderen Elemente verwandeln zu können. Daher ist es mir möglich, fast alles zu erschaffen, was man sich wünscht. Und ihr zwei, ich konnte es lesen, habt euch leckeres Obst gewünscht.“
„Und wenn ich ein Haus möchte, das wie ein Prinzessinnenschloss aussieht?“, fragte Helena und hüpfte vor Freude. Auch die Angst des Vaters schwand dahin gleich Wassereis in der Sonne eines Hochsommers.
Die Tochter hatte kaum ausgesprochen, da erschien wieder das Flimmern der goldenen Sternchen, welches diesmal jedoch gigantische Ausmaße besaß. Und dann stand es da; das kleine Schlösschen für die kleine Prinzessin. Es war eigentlich mehr ein pinkfarbenes Haus mit einem angebauten Türmchen, dessen Fenster groß und gekreuzt waren. Genau dieses Haus hatte sich die Tochter immer erträumt.
„Boah! Toll! Und um das Haus herum soll ein Wald sein und ein runder Teich wie bei dem Märchen der Froschkönig. Kennst du den?“, sprudelte die Kleine.
Die Antwort des wundersamen Wesens bestand aus weiterem Funkeln, bevor sich all das manifestierte, was die Kleine sich wünschte.
„Hier kannst du mit deinem Papa wohnen, solange es euch gefällt. Und vielleicht finden ja noch weitere Menschen nach dem Verlust der Heimat den Weg zu mir. Ihr braucht davor keine Angst zu haben. Denn nur wer reinen Herzens ist wie ihr, wird gelangen an diesen Ort“, erklärte das Geschöpf.
„Ist das Schlösschen auch schön eingerichtet mit einem pinken Himmelbett?“, sprudelte Helena fragend weiter.
„Natürlich. Es ist alles so, wie derjenige es sich schön erträumt“, lautete die Antwort des Zauberwesens.
„Komm, Papi! Komm, Papi! Das müssen wir uns ansehen!“
Die Tochter nahm ihren Vater bei der Hand. Gemeinsam traten sie über die Schwelle und wussten genau in diesem Moment, dass sie eine neue Heimat gefunden hatten.
Mein Name tut für den Kontext dieser, ich muss es zugeben, etwas abgedreht klingenden Geschichte nichts zur Sache. Nennt mich, wenn ihr mögt, schlicht und einfach Andreas. Meine Erzählung spannt einen Bogen zwischen den Jahren 1990 und 2022, wobei lediglich die Zeit zu Beginn des letzten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts sowie die Tage der Gegenwart von berichtenswerter Wichtigkeit sind. Alle die anderen Details aus einem recht langweiligen Leben möchte ich Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, gerne ersparen.
Im Jahre 1990 war ich fünfundzwanzig Jahre alt und arbeitete als Kaufmann im Büro einer Firma, welche Kleiderknöpfe produzierte und in die ganze Welt exportierte. In diesem Betrieb hatte ich bereits meine Ausbildung absolviert und konnte nach dem Wehrdienst dort wieder meine Arbeit aufnehmen, da man mir die Stelle freihielt. Es war eine unspektakuläre Tätigkeit mit genau strukturierten Tagen und einem ziemlich ähnlichen Alltagsprogramm. Dafür waren die Kolleginnen und Kollegen sehr nett und bei guter Leistung bot die Firma die Möglichkeit, die eine oder andere Sprosse auf der Karriereleiter zu erklimmen. Zum Ende der Achtzigerjahre hatte ich die erste Stufe erklommen.
Ich weiß es heute nicht mehr genau, wer es von den männlichen Kollegen gewesen ist, der auf die Idee kam, im Sommer 1990 zur Fußballweltmeisterschaft nach Italien zu fahren, aber ich glaube, es ist Niels gewesen. Es war nur eine fixe Idee, doch je näher das Turnier kam, je konkreter wurden die Planungen. Irgendwann nahmen sich zwei der Jungs und ich den Jahresurlaub.
Zum Juni brachen wir dann mit Dirk Vogels VW-Passat auf über die Alpen Richtung Italien. Wir fuhren ohne Eintrittskarten, denn anno 1990 befand sich eine Fußballweltmeisterschaft tatsächlich noch im Besitz der Fans und es war häufig möglich, Tickets am Tage des Spiels an den Kassenhäuschen zu ergattern. Ohne örtlich festgelegt zu sein, sahen wir im Verlauf der Vorrunde sechs Spiele in sechs verschiedenen Stadien, worunter auch das 4:1 im Guiseppe Meazza Stadion zu Mailand zwischen Deutschland und Jugoslawien war. Dieses Spiel erweckte große Hoffnungen in mir, dass es während des Turniers mehr für uns zu erreichen gebe, als ich zuvor angenommen hatte. In jedem Fall bereitete es große Lust am späteren Verlauf der Fußballweltmeisterschaft. Weiterhin sahen wir die Spiele USA-Tschechoslowakei in Florenz, Schweden-Schottland in Genua, Argentinien-Sowjetunion in Neapel, Spanien-Uruguay in Udinese sowie Kamerun-Rumänien im Bari, dem meiner Meinung nach fast schönsten Stadion der Veranstaltung.
Die deutsche Mannschaft spazierte förmlich ins Achtelfinale, was man über den Erzrivalen aus den Niederlanden eher weniger sagen konnte. Gerade eben so rettete sich Oranje in die Runde der letzten sechszehn Mannschaften. Weil die Holländer sowohl Punkt- als auch Torgleich mit dem Team der Republik Irland waren, entschied das Los über den abschließenden Stand in der Tabelle. Damals fand eine Weltmeisterschaft mit lediglich vierundzwanzig Teilnehmern statt. So was es gar einigen Drittplatzierten gestattete, sich für die zweite Runde zu qualifizieren. Eben jenes Verfahren des Zufalls brachte die Niederlande auf Platz drei der Gruppe F, was endlich dazu führte, dass unser Nachbar gegen einen der stärksten Gruppenersten antreten musste. Und wer konnte dieser Gruppenerste anderes sein als die DFB-Elf! Während die Jungs dem Ganzen voller Euphorie entgegensahen und schon von der gelungenen Revanche der Schmach von Hamburg 1988 sprachen, konnte mich deren Vorfreude kaum anstecken. Sicherlich ließen die Niederländer bislang einiges bei diesem Turnier vermissen, aber zu klar waren mir noch die letzten drei Länderspiele gegen Deutschland noch vor Augen, in denen es für uns wahrlich nicht viel zu bestellen gab. Zudem gaben die Niederländer, wenn es zu diesem Duell kam, immer einhundert Prozent. Spiele solcher Natur schrieben stets ihre eigenen Gesetzt. Statt großer Freude suchten mich eher Nervosität heim.
Es mag unglaublich klingen, doch über Kontakte zu einem Hotelinhaber, mit dem wir uns an der Bar seines kleinen Hauses angefreundet hatten, gelang es uns tatsächlich, Eintrittskarten für jenen Klassiker am 24. Juni 1990 zu bekommen. In der Nacht zuvor schlief ich vor lauter Aufregung vielleicht drei Stunden, woran auch all das zuvor konsumierte Bier nichts änderte.
Zum zweiten Mal innerhalb von vierzehn Tagen fanden wir uns im gigantischen Stadio Guiseppe Meazza wieder. Diesmal saßen wir ziemlich mittig auf dem zweiten Rang. Während die Mannschaften sich aufwärmten, bereitete die Nervosität mir arge Magenschmerzen. Richtig genießen konnte ich, das stand fest, dieses Spiel nicht und ich sehnte mich an den Ort eines neutralen Spiels wie etwa Uruguay gegen Spanien.
Endlich, nachdem die Nationalhymen gespielt worden waren, erfolgte um 21:00 Uhr an einem wundervollen italienischen Sommerabend der Anstoß.
Im Jahre 1990 verhielt es sich bei den Spielen Deutschland gegen die Niederlande gänzlich anders, liebe Leserinnen und Leser, als das heute der Fall ist.
Viele der Niederländerinnen und Niederländer auf der Tribüne kannten Menschen, welche die deutsche Besatzung im II. Weltkrieg noch persönlich miterlebt hatten. Manche Zeitzeugen dieser schwarzen Jahre saßen wahrscheinlich gar hier auf der Tribüne. Gleiches galt für die Spieler, deren Eltern teilweise noch darüber berichten konnten aus persönlicher Perspektive. Dazu kam die Niederlage von Oranje im Jahre 1974 im WM-Finale zu München, wo die Holländer fußballerisch klar besser gewesen waren. Das konnte man schwer verkraften. Auf der anderen Seite hatten die Deutschen den Niederländern ihren Hochmut bei eben jener WM 1974 und die Arroganz eines Ronald Koemans aus dem Jahre 1988 nicht verziehen, der sich doch tatsächlich nach dem Spiel vor laufender Kamera mit dem Trikot Olaf Thons symbolisch den Allerwertesten abgewischt hatte. Um es in einem Satz zusammenzufassen; sowohl auf den Rängen als auch auf dem Felde herrschte der pure Hass vor, welcher auch das Spiel prägte. Dieser Hass in Kombination mit den feinen Fußballern beider Seiten, die dort unten auf dem gepflegten Rasen standen, sorgten dafür, dass dieses hier eines der besten, spektakulärsten, skandalösten Fußballspiele der WM-Geschichte werden sollte. Und ich befand mich tatsächlich live dabei.
In der Anfangsphase spielte Oranje dominant, doch nach und nach kam Deutschland immer besser ins Spiel. Es lief die 21. Minute, als etwas geschah, das sich für immer ins kollektive Gedächtnis der Fußballfans rund um den Globus einbrennen sollte. Torwart Hans van Breukelen geriet mit Rudi Völler aneinander, wobei der Niederländer selbst durch eine hinterlistige Aktion Auslöser dieser Unruhen war. Schnell stießen andere Spieler beider Seiten hinzu. Am widerwärtigsten verhielt sich Frank Rijkaard. Endlich spuckte er gleich einem Lama Rudi Völler an und wurde von dem argentinischen Schiedsrichter des Feldes verwiesen. Obgleich Völler weder etwas Unsportliches gegenüber Rijkaard noch van Breukelen getan hatte, sah auch er den roten Karton; ein unglaublicher, an Widerwärtigkeit kaum zu überbietender Skandal. Und Rijkaard spuckte ein zweites Mal. Vor lauter Wut und Hass auf die Mannen in den orangenen Trikots und den Schiedsrichter hätte ich am liebsten die Sitzschale aus ihrer Verankerung gerissen.
Der DFB-Elf gab diese zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit jedoch enormen Aufschwung. Die Holländer hatten rein gar nichts mehr zu bestellen und ein Jürgen Klinsmann lieferte wahrscheinlich das beste Spiel seiner gesamten Karriere ab. So war er es auch, der nach fünfzig Spielminuten in der zweiten Halbzeit das 1:0 erzielte. Meine Reisefreunde jubelten ausgelassen, aber meine Wenigkeit hielt sich damit doch etwas zurück, wofür es auch einen Grund gab. Obwohl unsere Jungs nun haushoch überlegen agierten, loderte in mir die Angst, dass dieses Spiel noch ungerechterweise irgendwie verlorengehen konnte. Die Herren Gullit und van Basten waren zweifelsohne in der Lage dazu, eine jede Partie mit einer einzigen Aktion wenden zu können. In der 85. Minute erzielte Andreas Brehme durch eine wundervolle Bogenlampe das 2:0. Das musste es doch gewesen sein! Diesmal kannte auch mein Jubel keine Grenzen mehr. Doch hatte ich nicht mehr mit dem Schiedsrichter gerechnet. Dieser gewisse Senior Loustau schaffte es tatsächlich, in der 89. Minuten einen Strafstoß für Oranje zu pfeifen, der keiner war und den wahrscheinlich noch nicht einmal der berühmte Blinde mit Krückstock gegeben hätte. Der Hinternabwischer Koeman verwandelte sicher. Nun wütete wieder die Angst in mir, die ganze Sache könnte doch noch kippen und die wenigen Augenblicke bis zum Abpfiff kamen mir wie zehntausend Jahre vor.
Endlich jedoch war es geschafft. Nun jubelte auch ich auf der Tribüne, als gebe es kein Morgen mehr, während auf dem Feld es erfreulicherweise zwei Spieler gab, die sich nicht hatten vom Hass anstecken lassen. Unter einer freundschaftlichen Umarmung tauschten Ruud Gullit und Jürgen Klinsmann ihre Leibchen. Alle anderen Spieler taten das nicht und ich war unendlich froh, dass diese Geste dort unten vollzogen wurde.
Ich weiß auch nicht, warum ich mich umdrehte und die Reihen der Zuschauer in die Höhe entlang anschaute. Diese Frage wird sich wahrscheinlich niemals beantworten lassen. Hinter mir stand ein Typ, der etwas älter als ich sein mochte; vielleicht so um die dreißig. Er trug ein Trikot der DFB-Elf, allerdings nicht das aktuelle. Es wirkte vom Stil und Stoff her irgendwie aus der Zeit gefallen, kam mir zu modern, ja gar futuristisch vor, doch stammte es zweifelsohne aus dem Hause Adidas. Der Kerl hatte schwarze Haare und im unteren Bereich des Gesichtes sowie des oberen Halses konnte der Betrachter Aknenarben erkennen, welche allerdings nicht entstellend wirkten unter dem Strich. Sein Gesichtsausdruck kam rüber, als sei er nicht besonders überrascht oder erfreut hinsichtlich des Ergebnisses, sondern als habe er das Vergnügen, jeden Tag in den Genuss einer solchen Partien zu kommen. Dann griff er in seine Jeans und zog einen flachen, rechteckigen, schwarzen Gegenstand hervor, den er sich vor das Gesicht hielt. Ein Licht- und Schattenspiel breitete sich daraufhin auf Nase, Wangen und in den Augen aus. Dieses rechteckige Teil war also von der einen Seite illuminiert und mir schien es, dass der Kerl damit die Szene zwischen Gullit und Klinsmann filmte oder fotografierte. Ein solches Gerät hatte ich noch niemals zuvor in meinem Leben gesehen und ich dachte mir, dass das irgendeine supermoderne Videokamera aus Japan sein könnte, die auf irgendeinem digitalen Speichermedium statt auf einer ordinären Kassette die Aufnahmen festhielt. Vielleicht war der junge Mann ein Produktentwickler und testete hier unter Realbedingungen die neusten Errungenschaften seiner Firma. Irgendetwas aber stimmte endlich mit dem Typen nicht. Obgleich er im Meer all der Fans in San Siro an diesem Abend nicht weiter auffiel, kam er mir fehl am Platze vor; als gehöre er nicht wirklich an diesen Ort. Als wir eine Stunde später die erste Kneipe in der Mailänder Innenstadt betraten, um den Erfolg zu begießen, war das Gesicht von der Tribüne längst in meinem Unterbewusstsein verschwunden.
Uns gelang es tatsächlich, alle Spiele der deutschen Mannschaft bis zum glorreichen Triumph live vor Ort zu verfolgen. Im Olympiastadion zu Rom kam es zur Revanche für das verlorene Finale von 1986, da der Gegner nicht anders lautete als Argentinien um den genialen Diego Maradona. Weil die Italiener fest mit der Teilnahme am Endspiel gerechnet hatten, diese jedoch von eben jenen Südamerikanern im Halbfinale von Neapel verhindert worden war, gab es eine ordentliche Schwämme an Finalkarten. So konnten wir einfach in den Genuss eines Endspieles gelangen, welches die DFB-Elf vollkommen verdient mit 1:0 für sich entschied. In neunzig Minuten schossen die Argentinier kein einziges Mal auf Bodo Illgners Kasten und wohl niemand hätte sich beschweren dürfen, wenn die Partie 4:0 geendet hätte.
Es war dieses eine magische, wundervolle Nacht in der Ewigen Stadt. Rückblickend muss gesagt werden, dass dieser 1990er-Abstecher nach Italien der mit Abstand schönste Urlaub meines Lebens gewesen ist.
Jahre verstrichen, Jahre vergingen. Ich heiratete und wurde Familienvater, stieg in der Firma nach und nach auf, absolvierte betriebliche Zusatzausbildungen und endete schließlich in einem eigenen Büro im Bereich Personalwesen und Rekrutierung. Längst war der Hass zwischen den deutschen und niederländischen Fußballfans einer gesunden Rivalität gewichen, worüber wohl keiner wirklich traurig war. In Dokumentationen sprachen die Spieler von damals darüber, wie sinnlos und widerwärtig dieser Hass gewesen war. Bei einem Abstecher nach Holland hatte ich in einer Kneipe mit Einheimischen über jene Tage gesprochen und auch sie waren froh, dass das alles hinter uns lag. Während des WM-Finales 2010 drückte ich Oranje gegen Spanien ganz fest die Daumen, weil ihnen nach vielen Jahrzehnten wundervollen Fußballs nun schlicht und einfach den Titel gönnte. Apropos Titel; im Jahr 2014 durfte ich den vierten Weltmeistertriumph für die DFB-Elf erleben. Zwar war ich in Rio de Janeiro nicht live vor Ort wie damals in Italien, aber allein schon aufgrund des 7:1 Sieges im Halbfinale gegen Brasilien ging dieser Titel genauso in Ordnung wie jener anno 1990. Während dieser Jahrhundertpartie trugen unsere Jungs das schwarzfarbene Ausweichtrikot. Häufiger jedoch kam bei diesem Turnier das Hauptleibchen zum Einsatz, welches natürlich hauptsächlich in Weiß daherkam, jedoch einen breiten roten Streifen auf der Brust zeigte. Es mag seltsam klingen, aber das Trikot kam mir altbekannt vor, als hätte ich dieses Stück Stoff vor vielen, vielen Jahren bereits einmal gesehen.
Nach der WM 2014 vergingen selbstverständlich weitere Jahre und es fühlte sich an, als ob die Zeit mit jedem gelebten Moment rascher verginge.
Dann kam die ebenso extrem belastende sowie bizarr komische Ära der Pandemie. In dieser Zeit stellte ich einen jungen Mann für den Bereich Vertriebsinnendienst ein. Er kam mir bekannt vor, als hätte ich ihn irgendwann und irgendwo vor langer Zeit gesehen, was natürlich Unsinn war, denn der junge Mann namens Mike war gerade mal einunddreißig Jahre alt. Wie sollte ich ihn also vor langer Zeit so gesehen haben, wie er nun an diesem Tage vor mir saß und dabei ein wirklich motiviertes Bewerbungsgespräch ablieferte? Auch auf der Arbeit, die er zu siebzig Prozent, die Schuld daran trug die Seuche, im Home Office und zu dreißig Prozent vor Ort in der Firma erledigte, machte Mike sehr, sehr ordentlich.
Es war ein sonniger Tag im Frühjahr, der erste wahre Wärme hatte Einzug ins Land gehalten, als ich für einen kleinen Spaziergang während meiner Bildschirmaugenpause vor das Bürogebäude trat. Ich trug Jeans und T-Shirt, die Sonne streichelte meine Haut zart und das helle Tageslicht machte klar, dass Kühle und Depressionen der dunklen Monate somit endgültig vertrieben worden waren. In den Bäumen einer nahen Grünanlage sangen die Vögel ihr Liedchen und schienen dadurch den ersten richtigen Sonnenschein begrüßen zu wollen. In Momenten wie diesen fiel es schwer zu glauben, dass etwas wie Covid 19 tatsächlich existierte.
Mike stand draußen und er hielt sich sein Smartphone vor die Nase. Über irgendetwas, das er las, schüttelte er den Kopf. Seine Aknenarben zogen kleine blasse Kanäle in den Bereich des unteren Gesichtes und seine schwarzen Haare waren heute nicht ganz so ordentlich geföhnt.
Auf einmal wusste ich, wo ich Mike schon einmal gesehen hatte. Eine Szene, beinahe zweiunddreißig Jahre alt und eigentlich bereits vergessen, zog nun kristallklar an meinem inneren Auge vorbei, kam wieder hervor aus den tiefsten Tiefen des Unterbewusstseins.
Hier stand eindeutig das Gesicht auf der Tribüne des Guiseppe Meazza Stadions zu Mailand, welches mir nach dem Schlusspfiff aufgefallen war. Einen Irrtum gab es keinen, die Narben waren da, das Smartphone war ebenfalls schwarz und die Haare glichen sich in vollkommener Übereinstimmung des Farbtones. Das Ganze krankte nur an einer Kleinigkeit. Mike hatte sich seit jenem Tage nicht verändert, er war weder älter geworden noch hatten die Narben an Blässe zugelegt. Und die Haare wiesen nicht mal einen Hauch von Grau auf oder waren seither lichte geworden.
Dann kamen mir die persönlichen Daten aus der Bewerbung in den Sinn und plötzlich ergab alles ein stimmiges, wenn auch äußerst phantastisches Bild.
Mike ist am 24. Juni 1990 geboren worden. Das Spiel Deutschland gegen Holland fand an eben jenem Tage statt. Irgendwie ist es Mike möglich, durch die Zeit zu reisen. Er hat sich das Trikot von anno 2014 und sein Mobiltelefon geschnappt und sich auf den Weg durch die Zeit gemacht, um zu schauen, was so alles am Tage seiner Geburt im Jahre 1990 auf dieser schönen Welt losgewesen ist. Und was für ein prägenderes Ereignis konnte es da geben als dieses Jahrhundertspiel? Und das Smartphone hat er mitgenommen, damit ein paar nette Schnappschüsse dieser Zeitreise gemacht werden konnten. Im Jahre 1990 ist so ein Gerät vielleicht auffällig, wirkt aber längst nicht wie der Gegenstand aus einer fernen Zukunft. Jeder Mensch wird beim Beobachten eines anderen Menschen, der mit dem Smartphone hantiert, anno 1990 eine logische Erklärung dafür finden. Mike hat das Gesehenwerden in Kauf genommen. Denn in jedem Fall ist es einfacher zu transportieren als die analogen Kameras jener Zeit. Die gute alte Bequemlichkeit.
Ich schritt hinüber zu Mike und kam ohne großen Drumherumreden direkt zur Sache, indem ich sagte, was ich sagte: „Sag mal, wo warst du am 24. Juni 1990 gegen 23:00 Uhr? Ich persönlich war damals im Stadion San Siro in Mailand und habe mir das WM-Spiel Deutschland gegen Holland angeschaut. Es war übrigens ein Jahrhundertspiel; skandalös, spannend, hochklassig. Jeder Fußballfan sollte sowas gesehen haben. Zumindest einmal in seinem Leben. Mein Platz lag übrigens ziemlich mittig auf dem zweiten Oberrang.“
Mike grinste breit und irgendwie ertappt. Er glich einem Schüler, dessen Geheimnis der Herr Lehrer gelüftet hatte.
„Ich bin zwar nicht Jesus, aber dennoch war ich auf eine bestimmte Art und Weise an zwei Orten gleichzeitig. Zum einen lag ich um diese Uhrzeit mit meiner Mutter als Säugling wenige Stunden nach meiner Geburt im Krankenhaus und habe wahrscheinlich geschlafen. Zum anderen war ich genau wie du auch im wunderschönen Mailand. Nur ist das nicht vor fast zweiunddreißig Jahren gewesen wie bei dir, sondern es war vorgestern am Sonntagabend, obwohl ich mir tatsächlich das Ereignis im Juni 1990 angeschaut habe. Dort bin ich übrigens schon viermal gewesen. Denn das Spiel Deutschland gegen Holland im Rahmen der Weltmeisterschaft 1990 kann man sich gar nicht oft genug live vor Ort anschauen. Diese Stimmung, diese Rivalität, das indirekte Duell Inter gegen Milan mit über 70.000 reinen Fußballfans im Stadion; wahrlich ein Jahrhundertspiel. Da, schau mal her!“
Er wischte drei- bis viermal mit eiligen Bewegungen über das Display des Gerätes, bevor er es mir herüberreichte.
Ich nahm es zur Hand und betrachtete das, was auf dem Bildschirm leuchtete.
„Ich wusste, dass bei einem Hobby wie dem meinigen so etwas früher der später mal passieren musste. Irgendwann musste ich ja mal im Hier und Jetzt, in dieser Welt, wo ich eigentlich unverrückbar hingehöre, einen Menschen begegnen, welcher mir auf einer meiner ganz speziellen Reisen dort an irgendeinem Ort unter die Augen gekommen ist. Heute ist dieser Tag wohl gekommen“, erklärte Mike, während mein Blick einen der Fotoordner des Gerätes fokussierte.
Aus der Distanz sah man, wie die deutsche und die niederländische Mannschaft am 24. Juni 1990 den Rasen des Guiseppe Meazza Stadions zu Mailand betraten, um das Achtelfinale der Fußballweltmeisterschaft der Herren auszuspielen. Am Rand des Fotos konnte man deutlich meine Schulter unter einer jener Jeansjacken von Levis erkennen, die zu dieser Zeit voll im Trend lagen. Es gab mehrere Fotos, die die hochwertige Kamera des neusten iPhones vor über drei Dekaden wahrhaft gelungen eingefangen hatte; Loustau mit der roten Karte in der Hand, Klinsmann beim Torjubel nach dem 1:0 und wieder Klinsmann, wie er Gullit nach Schlusspfiff und Trikottausch in die Arme schloss. Auch hier konnte der Betrachter auf den Sitzplätzen vor dem Fotografen den Rücken meiner Jeansjacke, die es seit Ewigkeiten nicht mehr gab, ganz genau erkennen.
„Machst du öfters solche Reisen?“, erkundigte ich mich leise und das größte Wunder war eigentlich dabei, dass ich mich nicht fragte, wie und warum Mike überhaupt sich in der Lage befand, einem solchen Hobby nachzugehen.
„Schau einfach durch all die Fotos durch. Das beantwortet deine Frage“, schlug der jüngere Mann vor.
Die Gewaltigkeit dessen, was hier unter meine Augen kam, schlug erst durch, als ich den nächsten Schnappschuss betrachtete. Kaiser Heinrich IV kniete im tiefen Schnee vor dem Tor der Burg Canossa und wartete auf Einlass und Absolution durch Papst Gregor VII. Obgleich sich diese Szene vor knapp tausend Jahren abgespielt hatte, wirkte sie auf diesem Foto, als sei sie erst im letzten Winter geschehen.
Meine Hände fingen zu zittern an und ich musste mich mühen, dass Smartphone nicht fallen zu lassen.
Wann die Gier in Carola erstmals aufkeimte, lässt sich heute wohl nicht mehr genau bemessen, jedenfalls ging es einher mit ihrer vertrieblichen Tätigkeit als Betriebswirtin und den hohen Boni, welche am Ende des Geschäftsjahres ausgezahlt wurden.
Die studierte Ökonomin einer renommierten Hochschule wusste nur zu gut, welch sichere Wertanlage Gold darstellte. Doch ihre Gier auch nach diesem Kinde Mammons basierte nicht ausschließlich auf diesem Faktum. Angefangen hatte es mit einem Geschenk eines Verehrers; der Mensch selbst nur eine kleine Fußnote ihrer persönlichen Geschichte, nicht jedoch die Goldkette, dessen Mitbringsel.
Obgleich die bildhübsche, brünette Frau mit dem Köper einer Barbie-Puppe und ihr ebenfalls hochstudierter Gatte finanziell zu den oberen Zehntausend zählten, lag für Carola niemals genug des schimmernden Edelmetalls in den diversen Depots und Tresoren parat.
Eines Tages trat die unheilvolle Gegebenheit ein, dass die sechsunddreißigjährige Betriebswirtin lediglich noch lächeln und Glück empfinden konnte, wenn sie Gold neu erwarb. Nur gelegentlich bildet in dieser Hinsicht der Kontakt mit ihrer kleinen, liebenswerten Tochter eine Ausnahme. Doch dafür musste jede Menge zusammenkommen. Das Standardglück ließ sich nur noch über das neunundsiebzigste Element des Periodensystems generieren.
Neben konservativen, eher unsichtbaren Wertanlagen fanden sich in den Tresoren ihres prächtigen Eigenheims Krügerrandmünzen, Uhren, mit Juwelen besetzter Schmuck.
Da Carola nie sonderlich an klassischer Literatur oder Literatur im Allgemeinen interessiert gewesen war und dieses auch bis heute nicht tat, kannte sie die altgriechische Sage von König Midas nicht. Der wahre Wunsch, alles, was sie berühre, werde zu Gold, kam ganz allein aus den Tiefen ihres Herzens heraus. Es handelte sich nicht um kindliche Träumereien, sondern um ein tiefes, in ihr loderndes Verlangen. Sie berichtete gar anderen Menschen davon. So geschah es beispielsweise bei einer alten Freundin namens Sandra, als die zwei Frauen gemeinsam das noble Fitnessstudio hoch über den Dächern der Innenstadt besuchten. Dabei verpackte Carola die Worte in äußerste Vorsicht, um ja nicht den leisesten Verdacht zu erwecken, in ihrem hübschen Kopfe könne etwas aus dem Lot gekommen sein.
„Stell dir mal vor, dass alles, was du berührst, zu Gold wird. Was würde das wohl an den Märkten dieser Welt auslösen?“
Sie musste es einfach aussprechen, denn zu sehr lag ihr diese Sache auf dem Herzen.
„Die Märkte regeln sich doch immer selber. Aber ich denke dennoch nicht, dass eine solche Gabe gutgehen würde. Denn es würde ein Ende finden wie bei König Midas“, antwortete Sandra und stellte das Gewicht der Maschine für die Brustmuskulatur ein wenig höher, wohingegen Carola das ihrige niedriger justierte.
„Wer is ` n das?“
„Midas ist die Gestalt aus einem Märchen des alten Griechenlands“, erklärte Sandra und fing mit ihren Übungen an. „Da bekommt ein König die Fähigkeit, dass alles, was er anfasst, zu Gold wird. Aber sämtliches Essen und so weiter wird auch zu Gold und Midas muss schmerzhaft feststellen, dass ihm der Hungertod droht, weil man Gold eben nicht essen kann. Das Ganze hat natürlich einen metaphorischen Hintergrund, dass Reichtum alleine nicht glücklich macht, aber als Kind fand ich das mit dem Essen echt genial. Ich glaube, ich werde die Geschichte nochmals lesen, denn über die Hälfte davon habe ich vergessen. Nun gut, es ist auch schon lange her!“
Sandra fing nun an, sich wahrhaftig in ihre Übungen hereinzuarbeiten.
„Dann müsste man es so machen, dass sich etwas nur in Gold verwandelt, wenn man explizit daran denkt“, murmelte Carola leise, so dass Sandra diese Worte nicht vernahm.
Die Karrierefrau wusste von der Sinnlosigkeit ihrer Worte, doch sie wünschte es sich so sehr, denn unbedingt sollte ihre Familie reicher sein als jede alteingesessenen Unternehmerfamilie dieser Großstadt.
Wenn ein Mensch etwas wirklich erreichen wolle, dann könne er dieses auch selbstverständlich erreichen, hatte ihre Mutter stets zu sagen gepflegt, und nun wollte Carola unbedingt Dinge in Gold verwandeln. Keine Sekunde kam ihr nun mehr in den Geist, dieser Gedanke könnte für eine Frau mit Hochschulbildung etwas verstörend sein, zumal andere Menschen ihres Alters sich eher Gesundheit für die Familie und sich selbst wünschten.
Keiner wusste es, aber um den Stress ihres Haifischbeckenberufes besser überdauern zu können, verschrieb die Hausärztin ihr seit längerer Zeit einen Stimmungsaufheller. Mittlerweile schmiss Carola die blauen Pillen wie Smarties, aber als Privatpatientin erhielt sie ein Rezept nach dem anderen, ohne dass tiefergehende Fragen gestellt wurden.
An einem Sonntag fuhr Carola mit ihrem 4.900 Euro teuren Mountainbike durch den Wald des Mittelgebirges, an dem die Großstadt lag. Heimlich hatte die hübsche Frau vor dem Aufbruch zwei Zauberpillen mit dem Frühstückskaffee heruntergespült, so dass sie beim in die Pedale treten fröhlich ihre liebste Popmusik von Lady Gaga und Pink vor sich hin trällerte. Dass der Sonnenschein, der durch die Baumkronen auf den erdigen Weg fiel, goldene Lichtspielchen dort verursachte, hob ihre Stimmung um so mehr an. Der Erheiterungsmedizin zum Trotze schwellte eine leichte Furcht in ihr, sie könne sich mit dem grauenhaften Fuchsbandwurm infizieren, der die Leber zu einem blutigen Brei verarbeitete. Carola fürchtete sich vor dem Parasiten, der nur höchst selten den Menschen befiel, aber vor der grauenhaften Pyramidenkreatur, die ihr an einer Waldkreuzung durch Winkzeichen gebot anzuhalten, fürchtete sie sich nicht; wahrscheinlich, weil diese eine goldene Korona umgab. Carola sah lediglich diesen unheiligen Schein, der sie blendete, damit ihr das Dahinterliegende entging. Ja, sie erkannte das scharlachrot glimmende, leistenförmige Sichtorgan des Geschöpfes, den furchteinflößenden Schnabel voller blitzender, silberner Reißzähne darin, die grauenerregenden Instrumente an den Unterarmen und wäre auch sicher intellektuell in der Lage gewesen, den wahren Charakter des Wesens zu ermessen, welches aus vielen, divers großen Pyramidenstücken bestand, die wiederum von silbernen Gelenkkugeln zusammengehalten wurden. Doch sehen tat sie nur das goldene Feld drumherum. Dann hörte die Frau den verführerisch klingenden Sprechgesang, den dieses Wesen von sich gab.
„Hallo Carola! Schön, dass wir uns an dieser Stelle, zu und in dieser Zeit treffen!“, begrüßte die Pyramidenkreatur freundlich, nachdem die Frau ihr Mountainbike gestoppt hatte.
Sie stieg ab, ließ das Fahrrad achtlos aus den Händen gleiten, so dass es dumpf auf die Grenze zwischen Weg und eigentlichem Wald schlug.
„Hallo!“, lautete ihre Antwort und ihre blauen Augen blickten die Pyramidenkreatur an wie ein Kind das heißersehnte Weihnachtsgeschenk unter dem Christbaum.
Sie wirkte hypnotisiert, paralysiert, glich einer begabten Schauspielerin, die für das Zeigen eines solchen Gesichtsausdruckes vor der Kamera fürstlich entlohnt wurde.
„Ich habe gehört, dass es ein großer Wunsch von dir sei, auf Kommando hin Objekte in Gold zu verwandeln.“
Mit der Stimme der Pyramidenkreatur verhielt es sich merkwürdig. Es schien, als klänge hinter der akzentfreien Sprache des Hochdeutschen elektromagnetisches Knistern nach.
„Ja, mehr als alles andere auf der Welt!“, lautete die knappe Antwort.
„Dann will ich dir, da du ein gutes Mädel bist, deinen Wunsch nicht abschlagen. Du musst nur in dem Moment, wenn du es wünscht, dass sich etwas, was du berührst, in Gold verwandelt, ganz fest an dieses gar wundervolle, edle Metall denken, dein ganzes Wesen muss ein einziger Gedanke an Gold sein, und schon wirst du an das Ziel deiner Träume gelangen. Möchtest du das wirklich, mein Kind?“
„Ja! Mehr als alles andere auf der Welt!“, wiederholte Carola sich.
Unter einem mechanischen Geräusch fuhr das finstere Geschöpf mit dem unheiligen Heiligenschein seinen rechten Arm aus und dessen schlanker, kalter Metallfinger berührte sie kurz an der Schulter. Für den Moment verspürte Carola eine wohlige Wärme von den Ansätzen ihre Haare bis hinab in die Spitzen der Zehen, aber der Blick ihrer blauen Augen verlor sämtliche Menschlichkeit. Doch sie merkte es nicht, denn es existierte im Geist nur die Freude und Gier nach dem schnöden Mammon.
„Das war es schon, mein Kind! Ich werde mich nun verabschieden. Für meine Dienste brauchst du mir nichts zu geben und ich benötige auch keinen Ausspruch des Dankes!“, sprach die Pyramidenkreatur freundlich, jedoch falsch, aber Carola bemerkte auch das nicht.
„Werde ich dich wiedersehen?“, fragte sie leise und berauscht.
„Wenn du mich rufst, werde ich immer für dich da sein, mein Kind!“
Dann war die Pyramidenkreatur verschwunden, nachdem sich kurz die Baumstämme im Hintergrund optisch verzerrt hatten. Eine ganze Weile blickte Carola aus ihren kalten Augen auf die Stelle der Waldkreuzung, wo das märchenhafte Geschöpf eben noch gestanden hatte, doch da gab es nur die grüne Vegetation und das golden-schwarze Spiel von Licht und Schatten auf dem erdigen Boden.
Nicht genau realisierend, was ihr eben widerfahren war, hob sie das Mountainbike auf und radelte frohen Mutes und mit einem kalten Glücksgefühl im Herzen in Richtung Eigenheim zurück, dabei die besagte Kälte nicht spürend.
In der schicken Villa am Stadtrand bemerkte der sportliche Gatte Mark nicht, dass sich die Augen seiner Ehefrau verändert hatten, denn zu sehr beschäftigten ihn die Geschäfte. Nur die vierjährige Tochter fragte ihre Mutter stets: „Mama, geht es dir gut? Mama, ist was mit dir? Mama, bist du krank?“
„Nein, mein Schatz, alles ist okay!“
Und in ihrer kindlichen Denkweise glaubte Tochter Marla der Mutter, da sie voll auf deren Worte vertraute, diesen uneingeschränkten Glauben schenkte.
Als am Abend das Töchterchen schlief und Mark seinerseits im Fitnessstudio weilte, probierte Carola, ihre neue Gabe in die Tat umzusetzen. Ein langstieliges Glas mit rotem Wein darin stand auf dem Designersofatisch. Sie nahm es in die Hände und wünschte sich so sehr, es wäre Gold, dass dieser Gedanke ihr gesamtes Wesen verinnerlichte. Carola schloss gar die Augen, um diesem Wunsch Nachdruck zu verleihen.
Sie fühlte und sah das Ergebnis kurz darauf. Das Glas funkelte golden im sanften Licht der Wohnzimmerbeleuchtung. Während sich Glas und Wein in das Edelmetall transformiert hatten, war speziell etwas mit der Flüssigkeit geschehen, von dem Carola vermutete, dass es mit naturwissenschaftlichen Gesetzen in Verbindung stehe. Der edle Tropfen aus dem Elsass musste versucht haben, sämtlich aus dem Glas zu flüchten und war dabei in der Bewegung zu Gold erstarrt, so dass er nun einer schockgefrorenen Flutwelle glich, deren oberstes Drittel aus dem Glas herausschaute. Das gesamte Gebilde wirkte gleich einem kostbaren, abstrakten Kunstwerk und besaß eine gehörige Schwere.
Zunächst breitete sich ein schier unglaubliches Gefühl der Freude in Carola aus. Das Glück überkam sie in warmen, heftigen Wellen und es entlockte ihrem Mund immer wieder die Worte: „Ich danke dir, Pyramidenkreatur! Ich danke dir, Pyramidenkreatur! Ich danke dir, Pyramidenkreatur! Ich danke dir, Pyramidenkreatur!“
Doch bald darauf hielt die Angst Einzug.
Wie soll ich damit umgehen? Wenn ich jemanden die Gabe demonstriere, wird er wollen, dass ich die Pyramidenkreatur herbeirufe und ihm vorstelle! Die Person könnte mich auch bestialisch foltern und dadurch das Herbeirufen erzwingen! Selbst bei meinem Göttergatten Mark kann ich mir nicht sicher sein! Er könnte mich von irgendwelchen drogensüchtigen Verbrechern foltern und umbringen lassen, damit er am Ende Alles ganz für sich allein hat! Dann schnappt er sich eine andere Frau und wird immer reicher und reicher! Was soll ich tun? Was soll ich tun? Was soll ich tun?
Nach reichlich Überlegungen beschloss Carola, die endgültige Entscheidung darüber zu vertragen.
Im Keller gab es den blauen Kubus einer längst stillgelegten, uralten Heizungsanlage aus den Kindertagen dieser prächtigen Villa. In dessen Inneren versteckte die Frau das transformierte Objekt. Ihr Mann durfte es in keinem Fall finden. Niemand durfte es finden.
In der nun folgenden Woche verwandelte Carola drei Kerzen, die sie zuvor bei Nonfood-Discounter Action erworben hatte, in ruhigen Momenten zu Gold und versteckte sie später in dem blauen Würfel im Keller. Gezielt griff sie auf neuerworbene Gegenstände zurück, um zu verhindern, dass ihr Gatte mögliche Recherchen über verschwundene Gegenstände des Haushaltes anstellte. Noch immer existierte in den Windungen ihres Gehirns keine Idee für den Umgang mit dieser Gabe.
Wenn Carola unterwegs war, hing ihr stets die eiskalte Furcht im Nacken, jemand könne auf dubiosen Pfaden von ihrer Gabe erfahren haben und folge ihr nun, um sie zu entführen und ihr unter grausigster Folter das Geheimnis zu entreißen. Egal, ob beim Weg vom Auto über den Parkplatz hin zum Eingang des Supermarktes oder im Aufzug auf den Weg hinauf in ihr Chefbüro; ob beim Radeln auf dem Mountainbike oder beim Abholen der Tochter aus dem privaten Kindergarten; ständig, alle zehn Meter drehte Carola sich um oder schaute in den Rückspiegel ihres Porsche Cayenne, zu erspähen, ob ihr Menschen mit finsteren Absichten folgten. Einmal setzte ihr Herz auf dem Außengelände einer Tankstelle beinahe aus, als ein dunkelhäutiger Mann unweit von ihr aus seinem Volkswagen stiegt und tatsächlich auf sie zutrat. Sie sah sich bereits betäubt durch eine schwer sedierende Substanz auf der Rückbank des Golfs liegen, aber der alternde Mann wollte sich lediglich nach dem Weg zu einem italienischen Restaurant erkundigen, weil er mit dem Navigationsgerät nicht zurechtkam.
Auch vor Polizeistreifen und Polizisten an sich schlich sich eine stetig wachsende Angst ein.
Ein Mensch, der Gold erschaffen kann, braucht die Regierung nicht! Bald werden auch die Nachrichtendienste hinter mir her sein! Ich kann keiner Seele mehr vertrauen!
Auch die Steigerung der Einnahme der kleinen, blauen Zauberpillen vermochte nicht, Angst, Paranoia und Magenschmerzen abzumildern.
Dennoch verwandelte Carola mindestens einmal am Tag einen eilig gekauften Gegenstand zu Gold; Deodorantdosen, Hairstylingdosen, Kerzen, Grablichter, Zigarettenpackungen, die es ihr der Barrenform wegen besonders antaten. Für die Transformation schloss sie sich in ruhigen Momenten auf einer der Toiletten im Wellnessbereich im Keller der Villa ein, verwandelte die Gegenstände in Gold höchster Reinheit, um das Edelmetall im Anschluss im benachbarten Heizungsraum im Inneren des alten Kessels verschwinden zu lassen.
Eines Tages flog ihr Ehemann für eine gute Woche aus geschäftlichen Gründen gen Vereinigte Staaten.
In dem bereits erwähnten Wellnessbereich gab es ein nierenförmiges Schwimmbecken, dessen Temperierung stets bei exakt siebenunddreißig Grad Celsius lag. Hier hielt sich Carola am zweiten Tag von Marks Abwesenheit zusammen mit ihrer kleinen Tochter auf. Sie planschten und alberten im Flachwasserbereich der Poolanalage herum und für den Moment schien Carola tatsächlich den Dämonen entfliehen zu können.
Nachdem Mutter und Kind aus dem Wasser gestiegen waren, stürmte das kleine Mädchen in ihrem pinken Badeanzug auf die Mama zu, welche auf einer der weißen Plastikliegen am Beckenrand hockte.
„Ach Mama, ich liebe dich!“, rief die Vierjährige aus, während sie einander in den Armen hielten.
„Ich dich auch, Schatz! Ich dich auch!“
Sie spürte die zauberhafte Wärme; eine Wärme, wie sie nur das eigene Kind zu vermitteln vermochte. Sie spürte das Glück; ein Glück, wie es nur das eigene Kind zu vermitteln vermochte; das Glück einer Mutter.
Dann jedoch fiel ihr Blick auf das azurblaue Wasser, dem die Unterwasserscheinwerfer einen goldenen Glanz verliehen.
Wunderbares, prächtiges Gold! Wundervolles, schweres Gold! Du bist manifestiertes Sonnenlicht! In dir steckt ein Teil der Sonnengöttin! Göttliches Gold! Auf ewig wird deine Schönheit sich erhalten!
Der Schrei, der ihrem Mund kurze Zeit später entwich, besaß die Schrillheit, Glas zum Bersten zu bringen.
In ihren Armen hielt sie ein Gebilde schweren Metalls mit der angedeuteten Ähnlichkeit eines ehemals menschlichen Wesens. Doch es glich eher einer Puppe aus den Tiefen eines Alptraums. In dem, was vorhin noch ihre kerngesunde, lebhafte Tochter gewesen war, weilte nun keinerlei Leben mehr. Es gab lediglich noch eiskaltes Metall; Midas kalte Gold.
Noch immer mit dem leblosen Objekt im Arm rief Carola aus: „Pyramidenkreatur! Komm herbei! Ich brauche deine Hilfe! Pyramidenkreatur! Gib mir meine Tochter wieder! Hilf mir! Pyramidenkreatur!“
Ihre schrillen Schreie stiegen hinauf bis in die Unendlichkeit, aber die Pyramidenkreatur kam nicht.
Und eines, liebe Leserinnen und Leser, stand tatsächlich fest; Freundin Sandra hatte wahrlich den wichtigsten Teil der Geschichte über König Midas vergessen.
Der aufmerksame menschliche Betrachter, welchen es an dieser Stelle selbstverständlich nicht gab, hätte das Objekt für einen zigarrenförmigen Asteroiden gehalten; ein Stück Felsen mit einer uralten Geschichte. Diese simple wie wirkungsvolle Tarnung war von seinen Erbauern bewusst gewählt worden.
Heute lässt sich der genaue Zeitpunkt, wann das Gebilde nach seiner Äonen andauernden Reise durch die Weiten des Kosmos das Sonnensystem erreichte, nicht mehr genau beziffern. Es trat jedoch ein in der Nähe eines bläulichen Gasplaneten, dessen Ringsystem im schwachen Licht hier draußen matt vor sich hin schimmerte. Das Objekt gab weder Signale von sich noch schien es irgendein Aggregat für Steuerung und Schub zu besitzen. Dennoch bewegte es sich anders, als das andere Gebilde seiner Größe taten. Es bewegte sich gezielt, wurde von irgendetwas gesteuert, welches der humanoide Geist des frühen 21. Jahrhunderts nicht zu fassen in der Lage war.
In seinem hohlen Inneren existierte eine Maschine, die aus einer Ansammlung diverser geometrischer Figuren bestand. Nichts an ihr bewegte sich, keine Lämpchen flackerten auf und es gab keine leuchtenden Displays zu sehen. Jedoch gab sie hier wie dort seicht rauschende Geräusche von sich, die man damit vergleichen konnte, wenn der Klang eines Zuges in großer Entfernung in dein Schlafzimmer dringt. Und es existierte die Platte mit den spitzen pyramidenförmigen Kristallen in dunklen Grüntönen. Ihre Grundfläche besaß ungefähr Größe und Form eines Schnellhefters im Format Dina4. Während die für uns seltsam anmutende Maschine Route und Ziel des Fluges festlegte, fiel den Kristallen eine gänzlich andere Aufgabe zu. Die grünlichen Pyramiden transportierten das Bewusstsein ihrer Erschaffer. Obgleich deren Zivilisation an einem wahrlich finsteren Ort des Universums längst untergegangen war, konnte so ihre Spezies weiterexistieren, wenn auch in fremden Körpern und an fremden, weit entfernten Orten. Kam ein Wesen von mindestens durchschnittlicher Intelligenz mit den Trägerkristallen in Kontakt, so täte es unwiderruflich nach einer gewissen Zeit die Charaktereigenschaften dieser ehemaligen Art annehmen und verbreiten.
Die als Asteroid getarnte Sonde ließ den Gasplaneten am Rande des Sonnensystems hinter sich und strebte gezielt dem Zentrum entgegen. Dort gab es einen blauen Planeten voller Leben, unter dem eine Gattung die nötigen Voraussetzungen erfüllte, um sich mit dem fremden Bewusstsein zu infizieren. Zu dem Zeitpunkt, da das Artefakt auf das Ende seiner Reise zusteuerte, brachten die Angehörigen der von der seltsamen Maschine ausgewählten Wirte ihre Kinder zu Bette, gingen ihrer Arbeit nach oder starrten auf die Displays ihrer Smartphones.
Nico kam mit der Chromosomenanomalie zur Welt, welche man einst das Down-Syndrom nannte. In dieser Zeit hieß die geistige Behinderung jedoch anders.
Nico war ein fröhlicher Junge, der viel lachte und eine große Liebe zur Musik empfand. Leider brachten ihn seine Eltern niemals in den Genuss eines Konzertes, auch ließen sie ihn niemals eines davon per Hologrammblase sehen. Doch Nico wunderte das nicht. Er besaß seine unzähligen Impulse mit Audiobespielung und das reichte ihm vollkommen aus.
An seinem achtzehnten Geburtstag jedoch erklärten ihn Mama und Papa, dass sie auf ein Konzert mit ihm gehen würden und, noch besser, er dürfe gar für eine Weile mit auf der Bühne stehen. Die Band hieße DD Teleskop.
Nico vollführte vor lauter Freude beinahe einen Purzelbaum und lachte noch breiter und wärmer, als er das ohnehin stets tat. DD Teleskop war seine absolute Lieblingsband und er liebte seine Eltern mehr als alles auf der Welt, auch wenn man überall davon sprach, dass die höchste Liebe jene zum Heiligen Boozohel sein müsse, dessen Lehren er jedoch nicht verstand. Für ihn gab es nichts Größeres als seine Mutter und seinen Vater; Punktum. Es war dieses eine unendliche urnatürliche Liebe in ihrer reinsten Form.
Bereits vierzehn Tage vor dem Auftritt in der Heimatstadt lag Nico des nachts wach und malte sich das Kommende in warmen Farben und mit klopfendem Herzen vor dem inneren Auge aus. Pausenlos hörte der junge Mann die Lieder der hippen Band.
Dann kam der große Tag. Zusammen betraten sie die gigantische Halle vor den Toren der Stadt. Seine Augen leuchteten. Niemals zuvor hatte Nico ein solch gewaltiges Bauwerk von innen gesehen und eine derartig große Anzahl an Menschen. Für ihn waren das überwältigende Eindrücke und Momente, wobei das Konzert noch nicht mal begonnen hatte. Kurz nachdem eine Servicekraft Cola und Bier in die Ehrenloge, für die sie Karten besaßen, gebracht hatte, erschien eine grell geschminkte Frau aus der Entourage von DD Teleskop. Sie begrüßte zunächst die Eltern und danach Nico gar eine Spur zu herzlich. Die Bandmitglieder seien nun bereit, ihn zu empfangen. Voller Glück ging Nico mit ihr. Die Jungs von der Band waren überaus nett, was besonders für den Sänger mit seinen grellrot gefärbten Haaren galt. Er nahm Nico direkt in die Arme und sagte: „Hey, Nico! Geil, dass du heute mit uns auf der Bühne stehst!“
Bis zum Auftritt trank Nico reichlich Cola. Dann gingen sie durch einen langen Gang auf die geräumige Bühne, die noch von einem Vorhang den Blicken der lärmenden Fans entzogen wurde. Die Musiker nahmen ihre Instrumente auf.
„Okay! Dann rocken wir die Bude. Du stehst direkt bei mir ganz vorne, Nico. Ich brauche dich dringend. Ohne dich läuft hier gar nichts“, erklärte der Sänger grinsend und Nico nahm jedes Wort für voll.
Als die stark verzerrten Gitarren den Auftakt des Konzertes einleiteten, öffnete sich auch der Vorhang. Kurz darauf stimmten Keyboard, Schlagzeug und Bass mit ein. Der Sänger mit den roten Stachelhaaren zappelte sich einen ab. Nico tat es ihm gleich, grinste über das ganze Gesicht, freute sich wie noch niemals zuvor in seinem achtzehnjährigen Leben.
Weil DD Teleskop eine sakrale Band war, sangen sie auch in der heiligen Sprache des Heiligen Boozohels.
„Last se borm in a jum be hey“, kreischte der Sänger los, wobei das letzte Wort hey von einem Effektgerät zigfach wiederholt wurde.
Während das „hey“ durch den Saal mit den tobenden Fans noch dröhnte, rammte der Sänger Nico mit voller Gewalt sein Knie in den ungeschützten Hoden. Auf Nicos eben noch freudigem Gesicht breitete sich ein entsetzter Ausdruck aus. Sein Mund bildete ein großes O und er ging röchelnd zu Boden. Diese erstickenden Töne vernahmen die Fans aufgrund der gewaltigen Lautstärke nicht. Dennoch jubelten sie wegen der Brutalität, die der Sänger dem geistig behinderten Jungen zugefügt hatte. Und das sollte erst der Auftakt zur großen Show sein. Hinter der Bühne lagen die Zangen bereits in dem Kohleofen und warteten darauf, bis sie weißglühend wurden. Häutungsmesser glitzerten auf rotem Stoff. Kleine Fläschchen mit hochkonzentrierter Schwefelsäure standen bereit zum Einsatz neben einem Schweißbrennergerät. Weil sie das zu Tode foltern auf der Bühne bestens verstand, gehörte DD Teleskop zu den bekanntesten und beliebtesten Musikgruppen der Welt. Während der Sänger den am Boden liegenden Nico die Sohle seines hohen Stiefels ins Gesicht drückte, brachte ein Roadie eine schwarze Lederpeitsche mit Widerhaken.
„Dat de buck de summa pey“, sang er weiter.
Das Publikum raste im Rausch der Gewalt und im Gefühl der vollkommenden Unterwerfung unter den Geist des Heiligen Boozohels.
In ihrer Ehrenloge weinten Nicos Eltern beinahe vor Glück und Freude. Eine Passage aus den Heiligen Überlieferungen besagte:
Ihr gutmütigen Eltern
Sollte Euer Kind schwach, lahm im Geiste oder defekt sein
So bringt dessen Leid mit dem Erwachsensein
Dem Barmherzigen Boozohel dar
Es gibt nichts Wundervolleres
Als dem Erretter das Leid zu bringen
Ewig wird sein Euer Lohn
Die Eltern, es stand ohne Zweifel fest, liebten den Heiligen Boozohel mehr als das eigene Leben und das eigene Fleisch und Blut. So ging es der großen Majorität der Menschen dieser Zeit. Ihnen allen war sein Wort uninterpretierbares Gesetz.
Nach dem Auftritt würden sich die Besucher noch auf die Jagd nach Langzeitarbeitslosen begeben, wobei die Band als Speerspitze fungierte.
Es war dieses ein ganz normales Konzert im Gottesstaat, der im Jahre 825 nach dem Hinaufstieg Boozohels beinahe den gesamten Erdkreis umfasste.
Das Spiel der UEFA Europa League am heutigen Donnerstagabend war nicht besonders unterhaltsam gewesen. Irgendwie kamen mir all die Spiele, welche in letzter Zeit über die Mattscheibe meines Smartfernsehers flackerten, nicht mehr besonders aufregend vor und ich fragte mich, warum ich all das Geld für all die diversen Streamingdienste ausgab, nur um von Dienstag bis Donnerstag Europapokal schauen zu können? Wusste ich nichts Besseres mit mir anzufangen?
Wie immer führte mein Weg mich auch an diesem Werktag gegen 23:00 Uhr ins Bett, wo ich noch ein paar Seiten eines Politthrillers zu lesen pflegte. Das Leben ging einen genau festgelegten Gang. Große Aufreger existierten kaum, sah man von gelegentlichem Ärger über Fehlentscheidungen der Schiedsrichter ab. Um halb zwölf wurde das Licht gelöscht und meine Gedanken vor dem heutigen Einschlafen lauteten ungefähr, ob es möglich sei, auf dem Parkplatz des Discounters, wo ich meistens einkaufte, ein Ovalrennen mit Formelfahrzeugen auszutragen.
Im alten Olympiastadion zu München mit seinem prächtigen, zeitlosen Zeltdach befindet sich der Träumende. Mitten auf dem Feld hält er sich auf mit Freunden aus den längst vergangenen Tagen der gymnasialen Oberstufe. Durch den Sonnenschein, der von einem wolkenlosen Himmel strahlt, sieht der Betrachter, wie tiefgrün der Rasen ist. Dann plötzlich spielen die alten Freunde Fußball. Sie treten an gegen den FC Bayern München und einer der Spieler des Rekordmeisters ist ein sandfarbener Chihuahua.
Ich erwachte in der Dunkelheit und musste zunächst einmal breit grinsen über die Komik des Traumes und gedachte gar, ihn niederzuschreiben, da Träume die Angewohnheit besitzen, nach dem Erwachen rasch zu verblassen. Dann fiel mir auf, dass die Dunkelheit, die mich umgab, anders war als sonst. Sie schien beinahe vollkommen zu sein und ich konnte weder den matten Schein der Straßenbeleuchtung erkennen, der es an den Vorhängen vorbei ins Innere des Schlafzimmers schaffte, noch die blaue Stand By-Leuchte des kleinen Fernsehgerätes dem Bette gegenüber. Meine Hand fuhr aus, um nach dem Smartphone auf dem Nachttisch zu greifen, aber am Rande meines Bettes gab es plötzlich eine Mauer. Ich konnte das kalte, harte Material deutlich spüren und ein genaueres Ertasten ließ vermuten, dass dieses seltsame Gebilde aus zyklopischen Steinen bestand. Auf der anderen Seite befand sich nun keine Raufasertapete mehr, sondern ebenfalls das bereits erwähnte Gestein. Gleiches galt sowohl für das Fuß- als auch das Kopfende der Schlafstätte.
Eingemauert! Jemand muss dich, als du geschlafen hast, komplett eingemauert haben, Freund der Nacht!
Dann bemerkte ich einen warmen Windhauch, welcher von oben hinab auf mein Gesicht wehte. Ich stellte mich auf meine Matratze und streckte beide Arme in die Höhe. Sie stießen auf keinen Widerstand. Über mir schien es also eine Art Öffnung zu geben, irgendwo dort oben, wo die seltsamen Mauern endeten. Ich versuchte erneut, in der totalen Finsternis irgendwelche Konturen auszumachen, aber da gab es nichts, nichts und wieder nichts.
Vielleicht befindet sich dein Bett plötzlich auf dem Grund eines rechteckigen, ausgetrockneten Brunnens! Du könntest jetzt in Panik verfallen und die ganze Welt zusammenschreien! Aber wahrscheinlicher ist, dass du einen sehr realen Traum hast. Leg dich einfach wieder hin und warte drauf, dass du erwachst!
So wurde es dann getan. Ich deckte mich zu, schloss die Augen und merkte tatsächlich, wie schwer die Müdigkeit in mir wog. Mein letzter Gedanke ging in die Richtung, ob man in der Hausarztpraxis Doktor Pischel vielleicht geheime Unterlagen zu den Terroranschlägen des 11. Septembers finden könne.
Ein Sonnenstrahl, der es an den Vorhängen vorbeischaffte, streichelte mein Gesicht und ließ mich erwachen. Mein Schlafzimmer war jenes Schlafzimmer, welches es stets zu sein pflegte. Hier gab es nicht mal ansatzweise Strukturen, die Mauern aus zyklopischen Steinen ähnelten. Weil ich mit gekippten Fenstern schlief, drangen die Geräusche der Straße in den Raum; das Knattern eines Motorrollers, ein Autoradio, welches wohl sehr laut eingestellt war und Rap-Musik plärrte, der fragmentarische Dialog meiner Vermieterin mit einer anderen Frau.
Als ich mein Bett machte, fiel mir die Münze am Rande der Matratze auf. Sie glänzte golden und auf ihrer einen Seite prangten verschnörkelte Symbole - eine Kreis mit einer Rose oder so -, wohingegen die andere gänzlich leer war. Ich konnte mich nicht entsinnen, dieses Objekt jemals zuvor in meinem Leben gesehen zu haben. Ich hob sie von der Matratze, spürte ihre Schwere, hielt sie in das Licht des frühen Tages und plötzlich überlief es mich eiskalt. Mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen und die Härchen auf meinen Armen stellten sich auf.
Diese Münze stammt aus jenem Reich der zyklopischen Mauern! Du bist diese Nacht tatsächlich dort gewesen und die Münze soll dich daran erinnern, dass du nicht geträumt hast! Es ist eine Warnung! Die leere Seite der Münze symbolisiert, dass du zu wenig Gutes in deinem Leben bislang getan hast! Du wirst in dem finsteren Reich der zyklopischen Mauern enden, wenn du nicht langsam etwas veränderst! Die Münze ist eine Warnung! Eine allerletzte Warnung! Eine Warnung aus der Hölle!
„Was für ein Bullshit!“, schrie ich meine idiotischen Gedanken hinfort. „Für alles gibt es eine logische Erklärung! Die Münze wird mir irgendwo mal in die Tasche gekommen sein und von der Tasche in mein Bett! Alles ganz harmlos.“
Heute musste ich meine Home Office-Tätigkeit erst gegen 11:00 Uhr beginnen. Ich beschloss, rasch mit dem Auto in die Stadt zu fahren, um bei einem Numismatiker nachzuhorchen, was für eine Münze das hier sein konnte. Vielleicht besaß sie gar einen gewissen Wert.
Doch auf dem Weg dorthin warf ich das glänzende Objekt an einer Kreuzung aus dem Fenster. Irgendwie erschien es mir, dass es besser wäre, so wenig über diese Münze zu wissen, wie es nur möglich war.
Es war kalt und finster an jenem Novembertag; kalt und finster und traurig.
Der Blick der Frau vor dem Schreibtisch der Ärztin schien den Dauerregen und die tiefziehenden grauen Wolken jenseits der Fenster zu spiegeln. All das Leid einer bereits seit langer Zeit verletzten Seele sprach klar und deutlich aus diesen haselnussbraunen Augen.
Frau Doktor med. Carola Limbach war sichtbar berührt, als sie dem Lamy Füllhalter die Kappe aufsetzte und den Stift neben ihr MacBook auf die Platte legte. In diesem Moment bildeten die beiden Gegenstände irgendwie einen seltsamen zeitlichen Kontrast.
„Es tut mir leid, Alexandra, aber ich sehe keine Hoffnung, dass du irgendwann nochmals wirst Arbeiten gehen können. Ich werde ein Gutachten schreiben, in dem ich dringend dazu rate, der Frühberentung stattzugeben“, sprach sie und als bei ihrer Gegenüber die Tränen zu laufen begannen, griff Frau Doktor zur Spenderbox Papiertaschentücher und hielt sie der Patientin hin.
Kurz darauf trat Alexandra aus der Praxis auf die Straße. In diesem Leben gab es derartig viel grau, dass man zu der Überzeugung gelangen konnte, es existierten gar keine weiteren Farbtöne. Der Regel fiel unablässig. Die wenigen anderen Menschen auf den Gehsteigen dieser Großstadt wirkten fern und wie schemenhafte Geschöpfe aus einer sehr weit entlegenen Welt.
Eine ihrer Krankheiten brachte neben einem zutiefst finsteren Weltbild ständige Gedankenschleifen mit sich. Um diese zu bekämpfen, führte Alexandra im Geiste imaginäre Gespräche mit ihrem Vater. Nachdem die drogenkranke Mutter sich für ihre Sucht entschieden und die Familie über Nacht unauffindbar verlassen hatte, war ihr Vater Heinrich das große Ganze gewesen.
Papi, es tut mir selbst am meisten leid, dass ich nicht mehr werde arbeiten können. Diese verdammte Depression hindert mich an allem. Vielleicht kann ich irgendwann nochmals eine Tätigkeit mit drei Stunden pro Tag erledigen. Meine Güte; ich würde gerade alles unterschreiben, wenn dem so wäre. Ich denke oft an all die schönen Dinge, die wir zusammen erlebt haben. Weißt du noch, wie ich als Teenagerin so sehr in Andrea Fortunato von Juventus Turin verknallt gewesen bin? Ich habe dir mit Andrea derartig in den Ohren gelegen, dass du mit mir extra über ein langes Wochenende zu einem Serie A-Spiel gefahren bist. Du hast mich ins Auto gesetzt, hast Luca Carboni aufgelegt und bist einfach losgefahren! Das Spiel fand im längst abgerissenen Stadio delle Alpi statt und nach der Partie hast du mit mir am Spielerausgang so lange gestanden, bis die Fußballer zu ihren Fahrzeugen gingen. Du hast es tatsächlich geschafft, dass Andrea mir ein Autogramm mit Widmung gegeben hat und sich außerdem noch mit mir fotografieren ließ. Das Foto habe ich heute noch. Es ist mir heilig. Dann ist Andrea Fortunato krank geworden mit Anfang zwanzig und die Leukämie hat ihn getötet. Tagelang hast du mich getröstet. Du hast täglich neun Stunden gearbeitet, damit ich keine schlechtere Kleidung als die anderen Mädchen tragen musste. Damit ich zu Geburtstag und Weihnachten immer das bekam, was ich mir wünschte. Damit wir einmal im Jahr im Sommer für zwei Wochen nach Lanzarote fliegen konnten. Ich habe neue Levis 501 getragen und deine Pullover waren dafür an den Ärmeln durchgescheuert. Als ich dann das Abitur mit 1,3 bestanden habe, hast du einen zweiten Job angenommen, nur damit ich in meiner Wunschstadt Bonn studieren konnte. Als ich im dritten Semester war, hat auch dich der Krebs heimgesucht. Ich konnte gar nicht so schnell gucken, wie die Krankheit dich besiegte. Du bist viel zu jung gestorben. Ach, Papi, du fehlst mir so!
Alexandra wischte sich eine Träne hinfort, als ein rotes Auto vorbeifuhr. Sie sah deutlich, dass der gesichtslose Fahrer oder die gesichtslose Fahrerin etwas aus dem Fenster warf und hörte Metall auf Asphalt klirren. Etwas rundliches Kleines tanzte für den Moment auf dem Gehweg. Während der Wagen um eine Kurve in der tiefgrauen Welt verschwand, bückte sich Alexandra, um zu sehen, was die Person aus der Fahrgastzelle befördert hatte. Es war dies eine goldfarbene Münze. Sie nahm das Objekt in die Hand und betrachtete es genauer. Das Ding wog schwer. Wohingegen eine Seite vollkommen glatt war, konnte man auf der anderen eine Rose oder etwas in der Art erkennen.
„Ach, Alex. Schön dich hier zu treffen“, sagte eine weibliche Stimme neben ihr.
Alexandra erkannte Doreen Tillmann. In ihren Augen verkörperte Doreen die hinterhältigste und falscheste Person auf Erden. Sie lächelte einem ins Gesicht, beschwor die Freundschaft und verbreitete hinterrücks bösartige Lügengeschichten über dich. Alexandra verabscheute Doreen, war jedoch zu wohlerzogen, um ihr das zu sagen, sondern strafte sie durch Kontaktlosigkeit. Zufällige Treffen ließen sich jedoch leider nicht immer verhindern.
„Warum hast du dich“, sprudelte Doreen mit gekünstelter Stimme, „nicht gemeldet? Es wäre doch so nett, wenn wir mal wieder etwas trinken gehen würden. Ich habe so viel zu berichten. Der Sven hat sich von Katja getrennt; die dumme Bitch, die! Und überhaupt…was hast ` denn da in der Hand?“
Doreens Blick fokussierte nun die Münze.
„Eine Goldmünze oder so. Die hat vorhin wer aus dem Auto geworfen“, erklärte Alexandra.
„Ach, Gold ist das ganz sicher nicht. Dafür ist es zu dunkel. Das könnte Messing sein oder so. Ich denke nicht, dass das Teil was wert ist. Hey, schmeiß sie doch mal in den Kippenkasten da vorne. Vielleicht ist ja ne Packung Kippen umsonst drinnen“, schlug Tillmann vor und deutete mit einem falschen Grinsen auf den Zigarettenautomaten an einer der grauen Häuserwände.
Niemals wird sich mehr rekonstruieren lassen, warum Alexandra den Vorschlag der hinterhältigen Schlange befolgte. Vielleicht tat sie es in der Hoffnung, die unfreiwillige Begegnung möglichst schnell wieder loszuwerden dadurch.
Mit wenigen Schritten standen die zwei Frauen am Automaten. Als die Münze in den Schacht fiel, rauschte es geheimnisvoll. Dann ging alles ganz rasch. Ein gleißendes Energiefeld breitete sich punktförmig von der Mitte des Zigarettenautomaten aus und riss ein menschgroßes, violett leuchtendes Portal in die graue Hauswand. Hinter einem dünnen durchsichtigen Vorhang aus knisternder Energie konnte Alexandra das Dahinterliegende erkennen. Es war dies eine Welt voll der tiefsten Farben. Es war dies eine Welt des endlos blauen Himmels. Es war dies eine Welt ewiger Wärme. Es war dies eine Welt ohne jedwedes seelisches oder körperliches Leid. Hier existierten weder Krankheit noch Tod. Ein erster flüchtiger Blick genügte, um eben jenes zur Gewissheit zu haben. Nun schaute Alexandra genauer hin. An den purpurnen Ufern eines smaragdgrünen Ozeans sah sie ihren Vater und Andrea Fortunato. Andrea befand sich in jenem jungen Mannesjahren, da Alex so sehr für ihn geschwärmt hatte. Ihr Vater war genauso alt wie an dem Tag, als er ihr gesagt hatte, sie solle in den kleinen weißen Twingo steigen, damit sie zusammen nach Turin fahren könnten.
„Auf Wiedersehen, Doreen“, rief sie aus und hob dabei die rechte Hand zum Abschiedswink.
Entschlossen trat Alex über die Schwelle, spürte ein kurzes Kribbeln auf der Haut und eine wohlige Wärme sich in ihren Innereien ausbreiten.
„Du willst doch wohl nicht etwa da rein gehen, Alex!“, brüllte Doreen entsetzt. „Das ist die Pforte zu Hölle! Ich sehe den Drachen! Dort geht es zur Drachenstadt!“
Alexandra war halb durch das Portal hindurch. Nun erkannte sie, was sich tatsächlich vor ihr auftat. Es war dieses weniger eine spezielle Welt als ein bestimmter Ableger der Raumzeit, eine von unendlich vielen Möglichkeiten, die das Multiversum bot; eine Zeit ohne Gräber.
Mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht ging Alexandra weiter. Bereits jetzt stand unfehlbar fest, dass es nie wieder auch nur den leisesten Hauch der Depression geben würde.
„Komm zurück! Ich sehe Flammen auf schwarzen Felsen tanzen! Der Herr der Fliegen! Es ist das Reich Satans! Die Drachen…“
Die endlich erlöste Alexandra hörte Doreens höchst panisches Gekreische längst nicht mehr.
Tag der Veröffentlichung: 26.09.2022
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