ultrakurz; zehn fantastische
und äußerst kurze Kurzgeschichten
von
Robert Mirco Tollkien
Jeweils eine Kurzgeschichte, welche handschriftlich verfasst als Vorlage nicht länger als fünf Dina5-Schulfheftseiten sein darf.
Jeweils ein Schlagwort dient der Charakterisierung.
Die Gemeinsamkeit; es geht stets schräg und fantastisch zur Sache, sei es nun an der Tankstelle, in den Methanseen des Saturnmondes Titan oder während der Spätschicht in der Werkhalle.
#1 - Vanfurths verspätete Spätschicht; Schlagwort: Schicksal
#2 - Der Beginn der Infektion; Schlagwort: Virus
#3 - Milka-Osterhasen und Smartphonebedienung; Schlagwort: Liebe
#4 - Die Hierarchie im See aus Methan; Schlagwort: Spezies
#5 - Gunthers Fahrt; Schlagwort: Quanten
#6 - Der Himmel über dem Kletterpilz; Schlagwort: Kindheit
#7 - Die Erste einer neuen Art; Schlagwort: Zukunft
#8 - Das Erwachen nach der Sehnsucht; Schlagwort: Zeitsprung
#9 - Staub auf den Dielen; Schlagwort: Parallelwelt
#10 – Besuch in der Werkhalle; Schlagwort: Spezies
Mit der Sicherheit des täglichen Sonnenaufgangs wusste Thorben Vanfurth dieser Tage, dass des Mark Schaffmanns Lächeln von falscher Natur gewesen war. Lange Zeit zuvor hatte er das Wesen hinter der Fassade nicht erkannt oder nicht erkennen wollen.
Damals noch als junge Männer betrieben sie gemeinsam und unter Thorbens vollem Vertrauen im Hamburger Stadtteil St. Pauli eine Szenekneipe und mussten derartig achtgeben, unter dem Ansturm der Gäste nicht zu ertrinken. Anno 2000 zur Sommerzeit schien lediglich der Himmel größer zu sein. Spielend leicht bewilligte ein renommiertes Bankhaus den Kredit für einen Club, der sich der Kneipe anschließen sollte. Eigentlich stand fest, dass die Mitzwanziger spätestens Anfang fünfzig ausgesorgt hätten.
Doch dann fiel die Fassade gleich einem Kartenhaus in sich zusammen, löste sich Marks Zuckerlächeln auf, um einer dämonischen Fratze zu weichen. Sowohl mit dem Festgeld als auch jenem geliehenen verschwand Schaffmann spurlos von der Bildfläche, so dass Vanfurth mit den Schulden allein an der Elbe zurückblieb. Nichts blieb dem Betrogenen außer Enttäuschung, Hass und einer tiefen Unwissenheit dessen, was er unternehmen täte, sollten sich ihre Wege eines nahen, fernen Tages nochmals kreuzen.
Viele, viele Jahre verstrichen gefühlt recht rasch.
Der großen Liebe wegen verließ Thorben seine nordische Heimat und zog in die ehemalige Hauptstadt, wo er treuer Ehemann und gutherziger Vater wurde. An das alte Leben erinnerten endlich nur noch Hass, Enttäuschung, Unwissenheit sowie Schulden. Damit er die Verbindlichkeiten in diesem Leben noch abbezahlen konnte, arbeitete Vanfurth neben seiner Haupttätigkeit als Elektromeister zweimal unterhalb der Woche zwischen 18:00 und 23:00 Uhr an einer 24Stunden-Tankstelle.
An jenem späten Mittwochabend im Frühjahr klingelte das Telefon neben der Registrierkasse und Nachtkassierer Rolf teilte mit, dass sein Auto nicht anspringe und er später käme, da er nun den Bus nehmen müsse.
Hätte der Defektteufel den Peugeot des werten Kollegen nicht ausgerechnet in dieser Nacht lahmgelegt, wäre Vanfurth das Paar, welches gut eine Stunde nach dem Anruf in den Laden kam, niemals in seinem Leben über den Weg gelaufen, denn sie befanden sich auf der Durchreise zurück ins hessische Kassel.
Weder die Frau noch der Mann stachen Thorben zunächst genauer ins Auge, wie sie an der offenen Kühlung für alkoholfreie Getränke standen, weil er via Kurznachrichtendienst mit seiner Gattin kommunizierte. Erst als eine freundliche Stimme nahe des Verkaufstresens ertönte, die Vanfurth auf eine alte, seltsame Art und Weise vertraut vorkam, blickte er gänzlich auf vom Display seines Smartphones.
„Guten Abend! Einmal Zapfsäule 8 und die zwei Wasser hier, bitte.“
Ja, keine Frage; Betrüger Mark Schaffmann hatte sich über all die Jahre die schwer zu durchschauende Fassade seines engelhaften Lächelns bewahrt.
Das seltsame Lebewesen hätte der menschliche Betrachter, den es an diesem für uns so unwirtlichen Ort selbstverständlich nicht gab, kaum ausmachen können, da sich nur gelegentlich Schemen von dessen Erscheinung abzeichneten. In dem schier unendlichen, kochenden Plasma aus gelblich-glühender Energie musste jemand sowohl perfekte, den Umständen angepasste Sehfähigkeiten besitzen, als auch vom Zufall gesegnet sein, weil das Subjekt lediglich die Größe eines Supertankers besaß, was im Vergleich mit der Gewaltigkeit dieser Welt gar winzig daherkam. Wäre dem imaginären Betrachter - trotz der XXXXXXXL-Sonnenbrille, die hier wahrlich von Nöten war – tatsächlich ein Blick darauf gelungen, hätte er in unregelmäßigen Intervallen ein kugelförmiges Gebilde voller noppenartiger Auswüchse erkannt.
Dem bizarren Geschöpf selbst ging es ausgezeichnet oder, um es genauer zu formulieren, es fing an, ihm ausgezeichnet zu gehen, denn bei Temperaturen von mehreren tausend Grad Celsius erwachte allmählich der Instinkt an seinen Daseinszweck. Doch wahrhaft entfalten tat dieser sich erst, wenn die Hitze in die Millionen ging und der Druck für den humanoiden Geist schier unfassbare Dimensionen annahm. Daher sank das so bizarre Wesen hinab in Richtung Kern des recht durchschnittlichen Sterns, dabei gekonnt und für unser physikalisches Verständnis schwer zu erklären, der gewaltigen Gravitation trotzend. Die Reise hinab täte lediglich wenige irdische Jahre dauern. Dort angelangt begann jenes, wofür das Wesen sich evolutioniert hatte. Es handelte sich um eine Art, für welche zwar entfernt, aber durchaus treffend das Wort Virus verwendet werden konnte. Es infizierte den Stern, worauf drei, vier Jahrzehnte danach die sogenannte Krankheit ausbrach und sie äußerste sich dadurch, dass sich der Alterungsprozess fundamental beschleunigte; innerhalb weniger Augenblicke kollabierte die Sonne, um endlich im Todeskampf einige ihrer Planeten zu verschlingen oder in kochende Höllenlandschaften zu verwandeln.
Das System, welches das das hier beschriebene, kosmische Objekt durch seine Schwerkraft dominierte, zählte acht vollwertige Trabanten. Zu jenem Zeitpunkt, als das Virus den Abstieg zum Herzen der Sonne begann, reckte auf dem dritten der Planeten ein Mann namens Rudi Völler den goldenen Pokal des Fußballweltmeisters in den Nachthimmel des prächtigen Roms. Wir schrieben den 8. Juli 1990.
Manchmal bestimmen zufällige Begebenheiten unser Schicksal auf eine beinahe gespenstische Art und Weise. Bei Mario waren es genau zwei an der Zahl, welche beim ersten Hinsehen wohl nicht einmal ansatzweise miteinander in Verbindung standen. Doch lassen Sie mich ein klein wenig genauer berichten.
Frau Monika Wagner, in ihrer Person die Mutter Marios, weilte seit über sechzig Jahren auf der Erde und zu der neuen Technik der Jetztzeit wollte sie keinen rechten Draht finden. Zwar liebte die Seniorin es, mit dem neuen Smartphone, welches die Tochter ihr geschenkt hatte, eine Rezension nach der anderen zu lesen, aber manchmal schien das Gerät ein Eigenleben zu entwickeln. So geschah es denn dann auch heute, dass ein Wischen über das Display – aus welchen Gründen auch immer – plötzlich den Sohnemann in die Verbindung brachte anstatt eines Forums für Literatur auf den kleinen Bildschirm.
Währenddessen kauften zwei Kinder im Alter von zehn und zwölf Jahren von ihrem Taschengeld den gesamten Vorrat des Sonderangebotes für Milka-Osterhasen im Nahkauf leer, da ihnen die Schokolade unter der violetten Folie einfach zu köstlich mundete und die Süßigkeit zudem kurz nach dem Ende der Feiertage günstiger nicht hätte sein können. Um ihre Schnäppchen besser nach Hause transportieren zu können, griffen sie an der Kasse nach der größten Papiertüte, welche der Supermarkt im Sortiment führte. Vielleicht zufälligerweise war eben diese Tragetasche die einzige unter tausend anderen mit einem Materialfehler. Als die Geschwister etwa dreihundert Meter weiter über den grauen Asphalt des Bürgersteiges heimwärts strebten, riss die Tüte am Boden auf und die violetten Osterhasen verteilten sich auf den Gehsteigplatten.
Kurz vor Ladenschluss stürmte Mario in den Supermarkt hinein durch die Schiebetür, was eigentlich bereits eine gute Stunde zuvor hätte passiert sein sollen, aber aufgrund zweier Ereignisse in der Zeit nach hinten gerutscht war.
Da hatte sich zum einen seine Mutter auf dem Smartphone verdrückt und versehentlich den Sohnemann angerufen, worauf das vielleicht zufällig entstandene Telefonat locker über dreißig Minuten gegangen war. Zum anderen waren da diese netten Kinder gewesen, deren Milka-Osterhasen den grauen Beton bedeckt hatten. Selbstredend hatte Mario ihnen beim Zusammenräumen geholfen und war anschließend auch beim Wiedereinräumen kräftig zur Hand gegangen, weil sich seltsamerweise noch zwei unbenutzte Müllbeutel in seinem Rucksack befunden hatten.
Als er um die Ecke in den Gang mit den Konserven eilte, stieß Mario mit einer sich ebenfalls in Hetze befindlichen Frau namens Louisa zusammen.
Mario blickte in ihre braunen Augen und wusste, ohne überlegen zu müssen, dass sie die Frau für immer, die Ewigkeit war; die große, ganz große Liebe, welcher man selbstverständlich nur ein einziges Mal im Leben begegnete.
Louisa blickte in seine braunen Augen und wusste, ohne überlegen zu müssen, dass er der Mann für immer, die Ewigkeit war; die ganz, ganz große Liebe, welcher man selbstverständlich nur ein einziges Mal im Leben begegnete.
Und das Bemerkenswerteste an dieser kleinen Geschichte ist, dass diverse, vielleicht zufällige Ereignisse auch Louisas Tagesplanung zuvor gehörig durcheinanderwirbelten.
Obgleich der Saturnmond Titan eine Atmosphäre und einen Wetterkreislauf besitzt, wird gesagt, dass Leben an diesem Ort auf der Oberfläche nicht möglich sei, da aufgrund der niedrigen Sonneneinstrahlung relativ weit draußen im Sonnensystem, kein Wasser in flüssiger Form existiere. Diese Aussage bezieht sich allerdings auf Leben, welches auf der Basis von Kohlenstoff und Wasser fußt. Auf Titan herrschen Temperaturen von weit jenseits der 150Grad-Minusmarke vor, so dass Wassereis die Konsistenz von Silikatgestein besitzt und es statt Ozeanen aus Wasser wahre Seen aus flüssigem Methan gibt.
In diesen Seen wiederum gab es sie. Sie das bedeutete rechteckige, beinahe zweidimensionale Wesen, welche jeweils die Größe eines halben Quadratmeters maßen. Knapp unterhalb der Methanseenoberflächen trieben sie, um das wenige Sonnenlicht an diesem Ort nutzen zu können. Obgleich sie eine gänzlich andere Art der Beschaffenheit als jedes Leben auf der Erde hatten, war ihnen in dieser Phase der Evolution bereits eine gehörige Portion Intelligenz zu eigen. Ihre tatsächlich vorhandene Gesellschaftsordnung basierte auf sklavischer Unterwerfung des anderen und dem Prinzip: Der Stärkere überlebt! Der Schwächere geht unter! Und so lebten die Starken knapp unterhalb des Methanspiegels, wohingegen die Schwachen in die tieferen Regionen der Flüssigkeit vertrieben wurden, in welchen sie entweder ein arg rudimentäres, im Geiste benebeltes Dasein fristeten oder gänzlich verendeten.
Sie wussten, dass jenseits der Seen, der Wolken und der dunstigen Atmosphäre es kaum ermessbare Weiten gab und dass diese Weiten nicht gänzlich leer sein konnten. Eines fernen Tages würde Mutter Evolution ihnen einen Körper geben, der sie aus dem Methan stiegen ließe, auf dass sie das feste Land besiedelten. Irgendwann darauf täte dann der Aufbruch in die Weiten ringsum ihren Heimatmond erfolgen, um sie alles Leben dort draußen ihrem Sozialsystem unterzuordnen; sklavische Unterwerfung und das Ausmerzen der Schwächeren. Und was für die eigene Art galt, galt in einem wesentlich brutaleren Maße für alle anderen Wesen. Ihre Entwicklung stand erst am Anfang.
Rentner Gunther konnte wohl niemand, nicht einmal der ärgste Widersacher, einen faulen Menschen nennen. Sein gesamtes Leben hatte er voller Fleiß und gleichzeitiger Zufriedenheit in diversen Bereichen schwer geschafft und konnte selbst im sogenannten Ruhestand nicht von der Arbeit lassen. An fünf bis sechs Tagen der Woche fuhr Gunther Zeitungen vom Rheintal aus hin zum Flughafen und Bahnhof nach Frankfurt, dabei stets leise ein Liedchen vor sich hinsingend, welches von ihm persönlich umgedichtet worden war.
Wann es angefangen hatte, dass Gunther tatsächlich glaubte, er sei im amtlichen Auftrag unterwegs, um Schwarzarbeitern das Handwerk zu legen, lässt sich heute nicht genau beantworten, aber wahrscheinlich stand es mit seinem Posten als Hausmeister in Verbindung, für welchen er in dem Mehrparteienhaus einen beachtlichen Mietbonus erhielt. Gunther fühlte sich sehr, sehr wichtig.
In jener Nacht, da es geschah, schrieben wir den Tageswechsel von Mittwoch auf Donnerstag und Gunther befuhr die gewohnte Autobahn zwischen Rhein und Main.
Um auszutreten, steuerte er auf einen beinahe verwaisten Parkplatz im Kannenbäckerland. Hier parkte lediglich ein Lastzug in gelb-blauen Farben, dessen Fahrer in seiner Koje friedlich schlummerte. Nachdem er das Geschäft erledigt hatte, stieg er wieder in seinen weißen Kastenwagen und was dann geschah, lässt sich mit unserer Kenntnis der Mathematik und Naturwissenschaft nicht erklären, jedoch hing es mit der winzigen Welt der Quanten zusammen. Zudem spielten der Stand der Planeten in genau diesem Augenblick und die Geschwindigkeit, mit der Gunther vom Parkplatz fuhr, sowie die Lage auf den Hügeln des Westerwalds eine tragende Rolle. Doch am allerwichtigsten war der Zeitpunkt. Hätte der Rentner lediglich eine halbe Sekunde später sein Gefährt in Bewegung gesetzt, so wäre rein gar nichts geschehen. Doch nun geschah es eben, dass sich ein bläulicher Schimmer um das Gefährt legte, es einen kräftigen Ruck tat, bevor Gunther samt Auto gänzlich anderswo weilte.
Die Straße war geblieben, doch führte sie nun nicht mehr durch das Kannenbäckerland, sondern durch ein von innen heraus leuchtendes, dunkelviolettes Gebilde ohne Oben und Unten. Hier, jenseits der Straße, tanzten links und rechts geometrische Figuren, die sich stetig veränderten.
Gunther hatte kürzlich eine Dokumentation über Paralleluniversen gesehen und es wunderte ihn nicht. Jedoch gab es mit hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit auch in dieser Welt unangemeldete Arbeit, denn das Verbrechen trieb überall sein Unwesen. So fuhr Gunther dahin und trällerte leise sein Liedchen vor sich hin, eine Abwandelung der uralten Schnulzennummer One Way Wind.
„One Way Wind
One Way Wind
Gunther fährt heut Nacht Streife
One Way Wind
One Way Wind
Zittern tun all die Schwarzarbeiter“
Für zwei Jungs im Alter von zehn und zwölf Jahren war die Stunde in dieser wundervollen Sommernacht inmitten der 1980er-Jahre bereits arg fortgeschritten. Mit offenen Augen hatten sie sich verträumt.
Auf dem Spielplatz am Stadtrand lagen die besten Freunde rücklings auf dem Schirm eines Kletterpilzes und blickten hinauf zum Nachthimmel und den silbern funkelnden Sternen, um sich dabei zu fragen, ob dort draußen irgendwo intelligente Lebewesen existierten und, wenn dem so wäre, ob auf deren Welt zwei Kinder auf einem Kletterpilz lägen, die zum Sternenhimmel hinaufschauten und sich dabei fragten, ob dort draußen irgendwo intelligente Lebewesen existierten und, wenn dem so wäre, ob auf deren Welt zwei Kinder auf einem Kletterpilz lägen, die zum Sternenhimmel hinaufschauten.
Als ihre Eltern und Großeltern, welche der Panik nahe eine Suchaktion auf die Beine gestellt hatten, sie durch lautes Rufen auf dem Spielplatz ausmachten, endete ihr Schwelgen in der unendlichen Welt kindlicher Phantasie. Doch bekamen sie keinen Ärger. Sie waren nur zwei nette, aufgeweckte Jungs, die sich einmal mehr verträumt hatten.
Die äußerlichen Gemeinsamkeiten der Spezies mit uns Menschen stellten der aufrechte Gang und das Vorhandensein zweier Arme dar. Sehr weit von einem kleinen, blauen Planeten sind wir hier entfernt.
Auf einem Spielplatz, der von den Geräten her schier unglaubliche Ähnlichkeit mit jenem auf der Erde aufwies, gab es einen Kletterpilz und auf dem lagen zwei Kinder. Sie blickten zum Nachthimmel und fragten sich, ob dort draußen irgendwo intelligente Lebewesen existierten und, wenn dem so wäre, ob auf deren Welt zwei Kinder auf einem Kletterpilz lägen, die zum Sternenhimmel hinaufschauten und sich dabei fragten, ob dort draußen irgendwo intelligente Lebewesen existierten und, wenn dem so wäre, ob auf deren Welt zwei Kinder auf einem Kletterpilz lägen, die zum Sternenhimmel hinaufschauten.
So grübelten sie zur nächtlichen Stunde auf ihrem Planeten im Randbereich der Galaxie Andromeda, bis ihre Eltern, die sie bereits seit gefühlten Ewigkeiten voller Sorge suchten, die zwei Knaben durch lautes Rufen auf dem Spielplatz ausmachten. Schimpfe erhielten sie keine, denn sie waren nur zwei nette, aufgeweckte Kinder, die sich einmal mehr verträumt und dabei die Zeit vergessen hatten.
Als die vier Jungs daheim in ihren Betten lagen, wusste ein Jeder für sich, dass es ihre Seelenverwandten auf fernen Welten in der schieren Unendlichkeit des Universums mit hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit gab.
Und so dachten die Kinder gleichzeitig das Richtige, jedoch täte das Licht ihrer Galaxie die der anderen erst in Millionen von Jahren erreichen.
Den Mann, der im Begriff stand, zum ersten Mal in seinem Leben Vater zu werden, suchte logischerweise eine gehörige Portion Nervosität heim. Immer wieder wanderte der Blick von der Gattin in den Wehen zum Fenster, jenseits dessen tischtennisballgroße Regentropfen flüssigen Methans auf die Schutzkuppel rieselten, auf deren Oberfläche sie aufgrund der höheren Temperatur sich rasch in Gas verwandelten, um kurz darauf nach einem kurzen Aufstieg zurück in kältere Regionen erneut liquide Formen anzunehmen.
Unter einem gellenden Schrei presste die junge Frau ein letztes Mal gar heftig, dann betrat das erste Leben diese Welt.
Nachdem die Nabelschnur durchtrennt, das Kind gewaschen und angekleidet worden war und der Vater es voller Liebe das erste Mal in seinen Armen gehalten hatte, rannte er mit vor Stolz geschwellter Brust aus dem kleinen Spital und trat unter die gewaltige Kuppel ins schwache Tageslicht, welches an diesem Orte vorherrschte. Abseits der kühnen Konstruktion spien die neu errichteten Terraforming-Anlagen silberne Wölkchen in die Atmosphäre. Er rannte dem zentralen Platz entgegen und schrie voller Begeisterung, Liebe und Glück immer wieder: „Sie ist da! 457 Gramm hier! 50 Zentimeter! Und ihr Name ist Luna!“
Seine Schritte besaßen eine unglaubliche Leichtigkeit. Aus den zahlreichen, kastenförmigen Gebäuden aus Fertigteilen, die sich überall unter der Kuppel verteilten, kamen andere Siedler angestürmt, deren Schritte eine nicht mindere Leichtigkeit besaßen. Allesamt trafen sie sich auf dem zentralen Platz der kleinen und bislang einzigen Kolonie, deren Flagge einige der Ihrigen schwenkten. Sie zeigte einen beringten Gasplaneten in weißer Farbe auf blauem Grund sowie dessen Monde, von dem einer, eine orange Kugel, besonders hervorgehoben wurde, da ihn eine strahlend leuchtende Korona umgab.
Der Vater und alle anderen Personen unterhalb der Kuppel, auf welche der Regen aus Methan jetzt zu fallen aufhörte, skandierten im Chor: „Luna! Die Erste einer neuen Art der Menschen! Gott schütze sie! Gott schütze die erste, native Titanesin! Gott schütze Titania, unsere Heimat und den Mond! Gott lass unsere Welt weiter erblühen und wachsen, auf dass sie wird die Heimat der Gerechten, ein leuchtender Punkt im Universum!“
Sogar die Hunde stimmten bellend in den Gesang ein und dann riss tatsächlich der zumeist bedeckte Himmel auf und dort erschien in majestätischer Pracht der Gasgigant Saturn.
Im kleinen Krankenhaus von Titania schlief Säugling Luna nach der ersten Mahlzeit ihres noch jungen Lebens auf der Brust ihrer hübschen Mutter gar friedlich. Das kleine Mädchen verkörperte das erste Kind, welches auf dem Mond Titan das Licht der Welt erblickt hatte, seit die ersten Kolonisten von Erde und Mars hierhergekommen waren, um frei von Verfolgung und Leid zu leben. Luna bedeutete für die Siedler eine leuchtende Hoffnung; für sie selbst und alle folgenden Generationen.
Wie so viele der Mitte der 1970er-Jahre geborenen Mädchen lautete ihr Name Nicole und so wie bei vielen Menschen dieser Generation datierten die ersten richtigen Erinnerungen in die 1980er-Jahre.
Heute, da die Bevölkerung unter Masken große Teile des Alltags leben musste, lag letztgenanntes Jahrzehnt bereits lange zurück und die durch Krankheiten seelischer Natur und zwischenmenschliche Enttäuschungen vereinsamte Mitvierzigerin sehnte sich zurück in jene unbeschwerten Tage voller kindlich-jugendlicher Leichtigkeit.
Damals lebte ich geborgen und liebevoll behütet im Haus meiner Eltern. Die Welt war noch lange nicht so kompliziert wie heute, eingeteilt grob in kommunistische und kapitalistische Blöcke. Viel mehr konnte man mit der Musik dieser Zeit anfangen. Die Neue Deutsche Welle sei nur als Beispiel erwähnt. Es gab Heimcomputer zum gemütlichen Zocken; wie könnte ich Summer Games oder Zak McKracken vergessen. Das Fernsehen besaß tatsächlich einen Sendeschluss. Alles war bereits durchaus brauchbar vorhanden, allerdings nicht so allumspannend, grell und schnell wie in den heutigen Tagen. Ohne Smartphones mussten wir uns verabreden und trotzdem hat es geklappt. Wenn man dann mal weg war, weg sein wollte, dann war man weg, so wie man es eben wollte; ganz einfach und ohne das synthetische Heulen des Handys, während man im Wald spazieren geht oder im Urlaub am Strand liegt. Die Sommer waren gefühlt wesentlich länger und die Winter schneereicher. Die wahren Freundinnen und Freunde. Das erste Verliebtsein.
Wie sehr wünschte ich mir, ich könnte die Dekade als junge Frau und Studentin erleben. Das Grundstudium auf der Insel West-Berlin, das Hauptstudium in der Bonner Hauptstadt; das Aufblühen der Umweltaktivisten, die Friedensbewegung und ihre gewaltigen Demonstrationen gegen den Nato-Doppelbeschluss, die Musik, die abgedrehte Szenenvielfalt. Oh, Mensch! Wie schön wäre es, das erleben zu dürfen!
So wünschte es sich Nicole beim Einschlafen ganz fest, nachdem sie wahrlich einen leidigen Tag voller Angst und Depressionen durchlebt hatte. Beinahe wäre sie daran zugrunde gegangen. Viele solch qualvoller Stunden würde die einsame Frau nicht mehr durchstehen.
Sie träumte Bizarres, sah Bilder eines smaragdgrünen Ozeans, der sich in silbernen Wogen an einem violetten Strand brach. Über der Szenerie schwebte ein blauer Planet aus Gas mit einem prächtigen Ringsystem.
Nach dem Erwachen stellte Nicole schnell fest, dass der digitale Kabelanschluss HD, das Wlan-Modem sowie das Mobilfunkband vollkommen tot waren und sie dachte sich dabei, es sei lediglich eine Störung.
Doch als Nicole nach draußen trat, um sich zur Arbeit zu quälen, traute sie den Augen kaum, stockte ihr der Atem. An den Bordsteinen standen allerhand eckige Fahrzeuge, welche heute eigentlich kaum noch im Straßenverkehr gesehen wurden, und die Bäume wirkten im Verglich zu gestern wesentlich kleiner.
Als Nicole Anfang der 2000er-Jahre in diese Straße gezogen war, hatte es ihrem Wohnhaus gegenüber einen kleinen Tabakladen gegeben, welcher allerdings anno 2007 seinen Pforten für immer schloss. Jetzt war er wieder geöffnet und just in dem Moment kam der alte Herr Lindemann heraus, in seiner Person ihr Vermieter. Sie wusste, dass Lindemann und dessen Familie im Herbst 2012 groß dessen siebzigsten Geburtstag gefeiert hatten, heute jedoch zählte er höchstens vierzig Jahre, wie er da seine Zeitung unter dem Arm in Richtung Eigenheim trug. Grußlos marschierte Lindemann an ihr vorbei.
Nicole überkam eine Ahnung, als sie über die Straße eilte, um einen prüfenden Blick auf den Zeitungsständer neben dem Eingang des Kioskes zu werfen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Ob regionales, bundesweites Format oder das Revolverblatt; eine jede Zeitung trug das Datum: Dienstag, der 05. Mai 1980 und Nicole wäre eigentlich noch keine fünf Jahre alt. Noch mehr Fahrt nahm ihr Puls auf, als sie die Spiegelung ihrer Person im Schaufenster unter der aufgeklebten Zigarettenreklame ausmachte. Eine Frau von Anfang zwanzig blickte sie an.
Weil die Zeiten so waren, wie sie waren - nicht besonders rosig, um es vorsichtig zu formulieren -, lebte ich in einem kleinen Zimmer unter dem Dach im Hause der Witwe Schneider. Weder an Heirat noch an die Gründung einer Familie konnte ich in diesen Tagen denken, immerhin ging ich einer geregelten Tätigkeit nach, auch wenn diese nicht besonders gut bezahlt wurde.
Obgleich Frau Schneider über ein beträchtliches Vermögen verfügte und daher keine finanziellen Sorgen wie meine Wenigkeit kannte, verkörperte sie einen zutiefst unglücklichen Menschen. Bereits vor Jahren war ihr Gatte nach kurzer, schwerer Krankheit verstorben und der Sohnemann nicht aus jenem großen Krieg heimgekehrt, in den hinein auch ich zunächst den Weg voller Begeisterung gemacht hatte, um rasch festzustellen, dass er keine Befreiung, sondern die Hölle auf Erden darstellte.
Sie wolle, so hatte sie mir einst bei einem Treffen im Treppenhaus berichtet, fort von diesem Ort, an welchem sie einen jeden Tag aufs Neue die Erinnerungen quälten und der nun in ihren Augen ohne wirkliches Leben sei. Mit fort meine sie jedoch nicht die Reise in ein entferntes Land, sondern ihr Ziel liege unbeschreiblich weit weg, vielleicht nicht einmal mehr in diesem Universum. Für die Passage dorthin müsse der Mensch lediglich auf eine bestimmte Konstellation am Sternenhimmel warten, ein paar Berechnungen anstellen sowie eine bestimmte Musik spielen; selbstverständlich zu einem genauen Zeitpunkt. Dann könne man an jeden Ort gelangen, wie man es wünsche und dieser Ort sei so, wie der Reisende ihn sich erträume, denn dort manifestierten sich all die schönen Gedanken ins Wahrhaftige. Zurück bleibe auf Erden dann lediglich noch ein Häuflein Staubes, der durch die Eigenschaften des kurzzeitig erscheinenden Tores entstünde, welches zu diesem wundervollen, individuellen Ort führe. Doch der Staub zerfalle nach fünf Minuten zu einem Nichts.
Als das Gerede einer einsamen, gebrochenen Dame tat ich ihre Worte damals ab und empfand mit der Witwe gar tiefes Mitleid.
An einem Abend im Hochsommer kehrte ich spät heim nach einem langen Arbeitstag. Während ich zum Abschalten auf meinem Bette lag und las, konnte deutlich gehört werden, dass in Frau Schneiders Arbeitszimmer, welches direkt unter meiner Dachkammer lag, Musik spielte. Dann plötzlich tat es einen gewaltigen Rumms, der mich beinahe von der Matratze fegte und mein erster Gedanke war der an eine Gasexplosion und an einen schlimmen Unfall der Vermieterin. Rasch eilte ich die Treppe hinunter, zu sehen nach dem Rechten. Dabei drang an mein Ohr, dass die Musik noch immer lief. Ich klopfte eifrig an die Tür des Arbeitszimmers und, weil es sein konnte, dass die gute Frau dahinter ohne Bewusstsein lag, trat ich ein, nachdem nach etwa einer Minute des Signalgebens keine Reaktion erfolgt war.
Das Grammophon auf einem Schränkchen neben dem Schreibtisch spielte Johann Sebastian Bach. Von Witwe Schneider gab es keine Spur zu entdecken, jedoch hing ein angenehmer Duft in der Luft und auf den Holzdielen des Bodens lag ein Häuflein goldenen Staubes.
Ich beugte mich hinab und nahm die funkelnde Materie in beide Hände, ließ sie durch meine Finger rieseln. Der unbekannte Stoff roch leicht nach den Blumen des Frühlings und kurze Zeit später war der Staub von jetzt auf gleich verschwunden. In dem Moment wusste ich, dass Frau Schneider diese Welt verlassen hatte und eine große Freude überkam mich, wusste ich doch weiter, dass sie nun an jenem wundervollen Ort weilte, von dem sie mir unlängst berichtet hatte. All das war tatsächlich wahr! Sicherlich lebten in dieser Welt ihr Sohn und der Ehemann fort. Als ich die Entdeckung im Arbeitszimmer machte, schrieben wir den 13. August 1919, einen Mittwoch.
Doch der Staub musste bei dem Kontakt mit meiner Haut eine Nebenwirkung ausgelöst haben. Denn, liebe Leserinnen und Leser, um keinen einzigen Tag seither gealtert tippe ich diese Zeilen in mein Notebook am Sonntag, den 7. Februar 2021.
Obgleich Marek gerne und stetig verrückte Geschichten zum Besten gab, mochten ihn sämtliche Kolleginnen und Kollegen jener Firma, für welche er bereits viele Jahre als CNC-Fachkraft tätig war. Und natürlich mochte Marek die Kollegen und ganz besonders mochte er die Spätschicht, weil er während dieser Tage schlicht und einfach länger schlafen konnte.
An diesem Dienstag kam er gegen halb zehn in die große Werkhalle geeilt, um aufgeregt zu berichten: „In Raum III hat es vorhin eine seltsame Explosion gegeben oder so was in die Richtung! Das Licht war erst gelb, dann orange, dann blau und schließlich violett, bevor es wieder weggegangen ist. Aber vorher hat es noch ein Zischen gegeben und eine Druckwelle, die mich fast aus den Latschen gehauen hat. Hat gezischt wie ein Stromabnehmer von der Lokomotive, der bei Regen an eine Oberleitung kommt!“
Mareks Erzählungen hatten über all die Jahre eine Art des kollektiven Gedächtnisses bei der Belegschaft installiert. Und so dachten die Anwesenden gemeinsam nun.
Mal wieder Raum III! Erst letzte Woche hat er dort noch den Prokuristen Vormann mit der Putzfrau in flagranti erwischt. Vormann hatte die Hose an den Knöcheln hängen und eine Rübe rot wie eine Tomate. Und die flotte Nummer geschah hinter der Drehmaschine. Wo auch sonst!
Ohne ihn dabei zu verhöhnen oder auszulachen, zogen die Kolleginnen und Kollegen Marek freundlich mit seiner neusten Beobachtung auf, machten Andeutungen über Außerirdische und Sternentore. Endlich jedoch lachten sie alle gemeinsam.
Die Sache mit Prokurist Vormann war eine Ausgeburt von Mareks seit jeher lebhafter Phantasie. Die seltsame Explosion hingegen entsprach der reinen, klaren Wahrheit. Doch bestand keinerlei Verbindung dabei zu extraterrestrischem Leben oder fernen Sternen, wie es Kolleginnen und Kollegen im Spaße angemerkt hatten, denn jenes Wesen, welches nun mit seinem Gefährt in die große Werkhalle geflogen kam, wo Frauen und Männer gemeinsam vor sich hin gackerten, kam weder aus den Weiten des Universums noch besaß es eine außerirdische Natur. Es war gehörig kleiner als der Kern eines Atoms, sein Fluggerät nur unwesentlich größer. Der Körper glich einem vibrierenden Fädchen, wohingegen das beinahe zweidimensionale Gefährt einem Dreieck mit abgerundeten Kanten ähnelte. Im Vergleich dazu schier unendlich gigantisch war jene seltsame Explosion gewesen, die das Wesen, dessen Namen man unmöglich in irgendeine irdische Sprache transkribieren kann, in unsere Welt und in Raum III hingeschleudert hatte. Sie stellte einen Teil jener Energie dar, die benötigt wurde, um den Reisenden von dort nach hier zu bringen. Das Wesen kam aus dem für uns Menschen in seiner Natur nicht zu erfassenden Mikrokosmos und für seine Spezies war dieses die erste Expedition in das hinein, was sie das große, unbekannte Jenseits nannten. Es würde eine Reise ohne Wiederkehr sein; auch daher galt der Namenlose unter den Seinigen als der größte Held der Geschichte.
Tag der Veröffentlichung: 09.02.2021
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