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Prolog

Prolog

Es war, die Veranstaltung des Jahres und alles und jeder half mit, damit das Fest auch in den richtigen Bahnen verlief. Jeder Lehrer war auf Zack, Schüler dekorierten, was das Zeug hielt, Eltern backten und schufen Lebensmittel und Getränke heran und alle waren nur auf Ziel bedacht: Nichts durfte schiefgehen.
So ging es auch uns, dem Team vom Leichtathletikkurs. Wir waren ein Teil der Aufführung und so sammelten sich nun vierundzwanzig Mädchen im Alter von 22 Jahren um unsere Trainerin, die unzählige Trainingsstunden angesetzt hatte, damit auch jede noch so kleine Bewegung und jeder noch so akribisch geplante Ablauf saß. Mir schmerzten bereits die Knochen, wenn ich nur daran dachte, mich erneut auf den Stufenbarren zu schwingen – aber mein Jammern wurde mit einer rüden Geste fortgewischt. »Es ist das letzte Training, Emily. Heute Abend ist die Aufführung. Also los, einmal noch!«, sagte Mrs Grant mit steinerner Miene und scheuchte mich davon.

~***~

Die Turnhalle war bis auf den letzten Platz belegt, als ich die Halle betrat und mich erstaunt umsah. So einen Aufmarsch hatte ich ehrlich gesagt nicht erwartet gehabt, aber wie schon gesagt, dass Erlebnis des Jahres. Ich steuerte die Umkleide an, um mich umzuziehen. Da wir nicht als Erstes dran waren, nutzten wir die Zeit uns mit Dehnungsübungen aufzuwärmen, wobei ich gewissenhaft versuchte die aufkeimende Nervosität zu unterdrücken. Auch meine Freundinnen sahen etwas blass um die Nasenspitze aus, aber keiner sprach laut aus, dass jede Einzelne am liebsten den Kopf zwischen die Knie gesteckt und tief durchgeatmet hätte.
Unser Auftritt verlief fehlerfrei und wir ernteten begeisterten Applaus. Ich stürmte beinah von der Bühne, um aus diesen ultraknappen Hotpants zu kommen und blieb nicht wie alle anderen bei ihren Familien, um sich die Schulter tätscheln zu lassen. Mit meinen Anziehsachen trat ich in den Duschraum, der still und leer vor mir lag und für einen Augenblick beschlich mich das Gefühl, das es eine ganz dumme Idee gewesen war, alleine herzukommen.
Dann trat er auch schon aus dem Schutz einer gefliesten Wand, versperrte mir den Fluchtweg und sah mich an. Seine Haare waren gänzlich unter einer Wollmütze verborgen, weswegen ich die Farbe nicht erkennen konnte – sein Gesicht wirkte entspannt, freundlich, Mitte zwanzig -, aber mein Blick galt in diesem Augenblick seinen graublauen Augen, die freudig glitzerten. Angst schnürte mir den Hals zu, als er sich auf mich zu bewegte und ein einfältiges Lächeln seine Züge bedeckte.
Ich schrie nach Hilfe; schrie Feuer, aber niemand kam zu meiner Rettung. Der Fremde schüttelte den Kopf, zückte ein Messer und trat weiter auf mich zu, gelassen, selbstbewusst. In seinem Gesicht las ich, dass er mich zum Schweigen bringen würde. Panik entfachte sich in mir wie ein Lauffeuer. Denk, denk nach, schrie eine Stimme in meinem Kopf. »Bitte«, hauchte ich kläglich, unfähig etwas anderes zu sagen.
Er erwiderte nichts, kam immer näher, lächelte, ohne die Zähne zu entblößen, und klappte das Messer auf.
Tränen traten mir in die Augen, suchten ängstlich seinen Blick, als die Erkenntnis mich überwältigte. Aus einem reinen Impuls heraus - von dessen Ursprung ich nichts gewusst hatte stotterte ich keine Worte, denn ich spürte, dass er mich nicht verstand, dass er nicht meine Sprache sprach -, machte ich mit der Hand die Geste eines Reisverschlusses über meine Lippen, womit ich dem Fremden andeutete, dass ich nicht schreien würde, nicht mehr um Hilfe rufen würde – mich nicht wehren würde. Ich wollte nicht sterben.
Mit einem starken osteuropäischen Akzent sagte er lächelnd: »Nicht schreien.« Dann klappte er das Messer zu und ließ es in die Tasche seiner grauen Jacke gleiten ...

Eins

Schweißgebadet schreckte ich aus dem Schlaf. Versuchte mit aller Macht meinen Herzschlag zu beruhigen und den Traum abzuschütteln. »Komm schon, Emily«, schalt ich mich leise, »es ist Vergangenheit.«
Wie betäubt starrte ich zu der weißen Zimmerdecke mit den Stuckornamenten empor und kämpfte gegen die Tränen an, die mich wie immer nach diesem Traum peinigten. Der Kronleuchter funkelte im schalen Mondlicht und warf bunte Muster an die Wände. Ich betrachtete sie eine Weile, wünschte, ich könnte mich in diesen Lichtern verlieren und die Dunkelheit hinter mir lassen, aber das war nicht so einfach machbar. Ich schaltete die kleine Nachttischlampe ein und mein Blick huschte die bekannten Möbel entlang. Der weiße Kleiderschrank, die Kommode, der bequeme Sessel, von dem aus ich durchs Fenster direkt auf den Park schauen konnte. All das war mir vertraut – ebenso der Anblick in dem mannshohen Spiegel, aus dem mir mein Gesicht entgegenblickte. Die grauen Augen voller Angst, die braunen Haare verschwitzt und wirr. Dazu die Blässe, die in dem wenigen Licht einfach nur kränklich wirkte. Zu oft hatte ich mich bereits so gesehen, wenn mich die Vergangenheit einholte.
Müde und gerädert schlug ich die Bettdecke beiseite und schwang die Beine aus dem Bett. An Schlaf war nicht mehr zu denken, zu groß war die Angst, dass mich auch der Rest einholte. Mich daran erinnerte, dass ich zerbrochen war, irreparabel. Ich schleppte mich ins Badezimmer und mied es, einen Blick auf den Wecker zu werfen – oder in den Spiegel.
Als ich geduscht und vollständig angekleidet, in Jeans und einem dicken, flauschigen, weißen Wollpullover die Küchenbeleuchtung anschaltete, fühlte ich mich weniger verloren. Meine Küche war eine typische Wohnküche, mit allem Notwenigen, dazu aber einer gemütlichen Polsterecke, samt Tisch und Leselampe. Es bot sich in den Altbauhäusern einfach an, da diese Küchen damals für gesellige Abende vorgesehen gewesen waren – damals, als es noch Öfen gab, statt Zentralheizungen und wo nur spärlich geheizt wurde. Ich hatte diese Wohnung von meiner Oma übernommen und sie war eine Frau, die viel Wert auf Traditionen legte. Als sie allerdings verstarb, nahm ich die Umbauten schweren Herzens vor und verbannte die sperrigen Öfen, die - schmaleren Heizkörpern - weichen mussten. Aber die Küche war mir noch immer der liebste Raum meiner Vier-Zimmerwohnung, da ich all meine glücklichen Kindheitserinnerungen in dieser Küche fand. Wenn ich die Küchentür schloss, konnte ich mir einreden, dass ich alles Schlechte aussperrte, dass ich in der Geborgenheit dieser Küche nichts zu fürchten hatte. Ich vermisste meine Oma. Nach meinem Unfall war sie es gewesen, die mich aufnahm und mich gesund pflegte. Der Autounfall war nicht nur mir zum Verhängnis geworden; auch meiner Schwester. 
Amber überlebte ihn nicht. Oma hatte Tag und Nacht an meinem Bett gesessen und mir mit Geschichten, Musik und Bildern meine Erinnerungen wieder gebracht. Aber selbst wenn ich mich an meine Kindheit erinnere, fehlte mir ein ganzes Jahr meines Lebens. Ein Jahr, woraus sich kein Teil wirklich zeigen wollte. Einzig die Träume ließen mich aufschrecken, denn in diesem Jahr muss es geschehen sein ...
Der Teekessel stieß seinen schrillen Protest in die Stille der Küche und riss mich aus meiner benebelten Starre. Jeder Handgriff war Routine und so dauerte es nicht lange, bis ich am Tisch saß und träge den Zucker in den Tee rührte. So viele Nächte saß ich immer wieder in der Küche und versuchte meine Gedanken abzulenken, aber egal was ich auch versuchte, am Ende saß ich einfach nur da, trank meinen Tee und wartete darauf, dass der Tag anrückte und die Dunkelheit in die Schranken wies. Sicherlich hoffte ich, dass es mir irgendwann auch gelang, meine eigene Dunkelheit zu vertreiben, aber da es mir selbst knapp zwei Jahren danach noch nicht gelungen war, hatte ich diese Hoffnung irgendwie schon aufgegeben.
Mein Handy klingelte. Jeder andere wäre empört, wenn er von seinem Telefon aus dem Schlaf gerissen werden würde oder dass es überhaupt läutete, wenn es draußen noch dunkel war, aber nicht ich. Es brachte mich sogar fast zum Lächeln. Fast!
»Guten Morgen, Sam«, sagte ich leise.
»Hey, Emily. Ich wusste doch das es wieder so weit ist.« Sam gähnte ausgiebig. »Wann glaubst du mir endlich, dass ich das im Gespür habe.«
Erneut setzte ich den Kessel voll Wasser auf den alten Gasherd. »Das glaube ich dir«, erwiderte ich und eine Gänsehaut überfiel mich. Es stimmte, ich glaubte ihr, dass sie es ahnte, wenn ich wieder von meinen Geistern heimgesucht wurde, denn zugegeben, anfangs hatte ich gezweifelt und sie sogar verspottet, aber nachdem sie wirklich nur noch an den Morgen anrief, in denen ich wahrhaftig an meinem Tisch saß, hatte sich meine Meinung schnell geändert.
Sam schnaubte. »Du kochst dir jetzt schon Kaffee? Es ist erst kurz nach fünf!«
Entgeistert sah ich auf das Kaffeepulver, was ich soeben auf einen Löffel gehäuft hatte. »Ich hatte Tee«, wagte ich mich vor.
»Und jetzt Kaffee. Erzähl mir nichts, Emily Hunter, du machst das immer. Die Nacht sitzt du da und trinkst Tee, und sobald ich anrufe, kochst du dir einen Kaffee. Im alten Kessel deiner Oma, mit dem Porzellanfilter – so wie deine Oma ihn immer gebrüht hat.« Beinah hätte ich aufgelacht. Ich fand ihre hellseherische Gabe nämlich unheimlich, aber so klang das alles weniger mystisch. Sam kannte mich einfach. 
»Ach Sam«, erwiderte ich seufzend. Keine Ahnung, was ich sagen wollte, aber es kam mir eh nicht über die Lippen.
»Schon gut, Emmy, ich bin immer für dich da.«
Samantha war eine wahre Freundin. Nicht nur weil sie sich für mich im Morgengrauen aus dem Bett raffte, um mit mir zu telefonieren. Das war nett und ich war ihr dafür dankbarer, als es sich mit Worten ausdrücken ließ. Aber was mich an meiner Freundin so faszinierte und sie umso wertvoller für mich machte, war, dass sie von nichts wusste. Sie fragte auch nie. Sie wusste, dass ich unter den Geistern meiner Vergangenheit litt und das war für sie Grund genug, um für mich da zu sein, mich aufzufangen. Sie war ein Geschenk des Himmels.
»Nun nehme ich dich mal mit ins Schlafzimmer«, erzählte Sam mir, »damit meine Zehe nicht abfrieren. Ziemlich kalt heute findest du nicht? Ich brauch unbedingt dicke Socken. Ich stell dich mal auf Laut.« Mit diesen Worten klackte es in der Leitung und ich wusste, dass sie mich auf ihre Schminkkommode gelegt hatte, um sich anziehen zu können.
»Ja«, sagte ich und ließ mich mit dem heißen Kaffee wieder am Tisch nieder. »Ja, es ist kalt geworden«, beendete ich meinen Satz. Meine Gedanken formten ihn weiter, wollten mich an Dinge erinnern, die ich so schmerzhaft versuchte zu untergraben. Ich biss mir auf die Unterlippe. Ich durfte nicht zulassen, dass mich die Dunkelheit selbst im wachen Zustand überkam.
»Ist ja auch schon Oktober«, sagte Sam gedämpft. Vermutlich zog sie sich gerade ein Shirt oder Pullover über den Kopf. Dann hörte ich, wie sie wieder nach dem Hörer griff und den Lautsprecher ausschaltete. »Heute ist das Abschlussfest in der Schule. Meine kleine Schwester ist ganz aus dem Häuschen.«
Ich spürte den Druck zuerst in meinem Magen, dann in meiner Brust. Verdammt! »Tritt sie auf?«, fragte ich, wobei die Worte mir fast in der Kehle stecken blieben.
»Das habe ich dir doch letzte Woche erzählt«, erwiderte Sam barsch. Scheinbar merkte sie aber selbst, dass ihr Ton unangebracht war, denn sie ruderte gleich zurück. »Aber das ist vielleicht auch alles untergegangen. Jedenfalls, ja! Sie tritt heute auf und ist super aufgeregt.«
Untergegangen war es nicht. Mein Können im Verdrängen war nur allumfassend. Ich starrte vor mich hin. Gefangen in meinen Erinnerungen. »Behalt sie bloß im Auge.« Die Worte waren ausgesprochen, eh ich sie zurückhalten konnte. Kraftlos ließ ich die Stirn in meine Handfläche sinken und schloss die Augen. »Ich meine … Es ist immer mächtig voll bei diesen Veranstaltungen. Da verliert man schnell den Überblick. Hab einfach ein Auge auf sie«, schloss ich beherrscht, zum Glück konnte sie die Tränen auf meinen Wangen nicht sehen.
»Das tue ich doch immer.« Ihr scherzhafter Ton wurde von etwas begleitet, was ich nicht recht deuten konnte, aber ich wollte auch keine Fragen mehr stellen. Wir beendeten das Gespräch wie sonst auch – nach der ersten Tasse Kaffee. Aber dieses Mal brauchte ich länger, um wieder zur Besinnung zu kommen.

 

~***~

 

Das Restaurant war nichts Besonderes. Viele kleine rechteckige Tischchen, mit weißen Leinen, rote Papierservietten … Aber es war das, in dem sich Angie und Ben zum ersten Mal getroffen hatten und demnach war es nun ihr Restaurant.
Vielleicht lag es an den schwarzen Stiefeln oder an der Lederjacke – vielleicht war es aber auch nur meine Maske, die mir das Auftreten absoluter Kontrolle verlieh - aber als ich am späten Nachmittag in das Restaurant trat, indem ich mit Angeline und Ben verabredet war, deutete nichts auf meinen nächtlichen Zusammenbruch hin. Ich strahlte Ruhe und Selbstkontrolle aus, und obwohl ich mich keineswegs so tough fühlte, gab ich mich Selbstbewusster wie eh und je.
»Hey ihr zwei«, sagte ich lächelnd. »Wieder überpünktlich?« Ich ließ mich den beiden gegenüber an den Tisch gleiten und bettete meinen Motorradhelm auf dem leeren Stuhl zu meiner linken.
»Nicht jeder sieht es als chic an sich ständig zu verspäten«, erwiderte Ben, lehnte sich aber lächelnd vor und drückte kurz meine Hand zur Begrüßung.
»Das hat nichts mit ›chic‹ zu tun, Ben«, rügte ich ihn. »Ich sichere mir nur die Aufmerksamkeit, die mir gebührt.« Unbemerkt ließ ich die Hände in meinen Schoß fallen. Berührungen waren nichts für mich.
Angeline kicherte hinter vorgehaltener Hand.
»Schön das du es überhaupt geschafft hast«, fügte er dann hinzu und hielt Ausschau nach dem Kellner. »Die letzten Male kam ja irgendwie immer etwas dazwischen.« Ben lehnte sich zurück und legte einen Arm über die Rückenlehne von Angies Stuhl.
Ich straffte mich innerlich. Zwar kannte ich Ben noch nicht so lange, aber in den Monaten, seitdem er die Seite von Angie zierte, waren mir einige Verhaltensweisen bei ihm aufgefallen. Verhaltensweisen, die ich mir eingeprägt hatte und darauf achtete wie ein Luchs. So wie dieses Zurücklehnen bei ihm stets ein Vorbote auf unangenehme Fragen war, oder das streichen mit dem Finger über seine Lippen das erste Anzeichen für neckende Sticheleien.
»Ah«, sagte Angie da und hob die Hand, worauf eine lächelnde Bedienung mit wippendem Pferdeschwanz auf unseren Tisch zu steuerte. »Endlich. Ich habe solch einen hunger!«
Ben, der bei der Polizei arbeitete, soweit ich das wusste, bedachte mich mit einem Blick, unter dem ich mich zu winden begann. Als würde er mir direkt die Maske vom Gesicht reißen und mich samt meines Schmerzes der Welt aussetzen können. »Bist du mit der Maschine da?«, fragte er mich, worauf ich nur die Augenbrauen hochziehen konnte. Er hatte doch gesehen, dass ich den Helm bei hatte. Dachte er, den trug ich einfach aus Jux mit mir herum?
»Äh …« Ich breitete die Arme aus, damit er sehen konnte, dass es nicht einfach nur eine Lederjacke, sondern eine Motorradjacke war, die ich trug. Dann hob ich den Helm an. »Wo hattest du deine Augen, als ich reinkam?«, sagte ich neckend, dabei hätte ich mir am liebsten die Zunge abgebissen. Mit Sicherheit wollte ich keine Blicke auf mich ziehen, auch nicht den von dem Freund meiner Freundin. Aber Angeline und andere kannten mich nur großschnäuzig, weswegen ich die Maskerade warte, solange ich unter Leuten war. Was ich daheim machte, bekam zumindest keiner zu sehen.
Angeline bestellte für uns alle. Ich hatte damit kein Problem, war ich es von ihr ja nicht anders gewohnt. Doch Ben sah etwas verloren hinter der Kellnerin her, als könnte er nicht glauben, dass die Zeiten vorbei waren, wo die Männer sich um so etwas kümmerten und Frauen nur hübsche Dekoration am Arm darstellten. Ich schüttelte den Kopf über so viel Neandertalergen und auch Angie bemerkte, das ihr Freund nicht gerade glücklich drein sah. Sie schlug ihm spielerisch gegen den Oberarm. »Stell dich nicht so an, du bekommst dein Fleisch.«
Sie wandte sich von ihm ab und verdrehte die Augen. »Und wir bekommen Apfelschorle, weil wir ja fahren müssen«, betonte sie sarkastisch und ich konnte die Anführungszeichen in ihrer Stimme hören. Nun, so war es eben, wenn es ausgerechnet ein Verfechter des Gesetzes war, den man sich anlachte, da durfte es kein Tropfen Alkohol geben, sollte man danach noch motorisierte Gefährte bewegen wollen. Ich hatte für nichts von beiden etwas übrig – weder für Alkohol noch für Männer.
Angeline plauderte ohne Punkt und Komma und berichtete über – wie sollte es auch anders sein – das Abschlussfest der Schule und mit jedem Satz über Dekorationen, Kuchen backen, Teams und Training wurde mein Appetit weniger. Ich hatte nicht einmal ein Viertel von dem Kartoffelauflauf gegessen, als ich die Gabel hinlegte. »Bist du schon fertig?«, fügte sie dann in ihren nie enden wollenden Redestrom ein. »Du hast ja kaum was angerührt.«
»Ich bin … ich … mache gerade eine Diät«, sagte ich etwas zu verkniffen. Aber mir war einfach nichts in den Kopf gekrochen, was als Ausrede herhielt. Jedenfalls durfte ich mir dann einen weiteren langatmigen Bericht von meiner Freundin anhören, während Ben mich wieder unter die Lupe nahm, als hätte ich irgendwas im Gesicht. Unbehaglich konzentrierte ich mich ausschließlich auf Angeline und hoffte, sie möge einfach nicht mehr aufhören zu sprechen. Denn ihr Freund machte mir zu deutlich mit seiner Körpersprache bewusst, dass er nur darauf wartete, eine Lücke zu erhaschen, in der er mich in die Mangel nehmen konnte.
Und das war etwas, was ich gerne weiträumig umschiffen wollte und ich war beinah selbst erstaunt, als ich das Restaurant verließ und Angeline strahlend den Arm um Bens Mitte schlang, winkte und sich mit ihm in die andere Richtung aufmachte. Sie wollte noch irgendwelche organisatorischen Dinge für die Feier regeln. Das tat Angie immer. Sie war in so vielen Vereinen Mitglied, dass ich mich oft fragte, wie sie noch Zeit fand, einem Beruf nachzugehen – wobei sie das aktuell nicht tat – da ihr ehemaliger Chef ihre ständigen Ausfälle überdrüssig geworden war. Vielleicht war sie nicht so organisiert, wie ich es immer annahm.
Erleichtert stieß ich den Atem aus, erst dann schaffte ich es, mir den Helm über den Kopf zu ziehen. Obwohl ich bereits auf dem Sattel saß, startete ich meine Buell Lightning nicht sofort. Ich brauchte noch einige Sekunden, um meinen Kopf freizubekommen. Sonst half es mir, mit meiner Maschine über Landstraßen zu fegen, doch an diesem Tag, wo das Grauen einfach nicht von mir abrücken wollte, hielt ich es für eine wahrlich schlechte Idee, mit enormer Geschwindigkeit zu rasen. Aber auf mich wartete keine Arbeit. Kein Freund. Nichts. Ich konnte tun und lassen, was ich wollte, sozusagen. Ich starrte auf die Straße und erwog das Für und Wider, doch mir fiel meine Entscheidung nicht schwer. Ich musste raus aus dieser Stadt, fort von Abschlussfeiern und all dem Schrecken, was es in mir weckte.
Ich fuhr nach Hause, stellte die Buell aber nicht in die Garage, denn ich brauchte sie für meinen Trip. Es dauerte nicht länger als zehn Minuten, bis ich den Tankrucksack mit Kleidung vollgestopft hatte. In einen kleineren, den ich mir auf den Rücken setzte, verstaute ich Portemonnaie und Papiere.
Doch die Zeit meinte es einfach nicht gut mit mir. Als ich aus dem Treppenhaus trat, sah ich eine Person an meiner Karre lehnen. Der Gedanke, wieder ins Haus zu rennen war albern, aber er war da, verharrte stur und ziemlich verlockend. Verlockender zumindest als das Gespräch, was mich erwartete. Seine ganze Haltung strahlte Macht aus. Die Arme vor der Brust verschränkt, einen Fußknöchel locker über den anderen gelegt … er wollte locker wirken, aber ich ahnte bereits, dass er mir das Wegfahren nicht so einfach machen würde, wie ich es gehofft hatte. Die Frage war nur, woher hatte er gewusst, dass ich es plante? Aber ich sprach hier von Ben, dem Mann, dem scheinbar nichts entging. Er hatte es mir vermutlich bereits angemerkt gehabt, als wir uns vor dem Restaurant verabschiedet hatten und sich seine eigenen Gedanken zusammengelegt, wie ein Puzzle.
Ben rührte sich nicht, sah nicht zu mir, als ich näher kam und dennoch sagte er gelassen: »Emily!«
Ich runzelte die Stirn. »Was machst du hier? Musst du nicht Angie helfen?« Ich schob ihn von meiner Maschine, um den Tankrucksack zu befestigen. »Oder irgendwelche Schurken hopsnehmen?«
Er stieß sich ab und wandte mir sein Gesicht zu, ohne die Position seiner Arme zu ändern, starrte er auf mich herab. Wieder unterzog er mich eine seiner Musterungen, wobei ihm nicht zu gefallen schien, was er da sah. »Du willst weg«, sagte er. Was für ein Blitzmerker. Ich reagierte nicht, die Rucksäcke sprachen für sich. »Du rennst um sonst davon«, fuhr er kryptisch fort, dann legte er eine Hand auf den Sozius und machte es mir so unmöglich aufzusteigen, ohne seiner Hand nahe zu kommen. Verwirrt sah ich zu ihm auf, forderte mit Blicken, dass er sich verziehen sollte, aber den Gefallen tat er mir nicht. »Wo willst du hin, Emily?«
Das ging ihn überhaupt nichts an. Er war nicht mein Bruder. Und das er der Freund meiner Freundin war, berechtigte ihn nicht dazu, alles über mich zu wissen. Ich funkelte wütend seine Hand an, dann sah ich zu ihm auf. Seine grünen Augen blitzten angriffslustig, derweil der kühle Oktoberwind an seinen braunen Haaren zerrte. Die Augenbrauen zusammengezogen und die vollen Lippen streng zusammengepresst. »Fort.« Mehr musste ich dazu nicht sagen. »Und nun nimm die Pfoten weg, ich will los.« Da er nicht mich berührte, sondern nur das weiche Leder des Sitzes, blieb seine Hand, wo sie hingehörte. Würde er so weit gehen und nach mir greifen - konnte ich für nichts garantieren.
»Emily, ich bitte dich«, sagte er mit dieser sanften Stimme, die Polizisten sich zulegten, sobald sie behutsam auf jemanden einsprachen. »Du solltest in diesem Zustand nicht fahren.«
»Zustand? Von was sprichst du?«, erwiderte ich giftig. Noch immer ruhte seine Hand auf dem Sitz und es begann mich anzuwidern.
»Ich bin nicht blind, Emmy. Dich beschäftigt etwas. Etwas, was dich sogar dazu treibt, aus der Stadt zu fliehen.«
Ich hob eine Hand, um ihn zu unterbrechen. »Aus der Stadt? Wo kommt denn der Scheiß her?«
Ben zog eine ebenholzfarbene Augenbraue hoch, dann tippte er auf den Rucksack am Tank. »Etwas viel Gepäck für ein stink normaler Trip.«
Zumindest hatte er die Finger von meiner Maschine genommen, was ich als Gelegenheit nutzte, um mich auf den Sitz zu schwingen und geschäftig auf die Gurte zu starren. Natürlich war ihm aufgefallen, dass ich Gepäck bei hatte. Wie blöd war ich nur, zu denken, ihn damit täuschen zu können? Leider wollte mir auch nichts einfallen, was diesen Fehler ausbügeln konnte, da ihm ebenso bewusst war, dass ich was Freunde anging, arm bestückt war. Also nickte ich nur unbestimmt. »Ich mache einen Trip, ohne Ziel, ohne Pflichten ohne Plan. Einfach fahren und ein bisschen rum kommen.« Na es ging doch!
Er lachte rau. »Ohne deinen Freundinnen bescheid zu geben. Ohne dein Handy?« In seiner Wange zuckte ein Muskel.
Ich biss mir auf die Innenseite meiner Wange. Okay, mit den Freundinnen hatte er wieder einen Punkt, schließlich hatte ich von meinem Trip weder in der Früh gegenüber Sam noch beim Essen etwas erwähnt. Doch was er mit dem Handy andeutete, war mir schleierhaft. Was er mir wie immer ansah. »Ich habe bei dir klingeln lassen, als du unschlüssig dort vorne gestanden hast und vermutlich überlegt hast, vor mir zu flüchten.« Er grinste breit und das zauberte Lachfältchen um seine Augen. Benjamin war ein netter Kerl, vielleicht sogar ein gut aussehender. Aber er könnte selbst Engelsflügel auf dem Rücken tragen – ich erwiderte das Lächeln nicht.
Er irrte sich, ich hatte mein Handy sehr wohl dabei und es auch läuten hören, aber da ich so erschrocken von seinem Auftauchen gewesen war, kam es mir gar nicht in den Sinn, ranzugehen. Aber ich hatte nicht vor ihm das zu sagen.
»Schön Sherlock, du hast mich erwischt. Freu dich! Und nun tritt bitte zurück, bevor ich dich ausversehen über den Haufen bretter.« Ich startete die Maschine und sie brummte selig unter meinen Po. Ein Gefühl, was ich schon immer als beruhigend, gar tröstlich empfunden hatte. Mit einem Nicken, verabschiedete ich mich von Ben, setzte den Helm auf und klappte das dunkle Visier herunter.
»Emily?«, Ben klopfte mir seitlich an den Helm. Ich spürte, wie mein Geduldsfaden sich dehnte. Eine Hand erschien in meinem Blickwinkel, legte sich auf meine Hand. Ich umklammerte die Griffe so fest, bis die Knöchel weiß wurden, was durch die Handschuhe nicht zu sehen war und atmete so abrupt aus, dass mein Visier beschlug. Ich riss es voller Wut empor und funkelte Ben zornig an.
»Was ist noch?«
Fröstelnd zog er den Reißverschluss seiner Jacke zu und pustete sich in die Hände. Dann traf der stechend grüne Blick meinen. »Fahr vorsichtig. Und melde dich ab und an.« Er klang plötzlich wie ausgewechselt. Eben noch der Polizist auf Fährtenlese war es nun so, als kümmerte es ihn wahrhaftig, ob ich heile zurückkam. Als machte er sich sorgen um mich.
Ich biss die Zähne zusammen, nickte und schoss davon. Der Fahrtwind konnte ungehindert meine Tränen trocknen, da das Visier noch offen war. Doch diese Tränen waren absoluter Schwachsinn, denn sie zeigten nur, wie verbohrt ich war. Ich mochte Ben, aber ich wollte nicht, dass er – oder irgendwer - sich um mich sorgte. Sorgen machte man sich um Menschen, zu denen man sich hingezogen fühlte. Und das führte unweigerlich zu Berührungen.
Und Berührungen führten zu Wunden, die niemals verheilten.

 

~***~

 

Meine Stimmung war eher auf das Klima von Schneeverwehungen, Bergen und massenweise Eis zugeschnitten, nicht auf Strand – von Sommer und Sonne war an der Küste auch nicht mehr zu sehen, als in Berlin. Der Wind war dafür arktisch und peitschte mir mein braunes Haar um die Ohren und ins Gesicht, bis ich es nicht mehr aushielt und zurück den Weg zum Ferienhaus antrat. Was mich dazu gebracht hatte, hier zu landen, hatte viele Gründe. Niemand wusste, wer ich war, niemand wusste, wo ich war und niemand würde mich an einem Strand vermuten – am wichtigsten war aber: Niemand kannte mich. Ich war ein Gesicht unter fielen, ging unter, wurde nicht beachtet. Einzig meine Karre erweckte in dieser kleinen Stadt leichtes Aufsehen, aber da sah ich kein Problem drin, solange sie nicht die ganze Zeit offen auf der Straße stand. Der kleine Bungalow lag zwar direkt am Strand, dennoch waren es nur fünf Minuten bis zu der Einkaufsmeile, die ich frierend und bibbern durchlief, auf der Suche nach einem Supermarkt. Denn als ich mir diesen Bungalow anmietete, hatte ich nicht daran gedacht, dass ich mich selbst um meine Versorgung kümmern musste, aber stören tat es mich auch nicht wirklich. Einzig der Wind war unangenehm, aber ich war nicht alleine unterwegs und musste mein Outfit von einigen Blicken begutachten lassen. Ich stürmte den ersten Laden, den ich sah, wobei ich Leute mit Einkaufstüten von günstigeren Läden gesehen hatte, aber ich hatte es satt zu frieren und da zahlte ich lieber einige Cent mehr und ersparte mir so einige Minuten in der Kälte. Ohne Hast und Eile lief ich durch die Regale und kaufte mehr als eigentlich nötig gewesen wäre und einiges was absolut unnötig war – aber das Schokoladeneis konnte ich nicht stehen lassen.
In meinem Domizil räumte ich die Einkäufe aus, eh ich es mir mit einer enorm kuschligen Decke, die ich auf einem Sessel entdeckte, auf der Couch bequem machte. Der Bungalow war wirklich niedlich. Alles hatte seinen Platz und wirkte doch nicht überladen. Es war luftig möbliert in hellen Holztönen und hatte sogar eine kleine Galerie, von der man freien Blick auf das untere Stockwerk hatte. Sessel und Sofas waren in einem hellen grün gehalten – keine Farbe, die ich speziell gewählt hätte – aber sie gab dem Raum mit den riesigen Glasfronten eine beruhigende Note; es gab sogar einen Fernseher. Leider war hier ein enorm tätiger Gärtner aktiv, der scheinbar eine Menge von Privatsphäre hielt, denn aus den Wohnzimmerfenstern sah man keine See, sondern mehrere Zypressen, die einem die Sicht raubten. Aber auch so betrachtete ich die hölzerne Terrasse, auf der sich noch einige Blüten tapfer an ihren Stielen in den Blumenkästen hielten.
Dunkle Wolken schoben sich in den eh bereits verhangenen Himmel und wirbelten rote Blätter von einer Blume, dessen Namen ich nicht kannte. Während eine Möwe sich in den Tiefflug fallen ließ, um dem nahenden Unwetter zu entkommen, klopfte es plötzlich an der Tür. Ich sprang wie ein geölter Blitz von der Couch, unsicher, was ich tun sollte.
Aber es war kein Orkan, der vor meiner Tür stand, sondern ein älterer Mann in alten Jeans, kariertem Hemd und Hosenträgern.. »Hallo Miss, ich bin Henry, ich gehöre zur Verwaltung und wollte mich erkundigen, ob Sie alles haben. Ein Sturm zieht auf und es wäre ratsam die Fensterläden zu schließen.« Mit seinem Schnauzbart und der untersetzten Figur erinnerte er mich an das Walross aus Alice im Wunderland, es fehlten nur noch die Massen an Austern, aber Henry schien ein freundlicher Gesell zu sein. »Wenn Sie möchten, kümmere ich mich um die Läden. Brauchen Sie denn noch etwas?«, wiederholte er, wobei er seinen Anglerhut fest auf den Kopf drückte. Der Wind war unangenehm kalt und zerrte an den Kleidern.
»Nein, ich brauche nichts. Oh, doch. Gibt es hier eine Stellfläche für mein Motorrad?«
Er nickte mit zusammengekniffenen Augen und ergriff meinen Ellenbogen, was so überraschend kam, dass ich keine Zeit hatte, mich darüber aufzuregen. Er führte mich bis zur Straßenseite und zog dort eine Garage auf. Eine Garage für Zwerge, denn es war nicht höher als eins fünfzig und erinnerte bei Weitem nicht an einen Stellplatz, indem ein Auto passte. »Das ist für Fahrräder und Gartengeräte«, erklärte er mir dann prompt und ich nickte. Dann machte er sich auf, um die Fensterläden zu schließen und ich verfrachtete meinen silbernen Blitz zwischen Rechen, Besen und anderen Dingen, die ich in dem diesigen Licht nicht recht erkennen konnte. Ich hoffte nur, der Rechen möge sich von den Reifen fernhalten, ein Platten war das Letzte, was ich gebrauchen konnte. Ich schloss gerade das Tor, als auch Henry wieder auftauchte und sich grüßend an die Hutkrempe tippte.
»Sollte noch etwas sein, scheuen Sie sich nicht anzurufen. Die Nummer steht auf dem Telefon. Ich wünsche Ihnen trotz dieses Mistwetters einen schönen Tag.« Ohne auf eine Erwiderung von mir zu warten, machte er sich gebückt auf den Weg durch den Wind und auch mich hielt es nicht länger draußen. Es war saukalt.
Drinnen empfing mich absolute Dunkelheit, was mich erschreckte, bis ich darauf kam, dass es an den dunklen Holzläden lag, die Henry netterweise für mich verriegelt hatte. Doof nur, dass er mir nicht verraten hatte, wo sich ein Lichtschalter befand, denn den suchte ich gut fünf Minuten lang, in denen ich jede Türzarge und Wand abtastete, bis ich mit dem Knie ein Beistelltisch fand. Erst mithilfe der kleinen Lampe sah ich, dass es keine Lichtschalter gab, sondern diese komischen Dimmer, die man wie bei einem neuen Herd einklicken konnte, sodass sie eben in der Wand versanken.
»Herrje«, sagte ich und rieb mir mein Knie. Das war wirklich ein Volltreffer und würde vermutlich nicht all zu schnell verschwinden. Meckernd humpelte ich in die kleine Küche, um mir etwas zum Kühlen zu besorgen. Doch alles, was ich im Gefrierer vorfand, war mein Schokoladeneis. Das wollte ich nun nicht wegen des pochenden Knies aufgeben und bei Henry durchzuklingeln, um nach Eiswürfeln zu fragen, überschritt auch jeglichen Anstand. Hm! Kurzerhand schnappte ich mir eine kleine Glasschale, füllte sie mit Wasser und stellte sie kalt. Dann musste mein Bein eben erst blau werden, bevor ich der Schwellung an den Leib rücken konnte. Und weil es dämlich wäre, durch den, Wohnraum zu hüpfen, interviewte ich meinen Kühlschrank: der mir umgehend leckeres Rührei mit Speck prophezeite – vorausgesetzt ich bekam das alles auf einem Bein hin, denn einen hohen Hocker suchte ich dort vergebens. Was es auch nicht leichter machte, mein Essen auch zu verspeisen, denn dafür musste ich ins Wohnzimmer, wenn ich nicht im Stehen speisen wollte. Bei diesem Manöver hüpfte das Rührei mit mir im Einklang und nicht wenig davon landete wie die Brotkrumen von Hänsel und Gretel auf dem Boden.
Unglaublich aber wahr, anschließend war ich vollkommen erschöpft, anders war das nicht zu bezeichnen und nur meine Augen stierten immer wieder auf die Eierkrümel, die sich so unschön auf den weißen Fliesen absetzten. Nach sechs Minuten gab ich das Blickduell auf, weil das Ei einfach nicht wie durch Zauberhand verschwinden wollte, und sammelte alles gewissenhaft mit Zewa ein. Erst als das erledigt war, konnte ich mich auf der Couch entspannen. Und wie der Zufall es doch immer will, schrillte in diesem Augenblick mein Handy. Nein, bitte nicht jetzt, sagte ich zu niemand bestimmten. Mein kleiner Rucksack schien mir Meilen entfernt, wobei er direkt auf dem Sessel neben der Couch stand und mich verhöhnte.
Jedoch erstarb das Läuten auch schnell wieder, worauf ich die Augen seufzend schloss und den Kopf in den Nacken legte. Heute sollte die Welt mich mal vergessen, also musste ich ja auch nicht an mein Telefon gehen. Ich befand, das war die beste Idee seit langsam und genoss die fremden Geräusche um mich herum. Die Wellen am Strand, der Wind der sich immer wieder jaulend in den Fensterläden verfing und sie klappern ließ, die Büsche die in ihrem ganz eigenen Takt ans Holz schlugen und wirre Schatten durch die Lamellen auf den Boden malten. Keine Autos, keine grölenden Leute, die am Bordstein entlangtorkeln … 
Ich schlief zu meiner Überraschung einfach dort auf der Couch ein. Es war ein traumloser Schlaf, zumindest konnte ich mich an nichts erinnern, was eine wahre Wohltat war. Nur der Sturm hatte mich aus diesem Tiefschlaf gerissen, weil er partout nicht aufhören wollte, an den Holzbalken zu zerren und das Jaulen immer lauter wurde.
Dennoch war es wirklich schön hier, nur das Land und ich – und ein Mann, der einen Fensterladen aufklappte und als Silhouette vor der Terrassentür stand.

Zwei

Die Schmerzen in meinem Knie waren ein Klacks gegen das Knacken, was mein Halswirbel von sich gab, als ich von der Couch aufsprang und versuchte zu begreifen, was sich da vor meinen Augen auftat. Zwei Dinge standen felsenfest: da vor einer hauchdünnen Glastür stand ein Mann, dass erkannte ich an den breiten Schultern und der hünenhaften Statur und ich war alleine in einem fremden Haus. Natürlich kamen da noch einige andere Tatsachen hinzu, wie zum Beispiel, dass mein Motorrad eingepfercht war und es mir nur Zeit rauben würde, es erst hervorzugraben; dass ich hier niemanden hatte, den ich kurzerhand um Hilfe rufen konnte; dass es draußen stockfinster und bitterkalt war – wo war eigentlich Hänsel, wenn man ihn mal brauchte? - dass mein Knie kaum die Belastung meines Gewichts tragen konnte, wie sollte es da mit dem Rennen funktionieren? Aber die wichtigste Frage von allem war schlichtweg: Wer zur Hölle war das?
Mir behagte das gar nicht, dass der einfach da stand und sich nicht rührte. Ich war nur froh, dass keine Lampe mehr brannte, denn die hatte ich alle mit dem hüpfenden Rührei nach und nach ausgeschaltet gehabt, da ich, wenn überhaupt nur noch etwas im Fernsehen hätte gucken wollen. Da ich aber davor eingeschlafen war, war der ebenso schwarz wie alles andere hier im Raum. Und doch fühlte ich mich beobachtet und dieses Gefühl ging so tief, dass sich mir die Härchen im Nacken aufstellten.
Was machst du nun?
Gute Frage, leider konnte ich diesem wimmernden Stimmchen in meinem Kopf darauf keine Antwort geben. Viel zu sehr durchzuckte mich die Erinnerung, als ich sie das letzte Mal hatte so aufgebracht klingen hören.
Denk, denk nach, schrie eine Stimme in meinem Kopf. »Bitte«, hauchte ich kläglich, unfähig etwas anderes zu sagen.‹
Meine Hände tasteten Halt suchend nach der Lehne des Sofas. Ich brauchte den Halt, um von der Situation und dem, was sie in mir heraufbeschwor, nicht überwältigt zu werden. Vor Angst brannten mir die Augen und ich konnte kaum noch einen klaren Gedanken fassen. Ich brauchte Hilfe, das war mir klar und das so schnell wie möglich, doch noch, während ich wild in meinem Rucksack nach dem Handy kramte, wusste ich nicht, wen ich anrufen sollte. Die Polizei? Und wenn es sich einfach nur um jemanden handelte, der nach dem Rechten sehen wollte?
Und wenn nicht bist du dran! Das stimmte und das wäre mein Tod. Wie von Sinnen warf ich mich hinter den Sessel zu Boden, dann wählte ich den Notruf und rasselte so leise wie ich konnte mein Anliegen herunter. »Bitte, beeilen Sie sich«, sagte ich und konnte die Tränen nicht mehr halten. Mittlerweile bebte mein Körper wie ein Blatt im Wind und leise Schluchzer drangen ungehemmt aus meiner Kehle, die jedoch durch das anhaltende Getöse des Sturms sicher nicht wirklich zu hören waren. Dennoch hielt ich den Atem an so oft, und so lange wie ich konnte, und ließ den Mann nicht aus den Augen. Was leicht war, denn er bewegte sich einfach nicht. Unverändert stand er da, als betrachte er die See. Wieso fühlte ich mich dann so beobachtet, so verängstigt?
Es schienen Wochen zu vergehen, bis endlich blaue und rote Lichter über den Bungalow flackerten, gefolgt von schweren Stiefeln auf der Veranda und einem heftigen Klopfen an der Haustür. Nie zuvor war es mir so schwer gefallen mich zu erheben, wie in dieser Nacht. Ich spürte jeden Muskel und jeden Knochen, als hätten sie sich alle mit Sandpapier eingewickelt. Vor der Tür stand ein Beamter im mittleren Alter, der mich mit braunen Haaren und dunklen Augen aus etwa ein Meter achtzig Höhe betrachtete. »Haben Sie die Polizei verständigt?«
Ich strich mir mit den Händen übers Gesicht, dann durch die Haare. »Ja«, sagte ich hicksend. »Da war jemand vor meinem Fenster. Der Fensterladen wurde geöffnet und … er ging einfach nicht wieder. Er stand da … keine Ahnung, was er da wollte ...Jetzt ist er aber weg.« Durch den Schluckauf bekam ich keinen Satz vollständig raus und mit jedem neuen Anlauf verlor ich den Faden erneut. Peinlich!
»Nun Miss, meine Kollegen sehen sich gerade um. Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich mich kurz drinnen im Haus umsehe?«
Ich schüttelte den Kopf und trat beiseite, um ihn einzulassen. Dann trat ich jedoch hinaus und lehnte mich an den Verandarahmen. Verwundert drehte er sich zu mir herum, vielleicht war ihm an den fehlenden Geräuschen weiterer Füße aufgefallen, dass ich nicht hinter ihm war. »Kommen Sie nicht mit rein?«
Wieder schüttelte ich den Kopf. »Nein Officer, ich würde lieber hier draußen warten.« Ohne ein weiteres Wort verschwand er im Häuschen, und noch bevor er einen Lichtschalter suchte - oder seine Taschenlampe einschaltete oder weiß der Kuckuck -, blickte ich schon hinaus aufs Meer. Ganz sicher wollte ich nicht mit einem Mann da drin alleine sein. Das war ja der Grund, warum ich überhaupt die Polizei verständigt hatte! Wieso schickte eigentlich nie jemand Frauen zu solchen Einsätzen?
Der Beamte war jedenfalls einer von der flotten Sohle und machte seinen Rundgang in Rekordzeit, mir war kaum kalt geworden. Okay, da ich eh am ganzen Leib schlotterte, konnte ich nicht wirklich sagen, ob es sich durch den Wind noch verschlimmert hatte. Sein Eintreffen wurde wieder durch schwere Stiefel begleitet, was allerdings von einem seiner Kollegen stammte. Der Mann war kaum größer wie ich, eins siebzig, schlank wie ein Marathonläufer, blond und in meinen Augen noch ein Kind. »Stevens«, stellte er sich mir mit einem leichten Nicken vor, eh er seine Aufmerksamkeit auf den anderen Polizisten lenkte. »Keiner mehr zu sehen. Aber wir haben Reifenspuren vorne an der Auffahrt gefunden.« Mir wurde ganz elend, und da nun beide Beamten mich anstarrten und der kleinere – der mit der niederschmetternden Botschaft – mir den Lichtkegel seiner Taschenlampe direkt ins Gesicht hielt, konnten beide zusehen, wie jeder restliche Hauch von Leben aus meinem Gesicht wich. »Ich habe kein Auto. Nur ein Motorrad«, beantwortete ich die Frage, die den Männern auf der Zunge lag.
»Na dann ist gut«, sagte der Kleine und strahlte. Immerhin nahm er mir dieses verflixte Licht aus dem Gesicht, ansonsten hätte er gesehen, wie perplex ich ihn anstarrte. »Es sind keine Autospuren. Wir nahmen an ...« Den Rest verkniff er sich, als ich heulend zusammensackte.
»Miss? Ist Ihnen nicht gut? Sollen wir einen Notarzt rufen?«
Ich schniefte und schniefte, doch dann kicherte ich. »Das ist hier wirklich die Dorfpolizei. Denken Sie wirklich«, ich zog mich am Geländer hoch und wischte mir die Tränen von den Wangen – noch immer kichernd. »Sie glauben wirklich damit ist es getan? Ist Ihnen nicht vielleicht, nur ganz kurz und am Rande ihres eingeschränkten Denkens in den Sinn gekommen, dass der Mann der auf meiner Veranda stand, ebenfalls ein Motorrad fahren könnte?«
Das wischte sein Lächeln so sauber von seinem Gesicht, wie ein Regenschauer. Unbehaglich verlagerte er sein Gewicht von einem Bein aufs andere, wobei er meinem Blick auswich. Sein Kollege befand jedoch, dass er so etwas nicht auf sich sitzen lassen konnte, und straffte sich, womit er noch einige Zentimeter größer wirkte. Mit den Händen an seinem Gürtel sagte er: »Miss. Ich möchte Sie bitten mir zu zeigen, wo Sie diesen Mann gesehen haben. Bitte begleiten Sie uns ins Haus.« Abrupt drehte er sich auf dem Absatz um und stiefelte mit Stevens in seinem Kielwasser in den Bungalow. Ich war aufgebracht, aber dennoch entging mir nicht, dass er stark daran zweifelte, dass es sich bei dem, was ich zu sehen geglaubt habe, wahrhaftig um einen Mann handelte. Ich biss mir auf die Zunge, um nicht weitere böse Spitzen abzuschießen.
»Nein.«
»Wie bitte?«, fragte er und blieb stehen. Stevens kollidierte unsanft mit seiner Schulter und rieb sich das Gesicht.
»Ich sagte Nein.«
»Hören Sie, Miss. Sie haben uns hergerufen und ich will das Sie hier hereinkommen ...« Sein Ton war so gebieterisch, dass es nur noch gefehlt hätte, das er mit dem Finger auf dem Boden vor sich zeigte, um mir zu verdeutlichen, wo mein Platz in diesem Moment war. Aber ich konnte nicht da rein, nicht wenn zwei Männer sich in einem ansonsten menschenleeren Haus befanden. Auch wenn ich meinen inneren Schweinehund hätte überwinden können, brachte mein Gehirn es nicht fertig den Befehl zum Gehen auszusenden. Die Beamten versuchten mich bereits mit starren Blicken zu bezwingen, dann stiefelte der große, dem das sichtlich zu albern war auf mich zu, und ergriff meinen Arm. Und ich spürte, wie etwas in mir bröckelte.
»Ich kann nicht.« Und als wäre alles nicht schon schlimm genug, die Kälte, die frühe Stunde, die Angst und das Adrenalin brach ich erneut in Tränen aus. »Bitte … bitte nehmen Sie die Hand weg.«
Als hätte ihn ein Blitz getroffen, zuckte er und riss seine Hand weg. Die Gewissheit überkam ihn wie ein Kübel kaltes Wasser und sein Blick wurde weich, was es für mich nur schwerer machte. Ich wollte einfach, dass die von hier verschwanden. »Stevens«, blaffte er seinen Kollegen an. »Warte im Wagen wir sind hier fertig. Wenn etwas sein sollte«, fügte er dann sanft an mich gewandt hinzu, »rufen Sie wieder an, ja?«
Ich nickte. Mir war klar, dass er sich denken konnte, was mein Verhalten ausgelöst hatte und ich fand es ehrenhaft von ihm, dass er die Situation auflöste, eh ich mich noch mehr verlor. Doch irgendwie beruhigten seine Worte mich nicht. Denn selbst wenn wieder jemand an meinem Fenster auftauchte, würde jede Hilfe zu spät kommen. Woher ich diese Gewissheit nahm, war mir egal, ich war mir diesem Fakt aber mehr als bewusst. »Vielen Dank. Ich denke nicht, dass es notwendig sein wird. Ich werde morgen wieder nach Hause fahren, dieser Urlaub war von der ersten Sekunde ein dummer Einfall.«
Darauf erwiderte er nichts. Was hätte er auch sagen sollen? Desto schneller Sie weg sind, desto besser? oder Sie übertreiben maßlos? So war sein Schweigen mir also lieber als die Alternativen. Er neigte den Kopf leicht zur Seite, dann ging er davon. Ich seufzte und wandte mich der Tür zu, als er sich schwunghaft umdrehte, und zurück joggte. »Nehmen Sie meine Karte, okay? Egal wann egal warum, Sie rufen an, versprechen Sie es.«
Ich starrte auf die Visitenkarte, die er mir hinhielt, dann in sein Gesicht. »Versprochen«, erwiderte ich unsicher. Dann verschwand er und ich schmunzelte, als ich den Namen auf der Karte las. »Lee McDermott. Genau so wie der Schwule von den Desperate Housewives
Leider konnte ich dieses kleine Fünkchen von Humor nicht aufrecht halten und es erlosch so schnell, wie es gekommen war. Hinter mir schloss ich die Tür und stand eine ganze Zeit einfach nur im Raum und wusste nichts mit mir anzufangen. 

 

 

~***~

 

Ich versuchte es nicht, mich zum Schlafen zu zwingen, es war einfach sinnlos, da die Gedanken sich in meinem Kopf tummelten wie Bienen in einem Bienenstock. Bereits bevor die ersten Wolken erhellt und somit sichtbar wurden, war meine Buell abfahrbereit. Die nette Dame von der Rezeption sowohl auch Henry bedauerten meinen kurzen Aufenthalt, waren aber nicht so voller bedauern, dass sie mir die restlichen vier Tage, die ich im voraus bezahlt hatte, zu erstatteten. So war die Welt eben.
Ich schwang mich auf den Bock und konnte nicht schnell genug wegkommen von diesem Ort, der im Tageslicht so viel schönes bot, doch nachts den lauernden Schatten Einzug gewehrte. Wie konnte ich nur hoffen, an einem anderen Ort abschalten zu können.
Als ich die Stufen zu meiner Wohnung im zweiten Stock emporstieg, war es, als wanderte ich direkt in einen Bunker, Sicherheit. Zumindest konnte hier oben nicht einfach mal jemand am Fenster auftauchen und mich erschrecken. Natürlich gab es auch in Berlin Gefahren, noch und nöcher und so zu sagen an jeder Hausecke, aber in meiner Wohnung fühlte ich mich solchen Dingen eher gewachsen. Allem nicht ganz so ausgeliefert und dargeboten. Was alles nur Gerede war, um mir selbst Mut zuzusprechen, stimmt schon. Jedoch ergriff ich jeden Strohhalm, der mich vor dem Ertrinken rettete.
Ohne Scheu schleuderte ich mein Gepäck in den Flur. Darum konnte ich mich auch später kümmern. Jetzt rief etwas nach mir, was über meine Rückkehr wohl genau so erfreut war wie ich: die Sonne; sie strahlte einladend auf meinen Balkon. Wie konnte ich da Nein sagen? Umziehen brauchte ich mich nicht, denn es war nicht gerade warm, weswegen ich mir auch lieber eine Strickjacke überzog, doch in meinem Gesicht waren die Strahlen warm und himmlisch entspannend obendrein.
Der Realität entkam ich natürlich nicht und ich machte mir da auch keine Illusion, denn irgendwann musste ich mir das, was passiert war, ins Gedächtnis rufen. Ich brauchte Antworten. Wer war … Nein, daran denkst du jetzt nicht!
Ich lächelte und schob die Unterlippe vor. Mein inneres Stimmchen war genau so besänftigt für den Moment wie ich.
Bis der Regen einsetzte. Nicht einfach Nieseln, nö. Wie aus Eimern prasselte es, sodass ich in Sekunden klitschnass war und das, obwohl ich mich sputete, in meine Wohnung zu kommen. Meine dunklen Haare hingen schlaff und platt an meinem Kopf, von den Locken war nichts mehr zu sehen – was wirklich toll war – aber sie würden wieder trocknen und sich wieder wie Korkenzieher aufwickeln – was weniger toll war.
Im Übrigen war auch gleich der Boden vollgetropft und machte mir damit unnötige Arbeit. Ich seufzte.
Auf allen Vieren, trocknete ich den Boden, als das Telefon klingelte. Ich stemmte mich hoch und wäre beinah wieder zu Boden gegangen. Laminat und Nässe vertrugen sich einfach nicht. Ich griff nach dem Telefon. »Hallo?«, sagte ich und hatte wie aus dem Nichts heraus ein ziemlich flaues Gefühl im Magen.
»Emily? Ich bin es.« Angeline. Herrje das Schulfest. Ich schloss die Augen und lehnte mich an den Türrahmen. »Wie kommt's, das du wieder zurück bist?«
Ich runzelte die Stirn. Klar, Ben hatte ihr bestimmt gesagt, dass ich abgehauen war, ich fragte mich nur, warum sie überhaupt auf meinem Festnetztelefon anrief, statt auf dem Handy, wenn sie dachte, ich wäre noch auf Tour. »Ja, ich bin vor 'ner Stunde rein », erwiderte ich deswegen unsicher.
»Schön …« Stille folgte, aber ich wusste nicht, was ich hätte sagen sollen, also schwieg auch ich und lief zum Sofa. Aller Voraussicht nach wollte ich lieber sitzen, eh sie mit ihrem Gerede über den gestrigen Abend loslegte. Für mich war es ja schon so ne Folter, da die Feier mich an Schreckliches erinnerte, aber ich würde ihr zuhören. Doch es kam anders wie angenommen, vollkommen anders. »Ich habe Mist gebaut. Gestern Abend habe ich Ben betrogen. Es ist einfach passiert, ich bereue es nicht, ich bin ein Miststück. Was soll ich machen? Ich habe dich bereits gestern Abend angerufen, aber du bist nicht ran gegangen.« Zum Ende hing klang sie vorwurfsvoll, was ich aber ignorierte. Woher hätte ich wissen sollen, dass sie es war und das sie bis zum Hals im Dreck steckte? Ich war ja nicht ihre Mami.
»Ich hatte keine Zeit«, bemerkte ich spitz. »Ben wird dir ja wohl gesagt haben, dass ich eine Tour mache. Bei 190Kmh achte ich wenig auf mein Handy!« Okay, es war eine Lüge, und sie ging mir so locker von den Lippen wie der Wetterbericht. Aber warum sollte ich mich jetzt schuldig fühlen? Sie hatte doch den Fehler begannen. »Wie konnte es dazu kommen? Ich dachte du liebst Ben?« Sie schnaufte und ich biss die Zähne zusammen. Jetzt war ich unfair. Gesagt ist gesagt, zurücknehmen war nicht möglich.
»Tu ich doch auch«, sagte sie ernst – ohne Reue oder tränenerstickter Stimme. »Aber es ist doch so, dass er kaum Zeit für mich hat. Ständig ist er auf der Wache oder sitzt an seinem Schreibtisch und liest staubige Akten. Oder er zieht herum und trifft sich mit seinem Ru... seiner Clique. Ich kann dir nicht sagen, warum ich es so weit kommen ließ, denn egal was ich sage, es klingt nach einer Ausrede. Fakt ist, ich habe es getan und es war toll! Und genau aus diesem Grund rufe ich dich an. Ich fühle mich nicht schlecht. Für mich war es eh keine Beziehung mehr mit Ben, sondern eher eine WG, ich hatte nur nie den passenden Weg gefunden, um mit im Schluss zu machen, und -«
Unhöflich, ja, aber ich würgte sie ab. »Und du denkst, ein One-Night-Stand macht es dir leichter? Oder ihm? Herr Gott, Angie, wenn du so empfindest, hättest du es ihm sagen müssen. Jetzt hast du es weitaus schwerer, denn du musst das, was geschehen ist ja erwähnen, wenn auch indirekt. Das macht es für dich kompliziert und für ihn doppelt schmerzhaft.«
Angie schwieg für einige Sekunden, doch ich hörte ihren Atem, der stoßweise in den Hörer drang. »Ich dachte du würdest mich verstehen«, erwiderte sie angesäuert, derweil ich mich fragte: Wie kommt sie darauf? Ich hatte keine Beziehung, keinen One-Night-Stand – nichts! Ich wurde nur vergewaltigt, wisperte das zarte Stimmchen in meinem Kopf, was ich knallhart zum Schweigen verdonnerte. »Ben ist nicht so unscheinbar, wie du vielleicht denkst. Auch er hat seine Geheimnisse und glaube mir, die wiegen mehr als meine und sind weitaus beängstigender. Aber lassen wir das, denn Lobeshymnen hatte ich sicher nicht erhofft, aber ich dachte, du würdest vielleicht … anbieten mit … ihm zu reden.«
Angie war keine Frau, die nach Hilfe bat, sie hasste es und war zu stolz dafür. Dass sie nun den Weg suchte, mich zu bitten es Ben »schonend« beizubringen, war erstaunlich. Sie musste nicht weitersprechen. Ich konnte förmlich vor meinem geistigen Auge sehen, wie ich mit Ben sprach und es ihm erklärte. Fassungslos fuhr ich mir durchs Haar. Wie konnte Angie mir so etwas antun?
»Bitte, Maus, lass mich nicht hängen. Ich habe einen Fehler gemacht und ich verspreche dir, wenn er es dann von mir hören will, sage ich es ihm. Aber es wäre so viel leichter, wenn er dann schon alles wüsste … machst du es?«
Das Bild, wie ich mit ihm vor irgendeinem IHOP stand blieb in meiner Netzhaut. Es wollte einfach nicht verschwinden. Mit Daumen und Zeigefinger drückte ich mir die Augen zu und nickte, um mich selbst zu überzeugen. »Okay.«
»Wirklich?«, fragte Angie vollkommen perplex. »Du redest mit ihm?«
»Ja, verdammt«, erwiderte ich hitzig, »aber nur, damit du es weißt: Ich hasse dich dafür!«
»Du bist die Beste. Knutscha meine Sonne, bis Freitag, du weißt ja, Weiberabend.«
Ich sagte nichts, lauschte dann eine Minute lang dem tut, tut eh ich auflegte und weinend zusammenbrach.

 

~***~

 

Am nächsten Morgen fühlte ich mich wie programmiert. Ich hatte einen ruhigen Schlaf, wobei ruhig im Auge des Betrachters liegt. Er war ohne Albträume, jedoch hatte ich mich herumgewälzt und literweise Wasser verloren. Vermutlich aus Panik. Es war unsinnig es aufzuschieben, demnach hatte ich irgendwann in der Nacht beschlossen, diese Angelegenheit mit Ben schnellstens hinter mich zu bringen. Und das nicht bei mir in der Wohnung! Ich hatte mir einen Plan zurechtgelegt, wie ich vorgehen wollte und Teil Zwei goss ich gerade in meine Tasse: Kaffee. Phase eins war es zu duschen, schminken Zähne putzen etc.. Die nächste Etappe war die, die mich nervös machte. Nie, nie zuvor hatte ich Ben angerufen und somit hatte ich ihn auch noch nie um ein Treffen gebeten. Alle meine inneren Schranken waren geschlossen. Verabreden? Ein Fremdwort für mich, seit dem Unfall – vor allem wegen des bestimmten Jahrs.
Monate hatte es mich gekostet, mich in der Uni und im Sportverein herumzudrücken, um zu erfahren, ob ich einen Freund hatte. Natürlich hatte ich nie direkt danach gefragt; ich bin immer nur hier und da aufgetaucht in der Hoffnung, dass wenn es so sein sollte, dieser Mann schon auf mich zukommen würde …
Man danke jedoch den Frauen in meinem Leben, die ich Freundinnen nennen durfte, denn die hatten mir die Schmach erspart, mich zu blamieren. Nein ich hatte keinen Mann am Start, denn, so sagte Sam, ich wäre einfach nicht der Typ dafür, sich festzulegen.
Was es für mich nur um so schlimmer machte. Ich fühlte mich wie ein Teenie, wobei es ja kein romantisches Treffen war und dennoch war ich nervös. Mir kam es dennoch so vor, als würde ich meine heimliche Flamme zu einem Stelldichein rufen.
Meinen Kaffee gönnte ich mir und ich dachte an nichts, wahrhaftig! Mein Kopf war wie leer gepustet, ausgeraubt. Ein Empfinden, welches ich immer wollte und nie erreichen konnte, aber nun war es da und ich musste mich richtig Zwingen aus diesem Dasein auszubrechen – zugegeben nach der dritten Tasse Kaffee.
Ich griff nach meinem Handy, was auf dem Tisch parat lag und zögerte. Nicht aus Angst. Nein! Ich sah meiner Hand zu, wie sie sich bewegte, sich dem Handy näherte, darüber schwebte und ein Kichern sich meiner Kehle entrang. Kichern! Ich hatte mich selbst nie so deutlich und klar kichern hören. Es war, als würde ich einer Oper lauschen, fremd, neu, fesselnd, deprimierend. Aber dieses Vibrieren in meiner Brust war mir so unbekannt, so fremd und fern – nicht ich.
Irgendwo in meiner Erinnerung spiegelte sich ein Bild. ›Amber, meine Schwester, die auf einer Mauer balancierte und hüpfte. Sich drehte und Faxen machte. Und dann abrutschte und in einen Teich purzelte und schnappend, wie ein Karpfen an Land, durch die Wasseroberfläche schoss.‹ Da stand ich, kaum älter als zwölf und kicherte.
Eine Erinnerung, die selbst meine Oma nicht zurückholen konnte, da sie davon nichts geahnt hatte. Sie hätte uns die Hosenböden stramm gezogen.
Meine Mimik wurde wie auf Befehl wieder streng. Erinnerungen hatten immer einen bitteren Nachgeschmack. Ich packte das Handy, tippte die Nummer und wartete drei Freizeichen lang, bis ein verschlafener und überaus desorientierter – süß klingender – Ben ran ging. »Ja?«
»Hey Ben. Ich bin es … Emily.« Gut, meine Stimme hatte er noch nie am Telefon gehört, von daher war ich auch nicht beleidigt, dass er mich nicht auf Anhieb erkannte.
»Emily?«, stöhnte er, als wäre ich der wahrhaftige Tod. »Sag mir, dass du wieder zu Hause bist.«
Ich grinste. »Bin ich. Treffen wir uns in einer Stunde im ...« Mein Wort verklang, denn mir lag auf der Zunge, das IHOP zu erwähnen. Das war aber echt abwegig, denn es wäre meiner geistigen Vorstellung zu nah und somit unheimlich.
»IHOP?«, bot Ben verschlafen an. »Du liebst Pfannkuchen, also klar, wann?«
Ich konnte förmlich spüren, wie das Blut aus meinem Kopf zu den Zehen schoss. »Genau«, erwiderte ich lahm und sah zur Uhr über der Tür. »Sagen wir in einer Stunde? Schaffst du das?«
»Klar, Emmy, das langt mir. Bis gleich, dann!« Er legte auf und ich starrte vor mich hin. Ich wollte nicht ins IHOP, denn die Bilder schwebten noch in meinem Kopf. Ich reagierte automatisch. Eine Stunde war geplant, ich fuhr jedoch sofort los. Keinesfalls würde ich ihm diese »Beichte« am Eingangsbereich offenbaren – wie in meiner gedanklichen Vorstellung – also musste ich da sein und irgendwo an einem Tisch sitzen. Was nur möglich war, wenn ich vor ihm da war.
Dann ist es aber eine Verabredung zum Frühstück, wimmerte dieses Stimmchen in mir. »Scheiß drauf«, erwiderte ich harsch, »lieber das, als dieses Thema zwischen Tür und Angel zu führen.« Toi, toi toi. So eine innere Stimme, was man wohl Gewissen nennen darf, ist ab und an regelrecht scheiße!
Wie eine Irre schwang ich mich auf meine Maschine und düste los. Ben war jemand, der überpünktlich war, demnach würde er auch bereits unterwegs sein, nahm ich an. Mir blieb keine Zeit, um auf rote Ampeln zu warten, und so schoss ich zwei oder dreimal noch rüber, wenn sie gerade von Gelb auf Rot wechselte. Dass mich keine Streife erwischte, war purer Zufall und es hätte mir auch gerade noch gefehlt, dass Ben mich am Schlafittchen kriegen würde. Er mochte meine Buell eh nicht. Er war der Ansicht, ein Motorrad wäre nichts für eine Frau wie mich. Was er damit andeuten wollte, erfuhr ich nicht, denn ganz sicher würde ich nicht nachfragen und ehrlich gestanden interessierte es mich auch nicht wirklich.
Direkt vor dem Eingang stellte ich meine Karre ab und rannte bereits in den Laden, wobei ich mir den Helm vom Kopf zog und zielstrebig den erst besten Tisch ansteuerte, der mir ins Auge stach. Direkt am Fenster, was gut und schlecht zugleich war. Gut, weil Ben mich von außen sehen würde – und jeder andere uns, was ihn vielleicht davor bewahrte, vollkommen die Fassung zu verlieren. Schlecht, wenn es eben doch dazu käme, dass ihn das, was ich ihm zu sagen hatte, auf den Magen schlug – denn dann würden sich alle an seinem Schmerz ergötzen können. Aber eine Alternative bot sich mir nicht und so bestellte ich bei der Bedienung zwei Kaffee sowie Pfannkuchen mit Ahornsirup. Dann hieß es warten und mit jeder Minute, die verging, stieg der Pegel der Nervosität in mir an. Keine Ahnung, was ich sagen sollte. Wie brachte man einem Mann bei, dass seine Freundin sich anderweitig vergnügt? Ehrlich gesagt gab es in meinen Augen keinen goldenen Weg. Ich würde ihm es einfach knallhart vor den Kopf sagen müssen. So oder so kam es eh auf dasselbe hinaus. Der arme Kerl war betrogen worden und würde daran hart zu knabbern haben. Ich starrte aus dem Fenster oder zu den anderen Gästen, die freudestrahlend in meiner Nähe saßen, und bemerkte recht schnell, dass es sich größtenteils um Pärchen handelte.
Vielleicht war das etwas, was Paare gerne miteinander machen. Essen gehen. Warum das allerdings so war, konnte ich nicht sagen. Dafür fehlte mir einfach die Erfahrung. Ich erinnerte mich daran selbst nur kurz mit jemanden zusammen gewesen zu sein, damals in der siebten oder achten Klasse. An seinen Namen erinnerte ich mich allerdings nicht mehr. Später hielt ich großen Abstand zum männlichen Geschlecht. Ich traute ihnen nicht, wobei das wohl nicht wirklich verwunderlich sein dürfte.
Ich bestellte neuen Kaffee, nachdem ich auch den, der für Ben vorgesehen gewesen war, ausgetrunken hatte. Die Pfannkuchen hatte auch ich gegessen, denn nach gut vierzig Minuten warten, fand ich es albern sie verkommen zu lassen. Die Bedienung brachte die beiden neuen Kaffees und in diesem Moment trat Ben durch die Tür. Wie ich trug er schlichte Jeans, Stiefel und ein schwarzes T-Shirt und blickte sich suchend um.
Als er an meinen Tisch trat, lächelte er schief. »Ich wusste doch ich habe deine Maschine erkannt.« Er setzte sich und griff nach dem Kaffee. »Danke. Was ist der Grund für dieses Treffen? Ich kenne dich ja nicht sonderlich gut, dennoch weiß ich, dass du kein Mensch für spontane Treffen bist. Hast du etwas ausgefressen?«
Ich nicht, wollte ich am liebsten erwidern, verkniff es mir aber. Ben orderte erneut die Bedienung und bestellte sich Pfannkuchen. Das brachte mich zum Lächeln. Ich war also nicht die Einzige, die dieser Versuchung nur schwer widerstehen konnte. »Nein. Ich bin artig wie immer«, begann ich vorsichtig. »Aber du hast recht, dieses Treffen hat seinen Grund. Oder kannst du dich daran erinnern, jemals von mir angerufen worden zu sein.«
Er dachte nach, wobei er die Augenbrauen zusammenzog, zwischen denen sich eine kleine Falte bildete, und schob die Unterlippe vor. »Nein, daran würde ich mich erinnern«, kicherte er. Ich drehte die Tasse zwischen meinen Händen und brachte es kaum fertig den Blick zu heben. »Spuck's aus Emily.«
»Du solltest erst einmal was essen«, wich ich aus und fügte im Geiste noch hinzu: bevor dir der Appetit vergeht.
Natürlich machte ihn das hellhörig. Ben war wie ein Raubtier, wenn er meinte, etwas auf der Spur zu sein. Dann hieß es für ihn lauern und beobachten und im richtigen Moment zuschlagen. Es war nervig, denn ich fühlte mich eh schon zum Zerreißen gespannt und unter seinem wachsamen Blick musste ich nun auch noch auf alle möglichen Zeichen meinerseits achten, um nichts zu verraten. Was mir jedoch nicht sonderlich gut gelang.
»Warum bist du so angespannt? Ich könnte wetten, wenn ich mit 'ner Stimmgabel gegen dich schlage, summst du wie eine Geigensaite.«
Ich verzog das Gesicht und schnitt eine Grimasse. Dann kam die Bedienung und rettete mich, zumindest für die nächsten zehn Minuten oder so. Doch Ben schlang sein Frühstück herunter, als wäre es ein Wettbewerb und bereits nach sechs Minuten wischte er sich den Mund mit einer Serviette ab. Ich seufzte Ergebens.
»Okay. Hör zu, mir fällt das alles nicht leicht und du darfst mir glauben, dass ich mich nicht wohlfühle.« Fahrig strich ich mir durch die Locken und drehte sie im Nacken zusammen. »Ich spiele nicht gerne des Teufels Advokat und ich habe mich auch nur mühsam zu diesem Botengang überreden lassen. Denn eigentlich bin ich der Meinung, dass jeder selbst für seine Sachen geradezustehen hat ...«
Meine Güte, das war schwerer als ich mir hätte Träumen lassen. Mein Mund war wie ausgetrocknet und jeder Schluck Kaffee schien das nur zu verschlimmern.
Ben, der die Arme hinterm Kopf verschränkt hatte, schwieg und gab mir die Sekunden, die ich brauchte, um mich und meine Worte zu sammeln. Seine vollen Lippen waren fest zusammengepresst und seine Kiefer arbeiteten sichtbar. Aber ich sah auch, wie schwer es ihm fiel, mich nicht mit tausend Fragen zu löchern. Dazu würde er noch früh genug Gelegenheit haben.
Ich räusperte mich und ballte die Hände zu Fäusten. »Angeline hat … Wir haben telefoniert und da erzählte sie mir etwas … Ben, ich weiß wirklich nicht, wie ich es sagen soll«, sagte ich schließlich hilflos.
Er zuckte mit den Schultern. »Mit so wenig Worten wie möglich, solange es aussagekräftig ist.«
Idiot! »Angie hat dich betrogen?« Nun es klang wie eine Frage, aber ich befand, mehr Worte brauchte es nicht. Erleichtert, diese Last endlich wieder los zu sein, blies ich die Backen auf und pustete lautstark die Luft aus. Derweil konnte ich mit ansehen, wie der starke Mann vor mir zerbrach wie ein Glas. Und ganz sicher, ich hatte noch nie in meinem Leben etwas so dermaßen trauriges gesehen, wie in diesem Augenblick.
Ben sackte nach vorne, stützte die Ellenbogen auf den Tisch und verbarg sein Gesicht in den Händen. »Wann?«, wollte er nuschelnd wissen.
»Gestern bei der Abschlussfeier.«
»Mit wem?« Seine Stimme klang brüchig.
»Keine Ahnung.«
»War dass das einzige Mal?«, Herrje, wollte er sich selbst quälen?
»Das hoffe ich ja wohl«, erwiderte ich entrüstet. Alles andere wäre undenkbar. Dann könnte ich ihr nicht mehr in die Augen sehen. Ich wäre mit großer Sicherheit so enttäuscht von ihr, dass ich sie nicht mehr in meiner Nähe ertragen könnte. Es wäre das Ende einer langen Freundschaft.
»Hat es ihr gefallen?« Nun fielen mir beinah die Augen aus dem Kopf. Das hatte er jetzt nicht wirklich gefragt!
»Ben, ich denke, das ist -«
»Hat es ihr gefallen?«, unterbrach er mich grob und seine Stimme war wie das Brüllen eines Löwen.
»Ja. Ja sie sagte sie bereut es nicht. Sie fand es toll, außerdem ...«
Langsam ließ er die Hände sinken, verschränkte die Arme und stützte sich auf den Tisch. Seine grünen Augen schwammen in Tränen, selbst an den schwarzen Wimpern konnte ich eine vereinzelte Träne sehen. »Was?«
»Sie sagte, sie wollte eure Beziehung schon seit Längerem beenden, aber der Zeitpunkt hätte sich nicht ergeben. Für sie ist das Zusammenleben mit dir wie in einer WG. Das sind ihre Worte nicht meine«, fuhr ich auf, als er den Kopf neigte und mich mit zusammengekniffenen Augen anstarrte.
»Hat sie dir noch weitere Geheimnisse anvertraut?«, fragte Ben mit bedrohlich leiser Stimme. Er wirkte mit einem Schlag wachsamer als je zuvor.
Ich runzelte de Stirn. »Nein, wieso?«
Er zuckte mit einer Schulter. »Nur so.« Wer es glaubt! Er hatte den Kiefer so zusammengepresst, dass ich sehen konnte, wie die Muskeln arbeiteten. Irgendetwas beunruhigte ihn und da kamen mir Angies Worte wieder in den Sinn: Ben ist nicht so unscheinbar, wie du vielleicht denkst. Auch er hat seine Geheimnisse. Dachte er in diesem Moment an eins von den angedeuteten?
»Hast du denn Geheimnisse?«, fragte ich schief lächelnd. Die Unschuldsnummer gelang mir noch nie so richtig, weshalb er nun ein trauriges Lächeln auf sein Gesicht zauberte und mich intensiv ansah.
Er verschränkte die Hände ineinander und zog die Augenbrauen hoch. »Emily, seit wann bist du neugierig?«
»Schon immer«, sagte ich spontan.
»Erzähle mir deins und ich erzähl dir meins«, bot er an. Prompt wurden meine Handflächen nass. So neugierig war ich nun auch wieder nicht, dass ich dafür meine Seele offen legte.
»Ich und Geheimnisse? Nein, ich bin ein unbeschriebenes Blatt«, sagte ich fröhlich.
Ben lachte herzhaft auf. »Aber natürlich«, erwiderte er gedehnt. »So wie ich.«
Das klang nicht gerade nach einem Kompliment. Aber er wirkte gleich etwas entspannter. Vielleicht hatte er Angst gehabt, dass ich mich auf diesen fatalen Deal einlassen könnte?
Von da an verliefen unsere Gespräche unbefangen und ich fühlte mich sogar irgendwie … wohl. Sonst war ich in Gegenwart von Männern befangen und verschlossen, doch irgendwas war an diesem Tag anders. Als ich schließlich Anstalten machte aufzubrechen und nach meinem Schlüssel griff, sah Ben mir direkt in die Augen. »Ich mag diese Maschine nicht.«
»Ich weiß«, erwiderte ich lächelnd und es war ein ehrliches Lächeln. Kein Aufgesetztes, wie ich es sonst immer zeigte. »Kommst du klar? Ich meine mit Angeline?«
Er nickte. »Ich werde gleich meine Sachen packen und dann bin ich da weg. Ich hoffe sie ist nicht Zuhause, ich will sie nicht sehen. Ich bin wütend und enttäuscht, wer weiß, zu was ich imstande bin, sollte sie mir mit scheinheiligen Erklärungen kommen.«
Ich streckte die Hand aus und legte sie auf seinen Unterarm. Es sollte eine tröstende Geste sein, doch da ich keine Erfahrung damit hatte, fühlte es sich für mich an, als würde Strom durch meine Fingerspitzen zucken. Dennoch ließ ich die Hand dort liegen und irgendwas in mir begann zu klingen.
Ben sah von mir weg zu meiner Hand und lächelte schief. »Schon okay, Emily.«
»Pass auf dich auf und mach keinen Ärger hörst du?«, bat ich. Dann erhob ich mich und verließ das IHOP. Auf meiner Maschine sitzend starrte ich auf meine Hand. Sie prickelte noch immer, auf eine mir unbekannte fesselnde Weise.

Impressum

Texte: Sabrina Hart.
Bildmaterialien: Covergestaltung: Sabrina Hart.
Tag der Veröffentlichung: 01.12.2013

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