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Kapitel 1 Kilian

Kapitel 1

Kilian

 

Während ich vom dritten in den zweiten Gang herunterschalte, um nach rechts abzubiegen, fällt mein Blick auf meine Schwester, die unruhig ihre Hände auf dem Schoß knetet. Seit wir losgefahren sind, starrt sie vor sich hin und hat kaum ein Wort gesagt.

„Alles klar bei dir?“, erkundige ich mich, obwohl ich weiß, dass es nicht so ist. Ich kann in ihrem Gesicht lesen wie in einem offenen Buch. Etwas bedrückt sie. Normalerweise bohre ich bei Jenny nicht weiter nach, aber so wie sie sich benimmt, hat dieses Etwas mit mir zu tun.

Sie schluckt und schaut aus dem Fenster. „Alles bestens.“

Der Golfplatz erstreckt sich zu unserer Rechten. Die Landhausvilla meiner Eltern befindet sich am Ende des Weges. Mein Vater ist leidenschaftlicher Golfer und Mitbesitzer der Anlage. Die Grünfläche ist perfekt getrimmt, aber weit und breit ist niemand zu sehen. Kein Wunder bei dem seit Tagen herrschenden Sauwetter. Der Himmel zeigt sich passend zu meiner Stimmung in dunklem Grau, dazu regnet es in Strömen.

Ein beschissener Sommer liegt hinter mir. An diesem Umstand bin ich allerdings nicht ganz unschuldig. Das macht es trotzdem nicht besser. Anfangs hatte ich das Gefühl, die ganze Welt hätte sich gegen mich verschworen. In Wirklichkeit haben sich lediglich zwei meiner Freunde ineinander verliebt. Der Gedanke an David und Henry sticht nach wie vor. Das Empfinden, betrogen worden zu sein, habe ich auch noch nicht ablegen können. Ich verliere nicht gern. Zum Glück war Wolfi für mich da. Mann, was bin ich froh, dass er mir auf Liams Party über den Weg gelaufen ist. Kaum auszumalen, wie einsam und frustrierend die Monate ohne ihn verlaufen wären. Er hat sich wochenlang meine Jammerei angehört und zwischen uns hat sich in dieser Zeit eine enge Freundschaft entwickelt.

„Irgendwas wurmt dich, Jenny. Was ist passiert?“ Erneut versuche ich, sie aus der Reserve zu locken.

Endlich löst sie ihren Blick vom Fenster und schaut stattdessen vorsichtig zu mir. „Liam war vorhin da. Er wollte mit dir reden.“

„Aha, und? Wahrscheinlich wollte er mir nur zum Geburtstag gratulieren.“

„Das auch. Er war geknickt, dich nicht anzutreffen. Ich habe ihn auf eine Tasse Tee zu mir eingeladen.“

Meine Mundwinkel zucken. „Hat er ihn getrunken?“

„Äh, ja?“ Jenny ist sichtlich verwirrt.

Ich fange an zu lachen. „Dann muss was Schlimmes passiert sein. Liam hasst Tee.“

„Ach so? Warum hat er denn nichts gesagt?“ Jenny findet es kein bisschen lustig. „Es ist auch was passiert“, sagt sie sehr leise, so leise, dass ich sie durch das Prasseln des Regens kaum verstehen kann. „Also nicht direkt passiert, aber …“ Sie bricht ab und legt ihre Hand auf meinen Oberschenkel.

Ungeduldig trommle ich mit den Fingern auf dem Lenkrad, werfe ihr noch einen strengen Blick zu, bevor ich mich wieder auf die Fahrbahn konzentriere.

„Nicht an deinem Geburtstag, Kili. Lass uns morgen darüber reden“, weicht sie mir aus. „Ich hätte nicht damit anfangen sollen.“

Ich fahre die Einfahrt zu unserem Elternhaus hinein und bringe den Wagen vor der Haustür zum Stehen. „Rede gefälligst, Jennifer! Deine vagen Aussagen machen mich irre. Was hat Liam dir erzählt?“

„Scheiße, ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll …“ Sie schluckt, ringt offenbar um Worte. „David zieht zurück nach Düsseldorf. Henry und er haben anscheinend zusammen ein Loft gekauft.“ Mitfühlend schaut sie mich an. „Es tut mir leid.“

Ich schließe kurz die Augen, versuche, mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr mich diese Information trifft. Langsam wende ich meinen Kopf in Richtung Windschutzscheibe und schaue auf die Regenlandschaft. Mein Magen krampft sich zusammen. Es war abzusehen und trotzdem tobt es unerwartet in mir. Der letzte Funken Hoffnung erlischt. Eine gemeinsame Wohnung sagt viel über den Beziehungsstatus der beiden aus. Fest und bindend. Endgültig.

Jenny löst den Gurt und öffnet die Beifahrertür. „Lass uns reingehen, Kili. Mama und Papa erwarten uns.“

„Gib mir ein paar Minuten, ja?“, bitte ich sie und schnalle mich ebenfalls ab. Sie nickt, die Autotür fällt hinter ihr ins Schloss und ich sehe ihr nach, wie sie so schnell wie möglich durch den Regen zum Hauseingang läuft und Sekunden später dahinter verschwindet.

Schwerfällig steige ich aus dem Auto und hebe mein Gesicht zum Himmel, lasse die Tropfen meine Haut benetzen. Spüre, wie sie über meine Wangen laufen, den Hals hinab rinnen und in meinem Kragen verschwinden.

Heute vor einem Jahr fand in der alten Papierfabrik die Party meines Lebens statt und ich habe mit David gefeiert bis zum Umfallen. Schon damals wollte ich ihn. Doch er ist in jener Nacht mit Philipp und Liam nach Hause gegangen. Ich hätte es als Zeichen sehen sollen. Stattdessen habe ich solange in seinem Leben herumgepfuscht, bis ich alles zwischen uns ruiniert hatte.

„Kilian, was machst du denn da draußen?“ Die Stimme meiner Mutter reißt mich aus meinen trüben Gedanken. Sie steht im Türrahmen und schaut mich besorgt an. Ich sprinte unter das schützende Vordach und sofort legt sie ihre Hand auf meinen Unterarm, zieht mich in die Vorhalle. „Komm rein, du wirst sonst noch krank. Außerdem erwartet dich Papa im Arbeitszimmer.“ Ich seufze innerlich bei dieser Nachricht und folge ihr, meine Schuhe quietschen bei jedem Schritt. Ohne Eile streife ich sie ab und ziehe meine durchnässte Jacke aus.

Meine Mutter beobachtet mich. „Warum machst du denn ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter?“

„Ach nichts, ist nicht mein Tag heute.“

„Natürlich ist das dein Tag. Du hast immerhin Geburtstag. Jetzt lass dich erst mal drücken.“ Sie zieht mich in ihre Arme und streicht mir über den Rücken. Ihre Umarmung tut gut. Ich presse meine Lippen auf ihre Wange, atme ihren typisch blumigen Geruch ein und fühle mich gleich ein bisschen besser. „Sophia hat sich extra für dich ins Zeug gelegt. Sie hat deine Lieblingstorte gebacken.“ Bei der Ankündigung wird mir warm ums Herz. Ich liebe Sophia und noch viel mehr die Sahnetorte, die sie immer macht, wenn ich zu Besuch komme. Sie ist, solange ich denken kann, als Köchin hier und Teil unserer Familie. Als Kinder haben Jenny und ich Stunden bei ihr in der Küche verbracht.

Nur ungern löse ich mich von meiner Mutter. „Ich geh dann mal zu Papa.“ Ich ahne, was er von mir will. Trotz meines Geburtstages wird er mich mit seiner Kritik nicht verschonen. Temme, unser Steuerberater, ist ziemlich frustriert, weil ich seit Wochen geistig abwesend bin. Mitunter zu den Terminen gar nicht erst erscheine. An manchen Tagen konnte ich mich einfach nicht dazu aufraffen, in der Firma aufzukreuzen. Gott sei Dank bin ich nicht allein verantwortlich für den Laden. Allerdings zieht sich mein Vater immer weiter zurück und ich habe das Gefühl, dass ich mehr und mehr Aufgaben übernehmen muss. Vor allem die Zusammenarbeit mit dem Steuerbüro ist ganz schleichend in meine Hände übergegangen.

Gestern hat Herr Temme mich zu fassen bekommen und mir weitere Überstunden angekündigt, damit wir die liegen gebliebene Arbeit aufholen können. Ich weiß, dass er recht hat, aber unser Verhältnis ist seit Monaten ziemlich eisig. Vor dem Sommer lief unsere Zusammenarbeit ganz gut, bis zu dem Punkt, als ich seinen Sohn Nico vor seinen Augen geküsst habe. Woher hätte ich denn wissen sollen, dass die zwei Vater und Sohn sind?

Der Kleine ist süß, frech und ziemlich sexy. Ein Twink, den ich, ohne mit der Wimper zu zucken, mit in mein Bett genommen hätte. Hätte! Hab ich aber nicht. Denn mit diesem Wissen werde ich mich hüten. Sein Vater würde mich höchstpersönlich kastrieren. Autsch! Oder mich mit Arbeit überhäufen, bis ich auf dem Zahnfleisch krieche. Auch nicht besser! Unser Arbeitsverhältnis hat sich jedoch merklich abgekühlt. Dabei habe ich Nico seit dem Kuss gar nicht mehr gesehen. Bin ihm aus dem Weg gegangen und habe vor allem einen weiten Bogen um das Queenz gemacht.

Ich klopfe an die Tür des Arbeitszimmers und warte auf das „Herein“ meines Vaters. Er steht von seinem Schreibtischstuhl auf und kommt mir entgegen, als ich ins Zimmer trete. „Ich gratuliere dir ganz herzlich, Kilian.“ Während er mir die Hand schüttelt, klopft er mir auf die Schulter. Er wirkt etwas unbeholfen. Wir sind uns zwar nahe, allerdings ist mein Vater nicht der berührungsfreudigste Typ Mensch.

„Setz dich.“ Sein Ton klingt geschäftlich. Ich unterdrücke ein Seufzen und nehme vor dem Schreibtisch Platz. Ohne Umschweife kommt er zur Sache. „Also, weswegen ich mit dir unter vier Augen sprechen wollte: Trotz der gesundheitlichen Schritte, die ich in den letzten Monaten eingeleitet habe, sind meine Blutwerte weiter in den Keller gerutscht. Mein Arzt ist alles andere als zufrieden und hat mir dringend geraten, noch kürzer zu treten.“ Noch kürzer? Was heißt denn das? Er ist sowieso nur noch jeden zweiten oder dritten Tag da. „Deshalb möchte ich in den kommenden Wochen den Konzern in deine fähigen Hände legen.“ Bähm! Ist das sein Ernst? Das ist nicht die Ansprache, die ich erwartet habe. Wenn mir nicht gerade die Luft wegbleiben würde, hätte ich, ob der Offenbarung, lauthals losgelacht. Fähige Hände? Mein Vater greift über den Schreibtisch und tätschelt meinen Unterarm. „Ich habe Vertrauen in dich, Kilian! Du bist mein Sohn. Ein Stürmer. Als ich in deinem Alter war, hatte ich längst das Ruder in der Hand. Du hast das letzte Jahr an meiner Seite gut gemeistert, auch, wenn ich anfänglich deiner Stellung im Betrieb wirklich kritisch entgegen gesehen habe. Aber ich habe dich beobachtet und muss sagen, du hast dich wirklich gemacht.“ Meine Augen werden immer größer. „Auch wenn ich zugeben muss, dass die Zusammenarbeit mit unserem Steuerberater besser laufen könnte, aber auch diese wirst du mit der Zeit meistern.“ Ah, da ist sie endlich, die Rüge, die ich erwartet hatte.

Ich räuspere mich, weiß nicht, was ich darauf erwidern soll. „Du ziehst dich ganz zurück? Schon in den nächsten Wochen?“, vergewissere ich mich. „Ich weiß nicht, ob … wie …“

„Immer mit der Ruhe. Wir werden auch das gemeinsam angehen. Die Belegschaft möchte ich in den nächsten Tagen informieren und dafür sorgen, dass die Übergabe möglichst reibungslos abläuft. Daher werde ich im Hintergrund weiter als Berater zur Verfügung stehen, aber ich werde dir die Geschäftsführung übertragen. Du hast erfahrene Mitarbeiter an deiner Seite. Zudem eine renommierte Steuerkanzlei, die dich unterstützt. Ich bin mir sicher, dass du das hinbekommst.“

Ich schaue ihn das erste Mal seit Wochen bewusst an. Sein Gesicht ist bleicher als sonst und seine Wangen wirken ein bisschen eingefallen. Mein Vater sieht tatsächlich nicht gesund aus und plötzlich drückt mein Gewissen, lockert meine Zunge. „Ich werde mein Bestes geben.“ Was soll ich in Anbetracht der Dinge sonst sagen? Meine Antwortmöglichkeiten sind eingeschränkt. Vor allem kann ich ihn nicht hängen lassen. Ich liebe ihn. Er hat immer alles für mich getan und seltsamerweise glaubt er an mich, das rechne ich ihm hoch an und macht mich auch ein bisschen stolz. Ich bin mir allerdings nicht so sicher, ob ich dieser Aufgabe tatsächlich schon gewachsen bin. Vermutlich sollte ich mein Wissen aktivieren und mich besser konzentrieren. Scheiße aber auch! Und so eine Nachricht an meinem Geburtstag! Damit hat er mich gerade eiskalt erwischt. Hoffentlich bereut es mein Vater nicht und sucht sich in wenigen Monaten einen fähigen Nachfolger. Herzlichen Glückwunsch zum einunddreißigsten – hiermit beginnt der Ernst des Lebens. Partys und Spaß vorbei? Ich hoffe ja nicht.

Für heute Nacht hat mir Wolfi eine Überraschung versprochen. ‚Was Spezielles‘, lauteten seine Worte. Mit einem Mal kann ich es kaum mehr erwarten, herauszufinden, was er für mich geplant hat. Für ein paar Stunden raus aus der Verantwortung und rein ins Vergnügen. Nach den ganzen Hiobsbotschaften des Abends erst recht.

 

~~~

 

„Kilian, hier drüben.“ Es dauert einen Moment, bis ich Wolfi durch den Wasserdampf erkenne und auf ihn zugehe. „Schön, dass du es geschafft hast.“ Ein wenig spöttisch grinst er mir entgegen und fährt sich über sein kurz geschorenes Haar.

„Tut mir leid, das Familiendinner hat länger gedauert als geplant.“ Wir begrüßen uns mit unserem üblichen Faustabschlag.

Er lacht auf. „Dass du dich da so hineindrängen lässt.“

„Manchmal hab ich keine Wahl.“ Wenn er wüsste, wie oft das der Fall ist. Ich setze mich neben ihn auf die Bank, öffne das Handtuch und lasse die Beine auseinanderfallen. Geil! Endlich bin ich in meiner Welt und kann meinen Geburtstag gebührend genießen. „Die Sauna war also dein spezieller Plan?“

Wolfi wirft ungeniert einen Blick zwischen meine Oberschenkel. Soll er sich doch an dem Anblick erfreuen, heute ist mir alles egal. „Ist der denn nach dem ganzen Familientrubel überhaupt noch in Stimmung?“

„Na hör mal, der schafft es von null auf hundert in fünf Sekunden.“

„Angeber.“ Er knufft mir in die Seite.

„Also die Phoenix war dein Plan?“ Ich wiederhole meine Frage und schaue dabei ebenso hemmungslos an ihm herab. Er hat einen heißen Körper, viele gut proportionierte Muskeln und einen schönen, leicht nach links gebogenen Schwanz, der halbsteif zwischen seinen Beinen liegt. Gerade greift er danach und lässt ihn durch seine Finger gleiten. Netter Anblick. Sofort reagiert mein bestes Stück darauf.

„Nicht ganz.“ Er erklärt sich nicht weiter und meine Neugier steigt.

„Willst du mir als Geburtstagsgeschenk deinen Arsch hinhalten?“

„Hättest du wohl gern.“

Ich stimme in sein dreckiges Lachen ein. Wenn Wolfi und ich uns in einer Sache einig sind, dann darin, dass wir in der Hinsicht nicht kompatibel sind. „Warte es einfach ab. Relax. Ich bin mir sicher, es wird dir gefallen.“

Ich versuche, seinem Rat zu folgen und schließe die Augen. Das lustvolle Stöhnen der anderen Männer erfüllt den Raum, ebenso wie das Aneinanderklatschen von Körpern. Beides Dinge, die mich normalerweise anmachen. Aber nicht heute. Anstatt der ersehnten Entspannung und dem wohlbekannten Ziehen in meinem Unterleib, tauchen David und Henry in meinen Gedanken auf. Die Neuigkeit, dass die beiden eine gemeinsame Wohnung gekauft haben, lässt mir keine Ruhe. Ich reiße die Augen auf und fange ohne lange darüber nachzudenken an, vor Wolfi auszupacken. Vielleicht hilft es. „David und Henry ziehen zusammen.“

„Oh Mann, Kilian!“ Vorwurfsvoll und ein wenig belustigt sieht er mich an. „Du willst das hier besprechen?“ Er macht eine ausladende Handbewegung in den Raum.

„Ich habe heute erfahren, dass die zwei sich hier in Düsseldorf ein Loft gekauft haben“, erzähle ich weiter und ignoriere seinen Seitenhieb auf die Aktivitäten unserer Umgebung.

„Es war klar, dass sie früher oder später zusammenziehen. Überrascht dich das wirklich?“

„Na ja …“ Ich zucke hilflos mit den Schultern. Wolfi hat recht. Eine Überraschung ist es tatsächlich nicht.

„Dann ist es ja gut, dass wir heute Abend hier sind. Lass die zwei hinter dir!“ Er lehnt sich an mich, seine verschwitzte Haut trifft auf meine, sein heißer Atem streift mein Ohr und ich erschauere. „Weißt du was? Heute Nacht werde ich dafür sorgen, dass du sie endlich vergisst.“ Seine Hand gleitet über meinen Bauch, verweilt für einen Moment frech auf meinem Schwanz. Es ist das erste Mal, dass er mich dort berührt und ich lache atemlos auf. „Hey? Was soll das? Finger weg. Glaub ja nicht, dass du an meinen Arsch rankommst.“

„Hatte ich nicht vor“, raunt er. „Entspann dich. Unser Date sollte jeden Moment da sein.“

„Date?“, flüstere ich heiser, lasse mich auf seine Stimmung ein und fühle die vertraute Lust aufsteigen. Auf Sex. Auf Befriedigung. Wolfi und meine Freundschaft wird das aushalten.

„Ja. Ein Date für unsere Nacht zu dritt.“

Erregung durchflutet mich vollends, als ich begreife. „Du meinst …?“

Wolfi lässt seine Hand über meinen Oberschenkel wandern, langsam, aufreizend, während er weiterspricht. „Ja. Ich möchte, dass du diese verfluchte Nacht mit Henry und David sowie diesen Sommer endlich hinter dir lassen kannst. Du hast in den letzten Wochen des Öfteren über diesen Wunsch gesprochen. Heute Nacht geht er in Erfüllung.“

„Hier?“, krächze ich wie durch einen Nebel. Inzwischen hat sich all mein Blut in tiefere Regionen verabschiedet.

„Ja hier, im Keller. Ich habe uns ein Spielzimmer reserviert, wo wir unseren Spaß haben können und wenn es uns allen gefällt, lässt sich Luis eventuell noch breitschlagen, mit uns zu gehen.“

„Luis?“ Mit rasendem Puls blinzle ich ihn an. „Bezahlst du den dafür?“

Wolfi lacht auf, wirkt auch schon etwas atemlos. „Nein, er trainiert bei mir im Studio. Irgendwann haben wir uns mal über einen Dreier unterhalten. Glaub mir, er passt perfekt zu uns.“ Seine Lippen streifen mein Kinn. „Wir lassen ihn immer schön zwischen uns.“ Er scheint sich wie ich keine Sorgen zu machen, dass unsere Freundschaft darunter leiden könnte, also lehne ich meinen Kopf an die Wand und lasse mich von ihm berühren. Es fühlt sich viel zu gut an, um es abzubrechen. Vor allem da kein anderes Gefühl in mir hochkommt außer reiner Lust. Nicht so wie damals …

„Hallo Jakob.“ Ich schrecke aus meinen Gedanken, als Wolfi auf die Stimme reagiert und blicke auf. Ich brauche einen Moment länger, bis es bei mir klick macht. Jakob Wolf. Ich kannte bisher niemanden, der Wolfi nicht mit seinem Spitznamen anspricht. Interessiert starre ich den Typen an, der durch den Wassernebel vor uns auftaucht und uns breit anlächelt. So zielsicher wie er uns ansteuert, muss das wohl Luis sein. Sein Handtuch schwingt er lässig über die linke Schulter, als er vor uns stehen bleibt. Sein Blick wandert über meinen Körper zwischen meine Beine. Bleibt an meinem Schwanz hängen. Er beißt sich auf die Unterlippe, scheint das Bild zu genießen. Ich mustere ihn unverhohlen und mir gefällt, was ich sehe. Seine Körpermitte liegt perfekt in meiner Augenhöhe und ist schon mal nicht zu verachten. Weckt Vorfreude auf seine Kehrseite. Er ist schlank und sehnig, an den richtigen Stellen rasiert. „Wie ich sehe, wärmt ihr euch bereits auf“, erklärt er ohne falsche Scham und hält mir seine Rechte hin, während er mit seiner Linken eine pechschwarze Haarsträhne aus dem Gesicht streicht. „Du musst Kilian sein. Ich bin Luis.“

„Hi Luis.“ Anstatt einzuschlagen, ergreife ich sein Handgelenk und ziehe ihn mit einem Ruck heran. Er wirkt einen Moment überrascht, doch dann grinst er. Wolfi lässt mich los und Luis landet auf meinem Schoß. Meine Erektion reibt an seinem Oberschenkel. Augenblicklich lasse ich meine Hände über seinen Körper wandern. Er fühlt sich gut an. Luis streicht mit seinen Fingerkuppen über meinen Arm, hinauf zu meiner Schulter, kitzelt mich am Hals. „Jakob, du scheinst nicht zu viel versprochen zu haben“, flüstert er und beugt sich zu Wolfi. Die beiden fangen an, sich zu küssen, langsam, sinnlich, nur wenige Zentimeter von meinem Gesicht entfernt. Ihre Zungenspitzen umtanzen einander und ich genieße das reizvolle Schauspiel, das sie mir bieten. Luis greift in meinen Nacken, zieht mich näher. „Komm schon, du auch.“ Seine Lippen legen sich auf meine. Ich mag die Forschheit, die er an den Tag legt. Kein langes Geplänkel, keine unnötigen Worte. Wir alle drei wissen, was wir in dieser Nacht wollen. Sex ohne Hintergedanken, nicht so wie bei meinem letzten Versuch eines Dreiers. Als Wolfi uns wenig später auffordert, in den Keller zu gehen, verbanne ich endgültig alle Vergleiche und die Unannehmlichkeiten der letzten Stunden aus meinem Bewusstsein. Weiß ich doch, dass in ein paar Wochen sowieso alles anders sein wird. Als Geschäftsführer des Stürmer-Konzerns werde ich kaum noch Zeit für solche Abenteuer haben.

Kapitel 2 Nico

 

Kapitel 2

Nico

 

Der Beat des Clubs dröhnt immer noch in meinen Ohren und verwandelt sich kontinuierlich in ein grässliches Rauschen, obwohl wir bereits auf dem Heimweg sind. Einerseits fühle ich mich aufgeputscht bis in die Haarspitzen, andererseits könnte ich sofort auf dem Beifahrersitz einschlafen. Die Nacht einläuten, anstatt den Tag zu beginnen. Ein Freitag, ein stinknormaler Wochentag.

Es ist halb sieben morgens und die Straßen bereits stark befahren. Besser gesagt: Der dichte Verkehr in der Innenstadt stockt, denn ganz Düsseldorf ist in den letzten Stunden überraschenderweise mit einer Schneeschicht überzogen worden und es schneit noch immer dichte, dicke Flocken. Mitte November hat noch niemand mit einem so starken Wintereinbruch gerechnet. Je tiefer wir in die Wohnsiedlung hineinfahren, umso lauter knirscht der noch nicht zu Matsch gefahrene Schnee unter den Autoreifen.

„Hey Kleiner, wir sind da.“ Jörn rüttelt mich unsanft an der Schulter und ich schrecke auf. Mir sind tatsächlich auf den letzten Metern die Augen zugefallen.

„Nenn mich nicht immer so.“ Dieses beschissene Kosewort haftet warum auch immer an mir. Ich könnte wetten, ich bin sogar größer als Jörn.

Der lacht, streicht mir fest über den Oberschenkel. „Aber einen geilen, kleinen Hintern hast du. Und jetzt raus mit dir und heim zu Daddy. Sei froh, dass ich heute gut gelaunt bin und Taxi für dich spiele.“

Arsch! Entrüstet schlage ich seine Hand weg und ziehe die Augenbrauen zusammen. „Du kannst mich mal. Bist ja nur so gut gelaunt, weil du einen wegstecken durftest.“ Und ich hab’s genossen. Das war ein megageiler Fick. Hat meine Stimmung, die seit einigen Wochen auf dem Tiefpunkt ist, sofort angehoben. „Danke fürs Mitnehmen. Wir sehen uns.“

Ich habe den Türgriff bereits in der Hand, doch Jörn hält mich zurück. „Ich bin heute Abend wieder im Club. Hab mich mit ein paar Leuten verabredet. Wir wollen mal wieder anständig feiern.“ Mit der Zunge stößt er in seine Wange und grinst dabei. Feiern, aha! Jörns Vorstellung von Feiern eben. So wie die letzten Stunden. Hemmungsloser, versauter Sex bis der Arsch brennt oder der Schwanz nicht mehr stehen kann. Oder beides. Und mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Mit einer weiteren Einlage wie in dieser Nacht überstehe ich wenigstens die nächste Woche.

„Komm einfach vorbei, das wird ’ne Megaparty.“

Das glaube ich sofort. Und doch … „Mal sehen.“ Ich bin überhaupt nicht in Stimmung, Pläne für die kommende Nacht zu machen. Unbestimmt schüttle ich daher den Kopf. Versprechen werde ich gar nichts. Jörn ist zwar gut, generell bevorzuge ich allerdings die Variante Mann, die mir größentechnisch überlegen ist.

Nur mit Mühe kann ich die Augen offenhalten. Alles Adrenalin ist schlagartig aufgebraucht. „Erst mal ’ne Mütze voll Schlaf.“ Ich sehe zum Haus meines Vaters und kann mich nicht aufraffen, endlich auszusteigen. In der Küche brennt bereits Licht, für Stefan beginnt ein Arbeitstag. Und dass ich erst jetzt heimkomme, wird kaum auf Verständnis von seiner Seite stoßen. Ich habe übertrieben, keinen Gedanken an die Uhrzeit verschwendet. Die Stimmung im Club war irre gut. Wer denkt da schon ans Heimgehen? Ich sicherlich nicht. Wozu auch?

„Daddy wartet“, dringt Jörns Stimme in mein Bewusstsein. „Jetzt kannst du dich in dein Kinderzimmer legen und deinen süßen Arsch gesund pflegen.“

Jetzt, wo er es sagt, spüre ich tatsächlich jeden Muskel im Körper. Verdammt geiles Gefühl. Ich brumme etwas Unverständliches und schnappe meine zerknautschte Jacke aus dem Fußraum. Kaum, dass mir die Winterluft entgegenschlägt und die Flocken vor meinem Gesicht wirbeln, schwimmt mir der Kopf. Fies kalt ist es zudem.

„Ey du Arsch, du kannst wenigstens zumachen“, ruft Jörn hinter mir her, doch ich bin schon auf dem Weg zum Hauseingang und zeige ihm dem Mittelfinger über meine Schulter hinweg. Scheppernd wird die Autotür hinter mir zugezogen und die im Schnee durchdrehenden Reifen zeugen von Jörns Ärger. Nichts im Vergleich dazu, was mich gleich erwarten wird.

Es dauert, bis ich den Schlüssel im Schloss herumgedreht und die schwere Tür aufgestoßen habe. Wärme empfängt mich, sowie das mahlende Geräusch des Kaffeevollautomaten und das Klappern von Porzellan. Meine Schritte sind schwer, ich schaffe es kaum, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Immer wieder schließe ich die Augen und atme tief durch, um mich für die nächsten Sekunden zu wappnen.

„Auch schon da?“ Die Stimme meines Vaters klingt aus der angrenzenden Küche in den Flur und ich beiße mir fest auf die Unterlippe. Gern wäre ich an ihm vorbei, die Treppe nach oben geschlichen. „Vergiss es, Nico. Setz dich. Wenn du die Nächte durchfeiern kannst, dann kannst du auch deinem Job nachgehen. Was denkst du dir eigentlich dabei? Du hast eine Arbeitspflicht zu erfüllen. Willst du dir eine Abmahnung einfangen?“

„Fuck.“ Wie bestellt und nicht abgeholt, bleibe ich im Türrahmen stehen.

Stefan sitzt am Esstisch, hat die Zeitung neben sich aufgeschlagen, einen frischen Kaffee vor sich stehen und mustert mich unverhohlen. Zielten die wertenden Blicke der Männer in dieser Nacht ausschließlich darauf ab, meinen Körper abzuchecken, macht mich der taxierende meines Vaters einfach nur nervös und klein und nagt an meinem Gewissen.

„Nette Begrüßung. Kaffee?“ Der Zorn klingt mäßig in seinen Worten mit und er deutet auf den Stuhl ihm gegenüber. „Setz dich. Und dann erzähl mir, wie du heute noch zur Arbeit kommen möchtest. Ich bin mächtig gespannt.“

Vorsichtig lasse ich mich auf der gepolsterten Fläche nieder und vergrabe das Gesicht in den Händen. Das Rauschen in meinen Ohren wird immer lauter. Ich habe das Gefühl, der Bass wummert nach wie vor in mir.

„Ich fahre gleich ins Büro.“ Stefan rückt vom Tisch ab, holt eine weitere Tasse aus dem Schrank und zieht einen Kaffee. „Nico, kannst du mich bitte ansehen, wenn ich mit dir rede.“

„Fuck“, flüstere ich noch einmal und reibe fest über meine brennenden Augen.

„Du siehst aus wie der wandelnde Tod. Du übertreibst es maßlos. Reicht es nicht, dass du dir die Wochenenden um die Ohren schlägst? Musst du jetzt auch noch unter der Woche ausgehen? Du setzt deine Lehrstelle aufs Spiel.“

„Ich bin einfach nur müde. Könntest mich ja auch schlafen gehen lassen, anstatt mich aufzuhalten. Hab heute Urlaub.“ Und die nächste Woche auch. Und die Woche drauf sowieso … Freizeit ohne Ende.

„Urlaub? Davon weiß ich gar nichts.“

„Weil’s dich nichts angeht. Wird das jetzt wieder eine deiner beschissenen Fragestunden?“ Endlich schaffe ich es, die Augen dem Küchenlicht auszusetzen und blinzle zu meinem Vater auf. Verbissen presst er die Lippen aufeinander, gibt drei Löffel Zucker und einen Schuss Milch in den Kaffee, rührt ihn um und schiebt ihn mir zwischen die Hände.

„Nein“, sagt er leise. „Den Zeitpunkt, dich zu erziehen, habe ich leider verpasst. Aber ich hoffe dennoch, dich etwas lenken zu können. Ich habe Angst um dich, Nico. Verstehst du das nicht? Du gibst dich mit merkwürdigen Typen ab und ich habe keine Ahnung, wo du dich überhaupt herumtreibst. Nächtelang bist du verschwunden und nicht erreichbar.“

„Ich bin volljährig. Außerdem willst du nicht wirklich wissen, mit wem ich abhänge. Könntest ja auch einfach anrufen, wenn du mir hinterherspionieren willst.“

„Habe ich. Heute Nacht um vier! Weil ich mir Sorgen um dich gemacht habe und mal wieder nicht schlafen konnte.“

Fuck! Ist nicht wahr. Mit kraftlosen Fingern zerre ich mein Handy aus der hinteren Hosentasche und starre auf den Bildschirm. Er ist schwarz. Auch das mehrmalige Antippen der Powertaste hilft nichts. Akku leer. Stefan schnaubt und ich blicke schuldbewusst auf die Tasse vor mir.

„Sorry. Hab’s nicht gehört.“ Dabei wissen wir beide, dass das keinen Unterschied gemacht hätte. Ich koste meine Rechte voll aus, meine Pflichten hingegen vernachlässige ich sträflich.

„Oder nicht hören wollen?“

„Ist doch eh egal“, rede ich mich heraus und muss mich schwer beherrschen, meinen Kopf nicht auf der Tischplatte abzulegen.

„Da irrst du dich aber gewaltig!“, murrt er mich an. „Nico, verdammt. Dein Verhalten wird immer zügelloser.“ Die Fragestunde ist wohl beendet, jetzt beginnt die Moralpredigt. „Was versprichst du dir davon, wenn du dich von x-beliebigen Typen benutzen lässt? Wer war das eben? Wer hat dich abgesetzt? Ist das ein Bekannter von dir? Stell ihn mir mal vor.“

„Im Leben nicht. Das war irgendwer.“

„Ja, das dachte ich mir. Letzte Woche war es ein klappernder Kleinwagen, heute eine aufgemotzte C-Klasse. Soll ich dir weitere Wagen aufzählen, aus denen du vor unserem Haus ausgestiegen bist? Immer andere. Es reicht ja nicht, dass Hinz und Kunz mittlerweile unsere Adresse kennen, du hast wirklich keine Scheu, jeden an dich heranzulassen.“

„Kann dir doch egal sein. Oder geht es dir etwa um deinen beschissenen Ruf? Hast du Angst, sie fackeln dir die Hütte unterm Arsch ab, weil dein aus der Spur geratener Sohn ’ne offene Rechnung mit irgendjemandem nicht begleichen kann? Ich kann dich beruhigen, das wird nicht passieren. Die sind allesamt umgänglich.“

Die Tasse meines Vaters landet lautstark auf dem Küchentisch. Wütend funkelt er mich an und ich weiß, dass ich zu weit gegangen bin. Stefan hingegen hat seine Stimme erstaunlicherweise im Griff. „Nico, immer die gleiche Leier? Du ruinierst dir deine Zukunft. Dein Sommerzeugnis war ehrlich gesagt bescheiden. Kannst du mir und dir nicht wenigstens den Gefallen tun, dich in das letzte Jahr deiner Ausbildung reinzuknien, statt jedem, der dir über den Weg läuft, deinen Hintern hinzuhalten? Das ist doch nicht normal.“

Ich spüre, wie ich rot werde. Meinen Vater so ungefiltert reden zu hören, ist peinlich. „Um was geht’s hier eigentlich? Normalität? Was soll das sein?“ Ich kneife die Augen zusammen, um von meiner Verlegenheit abzulenken. „Ist es dem Herrn Steuerberater wichtig, einen Vorzeigesohn zu haben, der seine Ausbildung mit Bravour beendet oder schämst du dich, dass ich mich ficken lasse? Das eine interessiert mich ’nen Scheiß und das andere find ich geil. Und ich werde den Teufel tun, etwas daran zu ändern, nur weil du ein Problem mit mir und meinem Leben hast. Reicht schon, dass du mich im Queenz überwachen lässt. Mittlerweile meide ich mein Stammlokal, hast du also hervorragend hingekriegt.“

Stefans Haltung verliert sich, seine Schultern sacken nach unten. Betrübt starrt er in seinen Kaffeebecher wie ich kurz zuvor.

„Wieso bist du so stur? Du bist doch ein kluger, junger Mann und hast hier sämtliche Freiheiten. Dafür erwarte ich aber, dass du deine Berufsausbildung ordentlich abschließt und deine Feierei auf die Wochenenden beschränkst. Auch, wenn du Urlaub hast. Dank David habe ich verstanden, dass du den Kontakt zur schwulen Szene brauchst und ich will ihn dir nicht verbieten, was ich sowieso nicht kann. Aber du brauchst Freunde, Nico, keine Typen, die dich nur wegen des Sex mögen. Vor allem wäre es an der Zeit, dass du Gleichaltrige kennenlernst. Die, die dich hier regelmäßig absetzen, sind wesentlich älter als du.“

„Ich brauch keine Freunde, vor allem keine in meinem Alter. Mit denen kann ich nichts anfangen. Außerdem hast du auch keine und kommst gut ohne aus. Also hör auf mit diesem Mist. Dein Gerede geht mir am Arsch vorbei, ehrlich.“

„Es geht um dich!“

„Ja, super. Wie immer … Du klingst wie ’ne frustrierte Hausfrau. Schöner Scheiß, dass David es dir nicht mehr besorgt, was?“

Stefan seufzt, einzig seine Finger, die sich fest um die Kaffeetasse winden, zeugen von seiner Anspannung. Sekundenlang ist es still, bis er nach einem Brötchen greift, es aufschneidet und mit Butter beschmiert und sich die Zeitung wieder heranzieht. Mein Gewissen meldet sich überlaut. Dröhnt mit dem Rauschen des nachhallenden Beats in meinem Kopf. Ich hab’s verbockt. Wie konnte mir das nur herausrutschen?

Beschämt blicke ich immer wieder zu meinem Vater, der mir keinerlei Beachtung mehr schenkt. Dabei mag ich ihn. Er hat mich vor einem Jahr hier aufgenommen, ohne Fragen zu stellen. Mir fehlt es an nichts. An gar nichts. Nicht einmal an Aufmerksamkeit. Stundenlang könnte ich seine Zeit in Anspruch nehmen, ohne dafür ein genervtes „Jetzt nicht!“ zu erhalten. Und wie danke ich es ihm? Ich schlage um mich und verletze ihn.

Nachdenklich sieht er aus. Immer eigentlich. Dabei hat er ein wunderbares Lachen. Und ein unglaublich attraktives Gesicht. Ich habe viel von ihm geerbt und sollte stolz darauf sein, stattdessen mache ich uns das Zusammenleben schwer.

Lustlos schmiere ich mir ein Nutellabrötchen, obwohl ich gar keinen Appetit habe. Die Stille macht mich wahnsinnig, immer unruhiger rutsche ich auf meinem Stuhl herum. Mein Vater ist fertig, legt die Zeitung zusammen und wirft sie in den Papiermüll. „Ich muss jetzt los“, lässt er mich wissen und bleibt auf der Schwelle zum Flur stehen, sieht zu mir zurück. „Iss das Brötchen bitte, wenn du es dir schon schmierst. Du bist dünn geworden. Sehen wir uns heute Abend?“

Ich schlucke geräuschvoll den kleinen Bissen herunter und lasse meine Hand sinken. Bin ich zu Hause? Mein Kopf verneint die Frage, noch bevor ich zu Ende gedacht habe.

„Gut. Dann bis morgen. Im Büro wird es spät.“ Er klopft mit den Fingern gegen den Türrahmen, seufzt abermals. „Du weißt, dass du jederzeit zu David und Henry gehen kannst, wenn dir etwas auf der Seele brennt, worüber du nicht mit mir reden möchtest?“

Ich nicke verhalten. Lieber wäre mir David als Top gewesen, aber in diesen Genuss werde ich vermutlich nicht mehr kommen. Dennoch, er und Henry sind schwer in Ordnung. Und irgendwie, auch wenn ich es ungern zugebe, passen sie gut zusammen. „Dein Verflossener ruft mich regelmäßig an und erkundigt sich nach meinem werten Befinden. Mach dir also keine Gedanken, ich werde nach wie vor von allen Seiten beaufsichtigt.“

Missbilligend schnalzt Stefan mit der Zunge und verlässt das Haus. Lässt mich in dieser bedrückenden Stimmung zurück. Holy fucking shit. Ich mache alles kaputt. Kann ich nicht einmal mein Maul halten? Ein Wunder, dass er mich noch nicht vor die Tür gesetzt hat. Zudem wird das Hämmern in meinem Schädel immer penetranter. Verzweifelt fahre ich mir durchs Haar, falte meine Hände im Nacken und übe Druck aus. So lässt es sich aushalten. Einatmen, ausatmen. Die Müdigkeit kommt mit voller Wucht zurück. Ich lasse mein Frühstück stehen, schlurfe in den ersten Stock und falle samt Klamotten ins Bett. Schlafen.

 

~~~

 

Ich lausche auf die Geräusche im Erdgeschoss des Hauses und verziehe den Mund. Stefan ist gerade von der Arbeit gekommen. Eigentlich habe ich keine Lust, ihm jetzt zu begegnen und könnte mir in den Hintern treten, weil ich den ganzen Tag geschlafen habe. Ich betrachte mich im Badezimmerspiegel und meine Laune sinkt noch weiter. Fit sehe ich nicht aus. Müde bin ich aber auch nicht mehr. Und eigentlich habe ich keine Lust, auf die Piste zu gehen. Dennoch werde ich losziehen. Schon allein aus Trotz. Ich fahre mir ein letztes Mal durch mein mit etwas Gel in Form gebrachtes Haar und überprüfe den Sitz des engen Netzshirts.

Stefans Haustürschlüssel landet klimpernd auf der Ablage, er streift seine Schuhe ab, anschließend stellt er die Aktentasche in den Schrank links des Flurs. Alles, was meinen Vater ausmacht, ist mir seit Monaten vertraut und doch habe ich das Gefühl, wir kennen uns immer noch nicht.

Ich schiele zu dem kleinen Digitalwecker auf der Ablage vor dem Spiegel und verdrehe die Augen. Kein Wunder, dass Stefan keine Freunde hat. Es ist Freitagabend, einundzwanzig Uhr. Fuck, wie kann man sich nur freiwillig dermaßen tief in die Arbeit knien? Das werde ich nie verstehen.

Laut polternd stürme ich nach unten und grinse bei seinem erschrockenen Gesichtsausdruck. Natürlich hat er nicht damit gerechnet, mich noch anzutreffen. „’n Abend und Tschüss.“ Ich greife nach meiner Jeansjacke und reiße die Tür auf. Nur weg hier, bevor er das Gespräch vom Morgen wieder aufnimmt.

„Nico!“

Wie elektrisiert bleibe ich stehen, tanzende Schneeflocken wirbeln herein und verwandeln sich beim Aufkommen auf die Fliesen in winzige Wasserperlen. Fragend blicke ich über meine Schulter.

„Wo gehst du hin?“

„Da gibt es einen abgefahrenen Gay-Club, etwas außerhalb. Nahe des Industriegebietes. Kennst du den?“

Stefan schüttelt den Kopf. „Ich reiße mich auch nicht darum, mich in solchen Läden aufzuhalten. Wann kommst du zurück?“

„Wie lange darf ich denn?“ Eine rein rhetorische Frage, die uns zeitgleich ein Lächeln ins Gesicht zaubert.

„Handyakku wieder aufgeladen?“

„Yes, Sir.“

„Spinner. Meldest du dich, wenn es sehr spät wird? Oder früh, wie man es nimmt.“

Ich hole tief Luft, spare mir die Antwort und Stefan nickt. „Okay. Ich werde dich anrufen. Wie immer. Und du wirst nicht rangehen, auch wie immer. Aber mehr kann ich nicht tun. Lasse ich es sein, habe ich ein schlechtes Gefühl.“

„Sobald ich deinen Anruf gesehen habe, schicke ich dir eine Nachricht. Deal?“

Das Lächeln erscheint wieder, väterlich klopft mir Stefan auf die Schulter. „Siehst du, wenn wir uns Mühe geben, wird das mit uns sicher noch was.“


 

Kapitel 3 Kilian

 

Kapitel 3

Kilian

 

Ich lasse meinen Blick über die sich bewegenden Männer schweifen und wippe dabei automatisch mit meinem Fuß im Takt zum Beat. Die Stimmung ist geil und mein Kopfkino wird davon angeheizt. Vielleicht kann ich mir doch noch einen Kerl mit nach Hause nehmen. Der Braunhaarige dort hinten vielleicht? Oder der mit dem dunkelblauen T-Shirt?

Wolfi stupst mich an und ich reiße meinen Blick von der Tanzfläche los. „Soll ich dir auch noch ein Bier mitbringen?“, brüllt er mir ins Ohr, doch die Lautstärke verschluckt trotzdem beinahe seine Frage. Ich begutachte meine Flasche, sie ist noch halb voll, und riskiere dabei einen Blick auf meine Uhr. Ich hätte es lassen sollen. Es ist wesentlich später, als ich dachte. Ein weiteres Bier sollte ich mir besser verkneifen und die Vorstellung eines Kerls in meinem Bett ebenso.

Ich schüttle den Kopf. „Heute nicht mehr. Ich muss gleich los. Hab morgen wieder einiges im Büro zu tun.“ Inzwischen ist es meine Firma. Der Gedanke erfüllt mich seit dem Gespräch mit meinem Vater mit Stolz … und Angst. Hoffentlich verkack ich’s nicht. Es fühlt sich immer noch unwirklich an, dass mein Vater die Geschäftsübergabe tatsächlich vor ein paar Wochen, Anfang November, durchgezogen hat. Deswegen muss jetzt Sperrstunde für mich sein, so sehr ich es auch bedaure. Aber ich bemühe mich, früher ins Bett zu kommen, um am nächsten Tag einigermaßen fit zu sein. Mein Vater soll nicht bereuen, mir die Konzernleitung übertragen zu haben.

„Na dann, ich hole mir noch ein Bier und feiere ohne dich weiter. Bis morgen, falls wir uns nicht mehr sehen.“ Ich sehe Wolfi nach, wie er sich durch die Menge zur Bar drängelt, während ich meine Flasche leere. Noch einmal blicke ich sehnsüchtig auf die Tanzfläche. Morgen werde ich definitiv nicht auf einen Typen verzichten. Unwirsch leere ich mein Bier und schiebe mich zum Ausgang, hole mir meine Jacke an der Garderobe ab und schlüpfe hinein.

Eisige Kälte und gespenstische Ruhe empfängt mich, als ich vor die Tür trete. Es schneit mal wieder und meine Schritte werden von der weißen Schneedecke verschluckt. Ich muss ein Stück gehen, um mein Auto zu erreichen. Weit und breit ist niemand zu sehen, als ich in die Seitenstraße abbiege.

Plötzlich dringt ein kehliger Laut an mein Ohr, ein Wimmern folgt, das mir durch Mark und Bein geht. Unvermittelt klopft mein Herz bis in den Hals hinein, Adrenalin pumpt durch meinen Körper und ich blicke mich gehetzt um. Ich balle die Hand in meiner Jackentasche zur Faust. Erneut ein Aufjammern, vermischt mit wilden Verwünschungen. Ein dumpfes Klatschen folgt, als wenn jemand auf einen anderen einprügelt. Eine Schlägerei? Ohne weiter darüber nachzudenken, laufe ich an meinem Auto vorbei, peile die nächste Seitengasse an, aus der der Kampf zu kommen scheint.

„Hältst du jetzt still, verdammt!“, keucht jemand. Was ist da los? Ich renne schneller und zücke mein Handy, bereit, die Polizei zu rufen. Ein weiterer Fluch. „Scheiße, du kleine Schwuchtel. Du hast mich gebissen!“

Endlich kommt die Szene in mein Sichtfeld und ich halte für einen Moment fassungslos inne. Ein großer Typ steht über eine Motorhaube gebeugt, seine Hosen sind halb heruntergelassen. Unter ihm versucht sich, ein kleinerer Kerl mit aller Macht zu wehren. Meine Schockstarre löst sich, macht heißer Wut Platz.

Zornentbrannt brülle ich los, kann mich kaum bremsen. „Du beschissenes Arschloch! Lass ihn sofort los!“ Er zuckt zusammen und wendet sich um, starrt mich für eine Millisekunde erschrocken an, ehe er seine Jeans hochzieht und losrennt. Umgehend sprinte ich hinterher. Die Versuchung ist groß, diesem Drecksack eine reinzuhauen oder zumindest dafür zu sorgen, dass die Polizei ihn in die Finger kriegt. Ein Schluchzen lässt mich innehalten, als ich beim Opfer vorbeikomme. Halbnackt und zitternd hängt der Kerl da und stöhnt. Zumindest ist er bei Bewusstsein. Dunkle Flecken sind neben seinem Kopf im Schnee zu erkennen, die sich langsam weiter ausbreiten. Scheiße! Scheiße! Der blutet! Ich kann kaum hinsehen. Vorsichtig, um ihn nicht noch mehr zu erschrecken, berühre ich ihn an der Schulter.

„Dir kann nichts mehr passieren. Er ist weg.“ Sanft tätschle ich ihn, während ich mit der anderen Hand das Display aktiviere und vermeide, genauer auf die Blutlache zu schauen. „Hilfe wird gleich kommen. Ich rufe die Polizei und die Rettung.“

„Kilian?“ Ein heiseres Flüstern, gleich darauf folgt ein unterdrücktes Aufschluchzen. Vor Schreck fällt mir fast das Handy herunter. Ich ziehe die Augenbrauen zusammen und schaue angestrengt auf den Kerl hinunter, der sich langsam aufrichtet, gegen meine Brust sinkt und mich wie ein Ertrinkender umklammert.

Ungläubig starre ich auf das Bündel in meinen Armen, brauche einen Moment, bis in meinem Hirn tatsächlich ankommt, wen ich da festhalte. „Nico?“ Das darf doch nicht wahr sein! Jetzt heult er richtig los. Hilflos streiche ich ihm über den leicht bekleideten Rücken. Er trägt nur ein dünnes Netzshirt, seine Jeans und Unterwäsche hängen immer noch irgendwo in seinen Kniekehlen. Zudem fühlt er sich an, als hätte er im Schnee gebadet. Er ist völlig durchnässt. Und das bei Minusgraden. Eine zusammengeknautschte Jacke liegt direkt neben unseren Füßen. „Zieh dir deine Hose hoch, okay? Sonst wirst du krank.“ Es ist, als würde ich gegen eine Wand reden, er reagiert nicht, sondern fängt stattdessen an, noch stärker zu zittern. Zwischen den Schluchzern klappern seine Zähne. Anscheinend setzt der Schock gerade so richtig ein. Ich muss mich beinahe mit Gewalt aus seinem Zangengriff befreien, hilflos umschlingt er sich selbst, als ich mich bücke, um ihn wieder einigermaßen anzuziehen. Ich greife nach seiner Jacke und schnaube abfällig, die ist klatschnass und nicht zu gebrauchen. Schnell ziehe ich meine aus und wickle ihn darin ein. Erst dann nehme ich mir die Zeit, um ihn genauer zu begutachten. Blut fließt aus einer offenen Wunde direkt über seiner rechten Augenbraue und seine Lippe ist ebenfalls aufgeplatzt. Zusammen mit den Tränen, die in Sturzbächen über sein Gesicht laufen, sieht er übel aus. „Du musst versorgt werden. Ich rufe den Notarzt und deinen Vater an.“

„Nein, nicht meinen Vater, nur ja nicht meinen Vater!“ Hysterisch krächzt er los und hält mich am Arm fest, kneift mich durch den dünnen Stoff meines Shirts.

Ungläubig schüttle ich den Kopf, fühle mich völlig überfordert mit der Situation. „Ich befürchte, die Wunde an deiner Stirn muss genäht werden. Ins Krankenhaus musst du auf alle Fälle.“

Er greift sich an die Braue, zieht die Hand weg und bekommt große Augen, als er das Blut sieht. Gleich darauf reckt er das Kinn vor und sieht mich trotzig an. „Halb so wild. Was machst du denn für ein Fass auf? Ist doch nur ein Kratzer.“

„Du blutest wie Sau.“ Was ist los mit dem? Ist das der Schock? „Das muss sich ein Arzt ansehen!“

„Nein.“

„Gut, ich kann dich auch hier stehenlassen. Willst du das?“

Weitere Tränen sammeln sich in seinen Augen und er sackt ein ganzes Stück in sich zusammen. „Dann bring mich eben ins Krankenhaus. Sag nur ja nichts meinem Vater.“

Ich verkneife mir zu sagen, dass er es ihm sowieso nicht verschweigen kann. Spätestens wenn Nico ihm das nächste Mal unter die Augen tritt, wird sein Vater Bescheid wissen.

Er schnieft und wischt sich mit meinem Jackenärmel übers Gesicht, hält sich gleich darauf damit die Schläfe. Hervorragend. Die Reinigung wird ihre Freude haben. Ich gehe meine Alternativen durch. Notarzt anrufen? Oder ihn in mein Auto verfrachten und eigenhändig in die Klinik fahren? Ich entscheide mich für Letzteres, will ihn schnellstmöglich in fähigen Händen wissen. Schon wegen Herrn Temme kann ich Nico nicht allein lassen. Wenn er seinen Vater nicht hier haben will, muss ich mich wohl oder übel kümmern.

„Na komm, ab ins Krankenhaus.“ Mit diesen Worten stütze ich ihn und führe ihn zu meinem Wagen. Widerstandslos lässt er sich von mir auf den Beifahrersitz schieben, legt sofort den Kopf zurück und schließt die Augen. Seine Jeansjacke werfe ich in den Fußraum, beuge mich gleich darauf über Nico und schnalle ihn an.

„Sieh mich an! Nicht einschlafen“, brumme ich, während ich den Motor starte und die Heizung voll aufdrehe. Inzwischen ist mir saukalt und ich glaube, ich stehe auch ein wenig neben mir. Er Stöhnend öffnet er die Augen, zumindest heult er jetzt nicht mehr. Ich schnappe eine Taschentuchpackung aus der Mittelkonsole, reiße sie auf und halte einen dicken Packen vor seine Nase. „Drück das auf die Wunde, meine Jacke ist denkbar ungeeignet dafür.“ Er gehorcht wie in Trance. Immer wieder werfe ich einen misstrauischen Blick in seine Richtung, ob er mir auch ja nicht einpennt. Am liebsten möchte ich ihn mit Fragen löchern, wie er in diese Situation geraten konnte und wer dieses Arschloch war, aber sein Zustand hält mich zurück. Immerhin bleiben seine Augen brav geöffnet und er starrt vor sich hin. Mit einem Seufzer der Erleichterung parke ich das Auto vor dem Krankenhaus und helfe ihm beim Aussteigen. Seine Bewegungen sind steif und er wimmert unterdrückt. Das Adrenalin ist raus. Vermutlich hat er fiese Schmerzen.

Ohne zu zögern, steuere ich die Anmeldung mit ihm an. Im kalten Neonlicht kann ich das erste Mal das Ausmaß seiner Verletzungen sehen. Seine Lippe ist stark angeschwollen, das linke Auge blau unterlaufen und auch seine Wangen wirken, als wenn sie den einen oder anderen Schlag abbekommen hätten. Ich mag mir gar nicht ausmalen, wo ihn dieses Schwein noch überall verletzt hat. Die Wut kocht erneut in mir hoch.

Die Empfangsdame blickt uns zwar freundlich entgegen, zuckt aber nicht einmal mit der Wimper, als sie das kümmerliche Bild erfasst, das Nico abgibt. Scheint wohl was Alltägliches zu sein, dass ein Junge zusammengeschlagen in die Notaufnahme gebracht wird. Ich muss mich bremsen, sie nicht anzufahren, als sie ohne Umschweife nach der Versicherungskarte fragt. Zu meiner Genugtuung reagiert Nico nicht auf die unsensible Kuh.

„Nico, wo ist deine Versicherungskarte?“, probiere ich es.

Fragend sieht er mich einen Moment an, schüttelt benommen den Kopf und stöhnt von der minimalen Bewegung auf. „Hab keine“, nuschelt er schwerfällig. Oh Mann, echt nicht? Das kann doch gar nicht sein. Ich greife unter meine Jacke, die er immer noch trägt, und taste seine Jeans ab. Er zuckt kurz zusammen, hält dann aber still. Zum Glück werde ich schnell in seiner rechten Gesäßtasche fündig.

Ich durchwühle sein Portemonnaie, weit und breit keine Versicherungskarte. „Da ist tatsächlich keine drin.“

„Hab ich doch gesagt.“

„Keine Versicherungskarte?“ Bedauernd presst die Dame ihre Lippen aufeinander.

„Bin privat versichert.“ Ach? Hätte er das nicht gleich sagen können?

Die Empfangsdame seufzt leise auf. „Dann nennen Sie mir die Versicherung bitte. Zu unserer Sicherheit müssen hundertsechzig Euro hinterlegt werden.“ Erwartungsvoll sieht sie mich an. Mich! Das wird ja immer besser! Aber dass Nico keine Kröten in der Tasche hat, habe ich eben schon festgestellt. „Füllen sie diesen Bogen bitte im Wartebereich aus.“ Sie schiebt uns ein zweiseitiges Dokument über die Theke. „Ihre Krankenkasse?“

Nico zuckt hilflos mit den Schultern, nuschelt aber dann den Namen einer privaten Kasse und die Schwester holt tief Luft. Sie ist offenbar nicht die Geduldigste und mich nervt ihr Getue immer mehr.

„Dann bräuchte ich noch ihren Personalausweis zwecks Kopie.“

Die hat eine Arschruhe und ich könnte gerade platzen über diese verdammte Bürokratie. Ich hole Nicos Perso raus, zumindest hat er den dabei, und knalle ihn auf den Tresen. Anschließend ziehe ich zweihundert Euro aus meiner Tasche und lege sie daneben.

„Hier, bitteschön.“ Ohne Hast sucht sie das Wechselgeld aus der Kasse und beginnt, die Daten in den Computer einzuspeisen. Ich habe das Gefühl, gleich an die Decke zu gehen.

„Könnten Sie sich bitte beeilen“, fahre ich sie frustriert an und balle die Hände zu Fäusten. „Er blutet.“ Das Taschentuchpaket an der Augenbraue ist durchtränkt.

„Er verblutet schon nicht“, erklärt sie mir in scheißfreundlichem Tonfall und zwinkert dabei. Ich platze gleich. „Wie ist das passiert?“

„Kann man das nicht sehen? Er wurde zusammengeschlagen!“

„Und wo war das? Können Sie mir beschreiben, was genau passiert ist?“

„Ich habe ihn vor einem Club in der Nähe des Industriegebietes gefunden. Genaues weiß ich auch nicht. Sein Angreifer ist auf und davon, als ich aufgetaucht bin.“ Ich habe keine Lust und vor allem keine Geduld, ihr Einzelheiten zu erzählen.

„Wurde die Polizei verständigt?“

„Nein“, knurre ich.

Nico schwankt plötzlich und hält sich an mir fest. „Mir ist schwindelig und irgendwie übel“, jammert er.

Endlich scheint ein wenig mehr Leben in die blöde Tussi zu kommen. Vermutlich will sie nicht, dass er ihr über den Schalter kotzt. Ich würde es ihr aus vollem Herzen gönnen. Sie gibt mir Nicos Perso zurück und greift nach dem Telefonhörer. „Ich sage in der Ambulanz Bescheid, gehen Sie schon mal links den Flur runter in Richtung Notaufnahme. Die ist ausgeschildert. Dort nehmen sie im Warteraum Platz. Sie werden aufgerufen und dann wird sich ein Arzt um ihn kümmern.“ Sie drückt mir das Klemmbrett zum Ausfüllen und eine Nierenschale in die Hand. „Hier, falls er sich auf dem Weg übergeben muss.“ Hoffentlich nicht!

Wieder lege ich den Arm um Nico und ziehe ihn vorsichtig mit mir. Er kotzt nicht und jammert zum Glück auch nicht mehr über Übelkeit. Ich hätte mit ihm um die Wette gereihert, wenn er sich tatsächlich übergeben hätte. Ekelhaft!

Wir setzen uns in den Wartebereich, schwer lehnt er sich an mich und lässt den Arm von seiner Augenbraue sinken. Ein Teil der Taschentücher bleibt auf der Wunde kleben.

„Nicht einschlafen“, ermahne ich ihn, als ihm die Augen zufallen.

„Bin aber müde.“

„Ich weiß. Trotzdem. Schlafen darfst du später. Jetzt musst du das hier ausfüllen.“ Kurzerhand drücke ich ihm die Fragebögen in die Hand.

Nach zwanzig Minuten wird er endlich aufgerufen und ich helfe ihm beim Aufstehen. Ein Arzt kommt uns entgegen. Er wirkt bedeutend effizienter als die Schwester an der Anmeldung. „Hallo, ich bin Dr. Schubert.“ Fachmännisch begutachtet er die Verletzungen auf Nicos Gesicht. „Können Sie allein gehen?“

„Weiß nicht“, flüstert Nico angestrengt.

„Kommen Sie. Wir kümmern uns jetzt um ihre Wunden.“ Der Arzt fasst ihn am Arm und wendet sich an mich. „Sie können so lange hier draußen warten.“

„Er soll mitkommen.“ Nicos Stimme wird lauter, der panische Ton ist nicht zu überhören.

„Dann kommt Ihr Freund mit“, willigt Dr. Schubert ein. Beinahe muss ich über die Wortwahl lachen, aber die Situation ist alles andere als komisch.

Natürlich werde ich nicht gefragt, ob ich überhaupt dabei sein möchte. Ich bin mir nicht sicher, ob ich zusehen will, wie der Arzt die Nähte setzt. Zuhören, wenn Nico im Detail schildert, was ihm genau passiert ist, will ich eigentlich auch nicht. Vor allem möchte ich nicht wissen, ob er noch an anderen Stellen Verletzungen hat. Doch ich kann Nico in diesem Zustand nichts abschlagen und folge den beiden resigniert.

Im Behandlungszimmer wartet bereits eine Schwester und ich verfrachte Nico auf die Liege. Wie ein Häufchen Elend sitzt er da in meiner viel zu großen Winterjacke.

„Dann wollen wir uns das mal genauer ansehen.“ Der Arzt nimmt vor ihm Platz und entfernt die restlichen Taschentücher. Sofort beginnt die Wunde wieder stärker zu bluten und in meinem Magen wühlt es unangenehm. Ich schlucke. Im Notfall habe ich ja immer noch die Nierenschale zur Hand. „Das muss auf alle Fälle genäht werden. Am besten Sie ziehen die Jacke aus“, spricht Dr. Schubert mit ruhiger Stimme weiter und studiert mit behandschuhten Finger die Platzwunde. Er gibt der Schwester Anweisungen und wendet sich dann an mich. „Sind Sie ebenfalls verletzt?“ Verwirrt schaue ich ihn an. „Da ist Blut auf Ihrem Shirt.“ Er deutet auf meine Brust.

Ich blicke an mir hinunter und sehe einen großen Fleck auf dem Stoff. Ein weiteres Teil für die Reinigung. „Ist von ihm.“

„Okay, haben Sie noch andere Verletzungen?“, wendet er sich wieder an Nico.

„Glaub nicht.“

„Ich werde Sie jetzt genauer untersuchen und dann nähen wir die Wunde.“ Behutsam macht sich Dr. Schubert ans Werk. „Können Sie das Shirt ausziehen? Wo haben Sie denn überall Schmerzen?“

Gehorsam zerrt sich Nico das dünne Hemdchen über den Kopf. „Hier und hier tut’s weh, aber vor allem der Kopf.“ Er greift sich an die Seite und an die Rippen. Sein schmaler Körperbau und seine glatte unbehaarte Brust ziehen mich in ihren Bann. Mir gefällt das, was ich sehe. Wie er sich wohl anfühlt? Scheiße! Woher kommen diese Gedanken? Ausgerechnet jetzt, in so einer Situation! Beschämt drehe ich meinen Kopf weg, während der Arzt ihn abtastet.

„Das werden ein paar ordentliche Hämatome.“ Meine Neugier siegt. Ich schaue doch wieder hin. Dr. Schubert streicht über die Rippen. „Gebrochen scheint nichts zu sein. Das ist gut. Zur Sicherheit werden wir eine Röntgenaufnahme machen lassen. Reagieren Sie allergisch auf irgendwelche Medikamente? Oder haben Sie sonstige Allergien?“

„Nee, denke nicht.“

„Was genau ist Ihnen passiert?“

„Ich wurde von so ’nem Arsch in die Mangel genommen“, erklärt Nico abfällig.

„Aha, ein Konflikt?“, bohrt der Arzt weiter.

„Kann man so sagen.“

Ich glaube, ich höre nicht richtig. „Ich hab dich mit blankem Hintern gefunden. Du bist vergewaltigt worden, verdammt.“

Die Schwester gibt einen entsetzten Laut von sich.

„Nee, bin ich nicht“, widerspricht Nico und scheint mehr und mehr an Selbstsicherheit zu gewinnen. „Ich habe mich gewehrt.“

„Klar doch!“ Sagt er die Wahrheit?

„Ja, klar doch!“ Wütend funkelt er mich an. „Und dann bist du ja gekommen.“ Wir wissen wohl beide, dass er null Chancen gehabt hätte.

Dennoch durchflutet mich Erleichterung. Zumindest ist ihm das erspart geblieben. Ich war offenbar gerade noch rechtzeitig da, um eine Katastrophe zu verhindern. Wer weiß, auf welche Ideen das Schwein noch gekommen wäre?

„Also sind Sie nicht penetriert worden? Ganz sicher?“, mischt sich Dr. Schubert wieder ins Gespräch ein. „Ansonsten müsste ich das ebenfalls untersuchen und dokumentieren.“

„Auf keinen Fall!“ Nico schaut den Arzt entsetzt an. Plötzlich wird er ganz klein, verlegen starrt er auf seine Hände. Er ist so verdammt jung. „Ich muss da nicht untersucht werden. Kilian hat’s verhindert, lange hätte ich ihn wohl nicht mehr abhalten können“, setzt er leiser hinterher und wirft einen zurückhaltenden Blick in meine Richtung.

„Gut, dann werden wir die Wunde am Kopf jetzt versorgen und in der Röntgenabteilung Bescheid geben, dass Sie gleich dort vorbeikommen. Die Polizei wurde noch nicht eingeschaltet, vermute ich? Auf alle Fälle sollten Sie den Angreifer anzeigen. Kannten Sie ihn?“, durchlöchert Dr. Schubert ihn weiter mit Fragen und fängt an, die Wunde abzutupfen.

Nico verzieht das Gesicht. „Das brennt.“ Der Arzt macht unbeirrt weiter und Nico lässt die Prozedur ohne weitere Nörgelei über sich ergehen. „Ich hab keine Ahnung, wer das war. Hab ihn heute Abend erst getroffen. Da bringt ’ne blöde Anzeige wohl gar nichts.“

„Muss das Krankenhaus so einen Vorfall eigentlich melden?“, schalte ich mich in das Gespräch ein.

Dr. Schubert schüttelt den Kopf. „Das unterliegt der Schweigepflicht.“ Er schaut Nico an. „Aber gerade deswegen möchte ich Ihnen dringend raten, selbst eine Anzeige gegen Unbekannt zu erstatten.“ Nico murrt. Der Arzt lässt das Thema ruhen und greift nach einer Spritze. „Legen Sie sich bitte hin. Ich werde die Stelle jetzt betäuben.“

Nico schaut wenig begeistert auf die Nadel, folgt aber gehorsam der Aufforderung. Ich kneife die Augen zusammen und umklammere die Nierenschale fester, in meinem Bauch rumort es.

„Wollen Sie sich vielleicht setzen?“ Die Schwester berührt mich am Arm.

„Ja, vielleicht.“

„Ich gebe Ihnen ein Glas Wasser.“

Nico gluckst, muss ein Lachen unterdrücken. „Du hast Angst vor Spritzen?“

„Stillhalten“, brummt Dr. Schubert und Nico verstummt.

„Ein bisschen“, gebe ich zu, sinke erleichtert auf den Stuhl und trinke einen Schluck Wasser aus dem Becher, den mir die Schwester überreicht. „Mit Blut kann ich eigentlich auch nicht so gut umgehen.“ Schale und Becher landen auf dem Tisch neben mir.

Ich verschränke die Hände in meinem Nacken und schließe die Augen. Diese Nacht will einfach nicht enden. Bleierne Müdigkeit übermannt mich und ich blende die Geräusche um mich herum aus. Möchte nur einen Augenblick Ruhe. Mein Gewissen gönnt sie mir jedoch nicht. Ich sollte Nicos Vater anrufen. Er hat ein Recht darauf, zu erfahren, was seinem Sohn passiert ist und wie es ihm geht. Außerdem sollte ich dafür sorgen, dass Nico noch eine Aussage bei der Polizei macht. Aber ist das wirklich mein Problem? Warum kümmere ich mich eigentlich?

Was gäbe ich jetzt für einen doppelten Whisky, oder besser zwei oder drei, um meinen inneren Aufruhr zu ersticken – vielmehr zu ertränken. Stattdessen habe ich einen Wasserbecher und die Nierenschale für meinen nervösen Magen. Perfekt! Einfach nur perfekt!

Kapitel 4 Nico

Kapitel 4

Nico

 

Es ist immer noch eisig und ich ziehe die Schultern nach oben, als wir vor das Hauptportal des Krankenhauses treten. Lautlos wirbeln die Schneeflocken zu Boden und überdecken den grauen, hässlichen Schneematsch auf dem Vorplatz der Klinik. Kann das mal aufhören? Scheißkälte. Kilians Jacke hängt über meinen Schultern, entsprechend friert er neben mir und ich schaffe es noch nicht einmal, ein schlechtes Gewissen deswegen zu haben. Meine Hose und mein Shirt sind nämlich immer noch klamm, trotz des stundenlangen Krankenhausaufenthaltes. Zudem dreht sich alles in meinem Kopf, der Übergriff beherrscht meine Gedanken.

Im Gegensatz zum gestrigen Morgen ist es noch gespenstisch ruhig auf den Straßen. „Fast sechs.“ Kilian brummelt neben mir und fährt sich mit flacher Hand übers Gesicht. „Schlafen kann ich vergessen, in zwei Stunden muss ich in der Firma sein. Ich fahr dich jetzt heim.“

„Ich kann jetzt nicht zu meinem Vater.“ Bittend sehe ich ihn an, ziehe die Schultern noch weiter nach oben. Jeder einzelne Muskel in meinem Körper schreit auf. Ich fühle mich wie durch die Mangel gedreht. „Kilian?“

„Dein Vater“, knurrt er, „erwartet mich in wenigen Stunden im Büro. Und zwar so aufnahmefähig, dass wir mit den Vorbereitungen zum Jahresabschluss beginnen können.“

„Es tut mir leid. Bitte, tu mir das nicht an. Der lyncht mich und macht mir die Hölle heiß.“ Die Kälte dringt durch meine Schuhe, nistet sich erneut in meinem Körper ein. Ich sehe furchtbar aus. Ein riesengroßes, weißes Pflaster prangt über meinem blau angelaufenen Auge, die Lippe ist verkrustet und schmerzt, sobald ich den Mund aufmache. Ich kann nicht mehr … Dieses blöde, dumme Arschloch! Ungalant ziehe ich die Nase hoch und will über meine Augen streichen. Getrocknetes Blut und Rotze zieren den Jackenärmel. Auch das noch! „Ich kann laufen, dann … Ich meine, dann kannst du nach Hause fahren und …“

Kilian dreht mich zu sich herum und funkelt mir wütend entgegen. „Wovon träumst du nachts? Glaubst du wirklich, ich halte dir im Krankenhaus wie eine Glucke zwei Stunden lang dein Händchen, nur damit du am Ende auf einer Parkbank erfrierst? Dein Vater wird dich so oder so zu Gesicht bekommen. Was macht das für einen Unterschied, ob sofort oder später?“

Missmutig senke ich den Blick. Und jetzt?

„Ach Scheiße, Mann.“ Kilian schiebt mich wenig zimperlich weiter, öffnet die Beifahrertür und drückt mich auf den Sitz runter. Ich jammere auf, alles an mir scheint lädiert. „Ich weiß nur eins, ich will wenigstens noch eine Stunde die Augen schließen. Das geht nicht, wenn ich mit dir herumdiskutiere. Und hier stehenlassen, kann ich dich definitiv auch nicht. Ich trau nämlich deinem Urteilsvermögen nicht. Wer weiß, wo du hinläufst, wenn du jetzt allein zurückbleibst.“

„Kann dir doch egal sein.“

Sein eisiger Blick trifft mich in dem Moment, in dem er die Tür zuschlägt. Zum Glück ist das Seitenfenster zwischen uns. Gerade sieht er aus, als wolle er mir an die Gurgel gehen. Energisch stapft er um die Motorhaube herum und lässt sich schwer neben mich plumpsen. „Ich schieb deine Undankbarkeit mal auf deine völlige Übermüdung. Und jetzt kommst du erst mal mit zu mir. Das mit deinem Vater kannst du ja später noch klären, ich werde mich hüten, mich da einzumischen. Stefan Temme und ich sind nämlich keine Freunde. Und dass eines klar ist, ich schmeiß dich raus, sobald ich das Penthouse verlasse. Heißt, ich setze dich bei dir zu Hause ab, wenn ich zur Arbeit fahre. Dein Vater ist dann sicher nicht mehr da und du hast Zeit genug, dir eine Geschichte für ihn auszudenken. Und ich rate dir, lass es eine gute Geschichte sein, sonst bin ich nämlich mit dran, weil ich dich mitgenommen habe, anstatt das einzig Richtige zu tun: dich nach Hause zu bringen.“

Egal, was ich mir einfallen lasse, er wird die Wahrheit herausfinden beziehungsweise mir gar nicht erst glauben. Ich kann die Träne nicht zurückhalten, die sich aus meinem Augenwinkel mogelt. Heimlich reibe ich sie weg und sehe aus der Beifahrerseite in die Dunkelheit. Stefan wird mich hochkant rauswerfen. Nein, wird er nicht, aber … Ich hatte noch nie solche Angst ihm zu begegnen wie heute. Das ist verrückt. Und nicht mal notwendig, aber das Gefühl nistet sich in mir ein.

 

~~~

 

In dem noblen Wohnblock ist es mucksmäuschenstill, nachdem der Motor des Wagens in der Tiefgarage verstummt ist und wir schweigend nebeneinander her zum Fahrstuhl trotten. Die Türen öffnen sich sofort und wir kommen ohne Zwischenstopp im obersten Stockwerk an. Ich staune, als wir in den Flur treten. Nur zwei Türen. Holla!

„Dort wohnt meine Schwester.“ Kilian nickt in Richtung des links gelegenen Eingangs und steuert die rechte Seite an. Geräuschvoll schließt er die Tür auf, schiebt mich mit einem „Komm schon.“ vehement vor sich her. Ich stöhne leise auf. Falsche Stelle. „Sorry“, knirscht er. „Ich bin einfach nur noch müde. So ruppig wollte ich gar nicht sein. Wir machen dir jetzt erst mal die Salbe drauf, die du mitbekommen hast. Und dann gebe ich dir ein frisches Shirt von mir. Hast du Durst?“

Zielstrebig geht er zu der noblen Küchenzeile, die durch einen Tresen vom Rest des riesigen Wohnzimmers getrennt wird. Von dort schaltet er per Fernbedienung eine indirekte Beleuchtung ein, sodass der Raum in dezentes Licht getaucht wird. Ich selbst bleibe unschlüssig stehen, fühle mich augenblicklich überfordert von der Eleganz der Einrichtung. So eine Wohnung habe ich noch nie gesehen, dabei bin ich immer davon ausgegangen, mein Vater lebt extravagant. Wahnsinn, das sieht schon scheißteuer aus. Ich will gar nicht wissen …

„Schlägst du dort Wurzeln? Ich habe dich gefragt, ob du etwas trinken möchtest?“ Ich verziehe das Gesicht und zucke unter dieser minimalen Bewegung meiner Braue zusammen.

„Autsch“, murmelt Kilian und steht plötzlich vor mir. „Jetzt, wo die Betäubung nachlässt, wird es sicher ziepen.“ Freundschaftlich legt er mir den Arm um die Schultern und dirigiert mich zur Couch. „Du solltest dich hinlegen. Nimm eine von den Paracetamol und dann verarzten wir dich.“ Er wirft einen Blick nach oben, runzelt die Stirn. „Noch ist es dunkel. Aber ich werde die Oberlichter dichtmachen, dann kannst du wenigstens ein bisschen schlafen, ohne, dass du später vom Tageslicht gestört wirst.“

Er drückt mich auf die Polster nieder, gähnt und streckt sich gleich darauf. Harte Muskeln spannen den Stoff an seinem Oberkörper, ein bisschen Haut blitzt zwischen dem Saum des Shirts und dem Bund seiner Hose heraus. Ich könnte ihn berühren, ohne den Arm ausstrecken zu müssen, so dicht steht er vor mir. Wie ein Angebot. Doch im selben Moment sehe ich mich auf der Kühlerhaube des Autos liegen und presse verbittert die Lippen zusammen. Schmerz durchzuckt mich dabei, gequält sehe ich zu Kilian hoch. Er steht ganz still und starrt mich an. Ballt seine Finger immer wieder krampfhaft zur Faust und lockert sie im nächsten Moment.

„Scheiße.“ Als wolle er einen Gedanken vertreiben, schüttelt er den Kopf und drückt Daumen und Zeigefinger an der Nasenwurzel zusammen. „Du solltest aufhören, so verflucht hilfsbedürftig und gleichzeitig sexy auszusehen.“

Was? Mein Puls schnellt in die Höhe. Kilian dreht sich abrupt weg und verschwindet. Fuck! Was hat er damit gemeint? Ich seh nicht nur erbärmlich aus, ich fühl mich auch so. Wie kann er da so was sagen? Will er mich aufziehen oder lächerlich machen? Damit geht es mir gleich noch ein wenig schlechter. Mir raucht der Kopf. Arsch!

Ich lausche seinen Schritten. Es klingt, als ginge er einen langen Flur entlang, irgendwo weiter hinten öffnet er eine Tür, dann ist es still. Wenig später kommt er mit dem Handy in der Hand zurück, eifrig am Tippen, und schmeißt abwesend das versprochene T-Shirt neben mir auf die Couch. Auf dem Absatz dreht er sich wieder um und beachtet mich nicht mehr.

„Kilian?“

Er macht eine abwartende Handbewegung, verschwindet abermals in dem langen Gang. Ob er zurückkommen wird?

Meine Augen klappen zu, lenken mich vom Geschehen ab. Zähneknirschend ziehe ich mein Netzoberteil über den Kopf und betrachte die beiden Stellen, die sich langsam aber sicher violett verfärben. Groß wie Handteller sind die und vor allem verdammt schmerzhaft. Einer der Flecken zieht sich bis in meine Leiste hinein. Das war ein Volltreffer. Mit Wucht hat er mir die Faust in die Seite gerammt. Und nicht nur dahin. Wenn ich den noch mal wiedersehe …

Zum Glück konnte ich mich erfolgreich gegen Kilian behaupten, als es darum ging, eine Anzeige zu erstatten. Nicht sofort, auch nicht irgendwann. Er war mir vermutlich auch nicht böse, mit Blick auf die Uhrzeit. Nicht um alles auf der Welt werde ich aufs Revier gehen, es bringt einen Scheiß. Ich weiß nicht mal den Namen.

Gänsehaut überkommt mich und Tränen steigen mir binnen Sekunden in die Augen, hastig schlinge ich die Arme um meinen Leib, als mich ein Schauer erfasst und meinen gesamten Körper zum Beben bringt. Meine Fantasie zeigt mir Bilder meiner eigenen Vergewaltigung, die stattgefunden hätte, wäre Kilian nicht rechtzeitig vor Ort gewesen. Fuck! Fuck! Fuck! Hunderte von Warnungen hallen durch meinen Kopf. Von meinem Vater, David, Henry …

„Hey, Nico. Es ist alles gut. Hier passiert dir nichts.“ Scheiße, jetzt sieht Kilian mich schon wieder heulen wie einen Schlosshund. Reicht es nicht, dass er mich vorhin schon nackt und schluchzend aufgelesen hat? Er umfasst meine Schultern und zieht mich in seine Arme. Beruhigende Worte flüstert er mir ins Ohr, während mich meine Horrorfantasie immer weiter schüttelt. „Komm, zieh dir das frische Shirt über, ich habe dir eine Decke und ein Kissen mitgebracht. Vorher schmieren wir dir die Prellungen ein.“

Ich mag mich nicht von ihm lösen, fühle mich geborgen und sicher in seinen Armen. Und sein Geruch ist einmalig. Nicht so scharf, so alkoholschwanger und übelriechend wie der von …

Ich unterdrücke ein Würgen und zittere plötzlich wie Espenlaub. Mit sanfter Gewalt löst Kilian meinen Klammergriff und befördert die kleine Tube aus seiner Hosentasche, die mir im Krankenhaus ausgehändigt wurde. Kaum gleitet sein Blick an mir herunter, verzieht er das Gesicht. „Die Hämatome sind wirklich fies. Ich habe vorhin gar nicht so genau hingesehen.“

Automatisch streiche ich über meine Rippen und zucke gepeinigt zusammen. Dennoch wandere ich weiter, greife mir an den Rücken und vor lauter Schmerzen löst sich eine weitere Träne aus meinem Augenwinkel. „Die da hinten tut so sauweh“, wispere ich und Kilian nimmt neben mir Platz, dreht mich so, dass er meinen Rücken betrachten kann.

„Ahh! Autsch! Die Verletzung ist ja noch viel größer als die beiden vorne.“ Das ist die eine Stelle, die er nicht nur mit der Faust getroffen hat. Hier hat er mich mit seinem Knie nach unten gezwungen. Erneut würge ich, meine Machtlosigkeit ihm gegenüber wird immer deutlicher.

„Wird schon nicht so schlimm sein“, murmle ich betrübt und nehme Kilian die Salbe aus der Hand, beginne, sie auf die beiden Stellen unterhalb meiner Rippenbögen aufzutragen. Bei jeder Berührung halte ich die Luft an.

„Deine Auslegung von ,wird schon nicht so schlimm sein‘ kenne ich mittlerweile. Gib mal her.“ Er entwendet mir das Gel und gleich darauf spüre ich seine Fingerspitzen über das Mal im Lendenbereich gleiten. Dabei ist er so vorsichtig, dass meine gesamte Anspannung von mir abfällt, obwohl es dennoch schmerzt. Mit seinen Fingern stiehlt er sich sogar ein Stück unter den Bund meiner Jeans. Er sitzt so nah neben mir, dass ich seine Körperwärme intensiv wahrnehmen kann. „Dieser Wichser hat dich ordentlich erwischt. Meine Fresse, ich begreife das immer noch nicht. Wie dumm muss man denn sein, mit so einem Freak mitzugehen und … Es tut mir leid, Nico. Bitte entschuldige“, nuschelt er die letzten Worte und nimmt seine Hand von mir. „Das war daneben. So habe ich das nicht gemeint.“

„Du hast ja recht.“ Ich kann offenbar nichts anderes, außer dumm und naiv und provokant zu sein.

„Nein, es ist nur … ich hatte eine Scheißangst, als ich dazugestoßen bin. Ich dachte wirklich, es wäre bereits Schlimmeres passiert. Nein, auch das ist nicht der Grund, warum ich durch den Wind bin. Um ehrlich zu sein – ich muss seit Stunden daran denken, dass der dich hätte missbrauchen und totprügeln können. Das will mir nicht mehr aus dem Kopf.“ Frustriert greift er nach dem Shirt und zieht es mir über den Kopf wie einem kleinen Kind. Als sich unsere Blicke treffen, verharrt er mitten in der Bewegung, den Bund noch in der Hand, seine Knöchel an meiner Haut. „Wir müssen jetzt schlafen.“ Rau klingt er, ein wenig verzweifelt. Hastig greift er an meinen Gürtel, öffnet meine Hose und wartet, bis ich das Becken anhebe. Ohne zu zögern, schiebt er mir den klammen Jeansstoff von den Beinen. „Vorhin habe ich dich angezogen, dann kann ich dich jetzt auch wieder ausziehen.“ Keine Berührungen mehr, kein Hautkontakt. Unwillig trete ich die Hose komplett von den Füßen.

Kilian nickt zur Polsterfläche hin und streicht sich durchs Haar. „Also dann. Mach es dir bequem und schlaf gut. Das Bad ist den Flur entlang, die mittlere Tür links. Da gehe ich jetzt aber noch mal hin und …“

„Es ist kurz vor sieben.“

„Ach ja. Dein Vater hat mir Aufschub gewährt. Ich habe ihm eben gesagt, dass ich Schlaf brauche, sonst wird das heute nichts mehr. Wir haben unser Meeting auf den Mittag verlegt.“

„Du hast ihm von mir erzählt? … Also … Fuck! Hat er was gesagt?“

„Oh ja, das hat er allerdings. Sein Spott ist mir sicher. Wer feiern kann, kann auch …“

„Arbeiten“, ergänze ich Stefans Standard-Lieblings-Spruch. „Das heißt, du hast nicht …“

„Nein, natürlich nicht. Ich habe dir versprochen, mich rauszuhalten, dann mache ich das auch.“

„Danke, Kilian. Für das hier, und … alles irgendwie.“

Kaum sichtbar winkt er ab. „Sag mir Bescheid, wenn was ist. Aber nur im Notfall, sonst lynche ich dich.“ Daraufhin verschwindet er und in mir breitet sich eine gähnende Leere aus. Erschöpft sinke ich auf die Couch, fühle mich so allein, wie lange nicht.

Lichter werden angeschaltet und wieder gelöscht. Zwei Türen klappen, danach ist es unheilvoll still. Nicht einmal die elektronischen Geräte geben ein Brummen von sich. Dafür dringt aber durch das Oberlicht ein Hauch von Morgendämmerung – sind das die Dinger, die er noch schließen wollte, damit kein Tageslicht hereinfällt? Ich erkenne eine Flasche Wasser und die Tabletten vor mir auf dem Tisch und greife danach. Gleich, gleich darf ich schlafen.

Doch ich schaffe es einfach nicht. Acht Uhr zweiundvierzig, laut meinem Handy, das vier entgangene Anrufe anzeigt und fünf Kurznachrichten meines Vaters. Ich liege auf dem Rücken und starre in das graue Tageslicht über mir. Augen schließen, bedeutet Heulkrampf und Zitterattacke. Endlos laufen mir die Tränen über die Wangen, ich bin zu kaputt, sie wegzuwischen. Die Lippen aufeinandergepresst, versuche ich, so gut es geht, keinen Laut von mir zu geben.

Dort hinten, den Gang entlang, liegt Kilian und schläft. Ich könnte …

Allen Mut zusammennehmend, stehe ich mit wackligen Beinen auf und schleiche durch die ausgestorben wirkende Wohnung. Nach dem dritten Versuch erwische ich sein Schlafzimmer. Auch hier dringt Licht durch die Deckenfenster. Kilian, mein Retter, liegt auf der Seite, erschöpft sieht er aus. Halb zugedeckt offenbart er mir seinen nackten Oberkörper. Fest und muskulös. Starke Arme knautschen das Kissen unter seiner Wange zusammen. Sehnsucht zieht mich magisch bis zum Bettrand. Ich will auch schlafen.

„Ist es ein Notfall?“, nuschelt er und ich zucke ertappt zusammen. Seine Augen bleiben allerdings geschlossen.

„Ich kann nicht schlafen.“

„Bin ich dein Kindermädchen?“ Seufzend hebt er die Decke an. Eine Einladung? „Komm schon. Ich kann auch nicht schlafen. Mir geht zu viel durch den Kopf.“ Er blinzelt mir entgegen. Dunkelblaue Augen, schlaftrunken. Und mein Verstand setzt abermals aus. Schnell, bevor er sich anders besinnt, krieche ich zu ihm, lege mich mit dem Rücken an ihn und bette meine Wange auf seinem Oberarm. Ich drängle so weit nach hinten, bis ich seine Wärme durch das Shirt spüren kann und mich im gleichen Moment eine tiefe Ruhe erfasst, mit ihr die bleierne Schwere der Müdigkeit zurückkommt. Beschützend legt er seinen Arm um mich, zieht die Decke dabei mit und hüllt uns in seinen Geruch, der mir bereits wohlig vertraut ist.

„Ich kann heute nicht nach Hause.“

„Hmhm, ich hab’s kapiert. Schlaf jetzt trotzdem“, murrt er und streicht sanft mit der Hand meine Bauchdecke entlang.

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Tag der Veröffentlichung: 05.03.2018

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