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I

Nur allein das Schuhwerk der Professorin in der vordersten Reihe hielt Ben von einem Nickerchen ab.

"Haben Sie sich schon Ihren Partner für das Projekt ausgesucht?", krächzte die Schabracke ihn vom Pult aus an und gab mit einem Schuhtritt ihrer Frage Nachdruck, tippte mit ihren Fingernägeln auf die Holzplatte.

"Noch nicht, wird aber vielleicht heute noch was", scherzte Ben in seiner Langeweile und streckte sich wie nach einer verzechten Nacht.

Die Lehrkraft ließ sich nicht aus dem Konzept bringen. Wie auf den Reklametafeln des letzten Jahrhunderts grinste sie breit und winkte den anderen im Hörsaal zu. "Würde jeder bitte nochmal zuhören? Dann können wir früher aufhören, wenn keine Fragen mehr bestehen."

Mit einem Mal hatte Majestätin Tritthart die Aufmerksamkeit des Fußvolks für sich gewonnen. "Der charmante Hallodri hier ist noch Single. Möchte ihn jemand näher kennenlernen?"

Grölendes Lachen, dann Schweigen. Bens Schamesröte ergänzte den rostigen Ton seines Haares. Er befand sich nicht bei einem Blinddate, sondern in einer Vorlesung. Wieso schoss sein Blut in den Kopf bei ihrer harmlosen Bemerkung? Darauf hatte er keinen kessen Konter parat.

Keiner meldete sich auf den königlichen Aufruf. Erleichterung entfloh Bens Atem. Vielleicht konnte er die Hausarbeit alleine Schreiben.

Seines Sieges sicher, zwinkerte er dem Alphaweib zu. Kein Dozent konnte ihm eine Lektion erteilen.

Wider Erwarten gab es Gelaber in den hinteren Reihen. Zu früh hatte er sich gefreut. Wahrscheinlich irgendwelche Mädels, die Miss Alpha die Schuhe lecken wollten.

Am Ende ging aber wohl tatsächlich ein Finger in die Höhe, denn viel zu spät für seinen Geschmack erwiderte Trittzilla ebenfalls Bens Spott mit einem Zwinkern. "Sehr schön, dann sind alle Gruppen gebildet. Bitte geben Sie mir noch alle ihre Namen innerhalb Ihrer Gruppe auf einem Blatt ab", krakeelten die Worte aus dem Maul des Reptils. Im Anschluss reichte sie die Bedingungen der Hausarbeit für die Schlafmützen zum xten Mal nach.

Ein Braunbär mit Glatze hielt neben Ben an. Ohne Worte landete der Papierfetzen vor seinen Händen - bereit, mit dem Namen des Rotschopfs versehen zu werden, um das Biest am Podium ruhig zu stellen.

Markus hieß er also. Hoffentlich bot sein Schädel mehr als sein Ebenbild eines Türstehers.

Ben kritzelte seinen Namen auf den Wisch und händigte ihn dem Riesen wieder aus.

Als dieser auf dem Rückweg von der Schlange war, wollte Ben mit ihm alles Nötige abklären, um die Sache möglichst schnell hinter sich zu bringen.

"Nicht ich, Markus hat sich gemeldet", winkte er ab und zeigte in die hinterste Reihe.

Hieß also nicht der Muskelprotz Markus, sondern das Fliegengewicht mit vier Augen im Moped aus der Zukunft? Als wäre der Menschenaffe nicht Bestrafung genug, bescherte Tritthart ihn mit einem Behinderten. Er konnte sich nicht einmal erinnern, ihn jemals auf dem Campus gesehen zu haben.

Stillschweigend folgte Ben dem Großen mit baumelnden Armen und setzte sich gegenüber seinem Partner für die Ausarbeitung des Projekts.

Sein Partner bestand nur aus Haut und Knochen, als er bei seinen Augen ankam, hielt Ben jedoch inne. Das Blau seiner Augen erinnerte ihn an den Horizont - fernab des Hörsaals.

"K-Kann er reden?", schwallte es unkontrolliert aus Ben. Seine Augen ergriffen die Flucht. Zu lange hatte er auf Markus geglotzt.

"Natürlich kann er reden. Was hast du denn erwartet?", kam von Markus die Antwort. Sein Krächzen schnitt wie Messer durch Brot. Die Vorstellung hatte Ben wohl grandios verbockt.

“Du bist also Ben?”, fragte Markus als ob er ihn verhörte.

“W-Woher…”, gab er seine Überraschung zu erkennen. Bens Karriere als Schwindler war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Er stotterte, blinzelte, schwitzte und zu allem Überfluss verriet ihn sein Blut, das durch seine Backen pumpte.

“Tja, vielleicht verrate ich es dir mal”, neckte sein Gegenüber ihn und verzog seine Lippen von einer ernsten Miene zum Lächeln eines Illusionisten - es konnte alles, aber auch nichts bedeuten.

 

Wie der Arzt seine Patienten abfertigte, hatte Markus ihm seine Adresse und die Daten für das heutige Treffen übergeben und fuhr ohne ein weiteres Wort davon.

Am nächsten Wochenende stand Ben vor seiner Wohnungstür. Schon den ganzen Tag war er unkonzentriert. Ständig musste er an sein Lächeln denken. Wahrscheinlich hasste Markus ihn, so wie er sich beim Kennenlernen angestellt hatte.

Sollte er heute nur auftauchen, damit der Brillenträger sich revanchieren konnte? Zuerst wollte Ben absagen, doch die Neugier siegte.

Ben zögerte. Die letzte Möglichkeit zur Flucht. Das Schrillen der Klingel ließ ihn zusammen zucken. Wie erwartet öffnete der Schläger abrupt die Tür.

Bens Armhaare sträubten sich. War das die richtige Wohnung oder trat er gerade in das Domizil eines Mafiosi?

Im völligen Gegensatz zu einem betagten Butler schlurfte der Glatzkopf ohne weitere Anweisungen durch den Flur und ließ Ben vor einer offenen Tür stehen, bevor er in einen anderen Raum entschwand.

Markus saß mit dem Rücken zur Tür in seinem Rollstuhl in einem abgedunkelten Raum.

Obwohl die Sommerhitze das Atmen erschwerte, froren Ben sämtliche Gliedmaßen. Gänsehaut überkam ihn.

Markus war nicht anders, das führte er sich seit der Vorstellung täglich vor Augen. Dennoch fiel es ihm schwer, etwas anderes zu denken und die Angst drang durch seine Poren. Wie ein Kind, das aus dem Einkaufsparadies nicht abgeholt wurde, stand Ben im Türrahmen und schwieg. Der Kloß im Hals nahm ihm Wort und Ton. Ein Orgelspiel hätte das Ambiente eines antiken Horrorstreifens perfekt abgerundet.

Als tatsächlich eine grelle Tonfolge aus dem Raum vor ihm hallte, hinderte nur die festgekrallte Türklinke daran, dass er umkippte. Seine Brust pulsierte.

"Vielleicht willst du rein kommen? Oder machst du dir schon jetzt in die Hosen?", forderte Markus ihn auf und gluckste vergnügt. Er hatte offenbar Spaß an der Reaktion seines Besuchers.

Drinnen ging die Ben-Show weiter. "Nur zu, mach' es dir gemütlich. Oder willst du Wurzeln schlagen?"

Nach der ersten Begegnung wollte Ben nichts mehr falsch machen. Ohne auch nur seinen Rucksack abzulegen, setzte er sich auf die durchgesessene Couch und blickte Markus von hinten an. Nur der Laptop vor Markus’ Nase gab der Bude Licht, seine carbonfarbenen Stoppeln auf dem Kopf verschluckten aber auch dieses fast.

Ben fühlte sich fehl am Platz. Er war hier, doch was sollte er jetzt tun? Die Führung bei der Arbeit in Teams vermied er immer, doch Markus machte auch nicht den Anschein, am Projekt aktiv arbeiten zu wollen. Selbst wenn sie nicht direkt mit dem Kram anfingen, hatte Ben gedacht, sie würden sich zumindest ein wenig unterhalten.

Lange Zeit summte nur der Rechner seinen eingängigen Ton. Beinahe hatte Ben gar nicht mitbekommen, dass Markus seine Worte irgendwann an ihn wandte.

"Die Hausarbeit liegt übrigens fertig auf dem Schreibtisch. 30 Seiten, aufgeteilt in zwei gleichen Teilen, natürlich mit unterschiedlichen Schreibstilen." Wie der Scharlatan im Thriller von gestern Nacht drehte sich Markus mit allen Vieren zu Ben.

Bens offener Mund bot Platz für eine ganze Fliegenfamilie. Hatte er alles richtig verstanden oder kam gleich das Fernsehteam einer Sonntagsshow rein, um den Streich aufzulösen?

“Wieso, fragst du dich bestimmt? Ganz einfach Du wärst mir sechs Wochen im Weg, was du gerade schön beweist. Weil du im Team nichts auf die Reihe bekommst, soll ich mir meinen Schnitt versauen? Träum weiter. Gruppenarbeit heißt nicht, dass du wie ein Baum dastehst und meinem Haar beim Wachsen zusiehst.”

Ein Schlag in die Magengrube. Markus hatte mit allem Recht. Ben fiel es leichter auf den Boden zu starren als Vierauge anzusehen, dessen Blick ihn zu durchbohren schien.

“Du bist gemein.”, entwich es Ben. Er hatte bisher keinen Kontakt zu Behinderten. Wie sollte er denn wissen, wie er mit seinem Partner umgehen sollte? Die ganze Situation war Neuland für ihn. “Du gibst mir doch gar keine Möglichkeit, mit dir zu arbeiten.”

“Wieso sollte ich? Du traust mir doch nicht einmal das Sprechen zu.”

Ben konnte dem Druck der beiden Dolche auf seinen Schultern nicht mehr aushalten und hob seinen Kopf, sah seiner Furcht direkt entgegen. Wieder zog dieser Stromstoß durch seine Muskeln.

Er wusste nicht, was ihn dazu trieb, doch er lachte auf. “Wieso müssen wir auf derselben Stelle treten? Können wir nicht einfach tun und abwarten?”

II

 Schon wenige Tage seit meinem Studienstart folgte ich nicht mehr dem Gelaber der Dozenten. Stattdessen galt meine Aufmerksamkeit Ben. Was er tat, wie er redete, welche Kleidung er trug und was für Speisen er bevorzugte.

Zwar unterschied er sich kaum von den typischen Studenten - zerzaustes Haar, durchschnittlicher Körperbau, immer ein besonnener Ausdruck auf dem Gesicht -, dennoch brachte er meine Gefühle durcheinander.

Nicht zum ersten Mal schaltete mein Hirn bei einem Kerl auf Kopfkino. Es war keine Neuheit für mich. Meine Empfindungen sollten meinen Träumen vorbehalten sein, hätte mein Assistent Rolf sich nur nicht unter einem Missverständnis für mich gemeldet.

Unter anderen Bedingungen wäre ich wohl nie Ben näher gekommen, als ihn beim Vorbeigehen zu grüßen, wobei er mich sowieso nicht bemerkt hätte.

Am Anfang wollte ich nur die Arbeit hinter mich bringen, den Löwen in meinen Träumen lassen.

Der Student Ben war nicht das Ebenbild aus meiner Sehnsucht.

Ihm war innerhalb des ganzen Semesters nicht einmal aufgefallen, dass es mich gab, obwohl ich mit meinem großen Rollstuhl kaum zu übersehen war. Entweder nahm man mich wegen meiner Behinderung als Luft wahr oder hielt mich gleich für bescheuert. Wen wunderte es beim ganzen Schund im Fernsehen mit “Behinderten”?

Mit den Jahren fand ich mich mit diesem Schicksal ab und trug stets meinen obligatorischen Mantel, mit dem ich die Welt so betrachten konnte, wie sie es mit mir tat.

Der Student Ben war da keine Ausnahme, dachte ich.

Nie war mir in all den Jahren in den Sinn gekommen, dass mein Mantel dieselbe Unsicherheit bei anderen verursachte, vor der ich mich schützte.

Bei unserem ersten Treffen bei mir brannte seine einfache Art ein Loch in diesen Mantel, als er unser Verhalten miteinander hinterfragte.

War er vielleicht doch der Löwe, nach dem ich mich sehnte? Natürlich. Nur weil Ben sich einmal nicht nach Norm verhielt, warf ich mich Hals über Kopf über ihn? Von wegen.

 

In den darauf folgenden Wochen hatten wir uns bei jeder Gelegenheit getroffen - nicht für die Hausarbeit; meine Vorarbeit sollte die letzte werden. Stattdessen hatten wir einfach die Zeit miteinander genossen. Wenn wir nicht draußen gewesen waren, hatten wir es uns bei mir gemütlich gemacht. Ich war mir nicht sicher, ob er aus einem Verpflichtungsgefühl kam oder weil er es wollte.

Es schien normal für Ben zu sein, Zeit mit mir zu verbringen. Ich hingegen rang immer häufiger mit mir, ob ich ihm gestehen sollte, wie viel mehr ich für ihn empfand.

Je länger wir gemeinsam Zeit verbracht hatten, desto weniger unterschied sich der Löwe vor mir von dem Löwen in meinen Träumen. Nicht selten brachte Ben Farbe in meine blasse Haut und meine Zunge fast um ihre Haltung.

Morgen stand die Präsentation der Hausarbeit auf dem Programm. Dann könnte er sich wieder wichtigeren Dingen widmen und ich mein Dasein wie vorher fristen - ohne ihn.

Mein Magen fühlte sich, als hätte ich einen Igel gegessen. Gleich nach der Präsentation würde ich abhauen und den Kontakt zu ihm einstellen. Es war zu seinem besten und für mich sollten die Wochen mit ihm eine schöne Erinnerung bleiben. Alles wäre wieder wie vorher. Irgendwann würde ich ihm nicht mehr auffallen.

Lieber nahm ich jetzt Abschied. Ein glatter Strich und fertig. Andernfalls würde ich mich früher oder später verraten und das war keine Option. Dafür lag mir zu viel an meinem Löwen.

“Du, was machen wir eigentlich morgen nach der Hinrichtung von Fräulein Trittmichtot?”

“Nach der Präsentation werden wir uns nicht mehr sehen. Tut mir leid”, hätte ich Ben antworten müssen.

“Wie wäre es mit einem Jumbo-Becher in der Eisdiele?”, schlug ich ihm stattdessen vor und gab mir in Gedanken einen kräftigen Tritt.

Es war wie ein weiterer Mantel, den ich mir schon länger angelegt hatte - dort, wo niemand bisher Zugang hatte. Wer wollte schon mit mir zusammen sein? Ich war nicht attraktiv und die einzige Besonderheit an mir war meine Behinderung. Außerdem wusste ich nicht, worauf Ben eigentlich stand. Alleine deswegen waren meine Erwartungen schon eine unaussprechliche Utopie.

Wieso war ich so feige, ehrlich mit meinen Gefühlen zu sein? Ich verhielt mich nicht anders als am Anfang. Ordnete ihn wieder in eine Schublade ein.

Mein verschwitzter Löwe wälzte sich auf dem Sofa und setzte sich auf. Die Farbe seiner Augen leuchtete so vielfältig wie die Savanne. “Bist du nervös?”

“N-Nö… Wieso?”

“Na, weil du ständig mit deinem Piercing an den Zähnen hängen bleibst. Mach’ dir keine Sorgen, Tritthart machen wir morgen fertig mit der Superpräsi.” Ben machte sich für den Heimweg fertig.

Mein Mund klapperte wie ein Haufen Nadeln, mein ganzes Innenleben bebte.

Wenn ich mich heute zurückhielt und nicht aus meinem Muster heraus brach, bereute ich es später. “Warte, das ist es nicht.”

“Was ist dann los?”

“Es ist ziemlich bescheuert, gerade jetzt vor der Präsentation, aber… kannst du mich küssen?” Mein Hals fühlte sich an, als ob ich einen ganzen Eimer Spielkreide gegessen hätte. Ich wollte mehr sagen, ihm mitteilen, dass ich es ernst meinte. Meine Stimmbänder streikten.

Unterdessen hatte sich Ben wieder gesetzt. Sein himbeerrotes Gesicht vergrub er in seinen Pranken. Dann sah er auf. Ich konnte den Ausdruck nicht zuordnen.

“Nein. Vergiss das mal ganz schnell.”

Ich wollte raus. Einfach weg.

“Wieso sollte ich dich küssen, Markus? Ich hab’ dich wirklich gern, sonst wäre ich nicht ständig hier. Ich kann mir aber nicht mehr mit dir vorstellen, und das zeigst du gerade. Du sagst mir nicht, was du wirklich denkst und fühlst. Und dann soll ich dich auch noch küssen?”

Jetzt ging er wohl zum letzten Mal an mir vorbei, lachte.

“Ich mache nicht den ersten Schritt. Den machst schön du, Löwe”

Dann lag sein Arm an meinem Nacken, sein Kiefer vor meinem. Meine Lippen bewegten sich auf seine.

Nachwort

Lieber Leser,

Vielen Dank, dass du dich dazu entschieden hast, “Löwengebrüll” zu lesen. Ich freue mich, wenn ich dir mit meiner Kurzgeschichte einige unterhaltsame Momente bereiten, im besten Falle dir sogar etwas mitgeben konnte.

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Impressum

 © 2015 Roberto Czumbil

 

Lektorat: Jashina Lie

 

Alle Rechte vorbehalten

Dieses Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ohne Zustimmung des Autors ist unzulässig.

Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

 

Alle Charaktere, Namen und die Handlung in dieser Geschichte sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen wäre rein zufällig.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 16.02.2015

Alle Rechte vorbehalten

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