Ein kalter Januartag. Auch dort, wo Karl lebte, begann der gewohnte Alltag. Heute musste er aber nach Tagen aus dem Haus. Das rechte Bein zog er mühsam hinter sich her, ein Gehstock in der Hand.
Mit dem dritten Bein versuchte er den verschneiten Weg vor passierbar zu machen, als ihm die korpulente Nachbarin entgegen kam und ihn umarmte. "Frohes Neues, Karl!", beglückwünschte sie ihn vollmundig. Kaum hörbar entgegnete Karl ihren Gruß - oder murmelte einfach nur, was einem frohen neuen Jahr im Klang ähnelte. Er zog ohne Gespräch davon. Sein vorheriger Nachbar und guter Freund Manfred erlitt einen tödlichen Herzinfarkt, bevor die gesellige Frau aus der Neustadt mit ihren Kindern in die leere Wohnung zog.
Als auf seinem Weg der tollende Sohn der Nachbarin ihm ebenfalls ein frohes neues Jahr wünschte, stellte sich Karl taub. Seitdem Frau und Kinder vor drei Jahren bei einem Flugzeugabsturz umgekommen sind, konnte er nicht mehr in das Gesicht von Kindern blicken.
"A froh's neu's Jahr", grüßte auch die neue Verkäuferin beim Bäcker im selben Dialekt, in dem sein neuer junger Vorgesetzte ihn vor zwei Jahren entließ. Karl nickte nur leicht und wickelte sein Geschäft wortlos ab.
Kartoffeln - mehr konnte Karl heute nicht bei seinem letzten Halt im Supermarkt einkaufen. Am Kassenschalter erneut die drei Worte.
"Ein frohes neues Jahr wünsche ich Ihnen, sind Sie gut reingerutscht?"
Frohes neues Jahr. Er konnte es nicht mehr hören.
Vor wenigen Monaten hatte Karl mit Mitte dreißig sein Gefühl im rechten Bein und das Licht auf einem Auge bei einem Autounfall verloren. Wenige Stunden später hatte der behandelnde Arzt im Krankenhaus dann noch mehr festgestellt - er hatte nur noch Monate, aber sonst nichts.
Der Stock fiel zu Boden. Mit beiden Fäusten schlug er auf die Theke, schleuderte dann die Arme in die Höhe. Auf Karls Gesicht nur ein Ausdruck: Wut. "Wieso, verdammt nochmal, muss jeder jedem Fremden ein frohes neues Jahr wünschen!? Nicht jeder kann ein frohes neues Jahr haben. Wie kommen Sie und andere überhaupt dazu, jemandem etwas wünschen zu können, den Sie nicht kennen?"
Einen Moment schaute jeder im Umkreis den gebrochenen Mittdreißiger entgeistert an, bevor der Tag seinen gewohnten Lauf nahm. Auch Karl hob seinen Gehstock auf, bezahlte und humpelte aus dem Laden, zuletzt mit seinem rechten Bein.
Tag der Veröffentlichung: 13.01.2015
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