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»Der Mensch hat dreierlei Wege klug zu handeln:

erstens durch Nachdenken, das ist der edelste,

zweitens durch Nachahmen, das ist der leichteste,

und drittens durch Erfahrung, das ist der bitterste.«

 

 

Konfuzius, chinesischer Philosoph

vermutlich von 551 v. Chr. bis 479 v. Chr., laut Wikipedia

 

Ella

Ella kam gerade nach Hause und warf ihren Schulrucksack wie immer in die Ecke, da hörte sie ein Geräusch aus dem Badezimmer. Vorsichtig stellte sie den Rucksack auf die erste Stufe der Treppe und klopfte zaghaft an. »Mama? Bist du da drin?« Sie hörte, wie einige Sachen umgestoßen wurden und dann vernahm sie die Stimme ihrer Mutter: »Ja Ella, ich komme gleich raus.« Nach wenigen Minuten drehte sich der Schlüssel im Schloss, die Tür ging auf und Martha stand vor ihr. Marthas Gesicht war rot vor Aufregung, sie war verlegen und stammelte nur einzelne Wörter, die für Ella keinen Sinn ergaben. Deshalb fragte Ella eindringlich: »Alles Okay mit dir Mama?« Martha umarmte ihre Tochter und zog sie einfach mit sich in die Küche. Plötzlich fiel ihr etwas aus der Hand. Es sah aus wie ein Kugelschreiber, doch dann er kannte Ella, was es wirklich war – ein Schwangerschaftstest. Sie bückte sich und hob ihn mit nur zwei Fingern auf. »Mama? Das darf doch nicht wahr sein … du bist schwanger? Du willst doch nicht etwa in deinem Alter noch einmal ein Kind bekommen?« Mit einer entschuldigenden Mine stand Martha vor ihr und sagte nur: »Doch! Es scheint so zu sein.« Ella dreht sich um und rannte in ihr Zimmer. Die Tür flog krachend zu und laute Musik dröhnte durchs Haus. Unbeholfen stand Ellas Mutter da und sagte ganz leise: »Nicht so laut, die Musik bitte, mein Kind.« Sie seufzte, denn schon seit Monaten gerieten Mutter und Tochter immer öfter wegen Kleinigkeiten aneinander, und nun noch diese Reaktion. Es würde nicht einfach werden, doch sie hoffte, dass sich Ellas Einstellung mit der Zeit ändern würde. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass Werner gleich heimkommen würde. Ein Lächeln flog über ihr Gesicht. ›Was er wohl dazu sagen wird?‹ Ihre Gedanken waren bei dem Baby, welches in ihrem Bauch heranwuchs und sicher das Leben ihrer gesamten Familie verändern würde. ›So viele Jahre wünschten sie sich noch ein Kind, nie hatte es geklappt und jetzt, so kurz vor ihrem vierzigsten Geburtstag, geschah das unglaubliche – sie war noch einmal schwanger‹, dachte sie und bereitete weiter das Abendessen vor. Leise summte sie ein Wiegenlied, als Werner das Haus betrat, und noch einen Moment in der Tür stehen blieb, weil er die Melodie erkannte – es war das Wiegenlied, welches Martha Ella immer vorgesungen hatte. Werner bemerkte schon seit einiger Zeit, dass sich seine Frau veränderte, sie wurde immer hübscher, strahlte irgendwie von innen heraus. Still stand er da und beobachtete sie. Vorsichtig ging er auf Martha zu, nahm sie in die Arme und flüsterte: »Was hast du für ein Geheimnis? Heraus mit der Sprache.« Vorsichtig wanderte seine Hand auf ihren Bauch. Martha drehte sich um und schaute ihm in die Augen. »Es ist wahr, wir erwarten ein Kind. Und bevor du Bedenken äußerst, ich fühle mich fantastisch.« Werner grinste und sagte: »Wir können es also doch noch?« Sie hatten beide nicht bemerkt, dass Ella dazugekommen war, die rollte nur mit den Augen, als sie ihre Eltern innig küssend beieinander sah. »Ihr solltet euch was schämen, in eurem Alter. Was ist eigentlich mit mir? Mich fragt keiner, ob ich das Kind überhaupt will.« Die Eltern sahen erst sich und dann ihre Tochter an. Werner ging auf Ella zu, nahm sie bei der Schulter und sagte schmunzelnd: »Wir werden dich wohl weggeben müssen, jetzt wo wir ein neues Kind bekommen. Das siehst du doch ein, oder?« Ella presste die Lippen zusammen und wurde rot vor Wut. Sie atmete sehr schnell und brüllte los: »Dann macht es doch.« Wieder rannte sie davon, dieses Mal verließ sie das Haus. Martha sah Werner vorwurfsvoll an. »War das jetzt nötig?« Ellas Vater zog sich die Jacke über und lief ihr hinterher, doch seine Tochter war nicht mehr zu sehen. Gemeinsam beschlossen sie mit ihr zu reden, sie sollte sich nicht ausgegrenzt fühlen und sich der Liebe ihrer Eltern immer sicher sein. Martha kannte ihre Tochter genau und war überzeugt, dass sie Ella besänftigen und zusammen mit ihr Pläne für die Zukunft schmieden konnten.

 

Ella lief zum Treffpunkt ihrer Clique. Sie saß bei ihren Freunden, war ziemlich still, sah unglücklich und bedrückt aus. Das fiel natürlich auf und alle wollten wissen, was denn los sei. Sie berichtete davon, was sich zu Hause ereignet hatte, redete sich ihren Kummer von der Seele und erwähnte auch, dass sie dieses Kind jetzt schon nicht mag.

 

 

»Was? Deine Eltern wollen dir jetzt noch ein Kleinkind aufs Auge drücken?«

»Ja und stell dir vor, mein Herr Vater, ließ noch so einen blöden Spruch ab, wie das sie mich jetzt weggeben müssten. Das sagt doch schon alles. Ab jetzt zählt nur noch dieser Quälgeist.«

»Tolle Aussichten! Das will aber noch nichts heißen Ella. In dem Alter kommen oft Fehlgeburten vor und die Frauen verlieren ihre Kinder.« Nachdenklich sah Ella ihre Freundin an. »Meinst du?« Trotz ihrer Wut kam ihr das dann doch etwas krass vor und sie sah schon die Tränen ihrer Mutter. Nein das wollte sie auch nicht. Kurz darauf wechselten sie das Thema und wandten sich den verschiedenen Jungs zu, für die sie schwärmten. Ella war schon vierzehn und ihre Freundin Aylin wurde es in wenigen Wochen. Beide träumten von der perfekten großen Liebe und sinnierten über das Verhalten der männlichen Mitglieder ihrer Clique. Karlo war fünfzehn und Tim vierzehn, doch benahmen sie sich in den Augen der Mädchen, wie kleine Kinder. Für Ella stand fest, dass sie einen Mann haben wollte, der schon etwas älter und erfahrener als sie war. Schnell vergaß sie die Probleme, die sie quälten, als Tim die Musik lauter stellte und Aylin zum Tanz aufforderte. Sie alberten eine Weile herum, hatten Spaß und lachten viel. Nach einer Stunde gingen die Straßenlaternen an und auch wenn es ihr nicht gefiel, Ella musste sich auf den Heimweg machen. Sie verabschiedete sich von den anderen und ging langsam in Richtung ihres Elternhauses.

 

Ein junger Mann, der schon eine Weile auf einer Parkbank in der Nähe der Clique saß, stand auf und ging in die gleiche Richtung. Jetzt erst nahm Ella ihn wahr. Mehrmals schaute sie sich nach ihm um, doch er schien keine Bedrohung darzustellen. Der Mann packte während des Gehens sein Buch ein, worin er gelesen hatte, beschleunigte seinen Schritt und lief plötzlich neben ihr. »Entschuldige bitte. Ich habe gehört, was ihr hier gerade besprochen habt. Wie alt ist denn deine Mutter?« Misstrauisch fragte Ella: »Was geht sie das an?«

 

»Nun, ich habe aus deinen Worten herausgehört, dass du keinen Bock auf ein Geschwisterchen hast.«

 

»Und? Was soll ich jetzt machen?« Er machte eine galante Verbeugung und meinte: »Lass es doch auf dich zukommen. Freue dich mit deinen Eltern und hilf deiner Mutter. In wenigen Jahren kommt dein Traumprinz und du verlässt das Elternhaus.«

 

»Tolle Idee. Wer bist du eigentlich?«

»Oh, Entschuldigung. Mein Name ist Max.« Bei den Worten verbeugte er sich nochmals und Ella musste lachen. Mit einem verschmitzten Lächeln sah er sie an und fand sie wunderschön. »Darf ich fragen, wie alt sie sind junge Dame?« Ella schluckte kurz und antwortete: »Sechzehn fast siebzehn.« Gleichzeitig hoffte sie, dass er ihre Lüge nicht durchschaute. »Nun denn, darf ich Sie noch ein Stück ihres Weges begleiten?« Mit einer erneuten tiefen Verbeugung sprach er diesen Satz zu Ende, nahm ihre Hand und hauchte einen Kuss darauf. Ella legte sich fast hin vor Lachen und stieg in dieses Spiel mit ein. »Gewiss der Herr. Ich wäre entzückt, wenn sie dies tun würden« Max reichte ihr den Arm und sie hakte sich unter. Vergnügt gingen beide gemeinsam bis zu ihrem Elternhaus. Sie standen noch einige Minuten davor, sprachen miteinander und Max konnte seine Augen nicht von Ella lassen. Sie hatte etwas tief in ihm berührt. Er fühlte noch immer ihre kleine Hand auf seinem Arm, als er ging. Er wusste, dass sie ihn angelogen hatte, bezüglich ihres Alters, doch interessierte es ihn wenig. Sie war noch ein Backfisch, aber jetzt schon eine Schönheit. Er fand sie keck, dachte noch oft an diesem Abend an sie und musste dabei lächeln.

 

Ella ging sofort zu ihren Eltern, denn sie hatte das Bedürfnis mit ihnen zu reden. Die Eltern waren froh, über den schnellen Sinneswandel ihrer Tochter, es war ein langes und vertrauensvolles Gespräch. Letztendlich war alles gut und sie freuten sich nun alle drei gemeinsam auf das Baby. Ella gab ihren Eltern dann noch einen Kuss und ging in ihr Zimmer. Die Wochen und Monate vergingen und der Bauch ihrer Mutter wuchs unaufhörlich. Martha stand eines Tages im Flur und schrie laut. Vater und Tochter waren ziemlich erschrocken und liefen sofort zu ihr. Doch Martha lachte herzlich. Sie stand da, mit der Hand auf dem Bauch und sagte: »Es hat sich soeben bewegt.« Werner wollte es auch spüren, legte freudig seine Hand auf den Bauch seiner Frau, doch da blieb das Baby still. Etwas enttäuscht war er da schon, wurde aber von Frau und Tochter getröstet. Ella war glücklich, wie harmonisch es jetzt in ihrer Familie zuging. Ihre Einstellungsänderung verdankte sie Max, wenn sie an ihn dachte, dann schlug ihr Herz schneller und sie wünschte sich, ihn wiederzusehen. Doch er war nicht mehr in den Park gekommen.

 

In der Schule lief alles normal und ihre Leistungen waren sehr gut. Kurz vor ihrem fünfzehnten Geburtstag plante die Klassenlehrerin einen Bildungsausflug in ein Krankenhaus. Sie sollten den Arbeitsalltag eines Klinikbetriebs kennenlernen. Die ganze Klasse stand erwartungsvoll vor dem Krankenhaus und wartete darauf, dass sie vom Klinikleiter Herrn Ahmann begrüßt wurden. Die Lehrerin war erstaunt, wie diszipliniert ihre Schülerinnen und Schüler waren, als der Herr ihnen die Regeln für eine Führung mit auf den Weg gab und sie dann in die Obhut einer jungen Frau empfahl, ehe er sich verabschiedete. Frau Hopf würde für die nächsten Stunden ihre Begleitperson sein, sie durch das Haus führen und auch ihre Fragen beantworten. Aylin stand bei Ella und flüsterte ihr gerade zu, dass sie Krankenhäuser nicht mochte, da durchfuhr es Ella wie ein Blitz. Sie sah Max, er ging am Haupteingang vorbei. Ella wollte am liebsten losrennen und ihm um den Hals fallen, doch sie hielt inne. Verstehen konnte sie diese Gefühle nicht, die so stark in ihr waren. Ihr wurde ganz heiß und sie wurde rot. Aylin bemerkte das sofort und wollte wissen, was denn mit ihr los sei? »Nichts, rein gar nichts.« Ella nahm keinen Blick von Max, bis er hinter der nächsten Ecke verschwand. »Mir ist nur warm.« Tief atmete sie ein und ließ die Luft mit einem leichten Seufzer wieder raus. Aylin verstand nichts und Ella war nicht danach ihr etwas zu erklären. Endlich ging es los. Frau Hopf führte sie durch das Krankenhaus. Den Schülern wurde bewusst, welche immense Arbeit im Hintergrund ablief und wie viel Personal nötig war, damit alle Patienten, entsprechend ihrer Krankheiten und ihres Genesungszustandes, gut versorgt waren. Besonders beeindruckt, waren die Jugendlichen, von den technischen Abteilungen. MRT, CTG und Röntgen. Noch nie hatten sie einen so direkten Blick hinter die Kulissen werfen können und die Mitarbeiter der verschiedenen Abteilungen gaben sich sehr viel Mühe ihnen alles genau zu erklären und auf die vielen Fragen zu antworten. Sogar Ella hörte aufmerksam zu und stellte Fragen, dabei vergaß sie fast die Begegnung mit Max. Jedoch wurde sie überrascht, als die Führung beendet war und er plötzlich vor ihr stand. Er sah von oben auf sie herab und sagte nur: »Na du?« Ellas Gesicht färbte sich tiefrot und es war ihr irgendwie peinlich, da alle es sehen konnten. Lächelnd begrüßte er Frau Hopf und ging mit ihr davon. Jetzt grub sich ein eigenartiges Gefühl in ihrer Magengegend in den Vordergrund. ›Was wollte er mit dieser Frau Hopf?‹, dachte sie. Es war keine Zeit, länger darüber nachzudenken, denn Aylin plapperte sie von der Seite voll und kurz darauf verließ die gesamte Klasse das Krankenhaus. Voller Überschwang erzählte sie abends ihren Eltern von diesem aufregenden Tag, nur das mit Max sparte sie aus.

 

Immer wieder träumte sie von ihm, sah seine dunklen Augen und jedes Mal, wenn er sich zu ihr beugte, um sie zu küssen, wachte sie auf. Sie war verliebt, ein wunderschönes Gefühl, welches sie bis in die Zehenspitzen erfasste – Schmetterlinge im Bauch. Fröhlich stand sie auf und machte sich für die Schule fertig. Als sie die Treppe hinunterlief, hörte sie seltsame Geräusche aus der Küche und dann ging schon die Tür auf. Ihr Vater flitzte an ihr vorbei und rannte sie beinahe um. Nur kurz hielt er inne und sagte: »Das Baby kommt. Ich muss … Nein zuerst muss ich …?« Er blieb stehen und fuhr sich verstört durch die Haare. »Hallo Ella.« Aus der Küche rief ihre Mutter ihm nach: »Werner, holst du nun das Auto aus der Garage und meine Tasche von oben?« Sie klang genervt. Werner stand mit erhobenem Zeigefinger da und murmelte vor sich hin: »Das war es, was ich wollte.« Ella bot an, die Tasche zu holen und er sollte sich um das Auto kümmern. Jetzt lief alles reibungslos. Gleich darauf war sie bei ihrer Mutter und half ihr aufzustehen. Unter Schmerzen setzte sie einen Schritt vor den anderen. Ella stützte sie. »Mama, sind es schlimme Schmerzen?« Gerade hatte Martha wieder eine Wehe und musste deshalb stehen bleiben. »Ach Kind, wir Frauen halten das schon aus. Immerhin dürfen wir ein Leben auf die Welt bringen.« Ella verließ sich auf die Worte ihrer Mutter, doch unheimlich war es ihr schon. Wenige Minuten später waren sie alle drei unterwegs ins Krankenhaus. Ella durfte heute die Schule schwänzen, denn sie hätte sowieso nichts mitbekommen. Werner wollte noch in der Schule anrufen und Bescheid sagen. Im Krankenhaus angekommen ging alles sehr schnell. Nach einer Stunde war es soweit. Ella hörte das Schreien eines Babys und schon ging die Tür auf. »Komm rein und begrüße deine Schwester.« Ihr erster Blick ging zu ihrer Mutter. Sie sah erschöpft aus, aber strahlte glücklich übers ganze Gesicht. Auf Zehenspitzen schlich Ella zum Bett und sah das Baby. Ihr wurde plötzlich so warm ums Herz und sie wusste, dass sie ihre jüngere Schwester für immer lieben würde. Mit verschränkten Armen stand Werner auf der anderen Seite des Bettes und sagte: »Darf ich vorstellen, deine Schwester Lucy.« Ella beugte sich zu ihr runter und sagte nur: »Cool.« Danach sah sie zu ihren Eltern und meinte: » Der Name ist auch toll und sie ist so süüüüß.« Kurz darauf verabschiedeten sich Werner und Ella von Martha und fuhren nach Hause. Im Auto bestürmte sie ihren Vater mit vielen Fragen. Werner freute sich über Ellas Begeisterung und war froh, dass sie ihre anfängliche Abneigung gegen das Baby vergessen hatte.

 

Die Wochen vergingen und das Leben mit dem Baby im Haus, war eine totale Umstellung und ging nicht spurlos an allen vorbei. Mutter war immer müde, Vater war gestresst und Ella liebte ihre kleine Schwester inzwischen abgöttisch und ging viel mit ihr spazieren. Es machte ihr auch nichts aus, dass sich jetzt alles um Lucy drehte. Sie ging in ihrer Rolle als große Schwester völlig auf.

 

Heute war ein wundervoller Tag und gleich nach Erledigung ihrer Schulaufgaben, fuhr Ella mit Lucy im Kinderwagen spazieren und ging zum Spielplatz des Parks, wo ihre Freunde auf sie schon warteten. Martha sah ihr stolz hinterher und freute sich auf ein paar Minuten Ruhe, die ihr nun vergönnt waren. Aylin begrüßte Ella freundlich und war begeistert, dass sie ihre Schwester zum Treffpunkt mitbrachte, doch die Jungs maulten ein wenig und zogen sie auf, dass sie nun das Kindermädchen für ihre Schwester war. Doch Ella machte sich nichts daraus und die dummen Sprüche erreichten ihr Innerstes nicht – Jungs eben – die konnten gar nicht anders.

 

Irgendwie hatte Ella das Gefühl, dass dieses Schuljahr schneller herumging als die anderen. Zu Hause lief alles prima und Lucy wuchs heran.

 

 

Aylin und die Traditionen

Es verging kein Tag, an dem Lucy nicht im Mittelpunkt der Familie stand. Sie konnte inzwischen schon sitzen, krabbeln und sabberte sich den ganzen Tag voll. Martha war die meiste Zeit damit beschäftigt, die Kleine umzuziehen und Wäsche zu waschen. Erschöpft saß sie am Küchentisch und stützte den Kopf auf. »Mama, alles in Ordnung?« Sie wunderte sich über den Sinneswandel ihrer Tochter. Sie hatte nicht gehört, dass Ella von der Schule zurück war. »Oh Ella, entschuldige, es gibt heute nichts zu essen, ich habe es nicht geschafft. Gehst Du jetzt mit Lucy raus, dann könnte ich mich …?«

 

»Nein, du weißt doch, heute ist Aylins Geburtstag und ich bin eingeladen bei Familie Duman«. Martha atmete tief durch und erinnerte sich, dass es schon seit Tagen feststand, dass ihre Große heute zu Aylins Geburtstagsfeier ging. Sie erhob sich und gab Ella einen leichten Kuss auf die Lippen und wünschte ihr viel Spaß, dann ging sie mit schweren Schritten die Treppe rauf. Ihre Mutter tat ihr leid, doch so war es nun mal mit einem Baby. Die Arbeit riss nie ab. Etwas ratlos und mit einem schlechten Gewissen machte sie sich für den Besuch bei ihrer Freundin fertig, nahm das Geschenk und rief nach oben: »Mama ich gehe dann. Ich bin pünktlich zurück.« Ohne auf die Antwort zu warten, war sie schon zur Tür hinaus. Mit dem Bus fuhr sie fünf Stationen, bis zu dem Mehrfamilienhaus, in welchem Familie Duman wohnte. Vor dem Haus lungerte eine Gruppe junger Kerle herum. Als sie Ella sahen, schauten sie diese ganz eigenartig an und machten sie mit dummen Sprüchen an. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, ihr war mulmig und sie war kurz davor umzudrehen und zu verschwinden. Einer dieser Burschen stand hinter Ella, als sie sich umdrehte und versperrte ihr den Weg. Plötzlich griff er nach ihrer Hand und wollte sie an sich heranziehen, doch dann hielt ihn eine tiefe Männerstimme davon ab. Ella verstand die Worte nicht, doch die Kerle verzogen sich schneller, als sie bis drei zählen konnte. Vor ihr standen Aylin und ihr Vater, der sehr besorgt aussah. »Haben sie dir etwas getan?« Ella schüttelte stumm ihren Kopf. Aylin umarmte ihre Freundin und nahm sie bei der Hand. Gemeinsam betraten sie das Haus und erst in der Wohnung fand Ella ihre Stimme wieder. Nochmals wollte der Vater wissen, ob alles in Ordnung mit ihr war. Er sah sie sehr prüfend an. »Danke, es geht mir gut.«

 

»Dein Vater hätte Dich herbringen sollen. Hier sollte kein deutsches Mädchen allein herumlaufen.«

 

Er setzte sich an den großen Tisch im Wohnzimmer und unterhielt sich mit den anderen Gästen in seiner Landessprache. Jetzt erst kam Ella dazu ihrer Freundin zu gratulieren und ihr das Geschenk zu überreichen. Aylins Mutter stand bei ihnen und lächelte. Neugierig öffnete Aylin das Geschenk und staunte nicht schlecht. Es war ein Buch und eine CD ihres Lieblingsinterpreten. Sie bedankte sich erfreut und fragte ihre Mutter, ob sie in ihr Zimmer gehen durften. Diese nickte und schnell verschwanden die Mädchen. Kaum war die Tür hinter ihnen geschlossen, da umarmte Aylin ihre Freundin nochmals und bedankte sich ganz herzlich für dieses schöne Geschenk. Dieses Buch wünschte sie sich schon sehr lange, doch es war teuer, sie konnte es sich nicht leisten dafür Geld auszugeben Ella meinte nur: »Meine Eltern haben etwas dazugegeben. Ich soll dich auch ganz lieb von ihnen grüßen.« Die beiden setzten sich auf den Fußboden, hörten Musik und sahen gemeinsam das Buch an. Es war ein Fotobuch der wichtigsten und schönsten Bauwerke der Welt. Aylin interessierte sich sehr für Architektur. Sie konnte sogar, ohne vorher den Text zu lesen, das Baujahr einiger Gebäude benennen. Vorsichtig und liebevoll strich sich über manche Fotos, so als würde sie, auf diese Weise, diese Gebäude berühren. »Eines Tages wirst Du diese Gebäude sehen und sie Dir genau anschauen können.«

»Nur wenn Du mitkommst.«

 

»Hm Architektur ist nicht so mein Ding.« Die Mädchen mussten lachen. Die Tür ging auf und ein junger Mann kam herein und redete mit Aylin in ihrer türkischen Muttersprache, sodass Ella nicht verstand, worum es ging. Aylin räumte daraufhin sofort das Buch weg, schaltete die Musik aus und bat Ella mitzukommen. Sie wurden schon erwartet, denn die Familie hatte die Tafel festlich gedeckt und bat nun Aylins Gäste zum gemeinsamen Essen. Ella fühlte sich nicht besonders wohl hier, es war alles so fremd für sie und ihre Freundin saß inmitten ihrer Familie und wirkte niedergeschlagen. Die Familienmitglieder hielten einige Reden und einer der Gäste, ein älterer Mann, stand auf und reichte Aylins Vater die Hand und die Männer umarmten sich. Gegenseitig klopften sie sich auf die Schultern und lachten. Sie waren die einzigen am Tisch, die fröhlich waren, alle anderen wirkten ziemlich ernst. Ihre Freundin saß da, mit gesenktem Blick und schaute keinen an. Sie sah traurig aus. Am liebsten wäre Ella zu ihr gegangen und hätte sie in die Arme genommen, doch sie traute sich nicht. Das Essen dauert eine halbe Ewigkeit, Ella bekam kaum einen Bissen hinunter, weil sie sich um ihre Freundin sorgte. Nach Aufhebung der Tafel, wollte sie zu ihr gehen, doch sie hatte keine Chance, denn das Mädchen wurde von der Familie und den übrigen Gästen umringt. Es schien, als gratulierten sie ihr alle, jedoch hatten Aylins Augen eher einen ängstlichen, statt fröhlichen Ausdruck. Viele Fragen quälten Ella und wenn sie nicht bald mit ihr reden konnte, würde sie sich an den Leuten vorbeidrängeln, um zu ihr zu gelangen. Das Gedränge löste sich aber dann doch auf und die beiden Mädels standen sich direkt gegenüber. Vergeblich suchte Ella den Blick ihrer Freundin, die plötzlich an ihr vorbei in ihr Zimmer rannte. Ella wollte ihr nachlaufen, doch sie wurde an der Schulter zurückgehalten. »Du gehst jetzt wohl besser. Einer meiner Söhne wird dich bis zum Bus bringen. Wir bedanken uns für deinen Besuch und das Geschenk.« Die Stimme des Vaters ließ keinen Protest zu. »Kann ich mich noch verabschieden?«, fragte Ella zögerlich. Er nickte nur in die Richtung von Aylins Zimmer. Langsam drückt sie die Klinke runter und öffnete leise die Tür. In einer Ecke des Zimmers kauerte Aylin am Boden und weinte bitterlich. Ella lief sofort zu ihr hin und wollte sie in die Arme nehmen, doch das Mädchen wies sie zurück. »Geh und komm nie wieder hierher.« Ihre Stimme überschlug sich fast und Ella sah sie verstört an. »Aber was …?« Ruckartig sprang Aylin auf und flüsterte ihr zu: »Ich werde noch diesen Sommer heiraten. Sie bringen mich in die Türkei. Mein zukünftiger Mann will nicht länger warten. Ella, ich bin gerade fünfzehn geworden und hier in Deutschland geboren. Ich will das alles nicht.« Mit großen Augen sah Ella Aylin an und konnte nicht begreifen, was ihre Freundin da erzählte. Sie sah die Tränen und spürte das Leid, doch war sie hilflos und nicht in der Lage etwas zu ändern. Bevor sie nur ein Wort sagen konnte, ging die Tür auf und Aylins Bruder ermahnte sie, dass sie nun gehen musste. Traurig fügte sie sich und reichte Aylin zum Abschied die Hand. »Wir sehen uns in der Schule«, flüsterte sie ihr noch zu. Schweigend lief Ella neben dem jungen Mann her, der dann noch wartete, bis ihr Bus abgefahren war. Ihre Gedanken waren bei ihrer Freundin und beinahe hätte sie dadurch ihre Haltestelle verpasst. Zu Hause angekommen, wollte sie gleich mit ihren Eltern darüber sprechen, doch es schien nicht der richtige Moment zu sein. Sie lagen völlig verquer auf der Couch im Wohnzimmer und schliefen. Lucy lag in dem Reisebettchen daneben. Ihr Vater hat es wohl hervorgekramt, damit sie nicht immer die Treppe rauf mussten. Lucy schlief tief und fest. Ella nahm eine Decke, deckte ihre Mutter zu, dann nahm sie Lucy leise mit nach oben und legte sie in ihr Bettchen. Nachdem sie noch einmal nach ihr geschaut hatte, legte sie sich auch schlafen. Doch sie schlief nicht gut, in dieser Nacht, denn ihre Gedanken wanderten oft zu ihrer Freundin, die so bitterlich geweint hatte. ›Man muss ihr doch helfen können‹ Ella schreckte auf, als am Morgen ihr Wecker klingelte. Es war, als habe sie gar nicht geschlafen. Müde und zerknirscht schlich sie ins Bad. Im Erdgeschoss hörte sie ihre Eltern und Lucy. Als sie in die Küche kam, wurde sie fröhlich begrüßt und Mama bedankte sich, dass sie sich um die Kleine gekümmert hatte. »Aber Ella, was ist denn mit dir? Du bist so blass. Bist du krank?« Ohne nachzudenken, platzte es aus ihr heraus und sie erzählte ihren Eltern was sie am gestrigen späten Nachmittag erleben musste und wie sie sich jetzt fühlte. Die Eltern wechselten fragende Blicke und ihr Vater versprach ihr, dass er mit Herrn Duman reden würde. »Es kann alles nur ein Irrtum sein und es wird sich bald aufklären.« Ella spitze die Lippen und zeigte ihm mit Gesten, dass sie daran zweifelte, denn es sah sehr ernst aus. Martha ermahnte sie, dass es Zeit war in die Schule zu gehen. Heute wartete sie vergeblich auf Aylin in der Schule. Sie erfuhr, dass man sie krankgemeldet hatte. Die Stunden wollten nicht vergehen, immer wieder schaute sie zur Uhr. Als das letzte Klingelzeichen ertönte, beeilte sie sich aus dem Schulgebäude zu kommen. Schnell lief sie zur Bushaltestelle und fuhr nach Hause. Ihre Eltern waren ebenfalls gerade mit dem Auto zurückgekommen und stiegen aus. Martha nahm Lucy aus der Babyschale und Werner fuhr das Auto in die Garage. Sie schwiegen, das Gesicht ihrer Mutter war sehr ernst. Ella zog es vor abzuwarten und sie nicht gleich mit Fragen zu bestürmen. Sie hatte ihre Zimmertür nur angelehnt und hörte die Auseinandersetzung, die sich unten abspielte. Vorsichtig trat sie auf den Flur, um besser hören zu können. Ihre Eltern gaben sich zwar Mühe, nicht so laut zu sein, doch Ella verstand trotzdem, worum es ging. Sie hatten der Familie Duman einen Besuch abgestattet, versucht, mit ihnen über Aylins Schicksal zu reden und im Laufe des Gesprächs war es zu einer verbalen Auseinandersetzung zwischen beiden Vätern gekommen. Martha meinte, dass ihr das Mädchen unendlich leidtue, aber jede Einmischung zwecklos sei, da die Familie die türkischen Sitten und Gebräuche achte und auch streng nach ihnen lebte. Doch Werner beharrte auf seiner Meinung, da Aylin in Deutschland geboren sei und deshalb auch das Recht habe, über ihre Zukunft selbst frei entscheiden zu können. »Die verschachern ihr eigenes Kind, wie ein Stück Vieh.« Martha ermahnte Werner immer wieder, sich in der Lautstärke zurückzunehmen. Eine Tür schlug zu und es trat Ruhe ein. Ella ging langsam die Treppe hinunter und stand nun vor ihrer Mutter. Ein verzweifelter Blick traf sie und sie sagte: »Es tut mir leid mein Kind. Wir haben versucht mit den Eltern zu reden, doch die Wünsche Aylins und die Gesetze Deutschlands scheinen die nicht zu interessieren. Der Vater besteht auf die Einhaltung des Heiratsabkommens mit dieser befreundeten Familie.« Martha nahm Ella in die Arme und trocknete ihre Tränen. »Aylin war heut nicht in der Schule.« Martha reichte ihr einen Brief, den ihr Aylin heimlich zugesteckt hatte. Tränen tropften auf den Umschlag und Ellas Blick war verschleiert. Sie rannte zurück in ihr Zimmer. Besorgt sah ihr Martha hinterher. Ella legte den Brief auf ihren Schreibtisch und setzte sich stumm davor. Wie lange sie den Brief angestarrt hatte, wusste sie nicht, doch dann nahm sie ihn und öffnete das Kuvert. Sie las, dass ihre Freundin sehr traurig war und sie sich nun nicht mehr sehen würden. Am ersten Ferientag würde sie mit ihrer Familie in die Türkei fliegen. Ihre Eltern bleiben bis zur Hochzeit und fliegen danach zurück nach Deutschland. Doch sie musste in der Türkei, bei ihrem Mann bleiben. Aylin beschrieb ihre derzeitigen Gefühle und ihre große Angst vor den Dingen, die ihr bevorstanden. Sie teilte Ella mit, dass sie gehofft habe, dass ihre Eltern weltoffener und den alten Traditionen nicht so behaftet seien. Diese Heirat war jedoch schon vor Jahren verabredet worden, ohne ihr Wissen. Immer wieder schrieb sie, wie glücklich sie bisher war und bezeichnete Ella als ihre beste Freundin. Insgeheim hoffte sie, dass sie wenigstens schriftlichen Kontakt halten konnten. Ganz am Schluss des Briefes war eine Zeile, die Ella sehr aufregte und ihr noch mehr Tränen in die Augen brachte. Aylin schrieb: ›Ich hasse es, was hier mit mir geschieht. Lieber bringe ich mich um, als so einen alten Mann zu heiraten.‹ Unterzeichnet war der Brief nur mit Aylins Initialen. Zitternd legte Ella den Brief beiseite und weinte laut. Plötzlich stand ihr Vater im Zimmer und sagte: »Gleich morgen werde ich mich erkundigen, ob man da nicht etwas unternehmen kann, um dem Mädchen zu helfen. Das verspreche ich dir. Ich gebe erst Ruhe, wenn ich alle Möglichkeiten ausgeschöpft habe.« Ella sprang ihrem Vater in die Arme und flüsterte: »Danke Papa.« Werner streichelt ihr übers Haar und ließ sie lange nicht los. Ellas Tränen trockneten langsam und sie fasste wieder Mut, ihre Freundin wiederzusehen.

 

Keine Spur von Aylin

Noch eine Woche bis die Sommerferien beginnen. Ella hatte seit diesem Brief nichts mehr von Aylin erfahren, allerdings hatte ihr Vater bei den verschiedenen Behörden für Aufruhr gesorgt und überall vorgesprochen. Seit zwei Tagen telefonierte er ständig und fuhr auch persönlich überall hin, in der Hoffnung, dem Mädchen helfen zu können. Sogar bei der Polizei war er schon, doch die Reise der Familie Duman in die Türkei war als Urlaub deklariert und niemand konnte etwas dagegen unternehmen. Die Hinweise Werners, wurden als übertrieben abgetan und er wurde aufgefordert, sich aus den privaten Angelegenheiten der Dumans herauszuhalten. Mit hängenden Schultern war er zu Hause angekommen.

 

Bedrückendes Schweigen lag an diesem Abend im Hause Kaiser, bis das schrille Läuten der Klingel alle aus ihren Gedanken riss. Martha öffnete die Tür. Zwei Polizisten und Herr Duman standen vor der Tür. Sofort stürmte Herr Duman an den Uniformierten und an Martha vorbei. Lauthals schreiend lief er durchs Haus und direkt auf Werner zu. Mit beiden Händen umklammerte er dessen Hals und verlangte die Herausgabe seiner Tochter. Er schrie so laut, dass die Nachbarn auf der Straße jedes Wort verstanden. So schnell konnten die Kollegen der Polizei nicht reagieren und hatten alle Mühe dem Mann zu folgen. Jetzt mussten sie erst einmal Werner aus dem Griff des Mannes befreien. Nach Atem ringend sackte dieser auf einen Stuhl und Martha eilte zu ihm. Sie sah das verzweifelte Gesicht von Herrn Duman und fragte ihn, was denn eigentlich geschehen sei. Mit sich überschlagender Stimme und rudimentärem Deutsch berichtete dieser, dass seine Tochter seit dem Vormittag verschwunden war. Sie habe einige Kleidungsstücke mitgenommen, sogar zweihundert Euro stahl sie ihrer Mutter aus der Haushaltskasse und er war der Überzeugung, dass Aylin sich hier in diesem Haus aufhalten würde. »Bitte, Sie können sich gern im ganzen Haus umschauen. Ihre Tochter ist nicht hier«, keuchte Werner und rieb sich noch immer die Stelle am Hals, an der Herr Duman zugedrückt hatte. Einer der Polizisten ging durch alle Räume und Martha begleitete ihn. Bereitwillig öffnete sie ihm alle Zimmertüren, damit er sich überzeugen konnte, dass Aylin nirgendwo versteckt war. Als sie zurückkamen berichtete er seinem Kollegen, dass es keine Anzeichen im ganzen Haus gab, dass das Mädchen sich hier aufhalten würde. Höflich entschuldigten sich die Polizisten bei der Familie für die Unannehmlichkeiten und forderten Herr Duman auf, mit ihnen das Haus zu verlassen. Dieser jedoch war davon überzeugt, dass Werner am Verschwinden seiner Tochter Aylin beteiligt war. Er würde erst Ruhe geben, wenn er seine Tochter wieder in seine Arme schließen könne. Kaum waren die Polizisten weg, sah Martha Ella vorwurfsvoll an und fragte: »Hast du etwas damit zu tun?« »Nein Mama, es wundert mich auch das Aylin abgehauen ist, ich wüsste auch nicht, zu wem sie gehen könnte. So viele Freunde hat sie nicht, ihre Eltern waren dagegen und nach Schulschluss wurde sie jeden Tag abgeholt. Einer ihrer Brüder hat sie sogar immer zu unseren Treffen auf den Spielplatz begleitet. Er blieb dann zwar im Hintergrund, sie war aber nie unbeobachtet und allein unterwegs.«

 

»Ist schon gut, Ella ich glaube Dir.« Traurig sah Ella ihre Mutter an und ging ohne weitere Worte in ihr Zimmer. Sie wusste genau, dass es sinnlos war, denn niemand konnte sie ihr beantworten, die quälenden Fragen ihre Freundin betreffend.

 

Schweren Herzens machte Ella sich jeden neuen Tag auf den Weg in die Schule, in der Hoffnung Aylin dort zu treffen, doch Fehlanzeige – sie kam nicht mehr. Jedoch folgte ihr von nun an täglich ein Fahrzeug, sobald sie das Haus verließ und wohin sie auch ging. Werner hatte es ebenfalls bemerkt und die Polizei informiert. Es waren die Söhne der Familie Duman, die sich an ihre Fersen hefteten, um herauszufinden, ob Ella sie zu Aylin führen würde. Ein Streifenwagen traf ein und die Polizisten sprachen mit den jungen Männern. Kurz darauf fuhren diese davon. Doch die Brüder gaben nicht auf, observierten das Haus und beschatteten Ella weiter. Martha bekam es mit der Angst zu tun und wollte mit ihnen reden, doch jedes Mal, wenn sie auf das Fahrzeug zuging, starteten sie den Motor und fuhren davon. So ging es tagelang.

 

 

Am Wochenende als alle noch schliefen, klingelte es Sturm. Aufgeregt lief Werner die Treppe hinunter. Draußen stand die gesamte Familie Duman. Die Mutter sah verweint aus und der Vater Aylins brüllte sofort los. Er wollte wissen, wo Aylin sich aufhielt und drohte Werner Gewalt an, wenn dieser nicht endlich mit der Wahrheit herausrücken würde. Ellas Vater sah, wie die drei Söhne in die Innenseite ihrer Lederjacken griffen und er konnte die Schusswaffen darin erkennen – ihm war klar, sie würden davon im Ernstfall Gebrauch machen. Werner bat Martha sofort die Polizei zu rufen, denn diese Situation schien zu eskalieren. Kurz darauf waren die Signale des Polizeifahrzeugs zu hören und als die Polizisten endlich sie eintrafen, schlug Herr Duman bereits auf Werner ein. Schwer getroffen sank dieser zu Boden und die Söhne Dumans malträtierten in zusätzlich noch mit derben Fußtritten. Martha stand dabei und versuchte mit Worten die Situation zu entschärfen, jedoch wurde sie nicht beachtet. Erst als die Polizisten bei ihnen waren und dem Ganzen nachdrücklichen Einhalt geboten, hielten sie inne. Sie drängten die Männer beiseite und stellten sich schützend zwischen die Parteien. Martha hatte den Notarzt gerufen, der kurz nach der Polizei eintraf. Werner musste einige Tage stationär im Krankenhaus verbleiben. Die Familie Duman wurde unter gewisse Auflagen auf freien Fuß gesetzt, nachdem sie zu dem Vorfall befragt wurden.

 

Der letzte Schultag war angebrochen. Ella machte ihre Sachen fertig, heute brauchte sie nicht viel, am letzten Schultag gab es selten regulären Unterricht. Nachdem sie gemeinsam mit ihren Eltern gefrühstückt hatte, verabschiedete sie sich und ging ihre Jacke holen. Sie wollte gerade die Haustür öffnen, da läutete die Klingel. Neugierig schaute sie durch das seitliche Fenster und sah drei Personen vor der Tür stehen. Langsam machte sie die Tür auf. »Guten Morgen junge Dame. Ist Dein Vater zu Hause?« Ella drehte sich um und rief nach ihrem Vater: »Papa? Hier möchte jemand zu dir.« Sie ging aus dem Haus und war noch nicht einmal zwanzig Meter vom Haus entfernt, da sah sie, wie ihrem Vater Handschellen angelegt wurden und er in ein Polizeiauto gebracht wurde. Sie lief zum Auto und schrie nach ihrem Vater. Er rief, so laut er konnte: »Mach dir keine Sorgen meine Kleine.« Das Auto fuhr los. Wie erstarrt stand Ella erst da, dann lief sie weinend zurück zum Haus. Dort fand sie ihre Mutter, die verzweifelt an der Tür stand und dem Auto hinterher starrte. »Mama? Warum haben die Polizisten Papa mitgenommen?« Völlig abwesend sagte sie: »Er soll das Mädchen ermordet haben.« Plötzlich bemerkte sie ihren Fehler und riss Ella an sich und umarmte sie innig. In der oberen Etage machte Lucy auf sich aufmerksam und Martha versuchte ihrer ältesten Tochter zu erklären, dass Aylin tot sei. Lucy schrie immer lauter, forderte so Aufmerksamkeit, weil sich keiner um sie kümmerte, während Ella mit entsetzten großen Augen die Nachricht zu verarbeiten versuchte. Es war ihr unmöglich zu erfassen, was sie grade von ihrer Mutter erfahren hatte. Ihr Herz war schwer und langsam bahnten sich die Tränen den Weg über ihre Wangen. Mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf ging sie wie ferngelenkt die Treppe nach oben und holte ihre kleine Schwester aus dem Bett. Mit dem fröhlich plappernden Kind kam sie wieder herunter und bekam mit, wie ihre Mutter telefonierte. »Ja, Herr Brand. Ich komme zur Polizei, sobald ich die Kinder untergebracht habe. Bitte kümmern sie sich um meinen Mann.« Währenddessen trafen die Polizisten mit Werner bei der Kriminalpolizei ein und brachten ihn in eine Zelle im Keller des Gebäudes. Werner protestierte nur noch leise, da er bemerkte, dass seine Worte an den Beamten abprallten und keiner auf ihn hörte. Nach einigen Stunden wurde er aus der Zelle geholt und in einen separaten Raum gebracht, dort traf er auf seinen Anwalt Lucius Brand. Der bestand darauf, mit seinem Mandanten unter vier Augen zu sprechen und drängte die Polizisten aus dem Raum. »Setzen sie sich Herr Kaiser. Ihre Frau hat mich beauftragt für sie tätig zu werden.«

 

»Alles gut und schön, aber kann mir bitte mal jemand sagen, was mir vorgeworfen wird?«

 

»Es geht um ein verschwundenes Kind – Aylin Duman. Man hat sie heute Morgen gefunden«

 

»Oh man, das ist gut. Wie geht es ihr?« Er stoppte seine Worte und sah seinen Anwalt fragend an. »Hat sie mich belastet, sagt sie, dass ich sie entführt haben soll?« Lucius Brand stand vor dem Tisch, der zwischen ihnen war und fragte mit kalter Stimme: »Ich frage Sie das nur einmal, Herr Kaiser, haben Sie das Mädchen gefangen gehalten, sexuell missbraucht und letztendlich auf grausame Art und Weise ermordet?« Werner starrte Brand fassungslos an und war für Sekunden nicht fähig zu antworten. Was ihm hier vorgeworfen wurde, war zu viel, sein Kopf sank auf die Tischplatte und er weinte. Sein Anwalt fragte leise. »Haben Sie das getan, Herr Kaiser?« Ein schluchzendes Nein, war die Antwort. Die Tür ging auf und Werner wurde zur erkennungsdienstlichen Erfassung gebracht. Stumm und völlig fertig, ließ er alles mit sich geschehen. Man nahm ihm Blut ab, gab ihm einen grauen Jogginganzug, den er gegen seine Privatkleidung austauschen musste. Seine Kleidung wurde in Plastikbeutel einzeln verpackt. Alles lief für ihn wie in Zeitlupe ab und er registrierte seine Umwelt kaum. Jetzt saß er wieder in diesem kahlen Raum und wartete. Nach einer halben Ewigkeit öffnete sich die Tür und zwei Beamte und sein Anwalt betraten den Raum. Einer der Kriminalbeamten legte einen Aktenordner auf den Tisch, öffnete ihn, entnahm einige Fotos und schob sie Werner hin. Es dauerte eine Weile, bis er registrierte, was das für Bilder waren – zu grausam waren sie, völlig verstört wischte er sie vom Tisch und schrie: »Ich war das nicht.« Tränen des Entsetzens und der Wut liefen über sein Gesicht. Er war aufgesprungen und wurde von dem zweiten Kollegen der Polizei wieder dazu genötigt sich hinzusetzen. »Wir wollen doch mal ganz ruhig bleiben, Herr Kaiser. So wurde das Mädchen heute Morgen gefunden. Die Spuren auf ihrem Körper werden gerade mit ihren Daten abgeglichen, es wird nicht mehr lange dauern, dann haben wir die endgültigen Ergebnisse und sie werden uns jetzt alles erzählen. Wie sie es angestellt haben und warum? Das Jugendamt und andere Behörden, haben uns diverse Schreiben zukommen lassen, in denen zu lesen war, dass sie Herr Kaiser, alles versucht haben, die Familie Duman an einem Urlaub in ihrer Heimat zu hindern. Sie behaupteten, dass die Tochter dort zwangsverheiratet werden sollte. Hier steht alles schwarz auf weiß, genauestens dokumentiert und protokolliert. Das haben sie sich doch alles nur ausgedacht, damit das Mädchen in ihrer Nähe bleibt. Sie war eine gute Freundin ihrer Tochter, nicht wahr?“ Werner schüttelte angesichts dieser Verdächtigungen nur noch den Kopf und verneinte jede Frage. Der Beamte war ein hartnäckiger Brocken und hielt nicht inne mit seinen Verdächtigungen. »Sie haben selbst zwei Töchter, haben die bisher nur Glück gehabt, dass sie diese nicht missbraucht haben. Ich kann ihnen sagen, Herr Kaiser, dass Pädophile im Knast in der Hackordnung ganz unten stehen. Es wäre also zu ihrem Vorteil, wenn sie geständig sind, dann können wir sie vor Übergriffen nach ihrer Verurteilung schützen.« Nervös sah der Kriminalbeamte immer wieder auf seine Uhr. Fragende Blicke gingen zu seinem Kollegen, dieser verließ den Raum, um nach den Ergebnissen der Obduktion zu fragen. Kopfschüttelnd kam er zurück. Lucius Brand ergriff das Wort und wehrte sich gegen die Art des Verhörs und der Schaffung eines unbewiesenen Tatsachenbestands. Er warf einen Blick in die Akte und fragte nach dem ungefähren Todeszeitpunkt des Kindes. Der Kommissar sagte ihm, dass das Kind bereits seit zwei bis drei Tagen tot sein musste. Der Fundort der Leiche war nicht der Tatort. Lächelnd stand der Anwalt auf, nahm seinen Mandanten am Arm und verließ mit dem verstörten Werner den Raum. »Sie bekommen morgen eine schriftliche Erklärung von mir. Mein Mandant wurde vor vier Tagen vom Vater und den Brüdern des toten Mädchens, krankenhausreif geschlagen, weil diese meinten, Selbstjustiz üben zu müssen. Herr Kaiser hat drei Tage stationär in der Klinik gelegen und wurde erst gestern Nachmittag entlassen. Daher stammen die Verbände und die blauen Flecken auf dem gesamten Körper meines Mandanten. Übrigens, in dieser Sache bin ich auch für ihn tätig.«

 

Die Tür schlug etwas unsanft zu und weg waren sie. Vor dem Präsidium wartete schon Martha, die nervös auf und ab lief. Überglücklich fiel sie Werner in die Arme. Werner stand noch unter Schock, das war alles zu viel für ihn und er wollte nur noch nach Hause. Lucius Brand fuhr sie, als sie vor dem Haus ankamen, erlebten sie eine böse Überraschung. Sie konnten

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: © Lina George
Bildmaterialien: © McCarthys_PhotoWorks by stock.adobe.com
Cover: Cover-Designer: Tom Jay
Lektorat: Heidelinde Penndorf
Satz: Heidelinde Penndorf
Tag der Veröffentlichung: 14.11.2019
ISBN: 978-3-7487-2064-5

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