Der Mann mit den Sorgenfalten, weder Bub noch Greis, reist manisch und schläft ruhelos. Für einen Augenblick sitzt er auf der Bank mit der hohen Rückenlehne. Er nimmt einen weiteren Schluck Kaffee aus einem Pappbecher. Der wirre Lärm der Großstadt rauscht an ihm vorbei.
Sein Blick ruht auf dem Lateinlehrer, der vor dem Hintereingang des Hauses einer 19 jährigen Schülerin auf und ab geht. Der Mann mit den Sorgenfalten spricht in Gedanken: Du findest sie scharf. Ziemlich scharf. Der Nachhilfeunterricht in Latein ist ein probater Vorwand. Du kannst Dich umdrehen, Deine Frau mit ihren Lieblingsblumen überraschen und damit beginnen, den Staub deines Ehelebens weg zu pusten. Du kannst auch die Scheidung einreichen und mit der intelligenten Besitzerin des Kunstcafes ein neues Leben beginnen. Ich kann nichts tun. Ich kann nur dasitzen und zusehen, welche Entscheidung Du triffst.
Der Lateinlehrer öffnet die Hintertür des Hauses. Der Mann mit den Sorgenfalten erhebt sich von der Bank, geht drei Schritte und wirft seinen leeren Kaffeebecher in den Mülleimer. Die Sorgenfalten auf seiner Stirn wiegen schwer. Welch dummes Ding, das ihm verschweigt, dass sie die Pille nicht nimmt, denkt er bei sich und setzt seinen Weg fort.
Hektik liegt wie Smog auf der Straße. Im Vorbeigehen sieht der Mann mit den Sorgenfalten eine junge Frau ein Duzend Einkaufstaschen in ihren Händen tragen. Du wirst Dein Jura-Studium abbrechen und nicht wissen, wie Du die Hypothek für Deine Villa begleichen sollst.
Er sieht im Vorbeigehen den Macho, der sich im Schaufenster spiegelnd betrachtet, seinen Hemdkragen richtet und mit einer Hand wohlgefällig seine Haare nach hinten glatt streicht. Der Mann mit den Sorgenfalten denkt: Deine Mutter wird Dich aus dem behütenden Nest werfen und Du wirst ohne Freunde, da Du sie nicht hast, mit dem Straßenleben vorlieb nehmen.
Der Mann mit den Sorgenfalten geht weiter und senkt seinen Blick zu Boden. Er ist müde. Müde von der Welt. So schreitet der Mann mit den Sorgenfalten eine Weile voran bis er seinen Kopf erhebt.
Er blickt zu dem Busfahrer, der sein Vehikel auf der gegenüberliegenden Straßenseite anhält. Der Mann mit den Sorgenfalten spricht in Gedanken: Du denkst darüber nach, den Zehnjährigen, der neben Dir steht und sich begeistert für die Funktionen auf dem Armaturenbrett interessiert, zu einer Sonderfahrt einzuladen und Dich an ihm zu vergehen. Du kannst den Jungen gehen lassen und Dich in Therapie begeben. Oder Du wählst den Tod, um Dich von Deinem Leid zu erlösen und weiteren Kindern die peinvolle Qual zu ersparen. Ich kann nichts tun. Ich kann nur dastehen und zusehen, welche Entscheidung zu triffst.
Der Busfahrer greift in seine Hosentasche und zieht einen Geldschein heraus. Er gibt diesen dem Zehnjährigen und deutet auf ein Spielwarengeschäft zwischen Bäckerei und Optiker. Der Zehnjährige bedankt sich mit großen Augen beim Busfahrer, hüpft aus dem Bus und geht in die Richtung des Spielwarengeschäftes. Der Busfahrer stürzt so dann aus dem Bus heraus und überquert rennend die befahrene Straße. Autos hupen. Der Busfahrer hastet an dem Mann mit den Sorgenfalten vorbei und stoppt an der Theke des Zeitungsverkäufers. „Darf ich bitte Ihr Telefon benutzen? Ich brauche einen Arzt!"
Der Mann mit den Sorgenfalten entspannt seine Stirn, wendet sich ab und geht seines Weges.
Im Vorbeigehen sieht er den Mann im Anzug, der die leere Tüte seines Lachsbrötchens zerknüddelt und diese dem Obdachlosen in seinen Hut wirft. Der Mann mit den Sorgenfalten denkt bei sich: Wenn Du in zweieinhalb Jahren an Zungenkrebs erkrankst, und das ist gewiss, wirst Du die Krebserkrankung für Dein Karma halten und in der Kirche Oblaten verteilen.
Der Mann mit den Sorgenfalten sieht im Vorbeigehen die Seniorin, die schleichend ihren Rollator vor sich herschiebt und er weiß: Du wirst die Lotto-Zahlen nehmen, den Dein verstorbener Mann vor Jahren zuvor notiert hat. Ein Segen für Deine Großfamilie mit den zwölf Enkeln und vier Urenkeln.
Für wenige Schritte schließt der Mann mit den Sorgenfalten seine Augen. Nachdem er sie wieder öffnet, biegt er links in die Seitenstraße ein. Er bleibt vor dem Wirtshaus stehen. Durch das Fenster sieht er den Kellner, der hinter der menschenleeren Theke ein Buch liest.
"Brieftasche her!"
Der Mann mit den Sorgenfalten schaut nach rechts.
"Brieftasche her, dann passiert Dir nichts!"
Der Mann mit den Sorgenfalten verschränkt die Arme vor seiner Brust, wendet sich dem Junkie mit dem Messer in der Hand zu und betrachtet ihn: Du ahnst bereits, dass Du zwischen Entzugs- und Arrestanstalt hin und her pendeln wirst. Eine mögliche Überdosis Heroin ist übrigens äußerst hässlich. Du könntest auch einsehen, dass der Job im Tiefkühlwarenlager nicht der schlechteste ist. Ich kann nichts tun, Du entscheidest. Aber ich lasse mich von Dir nicht ausrauben.
"Taub oder was? Gib jetzt Deine beschissene Brieftasche her!"
"Nein!", gibt der Mann mit den Sorgenfalten zurück.
"Ich steche Dich ab", droht der Junkie. Seine Stimme zittert unsicher.
Der Mann mit den Sorgenfalten geht einen Schritt auf den Junkie zu. "Mach doch."
Der Junkie erhebt das Messer, holt aus, bremst seinen Schwung abrupt ab, erwischt den Oberschenkel von dem Mann mit den Sorgenfalten, das Messer fällt zu Boden, der Junkie rennt davon.
Der Mann mit den Sorgenfalten presst mit seiner Handfläche die blutende Wunde ab und hockt sich hin. Eine zarte Hand berührt seinem Rücken. Er blickt hoch. "Verschwiegenheit, was machst DU hier?"
"Weißt Du in welchen Schwierigkeiten ich stecken würde, wenn der Boss erfährt, dass ich hier bin? Zeig mal her." Die Frau besieht sich die Wunde. "Den Körper bekomme ich wieder zusammen genäht. Steh jetzt auf. Oder willst Du, dass Dein Schicksal besiegelt ist, Schicksal?
Texte: Anna Wacher
Cover: Anna Wacher
Tag der Veröffentlichung: 06.09.2018
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