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Im Schatten der Dunkelheit

 

 

Ich ergreife deine bleiche Hand und spüre eisige Kälte. Nichts regt sich. So vieles was ich dir noch sagen wollte, verschließt sich in meinem Herzen, für immer. Dein Lachen hallt in meinen Gedanken wider und Erinnerungen an unsere Kindheit legen sich wie ein Schleier über die letzten Ereignisse. Unendliche Traurigkeit lähmt mich, verhindert den befreienden Schmerz. Tränen bleiben ungeweint, Schreie lautlos.

 

1

 

Ein Raunen ging durch den Gerichtssaal, als Richter Breuer mit seinem Gefolge den Saal betrat. Die Spannung in der Luft war greifbar. Die schwüle Sommerluft machte das Atmen schwer und einige der Zuschauer wedelten mit Fächern, um die stickige Luft ertragen zu können. Sämtliche vierunddreißig Zuschauerplätze waren besetzt. Dieses Verfahren hatte in Erfurt für Aufsehen gesorgt. Die Presse lauerte vor den Türen und erwartete mit Spannung das Urteil. Nach vier Verhandlungstagen war heute die Urteilsverkündung.

Geräuschvoll erhoben sich alle Anwesenden. Michael richtete einen eiskalten Blick direkt auf den Angeklagten, so wie auch an den anderen Verhandlungstagen ließ er ihn nicht aus den Augen. Der junge schlaksige Mann hinter der Anklagebank erwiderte den Blick hämisch grinsend. Michael ergriff die zarte Hand seiner Mutter und spürte, wie ihr ganzer Körper zitterte. Andrea war Nebenklägerin in diesem Verfahren.

Richter Breuer erhob seine Baritonstimme und begann mit der Verlesung des Urteils.

»Der Angeklagte Sebastian Klinger wird für nicht schuldig ...«, tumultartig riefen die Anwesenden dazwischen.

»Das gibt’s doch nicht, der war’s doch!«, rief eine ältere Dame.

»Wo bleibt denn hier die Gerechtigkeit! Ein Skandal ist das!«, ein Mann in der zweiten Reihe erhob drohend seine Faust.

»Ruhe im Saal!«, schrie der Richter.

»Ruuuhe!...«.

Bestürzt und resigniert setzte sich die aufgebrachte Menge wieder hin. Keiner hörte noch aufmerksam zu. Hier und da sah man betrübtes Kopfschütteln.

Der Richter führte seine Ausführungen fort. »...war die rechtswidrige Verwendung des DNA-Tests.«

»Eine Sauerei ist das! Alles können die sich erlauben, alles!«, rief eine Frau aus der dritten Reihe, deren schwammiges Gesicht vor Zorn und Hitze gerötet war.

Andrea sank auf ihrem Stuhl zusammen und vergrub das Gesicht in ihren Händen. Eine Mischung aus Fassungslosigkeit, Resignation und Zorn verhinderte jeden ersichtlichen Gefühlsausbruch. Am liebsten hätte sie laut geschrien, doch sie regte sich nicht. Wie versunken auf dem dunklen Meeresgrund hörte sie nichts mehr. In ihren Ohren war nur noch ein Rauschen. Die weiteren Erklärungen des Richters waren für sie nicht mehr als aufsteigende Luftblasen.

Der Staatsanwalt hatte Berufung angekündigt, doch das nahmen die meisten nicht mehr wahr. Micheal dagegen wartete nur, bis der Richter mit seinen Ausführungen am Ende war. Dann schlug er heftig mit der Faust auf den Tisch. Den schlanken Oberkörper weit über den Tisch gebeugt, zeigte er auf den Angeklagten und brüllte: »Ich krieg dich, du Ratte, verlass dich drauf!« Seine dunklen Augen lagen in tiefen Höhlen und versprühten Hass und Wahnsinn.

Herr Senftenberg, der Anwalt der Nebenklage, schaffte es schließlich, Micheal etwas zu beruhigen. »Bitte, Herr Deubner, denken Sie an Ihre Mutter, sie braucht Sie jetzt!«

Aufgeregt verließen die Menschen den Gerichtssaal und schwappten wie eine Wasserwelle, die gefüllt war mit Beschimpfungen auf das Rechtssystem und allen Ungerechtigkeiten dieser Welt geradewegs den Reportern entgegen, die mit ihren Mikrofonen diese Flut aufnahmen, um sie später zu reißerischen Schlagzeilen zu verarbeiten.

Andrea und Michael warteten auf Anraten ihres Anwaltes, bis sich die Situation im Treppenhaus beruhigt hatte. Schwermütig stützte sich Andrea auf das Treppengeländer und schritt mit zittrigen Knien Stufe für Stufe nach unten.

 

 

2

 

 

Sebastian Klinger betrat mit seinem Anwalt Norbert Straub den breiten Flur. Sie gingen entgegengesetzt zum Ausgang auf eine Fensternische zu.

»Sie sind frei, was werden Sie nun tun, Sebastian?«

»Na erst mal richtig feiern und meine Freiheit genießen!« Er grinste und schaute durch das Fenster. Auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig warteten seine Freunde Tobias und Oliver.

»Tja, Herr Anwalt, ich muss los, meine Freunde warten. Vielen Dank, dass Sie mich da rausgehauen haben, war echt super.« Der schlanke junge Mann sah trotz seiner vierundzwanzig Jahre in seinem Anzug eher wie ein Konfirmand aus. Es schien, als müsse er in den Anzug noch hineinwachsen. In seinem Gesicht waren keine Anzeichen von Bartwuchs zu erkennen, die Haut zart und glatt, fast wie ein weibliches Modelgesicht.

Niemand würde vermuten, dass er ein brutaler und rücksichtsloser Schläger war.

»Warten Sie bis sich alles etwas beruhigt hat.«, sagte der Anwalt.

Er mochte Sebastian nicht. Doch darum ging es nicht. Sebastians Eltern, Gerhard und Carola, hatten ihn beauftragt, ihren Sohn aus diesem Schlamassel rauszuholen. Der Anwalt kannte die Familie schon viele Jahre und irgendwie war ihm entgangen, wann Sebastian zum ›Oberarschloch‹ geworden war. Plötzlich war er nicht mehr der nette Junge seines Freundes.

Er war das einzige Kind und besuchte nie einen Kindergarten. Seine Mutter blieb zehn Jahre nach der Geburt zu Hause, um voll für ihr Kind da zu sein. Sie konnten es sich leisten. Gerhard war als Softwareentwickler sehr erfolgreich, hatte schon mehrere Programme und Apps geschrieben, die ihn reich gemacht hatten.

Die Liebe und Zuneigung, die er seinem Sohn aus Zeitmangel nicht geben konnte, hatte er materiell ausgeglichen. Das Kinderzimmer von Sebastian hatte keine Wünsche offengelassen. Was immer das Kind gewollt hatte, er bekam es.

Die ersten Schwierigkeiten gab es, kurz nachdem er auf das Gymnasium wechselte. Er fing an, Lehrer und Mitschüler zu beleidigen und respektlos zu behandeln. Im Unterricht spielte er mit dem Handy oder redete pausenlos mit seinem Nachbarn, kaute provokant Kaugummi, warf Steinchen im Klassenzimmer nach vorn, hörte Musik oder legte die Füße auf den Tisch. Zum Sportunterricht erschien er erst gar nicht, da hatte er keinen Bock drauf. Mehrfach wurde ihm der Rauswurf angedroht. Doch seine Mutter Carola scheute sich nicht, ihren Sohn vor den Lehrern zu verteidigen. Sie versprach immer wieder, dafür zu sorgen, dass Sebastian sich bessern würde, jedoch ohne Erfolg.

Später schlug er auch zu, seine Gewaltbereitschaft wurde größer. Sebastian verstand es immer wieder seiner Mutter plausibel zu erklären, warum er tat was er tat. Sie liebte ihren Sohn bedingungslos ohne sehen zu wollen, was wirklich vor sich ging.

Gerhard, der nach seinen langen Arbeitstagen seine Ruhe wollte, gab sich mit den Erklärungen seiner Frau zufrieden.

Norbert Straub und er kannten sich von der Firma NYBITE, wo Gerhard heute noch arbeitete und Peter bis 2007 als Jurist tätig war. Dann hatte er sich einen lang ersehnten Wunsch erfüllt und mit seinem Studienfreund eine Kanzlei eröffnet. Seitdem traf er sich mit Gerhard nur noch selten, meist in einer Bar oder einem Restaurant. Sie tranken etwas, schwärmten von alten Zeiten und lachten viel. Als sie noch Kollegen waren, grillten sie auch ab und zu gemeinsam. Die zwei Familien hatten sich gut verstanden. Damals war Sebastian im Grundschulalter und seine eigene Tochter gerade mal im Kindergarten. Zu jener Zeit schien Sebastian noch ein ganz normaler Junge zu sein.

Die Eltern von Sebastian waren während der Verhandlungstage nicht anwesend. Es war vor allem Gerhard peinlich, einen kriminellen Sohn zu haben. Diese Art von öffentlicher Aufmerksamkeit konnte er in seiner Position nicht gebrauchen.

Die Verhaftung des Sohnes hatte bei dem Ehepaar zu heftigen Streitigkeiten geführt. Für Gerhard stand außer Frage, dass Carola für dieses Desaster verantwortlich war, schließlich war sie jahrelang zu Hause.

Behinderungen in seiner beruflichen Kariere duldete Gerhard keinesfalls, das machten seine Wutausbrüche deutlich. Er hätte seinen Sohn vor die Tür gesetzt. Carola fiel es schwer, mit dieser ablehnenden Haltung ihres Mannes umzugehen. Und nur ihr unerbittliches Gejammer hielt Gerhard davon ab. In seinen Augen war er ein erbärmlicher Versager, der es nicht verdiente, sich weiterhin von seinen Eltern aushalten zu lassen. Für ihn war Sebastian nur noch geduldet.

 

3

 

Vor dem Gerichtsgebäude diskutierten die Menschen noch immer aufgebracht über das Urteil. Andrea und Michael warteten bis die Menge sich aufgelöst hatte, keinesfalls wollten sie mit Reportern sprechen.

»Frau Deubner, kommen Sie doch bitte übermorgen zu mir in die Kanzlei, dann besprechen wir, wie es weitergeht.« Herr Senftenberg nickte Michael zu und ging mit gesenktem Kopf davon. Michael legte den Arm um die Schultern seiner Mutter und führte sie langsam am Dom vorbei in die Mainzerhofstraße und weiter in die Mittelmühlgasse. Sabine hatte vor dem Gerichtsgebäude gewartet. Sie war zur Urteilsverkündung extra aus Nürnberg angereist, um ihrer jüngeren Schwester beizustehen. Jetzt hatte sie Zweifel ob ihr das gelingen würde.

Die warme Luft flimmerte bei wolkenlosem Himmel. Gutgelaunte Erfurter und Touristen belebten unbeschwert die Straßen, lachten und machten Fotos. Sie ahnten nicht, welches Schicksal die kleine zierliche Frau mit dem blassen Gesicht erlitt, dass für sie und ihren Sohn die Waagschale des Rechts soeben eine gehörige Schlagseite bekommen hatte.

Das Klacken von Absatzschuhen auf dem Asphalt durchbrach die Stille der kleinen Gruppe. Mit schnellen Schritten war Rebecca ihnen gefolgt. Auch sie war im Gericht. Am zweiten Verhandlungstag hatte sie als Hauptzeugin ausgesagt. Wieder durchlebte sie die Ereignisse und Ihre Schuldgefühle gewannen die Oberhand, kein Tag verging ohne die Frage nach dem Warum.

»Darf ich euch begleiten?«

»Natürlich, komm mit«, sagte Michael.

Schweigend erreichten sie die kleine Wohnung im ersten Stock, in der Andrea seit fast zwei Jahren allein lebte. Mit der Zuversicht auf ein gerechtes Urteil, hatten sie und Sabine am Tag zuvor Kuchen gebacken.

Erschöpft sank Andrea im Wohnzimmer auf einen Sessel. Sabine öffnete das Fenster, doch die Geräusche der Straße drangen nicht zu ihnen durch.

»Möchtest du mit uns Kaffee trinken oder möchtest du dich lieber ausruhen?«

»Ich komme mit in die Küche, ich komme doch jetzt sowieso nicht zur Ruhe.«

Sie erhob sich aus dem Sessel und lief durch den kleinen Flur, wobei sie kurz vor dem Spiegel Halt machte. Die greisenhafte Frau mit dem ausdruckslosen faltigen Gesicht in dem schwarzen Kostüm sah zerbrechlich und fremd aus. Sie hatte keine Ähnlichkeit mit der vitalen sportlichen Fünfzigjährigen, die sie noch vor einem Jahr gewesen war.

Michael hatte inzwischen in der Küche den Tisch gedeckt. Die Kaffeemaschine röchelte und versprühte einen herrlichen Duft. Sie setzten sich an den Tisch und aßen Kirschkuchen, ohne Appetit. Das Urteil schwebte im Raum und sorgte weiter für getrübte Stimmung. Warme Sonnenstrahlen drangen durch das angekippte Fenster und hinterließen glitzernde Perlen auf der Haut. Nur das Summen einer herumschwirrenden Fliege begleitete die leisen Essgeräusche.

»Ist das nicht unglaublich? ich bin total entsetzt, ich kann nicht verstehen, wie es dazu kommen konnte, es war doch alles klar! Schlimm, dass dieser...«, störte Rebecca das Schweigen und suchte nach einem passenden Wort.

»Dieses dreckige Schwein meinst du!« Michael legte seien ganzen Hass in dieses Wort. »Ja, ich meine, dass der jetzt wieder auf freiem Fuß ist«, vollendete Rebecca ihren Satz.

»Ich bin heilfroh, dass ich umgezogen bin, ich will mir nicht vorstellen, dass der plötzlich wieder vor meiner Tür steht. Mir wird jetzt noch ganz übel, wenn ich daran denke, wie er mit seinen Kumpels vor meiner Eingangstür stand und mich vollgepöbelt hat. Meine kleine Carla hatte am ganzen Körper gezittert und geweint, weil dieser Idiot sogar mit einem Klappmesser vor meinem Gesicht rumgefuchtelt hatte. Wer weiß, was passiert wäre, wenn nicht in dem Moment mein Nachbar die Tür von innen geöffnet hätte und wir blitzschnell im Hausflur verschwinden konnten.«

»Mach dir keine Sorgen, ich kümmere mich um das Schwein. Wenn der Staat das nicht hinkriegt, muss ich eben selbst was unternehmen!«

»Michael, du solltest keine unüberlegten Sachen tun«, mischte sich nun Sabine in das Gespräch ein. »Mach dich nicht strafbar, damit hilfst du deiner Mutter auch nicht.« Ihre Stimme war energischer geworden.

»Ich lass mich doch nicht erwischen, bin doch nicht blöd!«

»Michael, Sabine hat Recht, bring dich nicht in Schwierigkeiten«, flehte Andrea ihren Sohn an.

»Wie geht es Carla?«, fragte Michael, um vom Thema abzulenken, doch sein Gesichtsausdruck verriet Zorn und Widerstand.

»Die Kleine ist bei meinen Eltern, es geht ihr gut. Aber deine Mama hat Recht, mach keinen Unsinn, das hilft niemandem!«

»Fang du doch nicht auch noch damit an, ihr seht doch, dass es keine Sau interessiert, ob der bestraft wird oder nicht!« Sofort tat es ihm leid, dass er Rebecca gegenüber laut geworden war. Doch der gewaltsame Verlust seines Bruders wühlte ihn immer wieder auf. »Dieses Schwein darf einfach nicht so davonkommen.«

Michael ballte seine Hände zu Fäusten, bis die Knöchel weiß hervortraten. Sein blasses Gesicht mit den schmalen Lippen wurde zu einer regungslosen Maske. Seine tiefliegenden Augen funkelten bedrohlich.

Niemals würde er die Verzweiflung und den Schmerz vergessen, als er den leblosen Körper seines jüngeren Bruders in dem Krankenbett auf der Intensivstation sah. Beide Seiten des Bettes waren flankiert von medizinischen Überwachungsgeräten. Doch der monotone Sound, der am Vortag noch Leben versprach, war verstummt. An den Infusionsständern hingen mehrere Infusionssysteme, deren Durchlauf mit Klemmen gestoppt wurde. Jeglicher Fluss war zum Stillstand gekommen und Michael hatte in diesem Moment das Gefühl, sich in einem Vakuum zu befinden.

Es war so still in diesem Krankenzimmer. Er starrte auf die weiße Bettdecke und bildete sich ein, wie in Zeitlupe ein Heben und Senken im Brustbereich zu sehen. Torsten lag so friedlich in diesem Bett, als würde er nur schlafen. Nur die Hämatome in seinem Gesicht, die inzwischen die unterschiedlichsten Farben von gelb bis violett angenommen hatten, zeugten von durchlittenem Leid. Als Michael nach einigem Zögern die bleiche Hand seines Bruders ergriff, lief ein kalter Schauer durch seinen Körper. 'So fühlt sich also der Tod an'.

 

Sabine stand auf und räumte den Tisch ab, sie musste einfach etwas tun, sonst würde sie noch verrückt werden. Der gewaltsame Tod ihres Neffen und die darauffolgenden Ermittlungen und schließlich die Gerichtsverhandlungen stellten die gesamte Familie auf eine außergewöhnlich harte Probe. Es war schrecklich für sie, ihre Schwester und Michael so leiden zu sehen. Sabine war seit einigen Monaten im Vorruhestand, deshalb konnte sie sich die Zeit nehmen, um ihre Schwester, so gut es ging zu unterstützen oder einfach für sie da sein.

Keiner brachte einem bei, wie man sich in solch schweren Situationen verhalten sollte. Sie war verunsichert, wusste manchmal nicht so recht, ob sie lieber etwas sagen oder eher schweigen sollte.

Sabine und ihr Mann Rüdiger lebten in Nürnberg ein recht angenehmes Leben. Sie waren nicht reich, konnten aber zweimal im Jahr in den Urlaub fahren und ihre Tochter Isabell, die Germanistik studierte, unterstützen. Wenn sie ihren Abschluss in der Tasche hatte, wollte sie für ein Jahr nach Amerika gehen. Sabine und Rüdiger waren sehr stolz auf ihre Tochter, hatten sie doch damals in ihrer Jugend nicht diese Möglichkeiten. Die Vorstellung, dass Isabell etwas zustoßen könnte, war für Sabine geradezu unerträglich.

 

 

4

 

»Und warum kommst du heute später?«, fragte Carla und ihre blonden Locken hüpften beim Laufen verspielt auf und ab.

»Ich fahre nach Frankfurt und hole Maria vom Flughafen ab.«, antwortete Rebecca. Es war gerade mal kurz nach sechs Uhr morgens, und die zwei liefen zum Kindergarten. »Kommt Maria dann auch mit, wenn du mich abholst?«

»Ja, ich glaub schon, außer, sie ist so müde, dass sie sich von dem langen Flug ausruhen möchte.«

»Wie lange muss sie denn fliegen?«

»Oh, ich glaube, sie ist fast zwölf Stunden unterwegs.«

»Wie lange sind zwölf Stunden?«

»So, von früh bis Abend, würde ich sagen.« Sie betraten den Kindergarten, in dem es noch erstaunlich ruhig war. Nachdem Carla ihre Strickjacke aufgehängt hatte, gab sie Rebecca, wie jeden Morgen einen Kuss auf die Wange, drehte sich um und lief zu Frau Reber.

»Sollte es bei mir später werden, holt Oma dich ab!«

 

Erst wollte Rebecca mit dem Auto nach Frankfurt fahren, entschied sich aber dann dagegen. Im Zug konnten sie sich angeregt unterhalten ohne sich auf die Straße konzentrieren zu müssen. Und sie hatten sich eine Menge zu erzählen. Schließlich war es fast drei Jahre her, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten. Maria wohnte mit ihrem Mann und zwei kleinen Söhnen in Almeria in Spanien. Das Internet war ihre Plattform zur Kommunikation wann immer sie wollten oder konnten. Doch die persönlichen Besuche waren durch nichts zu toppen.

Die Freundschaft der Beiden nahm einen ungewöhnlichen Anfang. Eines Tages kam Rebeccas Mutter von der Arbeit und hielt ihr einen Zettel entgegen. Sie war zu jener Zeit in der Verwaltung eines Gemüsehandels tätig.

»Sieh mal, was ich heute zwischen den Apfelsinen gefunden habe. Das ist doch eine Adresse in Spanien. Hast du nicht Lust, da mal hinzuschreiben?« Rebecca nahm das Seidenpapier in die Hand und schaute auf die Adresse, die krakeliger Handschrift war nur schwer zu entziffern.

Rebecca erinnerte sich noch genau, wie aufgeregt sie damals war, als sie den ersten Brief zur Post gebracht hatte. Die Dame mit dem schmalen Gesicht hinter dem Schalter schaute erst auf den Brief, dann schob sie ihre Brille auf die Nasenspitze und sah streng auf sie herab.

»Luftpost?« Rebecca hatte nur genickt.

»Fünfundfünfzig Pfennig!«

Mit verschwitzten Händen schob sie die klebrigen Geldstücke auf das abgeschabte Holz des Tresens.

Maria, die damals, genau wie Rebecca, noch zur Schule ging, hatte ihre Adresse heimlich in eine Apfelsinenkiste gelegt, als sie ihre Mutter in Almeria bei der Arbeit auf der Plantage besucht hatte. Von dort wurden damals Apfelsinen in alle möglichen Länder exportiert. Maria hatte also nicht gewusst, wo ihre Adresse landen würde.

 

Der Flieger mit Maria an Bord landete pünktlich zehn Uhr dreißig. Aufgeregt wartete Rebecca darauf, Maria endlich umarmen zu können.

»Es ist so schön, dass Du da bist, und Du siehst phantastisch aus«, dabei trat Rebecca einen Schritt zurück und begutachtete ihre Freundin mit den langen schwarzen Haaren und den dunklen Augen. In ihrer bunten knöchellangen Jeans und der himmelblauen Bluse, dazu Pumps in passendem Blau, sah ihre Freundin perfekt aus.

»Wie schaffst Du das nur trotz Familie, so gut auszusehen?«

»Danke, …das Klima, das Klima, es lässt dich immer ein bisschen besser aussehen.« Maria lachte.

»Ich weiß zwar, dass es dir gerade nicht so gut geht, aber du siehst super aus.«

»Ich hab mir heute Morgen auch viel Zeit genommen. Komm, lass uns zum Bahnsteig rübergehen.« Mit nur drei Minuten Verspätung verließ der ICE den Bahnhof.

 

»Wie war dein Flug, waren die Stewardessen auch nett zu dir? Wie geht es Manuel und Ariadna? Und natürlich auch deinem Mann Fernando!«, schob Rebecca noch schnell hinterher.

»Die Kinder sind bei meiner Mutter. Du weißt ja, seit sie nicht mehr arbeitet, freut sie sich jedes Mal, wenn ich ihr die Kinder bringe. Es macht sie glücklich, die Zwei zu verwöhnen. Hinterher muss ich einiges wieder gerade bügeln, aber ich gönne es ihr und den Beiden. Fernando arbeitet wie immer zu viel, aber es geht ihm gut. Ich soll dich herzlich grüßen. Er meint, du sollst mich nicht zum megashoppen verleiten, sagt er.« Maria lachte.

»Ich bin so froh, dass du hier bist. Gerade jetzt kann ich eine gute Freundin gebrauchen. Heute Abend, wenn Carla im Bett ist, erzähl ich dir von der Gerichtsverhandlung.«

Rebecca wusste, dass Maria eine sehr gute Zuhörerin war und irgendwie immer die richtigen Worte fand.

Die Fahrt nach Erfurt verlief planmäßig. Vom Bahnhof fuhren sie mit dem Taxi.

»Schick, deine neue Wohnung, fühlst du dich wohl hier?«, fragte Maria, als sie mit Rebecca einen Rundgang durch die Zimmer machte.

»Mir gefällt es richtig gut hier, auch Carla fühlt sich wohl, sie hat auch schon eine neue Freundin in der Nachbarschaft gefunden. Zum Glück musste ich die Kita nicht wechseln, das hat die Entscheidung leicht gemacht. Komm, lass uns kurz etwas trinken und dann Carla abholen, sie ist schon ganz neugierig auf dich.«

Zwanzig Minuten später drang ohrenbetäubender Lärm aus den Räumen der Kita.

»Ich bin immer wieder beeindruckt, wie die Erzieherinnen das hier den ganzen Tag aushalten.«

Nach einer herzlichen Begrüßung führte der direkte Weg zum Café Füchsen. Sie fanden einen Tisch im Freien und Carla bekam ihr geliebtes Spaghetti-Eis. Es war ein wunderschöner Tag, die warmen Sonnenstrahlen streichelten zart ihre Haut, sie lachten herzlich, beobachteten die Passanten, Maria erzählte von ihren Kindern und zeigte Fotos von zu Hause, die Rebecca in Urlaubsstimmung versetzten.

 

Carla schlief nach dem aufregenden Tag tief und fest in ihrem Bettchen und sah aus wie ein Engel. Sie hatte die blonden welligen Haare ihres Vaters geerbt. Ein Leben ohne ihre Tochter konnte Rebecca sich wahrlich nicht mehr vorstellen, obwohl Konrad vor ihr und seinen Vateraufgaben flüchtete als hätte sie die Pest gehabt. Sie kannten sich aus ihrer Zeit an der Uni in Jena. Er war zu jener Zeit Dozent dort. Als sie sich zufällig wiedertrafen, arbeitete Rebecca bereits in einem Forschungslabor. Seine charmante Art und die Fähigkeit, das Leben leicht zu nehmen, übte eine besondere Anziehungskraft aus. Doch Kinder waren in seiner Lebensplanung nicht vorgesehen. Zwar bezahlte er brav seinen Unterhalt, verzichtete aber auf das Umgangsrecht. Es wird eine echte Herausforderung werden, dies ihrem Kind eines Tages erklären zu müssen.

 

Maria und Rebecca hatten es sich im Wohnzimmer auf der Couch bequem gemacht und stießen mit einem Rotwein auf ihre Freundschaft an.

»Erzähl doch mal, wie kam es denn überhaupt zu dem Freispruch?«

»Komisch, es fällt mir immer noch schwer, darüber zu reden. Wenn ich an diesen Überfall denke, hab ich sofort einen Kloß im Hals. ...Also, dass Klinger freigesprochen wurde, ist die blanke Katastrophe«

»Aber, ich dachte, er sei eindeutig überführt worden. Hatten die nicht sogar einen DNA-Test?« Maria stellte ihr Glas ab und griff nach den Vital-Keksen mit Suchtfaktor.

»Ich kann dir sagen, dieser Freispruch war ein juristisches Desaster.«

Nach einer kurzen Pause sprach Rebecca weiter.

»Ja, ja, der DNA-Test sollte aber schon längst aus den Akten gelöscht gewesen sein. Und deshalb hätte er nicht verwendet werden dürfen. Ich bin kein Jurist, hab keine Ahnung, wie sowas läuft.« Rebecca nahm einen Schluck Rotwein.

»Weißt du, nie werde ich den zweiundzwanzigsten Oktober vergessen. Da hat mein unspektakuläres Leben einen mächtigen Seitenhieb bekommen. Ich konnte dir ja die Geschichte noch nie richtig erzählen. Ich wollte Carla an dem Tag so gegen neunzehn Uhr vom Kindergeburtstag abholen. Und, weil mein Auto in der Werkstatt war, mussten wir laufen, ist ja auch nicht so weit. Du kennst das ja, Kindergeburtstag ist für die Kleinen eine aufregende Sache. Ich wünschte Ute noch gute Erholung und wir gingen los. Mein Tag damals war ziemlich stressig gewesen und ich wollte nur noch heim auf meine Couch. An der Kreuzung überquerten wir die Mittelhäuser Straße, dann die breite Riethstraße, um dann eine Abkürzung zur Mainzer Straße zu nehmen. Ich kenn mich doch gut aus dort. Tagsüber sind wir manchmal extra diesen Weg, entlang der schmalen Gera, damit Carla die fröhlich plantschenden Enten füttern konnte. Wir liefen vorbei an den alten Garagen mit den Holztoren. Man erkennt noch den Charme der DDR. Die Laternen dort sind schon alt und leuchten nicht so optimal. Es war schon dunkel, aber wir konnten alles ganz gut erkennen. In der kleinen Parkanlage stehen hohe Bäume und Hecken grenzen an die Wohnhäuser. Aus einiger Entfernung hörten wir dumpfe Rockmusik. Für einen Samstagabend waren ziemlich wenig Leute unterwegs. Irgendwann glaubte ich Schritte zu hören und lauschte. Ich fasste Carla fester an und wir liefen zügiger weiter, es war ja nicht mehr weit, vielleicht noch dreißig Meter. Doch dann plötzlich rief jemand: ›Hey, bleib stehen, wo will‘ste denn hin, bei uns isses doch viel schöner!‹ Drei dunkle Gestalten kamen auf uns zu. Du kannst dir ja vorstellen, dass ich Herzrasen gekriegt habe und im Moment nicht wusste, was ich machen sollte, die hatten uns sofort umzingelt. Ich hab nur Carla schnell auf den Arm genommen und fest an mich gedrückt. Die waren komplett schwarz gekleidet und hatten Springerstiefel an, dabei grinsten sie blöde. Einer von denen hatte auffallende Turnschuhe an. ›Lasst uns einfach weitergehen!‹, hab ich denen gesagt. Carla hat schrecklich gezittert, die arme Maus. Es war so schrecklich. Dann hat der eine auch noch mit einer grellen Taschenlampe in unsere Gesichter geleuchtet, wir waren total geblendet. Ich war vor Angst schweißgebadet.« Maria legte ihren Arm über Rebeccas Schultern und zog sie an sich. Nach kurzer Zeit wollte Maria wissen: »Wie ging es weiter?«

»Ich hab zur Seite geguckt, weil das Licht so geblendet hat, aber da brüllte der Klinger, obwohl ich damals den Namen nicht wusste, mich an, ich solle ihn gefälligst ansehen, wenn er mit mir redet. Glaub mir, ich war noch nie in meinem Leben so hilflos und ich hatte solche Angst um Carla. Die anderen haben nur gelacht, die Idioten. Dann haben sie angefangen, uns hin und her zu schubsten. Ich hab die angebrüllt, weil ich dann richtig wütend geworden bin, dass sie mich endlich in Ruhe lassen sollen. Ich hatte geschrien, dass sie abhauen sollen, in der Hoffnung, dass jemand etwas hört und die Polizei ruft. Aber nichts. Die haben nach Alkohol und Zigaretten gestunken, es war widerlich. Dann habe ich richtig ›Hilfe‹ gerufen, aber niemand hat reagiert. Immer wieder haben sie uns rumgeschubst. Auf einmal hab ich was gehört, jemand hatte die Typen angesprochen. Er hatte gesagt: ›Lasst sie in Ruhe, ihr Armleuchter‹. Und tatsächlich haben sie uns losgelassen und sind auf den Mann zu gelaufen. Sofort bin ich zur Seite gelaufen und wollte nur noch weg, abhauen und nach Hause. Carla hatte ich immer noch auf dem Arm, ich konnte sie kaum noch halten, aber sie zitterte schrecklich. Ich hab dann aber gehört, wie der junge Mann jetzt vollgepöbelt wurde. Carla und ich waren einige Meter entfernt, ich hab sie auf den Boden gestellt und mein Handy aus der Handtasche gekramt und die Polizei angerufen. Meine Hände haben so gezittert, dass ich kaum die Nummer wählen konnte. In dem Moment sehe ich, wie sie brutal zu dritt auf den Mann einprügeln, auf den Kopf haben sie geschlagen und mit Füßen getreten. Ich war so schockiert, dass ich am Telefon fast kein Wort rausgebracht habe. Nachdem der junge Mann reglos am Boden lag, sind sie abgehauen. Kannst du dir vorstellen, wie ich gezittert habe und Carla war völlig fertig. Zum Glück hatte ich dann schon gehört und gesehen, dass Polizei und Krankenwagen kamen. Wir sind dann schnell zu dem Verletzten gegangen, der fürchterlich zugerichtet war.«

Rebecca konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. »Er wollte mir nur helfen.«

 

Maria hatte sie in den Arm genommen und gewartet, bis sie sich wieder etwas beruhigt hatte.

»Ich hatte meine Eltern dann angerufen. Sie haben Carla mit zu sich genommen. Ich musste der Polizei den Vorgang schildern, hab danach meine Freundin Anna angerufen, die mich dann ins Krankenhaus begleitet hat. Dort lernte ich seinen Bruder und die Mutter kennen. Ich hatte schreckliche Angst, mit ihnen zu reden, war ja schließlich alles meine Schuld.«

Gerade wollte Maria ansetzen, da hakte Rebecca ein. »Ich weiß schon, die Ärzte und auch die Polizei und meine Eltern sagen, dass es nicht meine Schuld war. Aber ich muss damit leben, dass meinetwegen ein anderer Mensch, weil er mir helfen wollte, umgekommen ist.«

Maria füllte noch etwas Rotwein in die Gläser. Obwohl es Sommer war, fröstelte Maria und legte sich die dünne Wolldecke über ihre Beine.

»Ich weiß noch, wie ich Andrea damals begegnet bin. Nachdem ich mich vorgestellt hatte fragte sie, ob ich ihren Sohn Torsten kennen würde, was ich verneinte. Ich erklärte ihr, wie leid mir das tut und dass ihr Sohn mir nur helfen wollte und so weiter. Und die Frau nimmt einfach meine Hand und sagt: ›Wissen Sie, nicht Sie haben das meinem Sohn angetan, das waren nicht Sie.‹

Noch bis weit in die Nacht sprachen sie über dieses Ereignis und wie es Rebecca veränderte. Bis auf die Erfahrung mit Konrad, hatte sie ein wohlbehütetes Leben. Vieles, was bis dahin selbstverständlich war, sah sie nun mit anderen Augen.

 

Eine Woche ist schnell vorbei und wehmütig erreichten die zwei Frauen den Flughafen in Frankfurt. Vor lauter Abschiedsschmerz hatten sie kein Auge für den azurblauen Himmel, der allerbeste Voraussetzungen für das Fliegen bot. Nach dem Check-in hatten sie noch Zeit für einen Kaffee. Flughäfen weckten in Rebecca immer ein besonderes Gefühl. Sie verstand zwar nichts von Flugtechnik, war aber immer wieder beeindruckt, wie die riesigen Blechvögel sich in die Lüfte emporhoben und es schafften, oben zu bleiben. Sie selbst war noch gar nicht so häufig geflogen, genau genommen, viermal bis jetzt. Aber das Fliegen machte ihr Spaß, Flugangst kannte sie nicht.

Die Woche war in jeder Hinsicht ein echtes Vergnügen und tat ihr unglaublich gut. Sie sprachen über Gott und die Welt, hatten Sehenswürdigkeiten unter die Lupe genommen, die Stadt unsicher gemacht und das Wetter war meistens schön.

Maria lernte auch Andrea und Michael kennen. Die Ereignisse, welche die zwei Familien zusammenführten, konnten kaum tragischer sein. Und doch oder gerade deshalb hatte Maria den Eindruck, es herrschte eine ganz besondere Vertrautheit, wie man sie nur selten beobachten konnte. Nachdem Michael sich bei seinem letzten Besuch von ihnen verabschiedet hatte, grinste Maria von einem Ohr zum anderen und versicherte Rebecca dass er genau der Richtige für sie wäre.

»Das kann ja nicht dein Ernst sein!«, empörte sie sich.

»Und ob das mein Ernst ist. Hast du mal beobachtet, wie er mit Carla umgeht?

Und Carla mag ihn.«

»Ja, schon, aber...«

»Was, aber...? Weil er nicht studiert hat?«

»Nein, das ist es nicht...Aber, er lebt von Hartz IV und irgendwelchen Gelegenheitsjobs.«

»Natürlich hast du auch nicht bemerkt, wie er dich ansieht. Also, ich sehe in seinem Ausdruck eindeutig Zuneigung. Und er sieht nicht schlecht aus!« Maria lächelte.

Doch Rebecca winkte nur ab und wollte das im Moment nicht mit ihr ausdiskutieren. Sie und Michael, da wäre sie im Leben nicht darauf gekommen. Ja, sie mochte ihn, aber mehr?...

 

. Und selbstverständlich sprachen sie auch über den Überfall und das merkwürdige Gerichtsurteil. Für Maria war unverständlich, weshalb ein DNA-Test, der den Täter eindeutig überführte, nicht zur Verurteilung führte. Doch so war es.

Der Anwalt von Klinger hatte seine Hausaufgaben gemacht. Kurz nachdem Sebastian Klinger seinen achtzehnten Geburtstag feierte, wurde ihm eine Speichelprobe entnommen. Damals stand er unter dem Verdacht, an einem Überfall auf eine junge Frau beteiligt gewesen zu sein. Aber dann konnte eine Beteiligung ausgeschlossen werden.

Der befreundete Anwalt Norbert Straub beantragte seinerzeit die Löschung der DNA-Probe, was vom Landeskriminalamt bestätigt wurde Die Daten würden umgehend entfernt. Doch als man die DNA-Probe, die an den Händen von Torsten Deubner entnommen wurde, mit vorhandenen Daten verglich, stimmten sie mit denen von Sebastian Klinger hundertprozentig überein. Keiner fragte, ob die Probe zulässig war. Man war zufrieden, den brutalen Schläger überführen zu können. Endlich konnte Haftbefehl erlassen werden. Später bei Gericht bewies der Anwalt des Angeklagten, dass die verwendete Probe unzulässig war und bewirkte somit einen Freispruch.

 

Es würde wieder viel Zeit vergehen bis zum nächsten Wiedersehen.

»Es war eine wunderschöne Zeit, vielen Dank für Alles.« Rebecca mochte solche Abschiede nicht, aber nichts war von Dauer. Und auch die Zeit mit Maria ging nun mal zu Ende.

»Drück die Kinder und Fernando von mir und schick mir eine kurze Nachricht, wenn du angekommen bist.« Damit verabschiedeten sie sich und Maria steuerte den Sicherheitsbereich an.

Mal wieder in die Ferne fliegen und alles hinter sich lassen wäre doch schön. Aber, was soll das Jammern, es geht mir doch gut. Mit diesen Gedanken verließ Rebecca den Flughafen.

 

 

5

 

 

Der kalte Regen prasselte gegen die Fensterscheiben. Seit Tagen schon nichts als Regen. Tagsüber lag Nebelschleier auf der Stadt und sorgte bei den Menschen für getrübte Stimmung. Der November machte sie zu Stubenhockern.

Michael und sein Schulfreund Sven planten den Angriff auf Sebastian Klinger. An mehreren Abenden hatten sie im Schutz der Dunkelheit das Haus beobachtet. Klinger wohnte bei seinen Eltern im Souterrain. Das große Einfamilienhaus in der Hochheimer Straße entsprach mit seinem Vorgarten und dem niedrigen weißen Zaun davor genau den klischeehaften Vorstellungen, die Michael von einem spießigen Leben hatte. Die Heavy Metal Musik passte so gar nicht in dieses Bild. Bedingt durch das miese Wetter, lungerte Klinger abends meist zu Hause rum, das passte gut in Michaels Pläne.

 

Michael und Sven hatten beschlossen, einen Molotowcocktail als Rachemittel einzusetzen. Den zu basteln war keine große Sache. Wichtiger war es, die Brandflasche zum richtigen Zeitpunkt zu werfen und vor allem zu treffen. Am Wochenende hatten sie deshalb mit leeren Bierflaschen im Wald Probewerfen gemacht, um sicher zu gehen, den Abstand richtig einzuschätzen. Sie wollten nichts dem Zufall überlassen.

Parallel zur Hochheimer Straße verlief ein Feldweg, den sie als Fluchtweg benutzen wollten. Das frühe Einsetzen der Dunkelheit spielte ihnen bei ihrem Vorhaben in die Karten.

Sonntagabend, wenn es am ruhigsten auf den Straßen war, wollten sie ihren Plan umsetzen, alles war vorbereitet. In Svens Auto, einem alten Ford Escort, fuhren sie durch die Hochheimer Straße, bogen ab in Richtung Papierwehr, um das Auto am Feldweg seitlich zu parken.

»Jetzt muss alles schnell gehen«, flüsterte Michael. Er war aufgeregt, aber entschlossen, sein Vorhaben durchzuziehen. Endlich bekam Klinger seine Strafe. Die Justiz war viel zu lasch mit solchen Typen. Das Auto ließen sie unverschlossen zurück, um schneller einsteigen zu können. Fast lautlos schlichen sie an die Hinterseite des Hauses. Sie lauschten, ...alles okay. Gedämpfte Geräusche drangen aus den Häusern der Siedlung. Wer hier wohnte, fuhr nicht mit einem Panda zum Einkaufen. Das Leben war geregelt, der Bausparvertrag steckte in gemauerten Wänden und Solardächern. Die Tagesschau lieferte Informationen zu Geschehnissen des Tages und zum Ausklang

des Wochenendes gab es einen unterhaltsamen Tatort.

In sicherem Abstand nahmen sie das beleuchtete Zielfenster in Augenschein. Klinger war also da, ein Vorhang nahm die Sicht in den Wohnbereich, jedoch konnte man deutlich seinen Schatten sehen, der sich durch den Raum bewegte. Wieder drang Heavy Metal Musik nach außen. Ein letztes Mal schauten sie sich um. Als hätten sie sich abgesprochen, atmeten beide tief durch. Der vorbereitete Molotowcocktail wurde von Sven angezündet, Michael holte weit aus und warf zunächst einen Stein, um die Scheibe einzuschlagen. Unmittelbar darauf folgte die lodernde Flasche. Lautes Klirren der zersplitternden Scheibe durchbrach die abendliche Idylle.

Ohne einen Blick auf den angerichteten Schaden zu werfen, rannten sie in Windeseile zum Auto, sprangen hinein und starteten mit quietschenden Reifen. Den Feldweg entlang, bogen sie hastig auf die Alfred-Hess-Straße und rasten über die Hannoversche Straße zu Michaels Wohnung.

Erst vor dem Wohnblock, auf dem Parkplatz, fanden sie ihre Sprache zurück.

»Puuh, das war heftig!« Michaels Atem ging immer noch schnell.

»Jetzt fühle ich mich besser!« Triumph klang aus seinen Worten.

»Lass uns ein Bier trinken und den Tag gebührend feiern.« Sven stieg aus und machte ein paar freudige Sprünge Richtung Eingangstür. Schwungvoll erklommen sie die fünf Stockwerke. In der Wohnung angekommen, öffneten sie für jeden ein Bier und stießen auf den Erfolg an.

»Das wär geschafft, ich kann's noch nicht glauben... und es war so leicht!« Michael riss euphorisch die Balkontür auf, trotzte der Kälte und setzte sich auf einen der billigen Plastikstühle. Mit Tränen in den Augen und Bildern seines Bruders im Kopf, stierte er auf die gegenüberliegenden Wohnblocks und sog das Gemurmel, das die Wohnungen freigaben, in sich auf. »Auf dich geliebter Torsten, ich vermisse dich.« Das Bier gluckste in großen Schlucken durch seine Kehle, wobei es ein kühlendes Gefühl von innen verursachte. Die feuchte Kälte außen spürte er nicht.

»Hey Alter, zieh nicht so ein Gesicht, du hast es geschafft. Der Typ pöbelt vorläufig niemanden mehr an! Freu dich doch!« Sven stieß mit seiner Bierflasche gegen die von Michael.

»Du hast ja recht«, gab er lächelnd zurück. Zwei Stunden laute Musik später verabschiedete sich Sven und fuhr nach Hause.

 

Fröstelnd zog Michael die Bettdecke über den Kopf. Durch die geöffnete Balkontür zog kalte Luft bis in sein Schlafzimmer, er ließ immer alle Türen offen. Die ganze Nacht hatte er sich unruhig in seinem Bett gewälzt, wirklich schlafen konnte er nicht, die Gedanken in seinem Kopf spielten verrückt. Immer wieder sah er die brennende Flasche durch die Luft fliegen. Er fragte sich, ob nun alles besser werden würde, fand aber keine Antwort. Ein Blick auf den Wecker verriet, es war schon halb zehn, Zeit endlich aufzustehen.

Er schaltete, wie jeden Morgen, das Radio ein. Nach der üblichen Morgentoilette schlüpfte er in seine Jeans, zog das Sweatshirt mit dem Aufdruck seiner Lieblingsband Boss Hoss über, er liebte ihre rockige Countrymusik, und machte sich ein kleines Frühstück. Am Nachmittag war er mit seiner Mutter Andrea verabredet, sie wollten auf die Kfz-Zulassungsstelle, um endlich den Opel Astra auf sie umzumelden.

Noch immer stand der Wagen ungenutzt in der von Torsten angemieteten Garage in der Fritz-Büchner-Straße. Die monatliche Gebühr von vierzig Euro bezahlte Andrea weiter. Sie wollte den Platz nicht verlieren. Jetzt, nach über einem Jahr, war sie endlich bereit, das Auto ihres verstorbenen Sohnes zu übernehmen, zumal sie hoffte, bald wieder arbeiten zu können.

 

»...Brandanschlag in Erfurt, Brühlervorstadt. Einen rassistischen Hintergrund schloss die Polizei aus. Als Brandursache wurde ein Molotowcocktail ermittelt. Die schwerverletzte Frau wurde in die Uni-Klinik Jena gebracht, ihr Zustand ist nach aktuellen Informationen immer noch kritisch.«

Die Nachricht aus dem Radio versetzte Michael in eine Schockstarre. Das konnte doch nicht sein, wie war das möglich? Scheiße, Scheiße, Scheiße... Jetzt zitterte er am ganzen Körper. Was mach ich jetzt? Verdammte Scheiße, was mach ich jetzt bloß?

Er ließ den Ablauf des gestrigen Abends in Gedanken Revue passieren. Das war doch eindeutig der Schatten von Klinger? Was hatte die Frau da zu suchen?

 

Das Handy lag auf dem Couchtisch im Wohnzimmer, ›ruf mich sofort an‹ schrieb er mit zittrigen Händen an Sven. In Gedanken schrie er ihn an. Sven musste noch bis sechzehn Uhr arbeiten, eine unendlich lange Zeit. In einem Anfall von Panik raste er wie ein aufgeregter Tiger in der kleinen Wohnung auf und ab. Ich muss Mama absagen für heute. Per SMS sendete er Andrea die Absage, angeblich fühlte sich er nicht wohl, wahrscheinlich ein Infekt, er würde sich morgen wieder bei ihr melden. Damit war gesichert, dass sie nicht aus Sorge bei ihm aufkreuzte.

 

Auch Sven war schockiert, als er die Meldung in den Nachrichten hörte. Gewissensbisse plagten ihn nicht, nein, es war die Tatsache, dass sie nicht die richtige Person getroffen hatten. Klinger sollte es an den Kragen gehen. Wenn es beim ersten Versuch nicht funktionierte, dann eben im Zweiten, so einfach war das.

Er verabredete sich mit Michael am Nachmittag im Einkaufszentrum T.E.C.. Auf seine Arbeit konnte er sich kaum noch konzentrieren. In seinem Kopf schwirrten die Gedanken wie Ping Pong Bälle hin und her. Er plante bereits verschiedene Varianten durch, die in Frage kämen. Sein Freund würde stolz auf ihn sein.

Michael war schon zwei Stunden vor der verabredeten Zeit im T.E.C., um sich abzulenken, was ihm nicht wirklich gelang. Scheinbar gelangweilt, aber innerlich total aufgewühlt, schlenderte er durch die Geschäfte, ohne die angepriesenen Produkte wahrzunehmen.

Er machte sich nicht viel aus Mode oder Trends. Nur, wenn er wirklich etwas brauchte, ging er in ein Geschäft und schaute, was er günstig kaufen konnte. Schließlich gab er auf, setzte sich ins Café Venezia und bestellte sich eine Cola. Das Café war gut besucht.

»Michi, hallo Michi!«, die kindliche Stimme von Carla riss ihn aus seinen wirren Gedanken. Die Kleine rannte in ihrem bunten Blümchenkleid mit dunkelblauen Leggins darunter, schnurstracks lachend auf ihn zu.

»Na, meine Maus«, begrüßte er sie. Carla fiel ihm erbarmungslos um den Hals. Er konnte nicht anders, er musste lachen.

»Hallo Rebecca.« Küsschen links, Küsschen rechts.

»Setzt euch doch.«

»Mama, darf ich Spaghetti-Eis essen? ...Bitte!«

»So viel Zeit haben wir nicht, außerdem ist es doch zu kalt für Eis. Und wir müssen noch einkaufen, später kommen Oma und Opa noch zu uns.«

Carla zog eine Schnute. Doch Rebecca musste konsequent bleiben, sonst ging ihr Zeitplan nicht auf.

Obwohl Michael sich freute, die Zwei zu sehen, war er doch froh, dass sie heute keine Zeit hatten. Er fühlte sich sehr unbehaglich. Von seiner sonst charmanten Art war nicht viel zu bemerken. Rebecca spürte, dass er nicht gut drauf war. Seit Maria sich über eine mögliche Beziehung geäußert hatte, achtete sie sensibler darauf, was er tat und sagte.

Er sah wirklich gut aus, diese dunkelbraunen Augen und die blonden Haare wirkten direkt faszinierend. Wieso war ihr das nicht früher aufgefallen? Und, er war höflich und hilfsbereit.

Sie wusste, dass er keine Freundin hatte, das hatte Andrea ihr gesagt. Aber heute wirkte er nervös.

»Ist bei dir alles okay? Geht es dir gut?«, fragte sie deshalb unvermittelt.

»Beides ja«, war seine knappe Antwort. In einem Zug trank er das Glas leer. Die Kohlensäure prickelte vom Mund bis in den Magen und er riss sich zusammen, nicht laut zu rülpsen.

»Sven kommt gleich noch.« Irgendwie hatte Rebecca das Gefühl, dass sie störte.

»Wollen wir morgen mal telefonieren?«

»Genau, ich melde mich morgen bei dir.« Erleichtert verabschiedete er sich und sah den beiden hinterher. Carla drehte sich um und winkte ihm lachend zu, während sie fröhlich davonhüpfte.

Plötzlich wurde ihm bewusst, was er angerichtet hatte. Natürlich wollte er Klinger einen Denkzettel verpassen, aber niemals sollte eine andere Person geschädigt werden. Was würde Rebecca von ihm denken, wenn sie davon erfuhr. Er bestellte sich gerade eine zweite Cola, da tauchte Sven auf.

»Was hatte die Frau in Klingers Bude zu suchen?« eröffnete Sven wütend das Gespräch. »Das wird seine Mutter gewesen sein. Was machen wir denn jetzt.« Michael war echt verzweifelt.

»Ich hab vorhin nochmal Nachrichten gehört, die haben gesagt, dass die Verletzte außer Lebensgefahr ist, ...vielleicht haben wir Glück und das Ganze geht glimpflich aus. Ich hab mir schon Gedanken gemacht, wie wir den Klinger doch noch erwischen können.«

»Was soll das denn heißen, bist du verrückt?« Michael trank einen Schluck

»Ganz und gar nicht. Das Schwein läuft immer noch fröhlich draußen rum, schon vergessen?«

»Hör zu, ich werde gar nichts mehr unternehmen, natürlich hätte ich das Schwein gern klein gemacht. Aber unser Plan ist nicht aufgegangen.«

»Wieso verkriechst du dich plötzlich, das kann doch nicht dein Ernst sein!« Sven wurde lauter und lenkte die Aufmerksamkeit der anderen Gäste auf sich.

Sie verließen das Café und fuhren zu Sven, der im Internet nach neuen Meldungen Ausschau hielt. Auf den Seiten der Thüringer Polizei erfuhren sie, dass in alle Richtungen ermittelt würde.

»Alter, lass uns den zweiten Versuch starten, der klappt ganz sicher. Ich hab mir auch schon was überlegt«

»Also, für dich zum Mitschreiben, wir machen gar nichts, verstanden. Und wenn wir uns das nächste Mal sehen, bist du wieder normal im Kopf!« Michael nahm wütend seine Jacke und ging wortlos zur Tür hinaus. Er konnte nicht glauben, dass sein Freund so radikal an dem Plan festhielt. Bis sich die Sache beruhigt hatte, würde er den Kontakt zu ihm meiden. Auf keinen Fall wollte er sich zu einem weiteren Versuch überreden lassen.

 

 

6

 

 

Andrea hatte die fünfte Therapiestunde bei Ihrem Psychologen hinter sich. In die erste Sitzung ging sie mit gemischten Gefühlen. Noch nie in ihrem Leben hatte sie fremde Hilfe zur Bewältigung ihrer Probleme in Anspruch genommen. Die Adresse hatte sie von Rebecca erhalten, die sie auch ermutigte, dorthin zu gehen. Als Torsten nach dem Überfall verstorben war, besuchte Rebecca mit Carla eine Therapeutin. Sie ist fest davon überzeugt, ohne professionelle Hilfe hätte Carla diese furchtbaren Erlebnisse nicht überwunden. Erst als auch Sabine ihre Schwester bekniete, sich Hilfe zu suchen, fasste Andrea sich ein Herz und vereinbarte einen ersten Termin.

Die Praxis war großzügig und sehr geschmackvoll eingerichtet. Leise angenehme Musik sorgte für eine wohlige Atmosphäre. Herr Grünwald, Andrea schätzte ihn auf Mitte vierzig, war in dieser Gemeinschaftspraxis der Spezialist für Opfer und deren Angehörige nach körperlichen Übergriffen. Eine Kinder- und Jugendtherapeutin, und ein Familientherapeut machten das Team komplett. Die Gemeinschaftspraxis genoss einen ausgesprochen guten Ruf in Erfurt. Schon während der zweiten Sitzung schwand die Skepsis und Andrea war froh, diesen Schritt gemacht zu haben.

Inzwischen fühlte sie sich sogar in der Lage, es mit ein paar Stunden Arbeit zu versuchen. Sie spürte den Drang, ihrem Leben wieder einen Sinn zu geben. Gemeinsam mit Herrn Grünwald erarbeiteten sie einen Plan, der sie allmählich in den Arbeitsprozess eingliedern sollte.

Hocherfreut über diesen Fortschritt lud sie Michael, Rebecca und Carla spontan zum Kaffee ein. Alle waren von den neuen Nachrichten begeistert. Rebecca erkundigte sich über den Ablauf der Eingliederung.

Michael, der Hartz IV Empfänger war und sich mit Gelegenheitsjobs zufrieden gab, fasste augenblicklich einen Entschluss. Er wollte beweisen, dass er mehr erreichen konnte. Bis jetzt war ihm das alles nicht wichtig, doch jetzt verspürte er den Wunsch, zu zeigen, dass er es schaffen konnte.

 

 

7

 

 

Eisiger Wind pfiff durch die Straßen, die Temperaturen machten dem November alle Ehre. Es war noch früh am Morgen und nur allmählich gingen in den Häusern die Lichter an. Wieder mal war Michael auf dem Weg zu einem Gelegenheitsjob. Die Jobbörse hatte das vermittelt. Er sollte in der Gärtnerei Tischer arbeiten. Schon einmal war er dort und kannte bereits einige Kollegen.

An dem Tag arbeitete er wieder mit Fred zusammen. Im Gewächshaus waren die Temperaturen einigermaßen angenehm. Das Vorweihnachtsgeschäft war in vollem Gange und im Akkord mussten sie Weihnachtssterne umtopfen. Sie waren eine der beliebtesten Pflanzen um diese Zeit.

Zum ersten Mal sah Michael die vielfältige Farbenpracht, mit und ohne Glitzer auf den Blättern. Am Abend musste noch das Ladengeschäft für den nächsten Tag vorbereitet werden, dann war der Tag geschafft. Als Michael sich bei Tischer verabschieden wollte, nahm er seinen ganzen Mut zusammen.

»Äh, Herr Tischer, ...ich wollte Sie mal was fragen. Ist es möglich,..., äh ...ich meine, könnte ich bei Ihnen eine Ausbildung machen?« Tischer sah ihn mit großen Augen an. »Also, ehrlich..., eigentlich bilde ich nicht mehr aus. Ich hatte mal Lehrlinge, hab aber schlechte Erfahrungen gemacht, die haben sich oft krankgemeldet.« Tischer stand da und überlegte.

»Ist okay, war nur eine Frage, kein Problem.«,

»Wie alt bist du?« »Achtundzwanzig.«

»Bist du zuverlässig?« Michaels Puls schoss wieder nach oben.

»Ich werde zuverlässig sein!«

»Du hast auch heute wieder gute Arbeit gemacht. Ich könnt schon noch jemand gebrauchen, aber einen, der anpacken kann.... Traust du dir zu, noch in das laufende Jahr einzusteigen? Du hättest einiges aufzuholen, aber mit etwas Fleiß ist das zu schaffen.« Michael hätte vor Freude am liebsten Luftsprünge gemacht.

»Ja, ich trau mir das zu. Ich setz mich hin und pauke, bis ich alles drin hab, was ich wissen muss.«

»Also gut, dann komm morgen zwölf Uhr noch mal her, dann besprechen wir alles. Bring SV-Ausweis und Personalausweis mit«

»Ich danke Ihnen, vielen Dank.« Es war unglaublich. Er hatte einen Ausbildungsplatz.

 

Den Wind und die Kälte spürte er nicht mehr. Wie in Trance landete er bei seiner Mutter und überbrachte ihr die freudige Botschaft. Auch Andrea war überglücklich. Die Ängste, dass er es vermasseln könnte, behielt sie für sich.

 

Wie verabredet, war Michael am nächsten Tag in der Gärtnerei und unterschrieb einen Ausbildungsvertrag. Tischer hatte am Vormittag mit der zuständigen Berufsschule vereinbart, dass, Herr Deubner in die bestehende Klasse zusätzlich aufgenommen wurde.

 

Gleich danach rief er Rebecca an.

 

»Hallo Rebecca, ich möchte dich gern am Samstag zum Essen einladen.« Er hoffte, dass sie ihm am Telefon keinen Korb geben würde.

»Kannst du das einrichten, ich würde mich sehr freuen.«

»Wenn meine Eltern Carla nehmen können, ist es kein Problem, dann geht es. Ich würde dich in zehn Minuten zurückrufen.« Sie vereinbarte mit ihren Eltern, dass Carla am Samstag bei ihnen bleiben würde und gab Michael Bescheid. Hatten sie etwa ein Date, sinnierte Rebecca.

 

Da Michael von guten Restaurants keine Ahnung hatte, musste er sich erst informieren. Ein Schulfreund, mit dem er noch recht guten Kontakt pflegte, hatte ihm den Tipp für das italienische Restaurant ›Il Cortile‹ gegeben. Es hätte vor einigen Monaten den Besitzer gewechselt und eine hervorragende Küche. Damit könne er nichts falsch machen, waren seine Worte. Um auf Nummer sicher zu gehen, ging er direkt hin und reservierte einen Tisch.

Neunzehn Uhr holte er Rebecca von zu Hause ab. Sie bot an, mit ihrem Auto zu fahren, aber Michael wollte, wenn sie einverstanden war, gern laufen. Ihrer viel sitzenden Tätigkeit kam das entgegen. Fast alle Tische waren besetzt und der Kellner führte sie zu ihrem Platz.

»Wow, ich bin beeindruckt, sehr gute Wahl. Und du hast dich schick gemacht.« Er hatte sich bei der Kleiderwahl große Mühe gegeben, dunkle Jeans ohne Risse, einfarbiges gutsitzendes T-Shirt in olivgrün, gebügelt, und das dunkelgraue Jackett, welches Andrea ihm zur Beerdigung gekauft hatte.

»Danke, du siehst auch super aus.« erwiderte er etwas verlegen. Sie trug ein dunkles enganliegendes Kleid, mit dunkelrotem dezentem Muster, dazu in passendem Rot eine zarte Strickjacke und schwarze Stiefel. Sie sah einfach umwerfend aus. Sie bestellten Wasser und Wein, dabei ließen sie sich beraten und studierten die Speisekarte.

Nachdem sie bestellt hatten, konnte Michael die Neuigkeiten nicht mehr zurückhalten. »Ich hab ab sofort eine Ausbildungsstelle«, platzte er heraus.

»Was? Das ist ja klasse«, sprudelte es aus Rebecca heraus.

»Und deshalb sind wir heute hier?«, fragte sie nach.

»Genau, das wollte ich feiern, natürlich am liebsten mit dir.«

»Du musst mir alles genau erzählen, ich bin total neugierig.« Und wieder beeindruckte ihn ihr ehrliches echtes Interesse. Rebecca hörte aufmerksam zu und freute sich für Michael, der es endlich geschafft hatte, sich eine Perspektive zu schaffen. Sie verbrachten einen wunderschönen Abend mit sehr gutem Essen. Sein Freund hatte nicht zu viel versprochen.

Für den Heimweg nahmen sie ein Taxi, Rebecca bestand darauf, dafür die Kosten zu übernehmen. Für das Essen im Restaurant hatte Michael all seine Reserven aufgebraucht, aber das war es ihm wert. Der Abschied war freundschaftlich. Er mochte Rebecca sehr, und ihm war klar, dass er sehr behutsam vorgehen musste, wenn er sich einen Platz in ihrem Leben erobern wollte. Aber er wusste auch, wenn er keine Fehler machte, hatte er Carla schon mal auf seiner Seite.

 

 

8

 

 

Post vom Anwalt. Andrea nahm die Briefe, die fast immer Werbung oder Rechnungen waren, aus dem Briefkasten, als sie ihre vier Stunden Arbeit hinter sich hatte. Der Kontakt zu den Kollegen und die damit verbunden Aufgaben boten ihr Halt und Zuversicht. Sie fühlte sich gebraucht und konnte nachts bedeutend besser schlafen.

Aufgeregt öffnete sie den Brief. Doch bevor sie anfing zu lesen, setzte sie sich an den Küchentisch. Nie konnte sie einschätzen, welche Reaktionen sich ergaben. Es war besser, zu sitzen.

»Michael, hier ist Mama«, sprach sie in das Telefon.

»der Anwalt hat geschrieben.« Andrea musste eine Pause machen.

»Was schreibt er denn, sag schon.«

»Also«, sie holte tief Luft.

»Am zwölften Dezember ist der erste Verhandlungstag gegen Sebastian Klinger. Die Staatsanwaltschaft hatte eine erneute DNA-Probe beantragt und genehmigt bekommen. Nach Abgleich der Daten gab es auch dieses Mal eine hundertprozentige Übereinstimmung.«

Andrea hielt lange den Brief in den Händen, den Hörer hatte sie längst aufgelegt. Mit Tränen in den Augen betrachtete sie das Bild mit ihren Söhnen an der gegenüberliegenden Wand.

 

 

 

 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 18.01.2020

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