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Die Forschungsreise nach China

 

Sieben Jahre sind seit jenen Ereignissen vergangen, die mein Leben total aus der Bahn geworfen haben und deren Grauen nur langsam von mir weicht. Erst jetzt, wo mein Leben allmählich wieder in geordnete Verhältnisse kommt, finde ich den Mut jene Vorkommnisse in Worte zu fassen. 

Oh, wie gerne würde ich alles als grotesken Alptraum abtun. Doch auch wenn alle fossilen Beweise und menschlichen Zeugen für immer verschwunden bleiben, würde das für mich bedeuten gänzlich an meinem Verstand und Wahrnehmungsvermögen zweifeln zu müssen. Nein, die Gefahr die über mir und der ahnungslosen Menschheit schwebt ist real und teuflisch lebendig. In meiner Jugend war es immer mein Streben mehr zu wissen und tiefer zu blicken als die anderen, doch die unglaublichen Dinge die ich vor sieben Jahren sah, machten mich die Unwissenden glühend beneidend. Nein, ich werde nie mehr zu meinem vorherigen, unbeschwerten, auf die Zukunft ausgerichteten Lebensweise zurückfinden, sollte ich auch die natürliche Spanne eines Menschenlebens ausschöpfen können. Oh, ich verfluche den Tag an dem ich voll Forscherdrang und Zuversicht jenes seit Äonen vergessene und verfluchte Hochplateau von Leng betrat!

 

Im Frühjahr 1980 erhielt Professor Kohlwächter nach jahrelangen vergeblichen Bemühungen endlich die Erlaubnis der chinesischen Regierung zu Ausgrabungen in einem Gebiet Zentralasiens, das westlichen Forschern lange Zeit verschlossen geblieben war. Ich, der junge ehrgeizige Paläoanthropologe Ernst Hippel, durfte diesen namhaften, etwas umstrittenen Forscher als Assistenten begleiten. Das bot mir die willkommene Möglichkeit dem langweiligen Universitätsbetrieb in München zu entkommen und erste wissenschaftliche Meriten zu sammeln. Unsere Erwartungen richteten sich vor allem auf Fossilen des frühen Homo sapiens. Der Professor schloss aus gewissen Anzeichen, über die er sich mir gegenüber nie näher ausließ, dass in jenem Gebiet im Osten Chinas mit bahnbrechenden Funden aus jener Epoche zu rechnen sei.

 

Im April erreichten wir mit Ausrüstung per Bahn Urumtschi, wo uns ein Aufpasser der chinesischen Regierung in Empfang nahm, der uns die ganze Zeit begleiten sollte. Sein typisch chinesischer Name ist mir entfallen, doch unter uns nannten der Professor und ich ihn wegen einer gewissen Ähnlichkeit nur Onkel Ho. Er sprach leidlich deutsch und gab sich als bewanderter Geologe aus, doch in Wirklichkeit waren seine wissenschaftlichen Kenntnisse eher dürftig. Er heuerte für uns Uigurische Arbeiter an, da wir nicht damit rechnen konnten in den menschenleeren Gebieten, in die uns unsere Suche führen sollte, genügend Grabungsarbeiter zu finden. Mit unserem mitgebrachten japanischen Geländewagen, sowie zwei Armeelastwagen für Ausrüstung und Arbeiter, brachen wir gegen Ende April ins Grabungsgebiet auf. Unsere genaue Route will ich für mich behalten, um niemanden zu einer Wiederholung unserer unheilvollen Expedition anzuregen.

Ich möchte jeden Interessierten darauf hinweisen, dass die nicht zu unterschätzende Größe des in Frage kommenden Gebietes, sowie das Fehlen zuverlässigen Kartenmaterials, eine Suche nach dem legendären Leng, ohne meine Unterstützung zu einer aufwendigen und langwierigen Unternehmung mit geringen Erfolgsaussichten macht. Nur schicksalhaften Umständen haben der Professor und ich es zu verdanken, dass wir jenen unheimlichen Ort fanden und ihn wunderbarer Weise wieder verlassen konnten. Ein zweites Mal will ich das Schicksal nicht herausfordern und ich will jeden eindringlich vor jenen dunklen Mächten warnen, die das Geheimnis von Leng bis jetzt wirksam schützen konnten. Wer weiß zu welchen Reaktionen jene Mächte durch einen Großansturm Neugieriger herausgefordert würden?

 

Das Plateau von Leng

 

Je weiter wir in unser Suchgebiet eindrangen, desto spärlicher wurden die Zeugnisse menschlicher Zivilisation. Schließlich fuhren wir durch eine weglose, uralte Gebirgswelt, wo die natürliche Kargheit jede dauerhafte menschliche Ansiedlung verhindert hatte. Von äonenlanger Erosion zerfressen glichen die uns umgebenden Bergriesen, mit bis über viertausend Metern Höhe, eher gigantischen Maulwurfshügeln als den kühnen, kantigen Türmen jüngerer Gebirge. Eintönige, stumpfe Farbtöne von Grau in Braun verlaufend, verstärkten den Eindruck unvorstellbaren Alters und totaler Lebensfeindlichkeit. Etwas krankes Grün gab es nur in geschützten Tälern, wo es etwas Oberflächenwasser gab. Immer mühsamer erkämpften wir uns den Weg die großen Täler entlang. Nachdem die ausgebauten Straßen zu Ende waren, quälten wir uns über kaum erkennbare Pisten. Schließlich mussten wir immer weiter von der angestrebten Richtung abweichen um überhaupt voranzukommen. Mehr als einmal erwogen wir umzukehren. Doch der Professor drängte immer weiter, trotz der immer energischer werdenden Einwendungen Onkel Ho’s. Die angeheuerten Arbeiter begannen unruhig zu werden. Auch ich wäre am liebsten umgekehrt und in die Zivilisation zurückgekehrt, als die Atmosphäre immer trostloser und bedrückender wurde, zumal die Ergebnisse aller geologischen Untersuchungen unbefriedigend blieben. 

Am neunten oder zehnten Tag der Fahrt sahen wir linkerhand eine Reihe großer auffallend gleichmäßig geformter Hügel. Wir hielten auf einer kleinen Anhöhe, von wo wir eine gute Aussicht auf die sieben perfekten Kegel mit einem Böschungswinkel von etwa vierzig Grad hatten. Sie waren in gleichmäßigen Abständen auf einer staubigen völlig vegetationslosen Ebene verteilt. Die Höhe der Kegel war schwer zu schätzen, da wir ihre genaue Entfernung nicht kannten. Der Professor meinte aber, sie müssten mindestens fünfhundert Meter aus der trostlosen braunen Ebene aufragen.

"Genau wie es dieser verrückte Professor Nestoroff beschrieben hat. Du weist doch Ernst... die französische Expedition von 1924. Das müssen wir uns auf alle Fälle ansehen."

Doch Onkel Ho war strikt dagegen, sich den unheimlichen Riesenkegeln weiter zu nähern.

"Nein, nicht möglich...Sperrgebiet...Sperrgebiet. Streng verboten...nicht möglich", wiederholte er mit Anzeichen großer Nervosität immer wieder.

Der Professor lenkte schließlich schweren Herzens ein. "Also gut, fahren wir weiter. Es wäre ja sowieso keine Zeit für eine genauere Untersuchung gewesen."

Heute bin ich überzeugt, das die sieben Kegelberge nicht natürlichen Ursprungs sind. Andererseits können sie meines Erachtens auch kein Menschenwerk sein. Wer weiß auf welche monströsen Rätsel wir bei ihrer Untersuchung gestoßen wären?

 

An der Grenze unseres Durchhaltevermögens, am Tag als auch Kohlwächter zu resignieren begann, entdeckten die scharfen Augen eines Uigurischen Arbeiters das Dorf. Es lag in einer flachen, spärlich grünen Senke, im Schatten eines breiten Bergrückens und bestand aus etwa zwei Dutzend eingeschossigen, steinernen Hütten. Zunächst hielten wir die Siedlung schon für lange Zeit aufgegeben, doch als wir uns vom Geländewagen, den wir am Rand der Senke abgestellt hatten, das letzte Stück zu Fuß näherten, sahen wir zu unserem großen Erstaunen Gestalten zwischen den Gebäuden umherschleichen. Große Menschenscheu schien die Bewohner des Dorfes zu beherrschen, denn als der Professor, Onkel Ho und ich den Ortsrand erreichten verschwanden die letzten vermummten Gestalten gerade in ihren Hütten. Auf unserem Weg durch die Gassen zum zentralen Platz begegnete uns keine Seele und kein Laut war zu hören, außer ein gelegentliches leises Scharren und Klappern. Uns war etwas unheimlich zumute, doch wahrscheinlich hatten die Dörfler noch nie Fremde wie uns gesehen und empfanden große Angst. Onkel Ho rief in mehreren landesüblichen Sprachen in Richtung der finsteren Hütteneingänge, doch es erfolgte keine Reaktion. Wir beratschlagten gerade auf dem Dorfplatz was wir nun tun sollten, als sich uns endlich einer der Dorfbewohner näherte. Der kleinwüchsige Mann war wie aus dem Nichts aufgetaucht. Er war in ein weites, kaftanähnliches Gewand von grauer Farbe gehüllt und verbarg seinen Kopf bis auf die Gesichtspartie mit einem schmutzigen Tuch. Seine plumpen Gesichtszüge, mit breiter fleischiger Nase und starken Oberaugenwülsten, waren keiner der bekannten innerasiatischen Rassen zuzuordnen. Was mochte diesen archaisch anmutenden Menschentyp in diesen gottverlassenen Weltwinkel verschlagen haben?

Die lallende Muttersprache des Mannes war uns fremd, aber mit Brocken eines halb vergessenen lokalen Dialekts konnte Onkel Ho eine einfache Verständigung herstellen. So fanden wir heraus dass wir in dem Mann eine Art Dorfvorsteher vor uns hatten. Er war sichtlich erleichtert als er merkte, dass wir keine bösen Absichten hatten und mit kleinen Geschenken konnten wir ihn nach anfänglicher Scheu zugänglicher machen. Seinen für westliche Zungen unmöglichen Namen habe ich vergessen, so will ich ihn hier fortan Omar nennen. Wir brachten aus ihm heraus, dass hier etwa vierzig Individuen lebten, die sich Ulthar, oder so ähnlich, nannten und keinerlei Kontakt zur Außenwelt unterhielten. Nur Omar war in seiner Jugend bei anderen Menschen gewesen, was seine einfachen Sprachkenntnisse erklärte. Unsere Fragen nach den Lebensgrundlagen der Dorfbewohner konnte er nicht befriedigend beantworten, aber soviel wir verstanden schienen sie von einer Art Viehzucht zu leben, obwohl wir in der ganzen Umgebung keinerlei Tiere über der Größe einer Eidechse entdecken konnten. Hier tat sich unverhofft ein weites Feld anthropologischer Forschung auf. Deshalb beschlossen wir ein paar Tage zu bleiben um wenigstens einige der lokalen Rätsel zu lösen. Unser Wunsch einige Zeit hierzubleiben war Omar sichtlich unangenehm, aber er zeigte uns am Dorfrand eine Reihe unbewohnter Hütten, in denen wir uns einzurichten begannen.

Langsam kamen auch die übrigen Dorfbewohner wieder aus ihren Verstecken und begannen ihren unterbrochenen Beschäftigungen nachzugehen. Aber nach wie vor machten sie einen Bogen um unsere Hütten und vermieden jede direkte Begegnung mit uns oder den Uiguren. Dennoch war nicht zu übersehen dass sich viele dieser bedauernswerten Menschen mit schweren körperlichen Missbildungen durchs Leben schlugen. Platte, nasenlose Gesichter, klauenartige Hände, asymmetrischer Körperbau und andere Abartigkeiten erregten instinktiv unsere Abscheu, so dass wir zu verstehen begannen, warum die Dörfler in dieser Weltabgeschiedenheit lebten. Unter normalen Menschen hätten sie sicher großen Schrecken erregt.

Am ersten Abend tauchte Omar wieder bei uns auf und wir nutzten die Gelegenheit um ihn über das unnatürliche Aussehen seiner Dorfgenossen auszufragen. Er versicherte sie seinen nicht die Opfer irgendeiner teuflischen Krankheit, sondern bereits mit ihren schweren Missbildungen geboren worden. Vor vielen Generationen sei dieses Übel durch dunkle Mächte über ihren Stamm gebracht worden und seitdem brachten sie ihr karges Dasein in der Ödnis mühsam über die Runden.

Bei seinen Erklärungen gebrauchte Omar einmal das Wort "Leng", das den Professor sofort aufhorchen lies, weil er es von irgendwoher zu kennen schien. Über Onkel Ho, der dolmetschen musste, hakte er sofort nach, doch auffallend erschreckt verweigerte Omar jede weitere Auskunft und wollte sich sogleich eilig entfernen. Kohlwächter lies jedoch nicht locker und mit Drohungen konnte er ihn schließlich zum Reden bringen. Widerwillig und stockend erzählte Omar von jenem verfluchten Plateau von Leng, wo alle denkbaren Schrecken Zuhause sein sollten, um sich eines Tages, aufgestört durch unvorsichtige Frevler, über die ganze Welt zu ergießen. Auch das Übel der Dorfbewohner sei von dort gekommen, um sie bis ans Ende der Zeiten zu quälen.

Damals tat ich seine Erzählung als finsteren Aberglauben ab, doch heute denke ich anders darüber. Die makaberen Einzelheiten seiner Geschichte waren belanglos, zumal ich mich nicht mehr recht erinnern will. Doch ihr wahrer Inhalt sollte für mich bald zur schrecklichen Wirklichkeit werden.

Augenblicklich schien der Entschluss des Professors festzustehen, jenes unheilige Plateau aufzusuchen, obwohl Onkel Ho sehr ablehnend war und meinte, bei all seinen vielen Reisen in den innerasiatischen Gebieten habe er noch nie etwas von einem Ort namens "Leng" gehört. Auch mir leuchteten seine Absichten nicht recht ein, schließlich waren wir auf der Jagt nach menschlichen Fossilien und nicht hinter dunklen Legenden her. Aber er war der Expeditionsleiter und brauchte unsere Meinungen nicht unbedingt zu berücksichtigen.

Geschickt entlockte er Omar Informationen darüber, wo das Plateau war und wie man dorthin gelangen konnte. Er verleugnete ihm  jedoch seine Absicht dorthin zu fahren, um den Dorfvorsteher nicht noch mehr zu erschrecken. Dieser zeigte großes Entsetzen davor, Frevler könnten die Übel von Leng wecken. Schließlich entließ der Professor den darüber sichtlich erleichterten Omar und eröffnete uns, wir müssten gleich morgen früh aufbrechen. Er schien plötzlich keinerlei Interesse für das Dorf und seine Bewohner aufzubringen. Seiner Meinung nach war das abstoßende Äußere dieser bedauernswerten Menschen auf Degeneration durch jahrhundertelange Inzucht, aufgrund der totalen Isolierung zurückzuführen. Vielleicht könnten wir uns ihnen auf dem Rückweg einige Tage widmen, aber unser eigentliches Ziel ginge vor und für ihn sei im Moment das Plateau von Leng das El Dorado der Paläoanthropologie. Zu näheren Erklärungen lies er sich nicht herab und so brachen wir anderntags, in aller Frühe in das Ungewisse auf, verfolgt von den ängstlichen Blicken der unglücklichen Dorfbewohner.

Der Weg durch Täler und Seitentäler, immer höher in die Berge, war nach der Beschreibung Omars leicht zu finden und für diese unzivilisierte Gegend überraschend hindernisfrei. Manchmal wirkte er wie künstlich gebahnt, aber das war undenkbar. In diesen Gebieten hatte in geschichtlicher Zeit nie eine nennenswerte menschliche Kultur existiert. Schon am frühen Nachmittag breitete sich vor uns eine leicht wellige Hochfläche, wie ein wogender, zu Stein erstarrter See. Kein Zweifel - wir waren am Ziel.

 

Der Fund

 

Die ersten Tage unseres Aufenthalts auf dem Plateau von Leng waren so ereignisarm und unspektakulär, dass wir bald nicht mehr an Omars Geschichten von den Urübeln, die hier hausen sollten, dachten. Wie das ganze Gebiet in der Umgebung, war auch das Hochplateau graubraun, kahl und nur sehr spärlich bewachsen. Die Meereshöhe betrug etwa 2800 Meter und die Ausdehnung ungefähr vier mal drei Kilometer. An zwei Seiten fiel es steil, einige hundert Meter in weite Schluchten ab, im Westen ragten mächtige Viertausender auf und nur auf jener Seite, von der wir kamen, war ein gangbarer Übergang in die Täler der umgebenden Bergwelt.

Die geologischen Formationen des Plateaus erweckten tatsächlich die Hoffnungen auf Fossilienfunde und so zogen wir an einigen Stellen, die uns besonders günstig erschienen, Testgräben die wirklich bald erste Funde ans Tageslicht brachten. Einige fossile Tierknochen schwer bestimmbaren Alters. In vorgeschichtlicher Zeit schien dieses Gebiet leidlich fruchtbar gewesen zu sein und von zahlreichen Tieren belebt, doch in der Jetztzeit hielten sich hier nur mehr wenige zähe und genügsame Arten, wie Skorpione und Eidechsen.

Am fünften Tag stieß ich bei einer Exkursion am südlichen Abhang auf eine enge dunkle Spalte. Von Abenteuerlust gepackt stieg ich in den schattigen kühlen Grund hinunter, der etwa vierzig oder fünfzig Meter unter dem Niveau des Plateaus lag. Nachdem ich etwa zweihundert Meter den relativ ebenen Grund der Spalte entlang gegangen war, stieß ich auf einen halb verschütteten Höhleneingang. Er gab einen weiten, gut hundert Meter in das Gestein reichenden Innenraum frei, dessen Boden offenbar aus dicken Ablagerungen bestand.

Als ich im Lager mit dem Professor meine Entdeckung besprach, wurde uns sofort klar dass die Chancen menschliche Fossilien zu finden in jener Höhle am größten sein mussten. Deshalb verlegten wir unser Lager in die Nähe der Höhle und konzentrierten unsere Bemühungen auf die Ablagerungsschichten im Höhleninneren. Wenn urzeitliche Menschen in diesen Gegenden gelebt hatten, bewohnten sie mit großer Wahrscheinlichkeit für einige Zeit auch diese Höhle, denn ihre Lage war sehr günstig. Tatsächlich stießen unsere Grabungen in etwa neun Meter Tiefe auf menschliche Knochen und unsere Begeisterung war anfangs groß.

Schon der erste komplette Schädel, den wir fanden, versprach eine wissenschaftliche Sensation. Er gehörte zu einem Individuum des frühen Homo sapiens, war etwa 100.000 Jahre alt und an sich nicht ungewöhnlich, bis auf die exakt kreisrunde Öffnung in der Schädeldecke. Lage und Beschaffenheit der Öffnung ließen als Ursache nur einen chirurgischen Eingriff mit feinen Werkzeugen zu - feine Werkzeuge wie sie die Zeitgenossen dieses Frühmenschen nach jetzigem Forschungsstand unmöglich herstellen und gebrauchen konnten. Zu allem Erstaunen schien der Eingriff auch noch erfolgreich gewesen zu sein, denn das Individuum hatte die Kopfoperation offenbar überlebt. Diesen Schluss liesen die eindeutigen Spuren der Heilung zu, die die Ränder der Schädelöffnung zeigten.

In nächtelangen Diskussionen suchten der Professor und ich nach einigermaßen plausiblen Erklärungen für unseren verstörenden Fund. Dabei schälten sich grundsätzlich zwei Möglichkeiten heraus. Einmal konnte unser bisheriges Bild vom frühen Homo sapiens auf völlig falschen Voraussetzungen beruhen, indem seine kulturelle Entwicklung vor 100.000 Jahren bereits wesentlich weiter fortgeschritten war, als bis vor kurzem zu vermuten war. Für wahrscheinlicher hielt der Professor aber die zweite Möglichkeit, wenngleich sie noch fantastischer war.

Es könnte neben den Frühmenschen, deren Fossilien wir hier gefunden hatten, gleichzeitig eine weitere, höherentwickeltere Art intelligenter Wesen existiert haben, die entweder spurlos ausgestorben war, oder unsere noch unbekannten direkten Vorfahren darstellt. Wenn es uns gelang, Fossilen jener hypothetischen Wesen zu finden, die vor 100 000 Jahren schwierige chirurgische Operationen wagten, so war das auf alle Fälle eine wissenschaftliche Sensation ersten Ranges, die manches in der Entwicklungsgeschichte des Menschen in ein anderes Licht rücken würde. Diese Aussicht lies uns hinfort mit doppeltem Eifer an die Arbeit gehen.

In schneller Folge stießen wir jetzt auf die Gebeine von zwölf weiteren Individuen, alle sehr primitive, frühe Formen des Homo sapiens. Viele davon wiesen ebenfalls die Spuren chirurgischer Eingriffe auf oder zeigten unnatürliche Verformungen. Einem Schädel zum Beispiel war exakt die Schädeldecke abgetrennt worden.

Bald konnte ich bei Professor Kohlwächter ein steigendes Unbehagen bemerken, je mehr dieser außerordentlichen Funde ans Tageslicht kamen. Ich konnte zunächst nicht verstehen welche Gedanken ihn quälten, doch eines Abends klärte er mich über einige schreckliche Folgerungen auf, die er aus den besonderen Beschädigungen der Fossilien gezogen hatte. Er hielt sie weniger für die Ergebnisse von mehr oder weniger erfolgreichen Heilungsversuchen, sondern eher für die typischen Erscheinungen wissenschaftlicher Experimente und Untersuchungen, die an jenen bedauernswerten Frühmenschen von einer überlegenen Rasse durchgeführt worden waren. Experimente und Untersuchungen, für die in unseren Labors Ratten und Affen herhalten mussten, denen nur allzu oft ein schmerzreicher, langsamer Tod beschieden war. Auch für mich war die Vorstellung beklemmend - die menschliche Rasse als Objekt unbarmherziger Experimentatoren! Im Grunde meines Herzens begann mir davor zu grauen, wir könnten im Boden der Höhle auf etwas noch Monströseres stoßen.

Die darauffolgende Nacht konnte ich lange nicht einschlafen und am Morgen erwachte ich schweißgebadet aus einem Traum, der meinen Wunsch zu manifestieren schien, diesen Ort urzeitlichen Unheils bald verlassen zu können. Heute habe ich natürlich viele Einzelheiten dieses Traumes vergessen, aber an die entscheidende Szene erinnere ich mich noch genau.

 

Ich streife durch eine hügelige Savanne, umgeben von vielen Tieren, die nicht die geringste Scheu vor mir zeigen. Doch plötzlich sind alle Wildtiere verschwunden, nur nahe mir kauert ein menschenähnliches Wesen am Boden. Während sich das Wesen aus der Kauerstellung langsam aufrichtet, verformt sich sein Hinterkopf, wird größer und länger, dehnt sich zum mehrfachen Volumen eines normalen Menschenschädels aus. Voll aufgerichtet und nach Ende der Verformungen, ist der jetzt nur mehr entfernt menschenähnliche Fremde schrecklich anzusehen. Sein tiefdunkles schwarz-grünes Äußeres strahlt blanke Bedrohung aus und voll Entsetzen will ich fliehen, doch irgendein Bann hält mich fest.

 

Jedenfalls war das Traumerlebnis nicht geeignet meinen früheren Enthusiasmus wiederherzustellen und am darauffolgenden Tag harrte ich mit heimlichem Bangen irgendwelcher neuer, verstandsprengender Entdeckungen. Tatsächlich sollten die Funde dieses Tages unser Unbehagen in bloßen Schrecken verwandeln.

Die guterhaltenen Gebeine zweier halb menschlicher Chimären kamen zum Vorschein. Primitive Menschenschädel verbunden mit Körpern und Gliedmaßen unbekannter tierischer Wesen. Es gab für den Professor keinen Zweifel - diese Fossilien waren nicht nachträglich aus den Körperteilen toter Frühmenschen und urzeitlicher Tiere zusammengesetzt worden, wie gewisse dämonische Mumien des alten Ägypten. Diese beklagenswerten Missgeburten hatten ihre monströsen Körper wirklich durch ein wahrscheinlich nur kurzes Leben geschleppt.

Entstanden sein konnten sie nur durch die künstliche Kombination von menschlichem und artfremdem Erbgut. Ein Verfahren, das die moderne Gentechnologie in den Bereich des Möglichen gerückt hatte, das jedoch von allen Verantwortlichen in Wissenschaft und Politik, in Anwendung auf den Menschen, aus moralischen Gründen einhellig abgelehnt wurde. Jene unheimlichen Experimentatoren der Vorzeit schienen solche Skrupel nicht gekannt zu haben. Von einigen anderen schrecklichen Funden, die wir des weiteren machten, will ich gar nicht berichten, weil ich weiß das mir niemand glauben würde und weil mein Verstand sich noch immer sträubt an ihre grausigen Implikationen erinnert zu werden.

Mit der Zeit begann sich Unruhe unter den Uigurischen Grabungsarbeitern auszubreiten. Auch sie schienen langsam mitzubekommen auf welche Ungeheuerlichkeiten wir hier gestoßen waren und zeigten immer weniger Bereitschaft weiter für uns zu arbeiten und immer mehr den Drang diesen unheimlich gewordenen Ort bald zu verlassen. Schließlich konnte Onkel Ho sie nur mehr mit massiven Drohungen an der Arbeit halten. Er schien übrigens der einzige unter uns zu sein der seine Gleichmut bewahrte. Als guter kommunistischer Kaderbeamter war er wahrscheinlich zu engstirnig und phantasielos um das Einmalige und Schreckliche unserer Funde begreifen zu können.

Nirgends jedoch stießen wir auf Fossilien, die auf die Verursacher, der oben erwähnten Abartigkeiten hinwiesen, bis wir an einer bisher unbeachteten Stelle, weiter im Innern der Höhle, zu graben begannen. Hier stießen wir in der Schicht, in der wir die 100.000 Jahre alten Homo sapiens Fossilien gefunden hatten, auf einige glasartige Scherben, die nur von Gegenständen einer entwickelten Zivilisation stammen konnten. Wir waren dem letzten, unheimlichen Geheimnis dicht auf der Spur.

Der Professor und ich durchwühlten selbst die Erde in der Nähe der Scherben, bewegt von zwiespältigen Gefühlen. Allein auf dem, von Gaslampen nur spärlich erhellten, neun Meter tiefen Grund der Grube, weit im Innern der Höhle, hatte uns die dumpfe Furcht ergriffen, wir könnten durch unser frevelhaftes Tun ein äonenlang schlafendes Unheil zu wecken. Omars Geschichten von Leng verbanden sich in unseren Köpfen mit der dunklen Wirklichkeit dieser Höhle und ihrer stummen Zeugen einer unglaublichen Vergangenheit. Nur unsere große Gier nach Außerordentlichem lies uns weitermachen bis wir nach Stunden auf jenen unseligen Schädel Nummer 23 stießen.

Gesichtsknochen und Stirn glichen weitgehend einem modernen Homo sapiens, doch der Hinterkopf war gewaltig erweitert und musste ein Gehirn beinhaltet haben - etwa doppelt so groß wie das eines heutigen Normalmenschen. Fassungslos hielt der Professor diese Ungeheuerlichkeit in bebenden Händen. Wir waren zunächst sprachlos. Erst als wir mit dem Fund die Höhle verließen, verscheuchte das helle Tageslicht langsam unsere Beklemmung und wir begannen vorsichtig erste Folgerungen zu ziehen.

Kein Zweifel, das Wesen, dem dieser Schädel einst gehörte, war weiter entwickelt als ein moderner Mensch, und mit einiger Sicherheit der Urheber jener Experimente an den primitiven Urmenschen. Doch was war aus der Spezies, dem dieses übermenschliche Wesen angehörte, in den vergangenen 100.000 Jahren geworden - wohin waren sie verschwunden? Waren sie ausgestorben und wann? Waren wir eitlen Menschen nichts als degenerierte Nachkommen dieser unheimlichen und diabolischen Überrasse, die in dunkler Vergangenheit Fäden zog, die bis in die heutige Welt reichen? Fragen, die mir kalte Schauer über den Rücken jagten.

 

Die Flucht

 

Das Unglück am Vormittag des nächsten Tages gab das Signal zu unserer überstürzten Flucht von diesem einmaligen Fundort, der noch so manches unvorstellbare Geheimnis bergen mochte. Schon am frühen Morgen zeigten sich unsere Uigurischen Arbeiter aufsässig und waren nur mit Mühe an die Arbeit zu bringen. Sie steckten immer wieder die Köpfe zusammen und tuschelten leise miteinander.

Nach etwa einer halben Stunde begann einer der Grabungsarbeiter plötzlich wie wahnsinnig zu schreien und zu toben. Nur mit Mühe konnten ihn seine Kameraden bändigen und aus der tiefen Grube schaffen, die wir inzwischen in die Sedimente der Höhle gegraben hatten. Zwischen dem Wortführer der Uiguren und Onkel Ho kam es zu einem hitzigen Streit, aber nach einigem Zögern stiegen die meisten der Arbeiter wieder in die Grube und setzen die Arbeit missmutig fort.

Nur wenige Minuten später stieß der Spaten eines Arbeiters mit metallischen Klang auf einen Widerstand im Erdreich. Ich stand oben, am Rand der Grube und konnte kurz eine matt glänzende, kupferfarbene Metallfläche erkennen, als der Arbeiter mit der Hand vorsichtig die Erde entfernte. Zum Glück kam ich nicht mehr dazu in die Grube zu steigen um den Fund näher zu untersuchen, denn Augenblicke später erfüllte ein kaltes weißes Licht die Grube und ein heftiges Zittern durchlief den Höhlenboden. Nach einer Schrecksekunde warfen die Arbeiter ihre Werkzeuge weg und stürzten schreiend zu den Leitern um aus der Grube zu flüchten. Die nächsten Erdstöße waren weit heftiger und liesen den Höhlenboden wild auf und ab schnellen. Ich stürzte zu Boden und kam inmitten einer dichten Staub- und Dreckwolke nur mühsam wieder auf die Beine. Das Donnern und Poltern stürzender Gesteinsmassen erfüllte den Raum um mich her. Instinktiv hielt ich schützend die Arme über den Kopf und kämpfte mich durch Schutt und Geröll glücklich ins Freie. Neben mir wankten weitere staubbedeckte Gestalten ins Sonnenlicht.

Die Erdstöße waren so schnell vorbei wie sie gekommen waren. Als sich der Staub einigermaßen gelegt hatte, wagte sich Onkel Ho wieder in die teilweise eingestürzte Höhle. Anschließend berichtete er, dass der Bereich in dem wir gegraben hatten vollkommen verschüttet sei. Zwei unserer Arbeiter fehlten und waren offenbar in der Grube verschüttet worden. Aber niemand von uns dachte daran, wieder in diese verdammte Höhle zu gehen um die Verschütteten zu bergen. Jeder der Davongekommenen, einschließlich des Professors, wollte nur möglichst schnell weg von diesem verfluchten Unglücksort. Das Schicksal hatte seine unwiderstehliche Macht gezeigt und ein Bann war gebrochen. Wir hielten Omars Geschichten über Leng jetzt nicht mehr nur für bloße Schauermärchen und verfluchten unsere hartnäckige wissenschaftliche Neugier.

Unser Aufbruch war so überstürzt, dass wir manches wertvolle Ausrüstungsstück zurückließen. Schon wenige Minuten nach unserer Abfahrt wandelte sich die unnatürliche Windstille dieses gespenstischen Morgens in einen furchtbaren Sandsturm, in dem sich die einzelnen Fahrzeuge bald verloren. Die Sicht sank fast auf Null, der Kompass drehte sich nur noch im Kreis und der Sand verstopfte mehrmals den Filter des Vergasers. Das Tosen der Naturgewalten machte uns selbst im Innern des Fahrzeugs das Atmen schwer.

Es ist als Wunder anzusehen dass der Professor und ich es mit dem Geländewagen bei diesem Sturm vom Plateau schafften und uns bei dessen Abflauen in bekanntem Gelände in der Nähe des Dorfes der Entarteten wiederfanden. Doch die beiden Lastwagen mit den Arbeitern und Onkel Ho blieben verschwunden. Auch spätere Suchaktionen mit Flugzeugen blieben erfolglos. Scheinbar war das verfluchte Leng vom Erdboden verschwunden. Nur wir, der Professor und ich, waren ausgespuckt worden, wer weiß warum? Mit den Lastwagen waren auch alle Fossilien verloren gegangen, bis auf jenen ominösen Schädel 23, den der Professor zu sich in den Wagen genommen hatte. Er war das einzige greifbare Zeugnis der Geheimnisse von Leng, das wir nun noch besaßen.

Nachdem wir einige lange und unangenehme Verhöre bei den chinesischen Behörden, wegen des Verschwindens von Onkel Ho und der Uiguren, hinter uns gebracht hatten, ohne allzu viel von Leng preiszugeben, kehrten wir als veränderte Menschen nach Deutschland zurück. Von dem metallischen Fund, kurz vor der Katastrophe erwähnte ich auch dem Professor gegenüber nichts. Ich wollte seine ohnehin zerrütteten Nerven nicht noch mehr strapazieren. 

 

Wieder Zuhause in München gewann ich allmählich die Fassung zurück. Je mehr ich sah dass in meiner gewohnten Umgebung immer noch alles beim Alten war und seinen gewohnten Gang nahm, desto mehr wurde Leng zum unwirklichen Alptraum ohne Relevanz für mein weiteres Leben. Ich wollte diese Zeit und diese Erlebnisse aus meinem Leben tilgen. Nach einem halben Jahr hatte ich wieder Tritt im Leben gefasst, als ein letzter Stoß meine menschliche Verblendung endgültig zertrümmerte.

Eines Abends, im Frühsommer Einundachtzig, rief mich Professor Kohlwächter gegen 20 Uhr noch an. Er war klang ziemlich aufgeregt und bat mich, unter allerlei dunklen Andeutungen, ihn sofort bei sich Zuhause aufzusuchen. Das verwunderte mich etwas, weil es sonst nicht seiner Art entsprach.

Meiner Gewohnheit gemäß, lies ich das Auto in der Garage und nahm öffentliche Verkehrsmittel nach München-Obermenzing, wo der Professor sein Haus hatte. Gedankenverloren ging ich die letzten paar hundert Meter von der S-Bahn Station zum Haus des Professors durch dunkle, schlecht beleuchtete und menschenleere Straßen. Unablässig überlegte ich hin und her, was der Grund für den unerwarteten Anruf sein könnte. In den letzten Wochen hatten wir uns kaum mehr mit dem Thema "Leng" befasst. Wir hatten aus unbestimmten Ängsten beschlossen, mit unseren Funden nicht an die Öffentlichkeit zu gehen.

An der letzten Ecke stieß ich beinahe mit einer Person zusammen, die sich lautlos aus der Nebenstraße, in der das Haus von Kohlwächter lag, genähert hatte. Im spärlichen Licht einer Straßenlaterne konnte ich nur einen kurzen Blick auf das Gesicht der Gestalt werfen, ehe wir aneinander vorbei huschten. Es war mir dabei, als ob mich für einen Moment ein Eiseshauch durchwehte. Dieses dunkle Gesicht, mit den großen, auffallend schräg stehenden Augen, das ich keiner der verschiedenen menschlichen Rassen eindeutig zuordnen konnte, gehörte zu einer groß-gewachsenen, herrischen und stolzen Frau. Merkwürdig war die übertrieben hohe, pharaonenhafte Kopfbedeckung, deren Aussehen etwas Dunkles in mir anregte. Zerstreut murmelte ich eine Entschuldigung und ging weiter. Als ich erwartungsvoll an der Haustür des Professors klingelte war mir die unheimliche Begegnung schon fast wieder aus dem Bewusstsein geschwunden.

Etwas verblüfft musste ich feststellen, dass auch nach mehrmaligem Läuten niemand öffnete - das hatte ich nicht erwartet! Hatte ich mich jemand an der Nase herumgeführt oder war dem Professor etwas dazwischengekommen? Enttäuscht und etwas verärgert zog ich nach etwa einer halben Stunde wieder ab.

Einen beunruhigenden Zug bekam die Sache, als Professor Kohlwächter anderntags auch im Institut nicht auftauchte und niemand etwas über seinen Verbleib sagen konnte. Alle Nachforschungen bei Freunden und Bekannten blieben erfolglos. Wenn er plötzlich verreist war, hatte er niemanden verständigt, was ganz und gar nicht seiner Gelehrtennatur entsprach, zumal er im Institut wichtige Termine wahrzunehmen hatte.

Nach drei Tagen beschlossen wir ihn als vermisst zu melden. Zuvor jedoch wollten einer seiner Kollegen und ich noch einmal sein Haus aufsuchen, das er seit der Scheidung von seiner Frau, vor zwei Jahren, alleine bewohnte.

Wieder erfolgte keine Reaktion als wir läuteten. Doch durch die Umstände berechtigt, verschafften wir uns Zugang über die nicht verschlossene Gartentür. In den Wohnräumen deutete nichts auf eine Abreise des Professors hin. Auf der Anrichte in der Küche zum Beispiel, standen noch die Reste einer Mahlzeit und schmutziges Geschirr. Das einzige was nicht zu dieser beruhigenden Atmosphäre der Normalität passte, war ein undefinierbarer, scharfer und intensiver Geruch. Obwohl, oder gerade weil wir ihn mit nichts Bekanntem in Verbindung bringen konnten, empfanden wir den Geruch als äußerst unangenehm. Im Arbeitszimmer des Professors war er am stärksten und er schien von einer großen, runden Fläche graubraunen Schleims, in der Nähe des Schreibtisches, auszugehen. Voller unwillkürlicher Scheu vermieden wir es in die Schleimfläche am Boden zu treten, deren Herkunft wir uns nicht erklären konnten.

Die leere Pappschachtel mit der fetten Aufschrift  „Leng 1980 S-23“, die auf dem Schreibtisch stand, kannte ich. Sie hatte jenen blasphemischen Schädel beinhaltet, den wir kurz vor unserer überstürzten Flucht von Leng gefunden hatten. Doch dieses Monstrum war jetzt nicht mehr da und auch eine Durchsuchung der Wohnung brachte keine Spur von ihm zutage. Eine grobe Untersuchung zeigte uns, das auch alle Unterlagen und Aufzeichnungen des Professors seit unserer Abreise nach Innerasien im letzten Frühjahr, fehlten. Sonst war alles vollständig und unberührt.

Schockartig überkam mich die erschreckende Erkenntnis. Ich brauchte nur einige Fakten in den richtigen Zusammenhang zu bringen. Leng - der Schädel - der überraschende Anruf des Professors - die geheimnisvolle Frau auf der Straße - schließlich das rätselhafte Verschwinden Kohlwächters und des Schädels. Was hatte der Professor am Telefon, kurz vor seinem Verschwinden noch gesagt?

"Sie existieren noch immer Ernst. Ich habe sie gesehen!"

Was verbarg die pharaonenhafte Kopfbedeckung der dunklen, schrägäugigen Frau? Was bedeutete der eklige Schleim im Arbeitszimmer? Jedenfalls konnte ich jetzt mehr sicher sein, dass alle intelligenten Bewohner dieses Planeten der Gattung Homo sapiens angehörten.

 

 

Autor:   Maximilian Seiler

Dritte Fassung 2019 (Urfassung 1987)

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 26.04.2019

Alle Rechte vorbehalten

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