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Leseprobe

Eiscreme mit Regenbogen

Ein Roman von Daniela Gonschorek

„Das Licht in meiner Hand,

ist ein zartes Band.

Zwischen meiner Welt und Deiner,

vielleicht wird sie bald zu einer?“

für M.

 

1. Zusammenprall

„Und wie glauben Sie, sich in unsere Firma einbringen zu können, Frau Dessauer?“ Dieser einfache Satz ließ Andrea‘s sorgfältige Vorbereitung wie ein Kartenhaus zusammenbrechen. Sie bekämpfte den Drang, hinauszurennen, zu flüchten. Ihre Hände schlossen und öffneten sich ein paar Mal krampfartig, ohne dass sich das Gefühl wachsender Panik zu bessern schien. Die Handflächen begannen zu schwitzen und kleine Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn. Jetzt nur nicht versagen! Dieses Vorstellungsgespräch war wichtig!

Sie schaute nachdenklich aus dem Fenster und beobachtete ein Flugzeug, das seinen Kondensstreifen über den blauen Sommerhimmel hinter sich her zog, während ihre Gedanken zu Vögeln wurden, verschluckt von riesigen Turbinen und als kaum wahrnehmbare Partikel wieder ausgespuckt. Ein ungeduldiges Räuspern sorgte dafür, dass sie ihren Kugelschreiber mit einer fahrigen Handbewegung vom Tisch fegte, aber das ließ ihr einige weitere Sekunden Zeit, in denen sie nach dem verflixten Schreibgerät fahndete und es neben ihrem Stuhlbein ortete. Siegessicher hob sie es hoch, legte es wieder sorgfältig zum Tischrand ausgerichtet an seinen Platz und blickte den stellvertretenden Geschäftsführer der Werbeagentur an, dessen buschige Augenbrauen nun ungehalten abwärts wanderten in Richtung Nasenwurzel.

„Woher soll ich denn wissen, was ich für Sie tun soll? Das müssen Sie mir schon sagen“, entfuhr es ihr verständnislos und genau in jenem Moment war ihr klar, dass sie verloren hatte. Der Mann vor ihr sortierte seinen Papierstapel, klopfte diesen auf dem Tisch zusammen und erhob sich dann mit einem einstudierten Lächeln. „Sie hören von uns, Frau Dessauer.“ Sie erwiderte seinen schlaffen Händedruck, schnappte sich ihre Mappe mit all ihren Arbeiten und verlief sich im Bürogebäude, bis sie endlich den Ausgang fand. Nur weg von hier!

Auf der Straße angekommen ging ihr Atem stoßweise und das Hemd klebte ihr am Rücken. Sie versuchte, gegen die nahende Panikattacke anzukämpfen, und dann fiel ihr ein, dass sie vergessen hatte ihren Lebenslauf abzugeben. Wahrscheinlich spielte das eh keine Rolle mehr. Sie musste sich wieder in den Griff bekommen und beruhigen. Irgendwie. Zum Glück war sie zu Fuß unterwegs, da sich die Agentur nur einige Straßenecken von ihrer Wohnung entfernt befand. Zum Glück deshalb, weil auf halber Strecke ein kleiner Park lag, in welchem sie oft ihren Gedanken nachhing.

Sie ging die Straße entlang und spürte, dass die Beine ihr langsam den Dienst versagten. Sie waren auch sonst nie zuverlässig, aber nun fühlten sie sich wie Gummi an, gaben nach und folgten nur schwer der vom Gehirn angegebenen Richtung. Ihr Fuß verfehlte den Bordstein und sie fiel fast gegen eine Straßenlaterne. Das Sichtfeld engte sich ein, wurde an den Rändern verschwommen und nur mit Mühe erreichte sie die rettende Parkbank. Sie stellte die Mappe ab und wühlte sowohl Sonnenbrille als auch einen Lärmschutzkopfhörer aus ihrer großen Umhängetasche, welche sie längs über der Schulter trug. Erst als sie den Kopfhörer über ihre kurz geschnittenen Haare schob und der Lärm dortblieb, wo er verursacht wurde, verlangsamte sich ihr Puls wieder.

Sie schloss für einen Moment die Augen und holte tief Luft. Ihr linkes Knie wippte schnell auf und ab, ein Zeichen dafür, dass ihr Bewegungsdrang langsam übermächtig wurde, sie mit einer Macht überfiel, der sie nichts entgegensetzen konnte. Auch ihre linke Hand machte sich selbstständig, trommelte einen unbekannten Rhythmus auf dem ausgewaschenen Holz der Parkbank und ihr Oberkörper schaukelte dazu vor und zurück, als würde sie einen lieb gewonnenen Song hören. Sie musste ihre Wohnung so schnell wie möglich erreichen. Der völlige Zusammenbruch stand kurz bevor. Dies waren nur die Vorboten.

Andrea nahm die Kopfhörer wieder ab und sofort prasselte der Lärm auf sie ein wie große Hagelkörner, denen sie nicht ausweichen konnte. Von überall her drangen Stimmen und Geräusche in ihr Gehör, ohne dass sie in der Lage gewesen wäre, diese auszublenden. Etwas weiter weg schimpfte eine Mutter mit ihrem Kind, ein Hund bellte einen Artgenossen an, irgendwo ging die Türglocke eines Geschäftes und an der Bushaltestelle vor ihr stiegen sich laut unterhaltende Teenager aus. Selbst die Vögel schienen heute keinen Gesang von sich zu geben, sondern nur ohrenbetäubendes Gekreische.

Mit zitternden Fingern packte sie den Lärmschutz in die Tasche zurück, wobei es ihr kaum gelang, den Magnetverschluss zu öffnen, geschweige denn, das sperrige Utensil zu verstauen. Sie hatte Wochen damit verbracht, sich auf diesen Termin vorzubereiten, hatte mit ihrer besten Freundin jede nur erdenkliche Situation geübt und doch wieder versagt. Dabei wusste sie um ihre Fähigkeiten, wusste, dass ihr so schnell niemand im Bereich Print und Druckvorstufe das Wasser reichen konnte, und doch spielte nichts davon eine Rolle, wenn es darauf ankam andere überzeugen zu müssen. Es kam ihr nicht über die Lippen, wie immer.

Ihr Gesicht fühlte sich heiß an und wahrscheinlich war es hochrot. Tränen stiegen ihr in die Augen, sie sprang auf und lief los. Weg von hier! Nach Hause in die Sicherheit ihrer Wohnung! Sie erreichte die Bushaltestelle und rannte vor einem Bus über die Straße, als ihr ein großer Schatten die Füße wegriss und sie der Länge nach auf der Kühlerhaube eines Autos landete.

„Brems!“ Als Katharina den spitzen Schrei ihrer Beifahrerin hörte, trat ihr Fuß schon längst das Bremspedal durch und trotzdem starrte sie eine Sekunde später einer fremden Frau in die Augen, nur die Windschutzscheibe trennte sie voneinander. Die Unbekannte rappelte sich auf, schaute verwirrt um sich und humpelte dann, so schnell sie konnte, davon. Die Fahrerin riss die Tür auf und schrie ihr hinterher: „So bleiben Sie doch stehen!“ Aber die Fremde bog in eine Seitenstraße ein und verschwand einfach.

„Verdammte Scheiße!“ Katharina blickte sich verzweifelt um und bemerkte, dass der Busfahrer ihr zuwinkte.

„Ich kann bezeugen, dass die Frau Ihnen vors Auto gelaufen ist.“ Außer ihm waren noch zwei weitere Personen bereit, als Zeugen auszusagen, sie notierte sich mit zitternden Fingern alle nötigen Daten und stand dann wieder neben ihrem Auto, aus welchem ihre Beifahrerin ebenfalls ausgestiegen war.

„Wir kommen zu spät zu Meeting, Kati.“ Sie tippte auf ihre Uhr.

„Ich habe gerade eine Frau angefahren, Dagmar!“, fuhr Katharina ihre Kollegin an.

Hinter ihr hupte der Busfahrer und rief aus dem Fenster: „Hier können Sie nicht stehen bleiben!“

Für einem Moment war sie völlig überfordert, lehnte sich gegen die Fahrertür und überlegte krampfhaft, was als Nächstes zu tun sei. Eine Frau eilte aus dem Park auf sie zu mit einer schwarzen Mappe in der einen Hand und einem zeternden Kind in der anderen. „Das hier hat sie liegen lassen.“ Sie drückte Katharina die Mappe einfach in die Hand und der Bus fuhr einen Meter an, um zu zeigen, dass er auch noch da war.

Sie schmiss die Mappe auf den Rücksitz und rief ihrer Kollegin zu: „Steig in den Bus! Der hält in der Nähe der Firma! Ich geh' die Frau suchen.“ Eine Antwort wartete sie erst gar nicht ab, sie sprang in ihr Auto und fuhr in jene Richtung, in welche die Unbekannte davongelaufen war. In der Seitenstraße suchte sie sich einen Parkplatz, stieg aus und beobachtete die Umgebung. Keine Anzeichen, kein Hinweis. Sie holte die Mappe hervor, deponierte sie auf dem Beifahrersitz und nahm ebenfalls wieder hinter dem Steuer Platz. Sie kannte diese Art von Mappen, die Künstler und Grafiker gerne benutzten, um ihre Arbeiten zu präsentieren, meistens waren sie mit Ringbindungen versehen, sodass man die Werke stets neu zusammenstellen konnte.

Erstaunlich an dieser edel aussehenden Ledermappe aber war, dass sie in einer Zeichenmappe aus Kunststoff steckte, wahrscheinlich um den Inhalt besser schützen zu können. Katharina angelte das gute Stück vorsichtig heraus und legte sie auf den Sitz neben sich. Irgendwo musste sich doch ein Hinweis auf die Besitzerin finden lassen.

Sie blätterte sich durch die Ausdrucke, welche fein säuberlich auf schwarze Bögen geklebt worden waren und in Schutzhüllen steckten. Eine Mappe wie jede andere, hunderte davon hatte sie schon durchgeblättert, aber die wenigsten konnten sie überzeugen. Diese Arbeiten hier unterschieden sich von den üblichen Layouts für Plakate und Broschüren, aber es fanden sich auch Illustrationen, Fotografien und sogar Malereien. Katharina vergaß fast, weshalb sie hier war und nun erfasste sie eine aufgeregte Neugier, wer wohl die Grafikerin, die sich hier präsentierte, sein mochte.

Sie riss sich zusammen und stellte enttäuscht fest, dass sich keine Adresse finden ließ. Beim Verstauen der Mappe klapperte es aber, sie fuhr mit der Hand in die Schutzhülle und holte einige Blätter heraus, die mit einer Plastikschiene zusammengehalten wurden. Lebenslauf, Anschreiben, Qualifikationen. Hier fand sich auch eine Anschrift der Besitzerin.

„Zwei Straßen weiter“, murmelte Katharina vor sich hin und seufzte, als sie sich kurz im Rückspiegel sah. Aus dem Pferdeschwanz hatten sich einige Haarsträhnen gelöst und hingen ihr nun in die Stirn. Mit leichter Verärgerung schubste sie sich die Störenfriede hinter die Ohren, auf dass sie dort eine Weile blieben. Sie ließ den Motor an und ihr schwarzer Smart schob sich mit seinem Elektromotor fast lautlos aus der Parklücke. Sie war wieder einmal froh, sich beim Autokauf für ein kleines Modell entschieden zu haben, wenngleich ihre Kollegen auch oft darüber lästerten.

Sie kannte diese Ecke von Wiesbaden wie ihre Westentasche, denn sie war hier aufgewachsen. Die Wohnung der Fremden lag nur wenige Häuser entfernt von jener, in der ihre Eltern einst gelebt hatten, bevor ihr Vater mit seinem Geschäft erfolgreich wurde. Ein typisches Arbeiterviertel aus den Siebzigerjahren, aber sowohl die Außenfassaden, als auch die Begrünung schienen gut gepflegt, lediglich der Bürgersteig zeigte noch die alten Fliesen, über welche Katharina schon als Kind beim Rollschuhfahren öfter gestolpert war. Sie musste lächeln, obwohl ihr Herz immer schneller schlug, je näher sie der Haustür kam. „Mein Güte“, entfuhr es ihr. So viele Erinnerungen. Hier hatte eine ihrer Klassenkameradinnen gewohnt und sie starrte auf die Namensschilder neben den Klingelknöpfen.

„Dessauer.“ Zögernd näherte sich ihr Zeigefinger der Klingel, um diese dann mit einem Ruck herunterzudrücken. Selbst der widerliche Ton des Summers war noch der gleiche. Unfassbar! Sie wartete, aber als nichts geschah, trat sie einige Schritte zurück und bemerkte im zweiten Stock eine Bewegung hinter den Gardinen. Katharina hielt die Mappe hoch und klingelte kurz darauf etwas energischer als zuvor. Die Haustür öffnete sich mit einem ebenso nervtötenden Summen. Als wäre die Zeit stehen geblieben. Der warme Sommertag mit seiner flimmernden Luft tat ein übriges und ließ die Umgebung fast unwirklich erscheinen.

Sie trat ein in den Hausflur, welcher einladend kühl war und ging von Tür zu Tür, auch hier wiesen Namensschilder auf die Bewohner hin. Tatsächlich öffnete sich im zweiten Stock eine Tür einen Spalt weit, aber sehen konnte sie niemanden. „Hallo? Sie haben Ihre Mappe im Park vergessen.“ Katharina schob diese ein wenig durch den Türspalt, eine Hand griff danach, zog die Mappe ganz hinein und schmiss die Tür wieder zu.

Katharina stand perplex im Flur und wusste nicht, was sie sagen sollte. Sonst war sie nie auf den Mund gefallen, aber nun blieb ihr regelrecht die Spucke weg. Frechheit! Sie machte sich die Mühe und die andere bedankte sich nicht einmal? Nun gut. Sie klingelte Sturm und die Haustür öffnete sich wieder etwas, das war aber schon alles. Innerlich fluchte Katharina, so leicht konnte man sie nicht abweisen, also schubste sie die Tür auf und blickte in einen leeren Flur, die Mappe lehnte dort gegen die Wand.

Zögernd schlüpfte sie in die Wohnung, ließ die Haustür aber offen. Man wusste ja nie. Vom Flur aus gingen sämtliche Zimmer ab, auf der einen Seite Schlafzimmer und Küche, auf der anderen das Wohnzimmer und am Ende des Flures befand sich das Bad. Auf dem Bett lag ein nicht gerade kleiner Hügel aus Decken, der sich nun bewegte. „He! Sie könnten wenigstens etwas sagen.“ Katharina war es leid, sich veralbern zu lassen. Sie machte einige Schritte auf das Bett zu, da wühlte sich eine Hand aus den Decken und wurde mit einem Zettel in die Höhe gehalten. Sie angelte vorsichtig danach und ging wieder in den Flur, da das Schlafzimmer abgedunkelt war.

„Ich bin Autistin und habe gerade einen Zusammenbruch. Bitte bringen Sie mich an einen ruhigen Ort und reden Sie nicht mit mir. Ich kann im Moment nicht sprechen“, las Katharina leise vor. Autistin? Waren das nicht schreiende Menschen, die ihre Umwelt nicht wahrnehmen konnten, so wie in diesem Kinofilm? War es am Ende sogar gefährlich, hier länger zu bleiben?

Andererseits wollte Katharina die Sache mit dem Unfall jetzt endlich klären und nicht auch noch eine Anzeige wegen Fahrerflucht, Körperverletzung und unterlassener Hilfeleistung riskieren. Sie überlegte einige Minuten und entschloss sich zu warten. Ein scheuer Blicks ins Schlafzimmer zeigte ihr, dass sich der Hügel auf dem Bett, welcher sich in der Mitte gebildet hatte, nicht bewegte und von zwei Stofftieren bewacht wurde. Drumherum lagen etliche Kleidungsstücke verstreut, ein unordentlicher Eindruck, der sich im Wohnzimmer fortsetzte, besonders um den Schreibtisch herum, der hinten an der Wand neben dem Fernseher stand. Davor hatte ein bequem aussehendes weiches Sofa seinen Platz gefunden, gefolgt von einem länglichen Esstisch.

Das Chaos schien sich partiell auf einige Ecken zu begrenzen und die Küche machte wiederum den Eindruck, als könne man vom Boden essen. Dort befand sich auch eine Kaffeemaschine und da sich Katharina auf eine längere Wartezeit einstellte, angelte sie sich aus einem der Hängeschränke eine Tasse, deren Form den Kopf einer Cartoonfigur hatte. Sie schüttelte grinsend den Kopf, fand die Pads für die Maschine und setzte sich dann an den Esstisch. Wie lange schliefen Autisten eigentlich?

Sie schaute sich im Wohnzimmer um. Dreckig war es nicht, kein Staub auf Tischen und Regalen, aber es sah teilweise so aus, als hätte jemand etwas hektisch gesucht und dann einfach liegen lassen. An den Wänden hingen große Bilder, auf Leinwand gemalt. Abstrakte Arbeiten mit kraftvollen Schwüngen, wobei es aussah, als wären diese von einer Hand und nicht einem Pinsel verursacht worden. Ähnliche Werke befanden sich in der Mappe.

Katharina holte ihr Tablet aus der Handtasche, es gab hier sogar eine freie WLAN Verbindung und sie erinnerte sich an das Café um die Ecke. Wie lange existierte es schon? Sie hatte sich dort vor der Schule immer Brötchen mit Schokoküssen geholt. Wieder stahl sich ein wehmütiges Lächeln auf ihre Lippen und wenn sie schon hier festsaß, dann war es vielleicht gut, sich ein wenig über das Thema Autismus zu erkundigen. Die Suchmaschine spuckte tausende von Webseiten aus und sie klickte einfach einen Link nach dem anderen an.

Zwei Stunden später wusste sie, dass es verschiedene Arten gab und unterschiedliche Ausprägungen. Man konnte also mit der Fremden reden, das war schon mal gut. Weniger gut hingegen hörten sich die Kommunikationsprobleme an, welche die meisten Autisten mit ihrer Umwelt hatten. Sie legte das Tablet auf den Tisch, sah zu den Bildern und grübelte darüber nach, was diese wohl darstellen sollten.

Sie erschrak zu Tode, als die Haustür aufging. „Rehlein? Schon zurück?“, fragte eine weiche Frauenstimme. „Ich habe etwas zu Essen mitgebracht.“ Die Tür schloss sich wieder und sie hörte Schritte. „Andy?“

Katharina erfasste eine leichte Panik und sie räusperte sich, damit man sie am Ende nicht noch für eine Einbrecherin hielt. Die Schritte wurden lauter. „Andrea?“ Eine Frau, vielleicht Mitte oder Ende fünfzig, spähte um die Ecke und erschrak genauso wie zuvor Katharina. „Wer sind Sie und was ist mit meiner Tochter?“

Sie hob beschwichtigend die Hände. „Ich habe ihr die Mappe gebracht, die sie im Park stehen ließ.“

„Verdammt“, entfuhr es der Älteren, sie eilte zum Schlafzimmer und kam kurz darauf wieder. „Verzeihung, ich sollte mich vorstellen: Ich bin Irmgard Dessauer, die Mutter.“

„Katharina Müller.“ Sie nickte der Frau zu.

„Was ist genau passiert?“

Katharina war sich nicht sicher, ob sie ihr alles erzählen sollte, aber schließlich setzten sich die beiden an den Tisch, frisch versorgt mit Kaffee, und sie informierte Frau Dessauer über die Ereignisse. Eigentlich erwartete sie nun ein Donnerwetter, aber ihr Gegenüber lächelte. „Danke, dass sie Andy gefolgt sind.“

Sie zuckte mit den Schultern. „Sie hat sich offensichtlich am Bein verletzt und ich konnte sie nicht einfach so davonlaufen lassen.“

„Es hätte Sie doch niemand angezeigt. Dachten Sie das?“

„Ja, das auch“, war die ehrliche Antwort.

„Nein, von uns brauchen Sie nichts zu befürchten.“ Die Frau sah nachdenklich in ihre Tasse. „Ich weiß gar nicht, das wievielte Bewerbungsgespräch dies jetzt war. Es ist schlimm, wenn man keine Chance bekommt zu zeigen, was man kann. Es zählt der erste Eindruck und darin ist meine Tochter ziemlich schlecht. Sie kann sich halt nicht gut verkaufen.“

Oh, Katharina wusste nur zu gut, was sie meinte, da sie selbst als Art Directorin in einer Agentur arbeitete, aber das verschwieg sie aus Angst, man könne sie um einen Job anbetteln. Präsentation war alles in diesem Gewerbe, Talent zählte da nur bedingt oder gar nicht. Wer das lauteste Maul hatte, gewann auf jeden Fall. Das war für jeden die Hölle, wie musste es da für einen behinderten Menschen aussehen? „Ja, man hat nur eine Chance, das ist überall das Gleiche“, entgegnete sie lapidar.

„Wenn mir damals bewusst gewesen wäre, was mit ihr ist, hätten wir ihr von diesem Studium abgeraten.“

„Welches denn?“ Katharinas Neugier war geweckt.

„Kommunikationsdesign.“ Frau Dessauer schmunzelte. „Nicht gerade ein Gebiet, das sich ein Autist aussuchen sollte, aber Andy liebt ihren Beruf sehr. Sie sagt, es sei eine Berufung. Allerdings sind die Jobs zum Davonlaufen.“

„Sie ist Diplom Designerin?“ Katharina hatte sich nach hinten gelehnt, kippelte mit dem Stuhl wieder vor. „FH Wiesbaden?“, fragte sie vorsichtig und die Frau auf der anderen Seite des Tisches nickte eifrig. Der gleiche Studiengang, unglaublich, aber damals kamen Studenten von weit her deswegen.

„Waren Sie dort auch?“

Sie überlegte. „Ja … ähm … Architektur.“ Sie kramte eine Visitenkarte aus ihrer Tasche. Eine private, ohne Angabe zum Beruf und Frau Dessauer zog nun ihrerseits eine aus der Geldbörse. Es raschelte im Flur, eine verschlafene und hinkende Frau mit Beule an der Stirn betrat das Wohnzimmer. Ihre kurzen Haare standen ihr zu Berge und sie trug einen weiten Jogginganzug. Sie versuchte, die Situation zu erfassen, und räusperte sich. „Sind Sie die Autofahrerin?“ Katharina nickte und stellte sich vor, während Andrea sich neben ihrer Mutter auf einen Stuhl fallen ließ. So ganz wach sah sie noch nicht aus. „Danke für die Mappe.“ Die Worte schienen ihr schwer über die Lippen zu kommen, sie sprach langsam.

Frau Dessauer strich ihrer Tochter sachte über die Stirn. „Bist du da auf die Kühlerhaube gefallen?“

Andrea schüttelte den Kopf. „Das war der Türrahmen. Ich bin dagegen geknallt. Zu viel Druck.“

Katharinas Mund stand offen. Hatte diese Frau allen Ernstes mit voller Absicht ihren Kopf gegen den Rahmen geschlagen? Warum? Offensichtlich sah man ihr die unausgesprochene Frage an, denn die Mutter antwortete: „Das passiert leider immer, wenn sie unter Druck steht. Meltdown nennt man das, aber ich will Sie nicht mit Fachbegriffen langweilen, Frau Müller.“

Katharina schnappte sich ihre Tasche und stand auf. „Schon gut. Ich lasse Sie jetzt wohl besser alleine. Ich muss noch zu einem Kunden.“ Sie reichte Frau Dessauer die Hand zum Abschied und da Andrea keine Anstalten machte, es ihr gleichzutun, nickte sie der zerzausten Frau zu und ließ sich von der Mutter zur Tür begleiten.

Irmgard kehrte ins Wohnzimmer zurück und fand ihre Tochter auf der Couch liegend vor, einen großen Teddybär im Arm haltend. Es würde lange dauern, bis sich Andrea von diesem Supergau erholt hatte. Seufzend tippte sie ihr aufs Bein, sodass sich ihre Tochter aufrichtete und sie sich neben diese setzte. Sie zu umarmen wäre jetzt zu viel gewesen, aber sie wusste, wie sie Andrea beruhigen konnte, und kraulte ihr sanft das ausrasierte Genick. So tat sie es seit Kindertagen und es half immer. „War wieder nichts?“

Ihre Tochter schüttelte den Kopf und Tränen kullerten ihr über die Wangen. Irmgard küsste ihren wilden Haarschopf. Sie wusste, dass Andrea jetzt nicht reden würde, auch wenn sie es wollte. „Rehlein, du solltest wieder zu uns ziehen.“ Nun legte sie doch ihren Arm um sie. Andrea schaute auf und ihre braunen Augen spiegelten die Verzweiflung wider, welche sie in den letzten Wochen öfter überkommen hatte.

„Wir haben vielleicht eine Schlacht verloren, mein Schatz, aber nicht den Krieg.“ Irmgard blickte sie ernst an. „Und wir geben nicht auf.“ Andrea kuschelte sich an ihre Schulter und sah nicht, dass ihrer Mutter ebenfalls die Tränen kamen.

2. Kamikaze-Jon

Drei Wochen waren seit dem Unfall vergangen und acht Tage seit Andrea‘s Einzug bei ihren Eltern. Ihr kleiner Bruder Thorsten hatte sich damals natürlich einige beißende Bemerkungen nicht verkneifen können, aber auch er spürte mittlerweile, dass es im Moment besser war, seine Schwester in Ruhe zu lassen.

„Andy?“ Jons sanfte Stimme beendete ihren Gedankengang abrupt und sie hörte auf, ihren Kaffee endlos umzurühren. Andrea schaute auf und ihrem besten Freund in die blauen Augen, welche vor Belustigung wie kleine Edelsteine funkelten. „Ich würde gerne wissen, wo du gerade warst? Interessant?“ Er kicherte, strich sich seine blonde Surfermähne zurück und klaute sich eines der steinharten Plätzchen, das auf ihrer Untertasse lag.

„Maria, mit den Dingern kannst du Fenster einschmeißen!“, rief er der Besitzerin des kleinen Cafés über die Schulter zu, in welchem er und seine Freunde einen Stammtisch innehatten. Die Qualität des Gebäcks hielt ihn nicht davon ab, sich ein weiteres in den Mund zu stopfen.

„Die sind frisch gekauft“, vermeldete Maria, eine schlanke Frau mit dunkelbraunem Haar, welches sie zu einer Art Kranz geflochten hatte. Mit einigen Flüchen verschwand sie in der Küche und lamentierte lautstark mit dem Koch.

Andrea rutschte nervös auf ihrem Stuhl herum. „Musstest du das jetzt sagen?“ Es war ihr höchst unangenehm und sie schubste ihre Sonnenbrille auf der Nase einen Zentimeter höher. Das verdammte Ding hatte die Angewohnheit, bei dieser Hitze langsam in Richtung Nasenspitze zu wandern, wenn man es nicht aufhielt.

„Warum soll ich etwas hinnehmen? Wenn mir was nicht passt, mache ich den Mund halt auf.“ Er grinste frech und eigentlich beneidete sie ihn um die Gabe, alles sagen zu können. Wie schön wäre es, wirklich zu sprechen? Nicht nur über belanglose Dinge zu reden, nein über wichtige Gedanken und Gefühle. Sie auszudrücken und anderen verständlich zu machen. Jon bemerkte ihren traurigen Blick. „Ich weiß, was du denkst, auch wenn du es nicht sagen kannst, Andy.“ Er lächelte aufmunternd und man sah ihm seine 35 Jahre nicht an, er wirkte eher wie ein Student und trotz der großen Klappe war er oft der Einzige, der wusste, wie es in ihr aussah.

Sie schaute nach draußen, dort eilten etliche Menschen vorbei, machten Lärm und sie musste sich zusammenreißen, um Jon verstehen zu können. So viele Geräusche. Die Autos, hochflatternde Tauben, spielende Kinder und irgendwo unterhielten sich zwei Taxifahrer über die Flaute in ihrem Geschäft. Es roch nach verbranntem Gummi, verwelkten Blumen, Erdbeereis, Kaffee und Urin, mit dem der nächste Hauseingang verunreinigt worden war. Der Tisch fühlte sich unangenehm kalt an und sie zog die Hände ein. Die heiße Luft draußen schillerte regenbogenfarben.

Andrea lächelte trotzdem verhalten zurück und fuhr sich mit einer verlegenen Geste über das kurze Haar, das am Scheitel in die Höhe stand. „Jungspund!“ Sie lachte ausgelassen.

„Dinosaurier“, entgegnete er schmunzelnd.

„Ach komm, wir liegen nur fünf Jahre auseinander“, echauffierte sie sich gekünstelt.

Jon musterte sie und wurde ernst. „Hast du noch einmal etwas von dieser Tante gehört, die dich über den Haufen gefahren hat?“

„Ich bin ihr vors Auto gelaufen“, korrigierte sie ihn tadelnd. „Vors Elektroauto, um genau zu sein. Die Dinger sind echt leise.“

„Ja, sie schleichen sich an arglose Autisten heran.“ Er angelte nach einem weiteren Plätzchen, kam aber nicht daran, weil sie ihre Tasse aus seiner Reichweite gezogen hatte. „Sadistin.“ Ein Gebäckstück schlitterte über den Tisch auf ihn zu und er griff gierig danach.

„Meine Mutter hatte zweimal mit ihr telefoniert, aber bei mir rief sie nicht an.“

„Hu! Hat sie Angst, du könntest sie stalken? Ihr auflauern und durchdrehen?“

„Keine Ahnung. Ich glaube, ich habe einfach den ersten Eindruck versaut und mich von meiner schlimmsten Seite gezeigt. Das kann ich gut.“ Sie seufzte.

„Zeit, dich aufzumuntern.“ Er winkte Maria zu und die beiden bezahlten. „Lass uns frische Luft schnappen und irgendwo abhängen.“

„Musst du noch aufs Klo?“ Andrea stand auf und räumte ihren Stuhl beiseite.

„Nö, heute mal nicht.“ Seine Hände fassten an die Räder des Rollstuhles und er fuhr einen Meter zurück, dann schob sie ihn hinaus. „Scheiß Kopfsteinpflaster“, fluchte er, wie so oft.

„Das vibriert in sämtlichen Knochen.“

„Good vibrations“, sang er leise und setzte sich ebenfalls eine Sonnenbrille auf.

Eine Stunde danach saßen sie am Rheinufer und Jon kicherte. „Dein KA ist ja ne niedliche Kiste, aber bis man da drin sitzt ...“

„Ich hätte dich in den Kofferraum packen sollen und den Rolli auf den Beifahrersitz. Der meckert wenigstens nicht.“ Sie boxte ihm freundschaftlich auf den Oberarm.

„Zum Glück hast du mich nicht fallen lassen, wie damals auf‘m Klo.“

„Hör' ich da einen klitzekleinen Vorwurf heraus? Ich konnte nicht ahnen, dass du wie ein Sack an mir hängst. Du bist mir einfach aus den Händen gerutscht.“

„Na, das war ne Bruchlandung.“ Er klopfte ihr auf die Schulter. „Alles ok. Ich hab' lange nicht mehr so viel gelacht wie da. So sehr, dass wir nicht mehr hochkamen.“

„Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Geschlossen zwischen Tür und Klobecken. Daraus sollte man einen Roman machen.“ Sie zupfte verspielt an einer seiner Haarsträhnen. „Mit dem Gel hättest du ne ganze Strippertruppe versorgen können.“

„Woher weißt du, dass die sich Gel ins Haar schmieren?“, fragte Jon verdattert.

„Tina hatte sich mal so nen Abend gegeben zusammen mit Kolleginnen.“

„Heilige Scheiße! Warum weiß ich das nicht? Immerhin bin ich mit ihr genauso befreundet wie du.“ Er warf einer Ente ein Stück jener Kekse zu, die er Maria noch abgeschwatzt hatte. Sofort kamen etliche Artgenossen an und belagerten die beiden.

„Weil du ein Plappermäulchen bist.“ Andrea verjagte einen Teil der Tiere mit einem Zischlaut.

„Ich bin lediglich kommunikativ.“

„Du bist dezent wie eine Schiffssirene.“ Sie schaute lachend auf das Wasser, welches träge an ihnen vorbeizog und durch die Sonnenstrahlen glitzerten abertausende Diamanten auf der Oberfläche, tanzten fröhlich und verschwanden einen Augenblick später wieder.

Andrea schwieg und er sah keinen Grund, die Stille durch nichtssagende Worte zu stören. Sie redete nur, wenn sie etwas zu sagen hatte, und gerade diesen Wesenszug an ihr mochte er. Seit seinem Unfall liebte er die Ruhe und das Nachdenken genauso sehr. Vieles war unwichtig geworden, viel hatte er aufgeben müssen. Für die meisten war er nur der Mann im Rollstuhl, aber für Andrea spielten Äußerlichkeiten keine Rolle, sie nahm sie nicht wahr. Sie blickte direkt in Jons Seele und er konnte sich erinnern, dass er sich anfangs fühlte, als hätte er sich nackt ausgezogen.

Nun sah sie ihn an und lächelte. „Das Denken fällt hier besonders leicht, nicht wahr? Kein Sturm, kein Chaos.“

„Keine Menschen, die mit dem Finger auf mich zeigen.“ Er blinzelte in die Sonne.

„Oder die mit mir reden, als wäre ich ein Vollidiot. Die hinter meinem Rücken über mich lachen, weil ich mich unbeholfen bewege, die mir nichts zutrauen, weil ich ihren Maßstäben nicht gerecht werde.“ Die letzten Worte sprach sie mit belegter Stimme und er wusste, dass sie diese Gedanken aufwühlten.

„Lass sie hinter dir, sie sollten dir nichts bedeuten. Sie sind es nicht wert. Nur oberflächliche Arschlöcher, die dem Geld hinterherjagen und den Wert eines Menschen nach seinem Kontostand bemessen. Armseliges Pack, mehr nicht.“

„Sie sind blind geworden.“ Sie stand auf, ging ans Ufer und nahm einen flachen Stein in die Hand, dann setzte sie sich wieder. „Ich dachte, ich würde mich daran gewöhnen, aber das Gegenteil ist der Fall.“ Sie betrachtete den Kiesel und zeigte ihn Jon. „Ich dachte, mit der Zeit würde ich zwischen all die anderen Steine passen.“

Sie redete gerne bildhaft, denn auch ihre Gedanken bestanden aus tausenden von Bildern. Eine wortlose Welt, stumm, aber voller Farben, die durcheinanderwirbelten, sich zu Figuren formten und wieder auflösten. In diesem Chaos fühlte sie sich sicher, es war ihr vertraut. Die Welt da draußen war ihr fremd, sie verstand die Regeln nicht, nach denen diese Welt funktionierte. Schon als Kind hatte sie versucht, hinter dieses Geheimnis zu kommen, sie las Unmengen an Büchern und ihr Wissensdurst konnte niemals gestillt werden.

Die Welt um sie herum blieb fremd und leer. Ihre Mutter hatte sie immer dazu angehalten mit den anderen Kindern in der Nachbarschaft zu spielen, aber das tat sie höchst selten. Sie verstand die seltsamen Rollenspiele nicht. Vater, Mutter, Kind. Sie wusste nicht, was eine Familie war, obwohl ihre Eltern ihr alles gaben, was ein Kind brauchte. Sie erkannte in den beiden wichtigsten Personen in ihrem Leben nicht die Eltern. Es waren Menschen, die in der gleichen Wohnung lebten. Erst mit 18 verstand sie, dass diese Gefühle hatten. Bis zu diesem Zeitpunkt dachte sie immer, dass sie die Einzige war. Ein Alien, ein Freak, jemand, der nicht hierher gehörte, der in der Schule die Treppen hinuntergestoßen wurde. Ausgelacht, gemieden, verachtet, verprügelt.

Ihre linke Hand öffnete und schloss sich krampfartig und Jon zog die Notbremse. Er spürte, dass er ihre Gedanken unterbrechen musste. Sie waren nicht gut und sie brachten nichts. „Wir können die Vergangenheit nicht ändern, Andy. Auch wenn wir es uns sehnlichst wünschen.“

Sie nickte traurig. „An vieles kann ich mich nicht mehr erinnern und ich glaube, das ist auch ganz gut so. Tina erzählt mir oft von unserer Schulzeit, schließlich kennen wir uns seit der Grundschule. Es ist alles wie ausgelöscht in mir.“

„Du bist hier. Jetzt. Nimm die schönen Momente mit.“ Er legte ihr seine Hand auf die Schulter, wobei er den Arm ganz langsam ausstreckte, als näherte er sich einem verschreckten Tier. Jon wusste, dass sie es akzeptierte und es ihr nicht unangenehm war. „Den schönen Tag, die Wärme.“

„Und unsere Gespräche, die ich so sehr mag.“ Sie grinste zwar etwas schief, aber immerhin hatte sie aufgehört mit dem linken Bein zu wippen, was bedeutete, dass sie sich langsam wieder beruhigte.

„Unsere dummen Witze.“ Er kicherte ausgelassen.

„Die vor allem.“ Andrea schaute lachend in den Himmel. Waren Wolken nicht beneidenswert? Sie änderten sich stetig, reisten über das Land, einem unbekannten Ziel entgegen, von dem sie selbst nichts wussten. Am Ende lösten sie sich auf oder wuchsen zu einem Gewittersturm, aber sie starben nicht, sie wurden neu geboren und setzten ihre Reise fort. „Ich glaube an Reinkarnation.“

Jon schaute überrascht zu ihr. „Wie kommst du nun darauf?“

Sie erzählte ihm ihren Gedanken. „Nichts vergeht wirklich und jeder Tod ist ein Beginn.“

Er liebte solche Gespräche. Früher hätte er darüber gelacht, aber nun fragte er sich oft, welchen Sinn das Leben hatte, warum das Schicksal manchen Menschen eine Last aufbürdete, unter der viele zerbrachen. Es musste einen Grund dafür geben. „Das wäre tröstlich, aber ich denke, dass auf diese Art die gleichen Fehler immer wieder begannen werden.“

„Der Mensch hat eben verlernt, achtsam zu sein. Mit seinen Mitmenschen und mit der Erde.“ Sie schwieg eine Weile, bevor sie die nächsten Worte formulieren konnte. „Jeder Schritt, denn wir machen, hat ein Echo in dieser Welt, nichts bleibt folgenlos, so geringfügig uns unser Tun auch erscheinen mag.“

„Der Mensch sieht nur noch das, was er sehen will, was man ihm einflüstert und vor die Nase hält.“ Jon beobachtete eines der Fährschiffe, die etwas flussaufwärts auf eine der Auen übersetzten.

Andrea lächelte. „Direkt gegenüber ist ein Campingplatz. Da sind wir früher oft mit der Fähre übergesetzt. Ich glaube, es war eine unbeschwerte Zeit.“

„Du glaubst?“ Er runzelte die Stirn.

„Es sind nur vage Bilder übrig und ich bekomme sie kaum zu fassen. Sie sind wie Blitzlichter, sie flackern auf und dann ist es wieder dunkel.“ Sie schaute einer Familie dabei zu, wie sie über den Bootssteg tippelten und in der Fähre verschwanden.

„Warum hast du so wenig Erinnerungen?“

„Keine Ahnung. Menschen kamen und gingen. Sind sie fort, ist es, als ob sie nie da gewesen wären. Ihre Gesichter sind fleischfarbene Kreise, ohne Kontur. Dann verblassen auch diese Bilder. Ich weiß, wie meine Familie aussieht, wie du aussiehst, aber wenn ich dich zwei Wochen lang nicht sehe, dann bist du nicht mehr greifbar, wenn ich an dich denke.“

„An Orte erinnerst du dich eher?“ Im Grunde kannte er die Antwort, er hatte zahlreiche Bücher über das Asperger Syndrom gelesen, um Andrea verstehen zu können.

„Geräusche, Gerüche. Sie sind stärker. Ich weiß, wie der letzte Urlaub roch. Salziges Meer, Tang, Dünengras. Es war ein ständiges Rauschen, so beruhigend und freundlich.“

„Freundlich?“

„Manche Geräusche wiegen einen in den Schlaf. Wie das Summen meiner Klimaanlage.“

„Das Scheißding surrt wie eine Flugzeugturbine“, murrte Jon, der Dank eines Treppenliftes in die Dachwohnung seiner Freundin gelangen konnte, da die Familie Dessauer dort lange ihre Großmutter beherbergt hatte.

„Es filtert alle störende Nebengeräusche weg. Da ist nur das Summen und es tut mir gut.“

„Wenigstens kühlt das Teil ordentlich.“ Sie schauten zwei Schwänen dabei zu, wie diese sich mit ausgebreiteten Schwingen umkreisten.

„Balzen die, oder gehen sie aufeinander los?“ Andrea holte ihre kleine Kamera aus der stets bereiten Umhängetasche und machte einige Fotos, ohne sich von der Bank zu erheben.

„Keine Ahnung. Bei Menschen bin ich mir da manchmal auch nicht so sicher.“ Sie kicherten ausgelassen wie kleine Kinder. „Wo hast du eigentlich deine fette Spiegelreflexkamera hin?“

„Die nehme ich nur bei größeren Ausflügen mit. Die hier ...“, sie hielt den Fotoapparat in die Höhe, „… ist auch ne Spiegelreflex, aber ohne Spiegel.“ Sie grinste, als sie in Jons ratloses Gesicht blickte. „Spiegellose Digitalkameras sind eben praktisch.“

„Du hältst mir jetzt aber keinen Vortrag, oder?“

Sie wusste, dass ihr Freund sie gerade davon abhalten wollte, sich ausgiebig über dieses Thema auszulassen, da sie dazu neigte, jeden in Grund und Boden zu reden, wenn es um ihre Hobbys ging. „Keine Sorge.“ Sie machte ein Foto von ihm.

„Jetzt ich!“ Er hielt ihr die Hand entgegen und sie übergab ihm widerwillig das handliche Gerät.

„Tipp einfach auf das Display.“

„Cool. Und nun guck sehnsuchtsvoll in die Ferne.“

„Warum?“ Sie verzog das Gesicht und in diesem Moment löste er aus.

„Das löschen wir sofort wieder.“

Jon begutachtete sein Kunstwerk und rief empört: „Nein! Das ist voll süß geworden!“

Andrea schnappte sich die Kamera und starrte auf das Bild. Es war seltsam, sich selbst zu betrachten. Bekannt, aber auch fremd. „Na ja. Zumindest kneife ich nicht das rechte Auge zu wie sonst.“

Der Himmel bewölkte sich zusehends und die beiden entschieden sich für den Aufbruch. „Diese scheiß Sommergewitter. Erst total schwül, dann Weltuntergang“, fluchte Andrea genervt.

„Hast doch deine Klimaanlage“, flaxte Jon.

„Haha!“ Sie überprüfte zum dritten Mal den Sitz ihres Hemdes, das vom Gurt der Umhängetasche zerknäult wurde. Im Laufe der Zeit hatten sie das ideale Tempo herausgefunden, um sich nebeneinander herzubewegen, nur kurz vor der Hauptstraße, die sie vom Parkplatz trennte, lag noch eine steile Anhöhe vor ihnen.

„Wie soll man da bitte alleine mit dem Rollstuhl raufkommen?“ Der Blondschopf hielt an und schaute sehnsüchtig den Berg hinauf.

„Echt Mist.“ Sie schob ihn an und war völlig außer Atem, als sie oben ankamen. Dann bemerkte sie das unternehmungslustige Funkeln in seinen Augen. „Oh nein! Du bretterst jetzt nicht da runter, damit ich dich nachher wieder hochschubse.“

Er zuckte bedauernd mit den Schultern. „Du hättest ja auf meinem Schoß mitfahren können.“ Mit diesen Worten drehte er um und raste jubelnd den Berg hinab.

„Jon, du Miststück!“

Katharina versuchte, möglichst unauffällig auf ihre Armbanduhr zu blicken, verdrehte langsam den Unterarm und schielte darauf. Eine Stunde schon plapperte „der Alte“ seine Belegschaft voll und es schien nicht so, als würde er bald damit aufhören. Es war eines von diesen einschläfernden Meetings, welche er gerne spontan kurz vor Feierabend anberaumte. Kunststück, denn er selbst kam meistens erst gegen Mittag in die Agentur und war um diese Zeit noch recht ausgeruht. Ganz im Gegensatz zu seiner Art Directorin, der fast die Augen zufielen und das trotz drei Kaffee.

„Frau Müller, wir haben ihn an der Angel.“ Sie schreckte aus ihren Überlegungen hoch. „Den Big Deal, mit dem das Hand-Werk in die Elite aufsteigen wird.“

Zum tausendsten Male fragte sie sich, warum er seine Firma so genannt hatte. Wahrscheinlich purer Größenwahn. Sie richtete sich in ihrem Sitz auf, um damit ihr Interesse zu bekunden. Ihr Chef schaute beifallheischend in die Runde, blickte aber in müde Gesichter, die allesamt nach Hause wollten. „Ja, wo sind wir den hier? Im Altenheim? Mal etwas mehr Temperament bitte!“

Ihre Kollegin und gute Freundin Dagmar sah ihr leicht panisch von der anderen Seite des Tisches entgegen. Wenn Herr Rüdiger Hand solche Ankündigungen machte, dann bedeutete das vor allem eines: arbeiten bis zum Umfallen und ohne Plan, Sinn und Verstand. Sein Gesicht wies mittlerweile ein ungesundes Rot auf, was eigentlich nicht an der Hitze liegen konnte, da der abendliche Regenguss die Temperaturen von subtropisch auf schweineheiß heruntergekühlt hatte. Die Klimaanlage lief, denn sie saßen in seinem Büro, dem einzigen klimatisierten Raum, der sich auf der Schattenseite des Hauses befand, während alle anderen Büros auf der Sonnenseite lagen. Unklimatisiert.

Fast jeder hatte auf seinem Schreibtisch einen Tischventilator stehen, der die heiße Luft herumquirlte und dem Nachbarn zuwehte, welcher diese dann mit seinem eigenen Ventilator verdrängte zugunsten noch heißerer Luft. Und da sage einer, dass es in dieser Firma kein Miteinander gab! Hier wurde alles geteilt. Vor allem die miese Luft und der Schweißgeruch.

Katharina hatte sich bei jedem Gang auf die Toilette, komischerweise der kühlste Raum in der Firma, mit einem Deoroller bewaffnet und bedauerte, dass ihr Sitznachbar und Grafikerkollege Martin von der Existenz eines solchen Hygieneartikels offensichtlich noch nie gehört hatte. Da er auf korrekte Kleidung aber äußersten Wert legte, war sein zugeknöpftes Hemd ein einziger großer Schwitzfleck. Sie selbst trug T-Shirt, Leinenhose und Treckingsandalen. Die meisten Kunden, die sich heute hatten blicken lassen, kamen in Shorts zu ihren Besprechungen, es gab also keinen Grund, den Dress Code einzuhalten.

Rüdiger Hand erhob sich und stolzierte wie ein General durch das Büro. Eigentlich sollte ein so

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Daniela Gonschorek
Bildmaterialien: Daniela Gonschorek
Cover: Daniela Gonschorek
Satz: Daniela Gonschorek
Tag der Veröffentlichung: 23.05.2017
ISBN: 978-3-7438-1415-8

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