Langes schwarzes Haar wehte im Wind als Nike in die Richtung durch den Wald preschte, aus der sie den Schrei gehört hatte. Die Äste an denen sie vorbei rannte zerkratzten ihr die Haut und nicht selten musste sie aufpassen, nicht an einer der aus dem Boden ragenden, teilweise mit Laub bedeckten Wurzeln hängen zu bleiben. Es dämmerte bereits und die letzten Sonnenstrahlen des Tages schimmerten nur noch schwach zwischen den mächtigen Baumstämmen hindurch. In nicht einmal mehr einer halben Stunde würde beinahe schon unwirkliche Finsternis – immerhin war es eine Neumondnacht – dem Wald den die Siebzehnjährige so liebte und kannte wie ihre Westentasche ein schauriges Flair verleihen und in leichten Nebel hüllen. Es war jede Nacht dasselbe Spiel. Nike kannte es nur zu gut und liebte das kribbelnde Gefühl auf ihrer Haut, wenn sich beim Anblick des nächtlichen Silberwaldes eine Gänsehaut darauf ausbreitete.
Es war Ende Oktober und der Atem des Mädchens wurde bei jedem Atemzug als weißlicher Nebel sichtbar, ehe er sich in Nichts auflöste. Immer wieder blieb ihr schwarzer Pullover, den sie neulich in einem Züricher Secondhand-Shop entdeckt hatte, an den Ästen der Bäume hängen und bremste Nike aus. Wie aus weiter Ferne drang die Stimme eines Jungen in ihr Bewusstsein. Dabei rannte er doch in gar nicht mal so großer Entfernung hinter ihr her. Plötzlich griff etwas nach ihrem Pulli. Es war der Junge hinter ihr, der sie zu Fall brachte. Sie riss ihn mit hinab und stürzte bäuchlings ins Laub.
„Lass mich los!“ Schrie Nike verzweifelt und versuchte sich vom Griff des Jungen zu befreien. Kaum hatte sie das geschafft, rappelte sie sich wieder auf.
„Verdammt noch mal, Nike. Er wird dich umringen!“ War die Reaktion des Jungen, während er ihr ein paar weitere Meter folgte und dann die Arme um ihren Oberkörper schlang um sie fest zu halten.
„Du hast leicht reden! Es ist ja nicht deine Mutter um die es geht!“
Konnte er denn nicht verstehen, dass sie sonst niemanden hatte? Abermals versuchte sich die Siebzehnjährige los zu reißen. Doch dieses Mal ließ sie ihr Verfolger laufen. Die Stille des Waldes verriet ihm, dass die Gefahr vorbei war. Als Nike an einem steilen Hang ankam, hielt sie wie versteinert inne. Die dunkeln Augen vor Schock geweitet. Sie brauchte ein paar Sekunden, um dass zu realisieren, was sie da sah.
„Mom!“ Schrie sie letztendlich und rutschte den Hang hinab zu ihrer reglos am Boden liegenden Mutter. Kaum hatte sie sich neben sie gekniet und all die Kratzer, all das Blut entdeckt, tauchte der Junge am Hang auf.
„Oliver. Du musst mir helfen. Bitte!“ Rief sie in seine Richtung gewandt. Dass sie sich selbst einen leicht blutenden Schnitt an der Wange zugezogen hatte, als sie in einem der Dornenbüsche hängen geblieben war, bemerkte sie erst jetzt. Denn die Tränen die ihr die Wangen hinab strömten brannten in der Wunde wie Feuer.
Mit einem Seufzen ließ sich Oliver durch das Laub zu ihr herunter rutschen, denn er wusste genau, dass er gehen sie ja ohnehin nicht ankam. Außerdem schien die Gefahr vorüber zu sein. Gemeinsam versuchten sie Serena von Falkenstein – Nike’s Mutter – zu stützten oder sie irgendwie hoch zu heben, um sie ins Krankenhaus zu bringen. Olivers goldblondes Haar hing ihm noch etwas mehr zerzaust in die Stirn als üblich. Die bernsteinfarbenen Augen mit dem leicht bläulichen Rand um die Pupille herum sahen sie darunter herum an gaben der Dunkelhaarigen deutlich zu verstehen, dass es keinen Sinn hatte, sich weiter zu bemühen. Auch wenn Serena noch so zierlich gebaut war – von ihr hatte Nike ihre schlanke Figur geerbt – für zwei Siebzehnjährige wog sie dennoch einfach zu viel um sie den Hang hinauf und bis ins Krankenhaus zu bringen.
Nike wusste ganz genau, war Oliver von ihr verlangte.
„Oh nein! Vergiss es. Du brauchst mich gar nicht so anzusehen.“ Protestierte die gebürtige Halbitalienerin unter heftigem Kopfschütteln.
„Willst du, dass sie stirbt? Wenn du dich nicht verwandelst wird sie das nämlich!“ Mühte sich Oliver, seine beste Freundin umzustimmen. Nike wusste, dass er Recht hatte. Die enorme Kraft, die sie als Vampirin besaß, würde ihr sehr nützlich sein, wenn sie ihre Mom hier raus schaffen wollte. Doch seit es ihr mit Sandras Hilfe zum ersten Mal bewusst gelungen war, die Hälfte in ihr zu wecken, die scharf auf Blut war – war ziemlich außer Kontrolle geraten war – hatte sie viel zu große Angst davor, es jemals wieder zu tun.
Tag der Veröffentlichung: 20.03.2012
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Widmung:
Ich widme dieses Buch meiner besten Freundin, die immer an mich geglaubt und mich wieder aufgebaut hat, wenn es mir schlecht ging. Meinem Freund, der wirklich immer für mich da ist und zu guter letzt auch meiner nervigen aber doch irgendwie liebevollen, chaotischen Familie.