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Wiedergänger

Der Urinstinkt, der Trieb, der alle unsere Taten reflexgleich steuert: Überleben! Der nackte Kampf, Leben gegen Tod, Verzweiflung gegen Hoffnung. Doch habe ich nie die Möglichkeit in Betracht gezogen, diesem Schicksalsakt so zäh erlegen zu sein. So… hilflos. Ich sitze hier und kaue meine womöglich letzte Mahlzeit. Dosenmais und Thunfisch, eine herrliche Abwechslung, nachdem ich die letzten Monate nur Bohnen und Tomaten hatte. Fast alle Supermärkte sind geplündert. Die Seuche kam schleichend, also hatten wir anderen genügend Zeit, uns durch das vorhandene Spektrum an Utensilien zu wühlen. Was hatte ich nicht anfangs alles bei mir. Gaskocher, Schlafsack, verdammt noch einmal, ich hatte sogar Bücher dabei. Wie naiv ich doch war.

Ein Huschen am zerschlagenen Fenster! Was war das?

Ich halte die Luft an, Licht oder Feuer habe ich seit Wochen nicht mehr hier unten an. Viel zu verräterisch, viel zu… komfortabel. Wie eine Tunnelratte husche ich durch die Schächte der Berliner U-Bahn. Merkwürdigerweise sammeln sie sich hier nicht an, sie suchen eher das Freie, die Gegend, in der auch ihre Beute sein sollte. Während meine Augen sich an die Finsternis gewöhnen und mein Verstand wie auf Hochtouren sämtliche Merkmale meines Umfeldes verinnerlicht.

Ich starre hinaus, bereit, jederzeit hervor zu preschen. Ich halte den Griff der Spitzhacke fest in der rechten Hand und lasse die Dose langsam sinken. Gefährlicher als diese wandelnden Toten sind die Lebenden. Die letzten, die noch hier sind. In Brandenburg wurden die Leichen der Stadt gelagert und verbrannt. Jede erhöhte Zivilisationsdichte brauchte ein schnelles Ventil, um die Leichenberge zu beseitigen. Manchmal dauert es nur einige Tage, bis der Körper wieder aufersteht, nachdem er durch den giftigen Biss der Wirte starb. Qualvoll starb. Wie lange habe ich noch? Drei, vielleicht vier Stunden, bevor mich das Nervengift lähmt und ich vor Schmerzen den Verstand verliere?

Niemand ist draußen am Bahnsteig zu hören. Das kleine Wärterhäuschen, das in besseren Zeiten den Ansagern der Haltestelle ein Heim bot… oder eine Anlaufstelle, um Schwarzfahrer zu befragen. Name, Adresse, Geburtsdatum. Ach, ja. Wie oft ich nicht schon in diesen Räumen saß. Oben an der Oberfläche herrscht ein grauslicher Wind, kalt und erbarmungslos drängt er sich zwischen die Nähte der Kleidung und erinnert einen daran, endlich eine Zuflucht zu finden. Und dies ist meine: Rudow. Endstation der Linie U7. Großzügig gestaltete Treppen, ein Aufzugsschacht, den ich bereits mehr als einmal erklomm und angrenzende Wartungs- und Lagertunnel, die zu Fuß kaum an einem Tag zu schaffen sind. Ausstiege für Bahnarbeiter gibt es dort zu Hauf. Ich bin hier unten nicht in der Falle. Nur einmal war ich es, einmal, ein Gott-verdammtes-Mal!

Sie sah so hilflos aus, ich habe ihr Schutz bei mir angeboten. Die Kleine, sicher keine zehn Jahre alt. Sie zeigte keine Bissmale, keine Erkrankung. Nur ein wenig fiebrig war sie, doch ich dachte an eine Erkältung. Ich Idiot. Still und leise wurde sie zu einem Wiedergänger, zu einer Abartigkeit. Ich schlief, die paar Stunden, die ich in der Nacht so finde. Ihre Zähne gruben sich gleitend in mein Fleisch, durch den Stoff der Hose in mein Bein. Diesem Umstand verdanke ich, dass ich überhaupt noch einige Stunden habe. Bisse in Rumpfnähe oder am Kopf führen zu bedeutend verkürzter Zeit. Lebenszeit. Meine Spitzhacke beendete ihre Zeit abrupt, nur leider zu spät. Ich hätte sie gleich töten sollen, wie die anderen Nicht-Zombies, denen man nie trauen kann. Doch ich war mitfühlend und nun zahle ich den Preis.

Ich lasse die Spitzhacke wieder sinken und stopfe mir schnell den Rest Mais in den Mund. Der Thunfisch ist leider schon alle, ein Festschmaus, wenigstens das.

Wie viele mögen dort draußen noch sein? Wie viele Menschen? Ich habe vor ihr, vor der Kleinen, wochenlang niemanden mehr angetroffen. Was bei mir nicht gerade zu Missgefallen führte. Seit mehr als fünf Jahren streife ich durch meine kleine Welt und warte doch nur auf das Unausweichliche. Die Menschheit wird sich hiervon nicht erholen, davon bin ich überzeugt. Es mag sein, dass einige überleben, aber es wird sicher keine Siedlungen mehr geben. Die letzten Informationen, die ich am Rathaus Neukölln noch finden konnte, berichteten vom Aussterben der menschlichen Rasse in Asien. Amerika kämpft verzweifelt, doch wie in Europa auch, wird die staatliche Regierung bald den Geist aufgeben. Womit die Regierung erstaunlicherweise länger lebte als Strom, Gas und Wasser aus der Leitung. Das hatte ich anders eingeschätzt. Pragmatisch und abgeklärt war ich ja schon immer, Eigenschaften, die sich echt als Vorteil erwiesen.

Ich räume meine paar Habseligkeiten zusammen. Beim Bücken nach meiner zweiten Jacke muss ich vor Schmerz laut ächzen. Das Bein fühlt sich heiß an und ist geschwollen. Die Uhr tickt. Doch ganz gewiss werde ich so nicht sterben. Nicht so. Schwerfällig mache ich mich auf Richtung Fahrweg, die langsamen Wiedergänger hört man zum Glück schon meterweit. Ihr Grummeln und Raunen tarnt sie nicht gerade gut. Viele haben Knochenbrüche oder fehlende Gliedmaßen, da ist sogar die Fortbewegung nicht gerade leise. Doch das Schicksal gönnt mir einen Moment der Ruhe. Eine Station muss ich erlaufen. Nur knapp einen Kilometer ist es bis zum gewünschten Ziel, meiner Erlösung. Der Zwickauer Damm und sein bekanntestes Bauwerk, das imposante Hochhaus. Früher war es blau und weiß, doch einige Jahre vor dem Ausbruch der Seuche haben sie das Blau gegen Rot getauscht. Eine Veränderung, die zwar gut aussieht, mir aber nie gefiel. Ich bin manchmal doch eher der traditionelle Typ. Ein Freund wohnte dort einige Monate, damals, als ich noch jung und dumm war. Durchzechte Nächte und sich stapelnde Müllberge, bis er schließlich aus der Wohnung verbannt wurde. Ich habe ihn nur ausgelacht und bin dann zurück in das nette Einfamilienhaus meiner Eltern. Ein Spießerleben und ich dachte, die größten Probleme wären die Regeln meiner Erzeuger.

Leicht ziehe ich das Bein schon nach und immer wieder berühre ich in der Finsternis die Leitung, die die Wagen damals mit Strom versorgte. Doch der ist seit Jahren schon keine Gefahr mehr. Als die Obersten damals das Problem erkannten und verzweifelt nach Auswegen, Impfungen oder Heilungen suchten, starben ihnen langsam die Arbeiter unter der Hand weg. Sie konnten sich das teure, abgefüllte Wasser ja leisten. Die Preise hierfür stiegen rasant, wir mussten bei Wasser aus dem Hahn bleiben. Ein Pilz soll es sein, angeblich. Pilzsporen im Wasser, die die Ersten infizierten und dann aufgrund der Chlorierung mutierte, unbesiegbar wurde. Erst husteten die Opfer Blut, die Augen drangen unförmig hervor, doch Fleischhungrig waren sie nicht. Warum sie nach dem Tod noch handeln konnten, versuchten einige Wissenschaftler mit den Zombie-Ameisen zu erklären. Doch die Bewegungen der Wiedergänger sind viel zu komplex, als dass sie sich so einfach erklären lassen. Es gab eine eigene Bewegung, die davon ausging, es wären Außerirdische, die uns so malträtieren. Oder auch fanatische Christen, die schworen, dass das Ganze Schuld der Islamisten sei und in anderen Ländern natürlich umgekehrt. Bürgerkriegsähnliche Zustände dezimierten uns noch weiter. Bis wir ganz an den Rand gedrängt wurden, an das Existenzminimum. Der Atomwaffeneinsatz in Zentralasien und den arabischen Ländern tat sein Übriges. Der Himmel verdunkelte sich. Tagsüber erkennt man einen Unterschied, doch Sterne oder den Mond habe ich, ach, ich weiß gar nicht wie lange nicht mehr gesehen.

Vorsichtig hebe ich mich über den Rand des Bahnsteiges. Wieder den Schmerz spürend entscheide ich, dass es gleich nicht das oberste Stockwerk sein muss. Fünfzehn tun es auch. Ganz bestimmt. Leicht nervös steige ich die verwahrloste Rolltreppe hinauf, raus zum Tageslicht. Der Wind pfeift furchterregend und verfängt sich in den lieblos gebauten Barrikaden, die den Bahneingang vor den wandelnden Toten schützen sollten. Doch das hat wohl nicht geklappt. Das sagt mir jedenfalls das ganze eingetrocknete Blut an den Wänden und die vielen Einschlaglöcher. Deutschland hatte zwar kein so simples Waffenrecht wie die USA, aber plötzlich traten all die geheimen Schusswaffen hervor. Tja, blöd nur, dass die Pestilenz nicht durch Kugeln totzukriegen ist. Man muss ihre Gehirne förmlich zermatschen, vom Ansatz des Rückenmarks bis hoch an die Haarspitzen. Meine Spitzhacke hält sie auch nur kurz auf. Mir reicht die Flucht. Oder besser gesagt: reichte.

Seufzend trete ich in die Außenluft. Es riecht modrig und irgendwo wird ein Brand sich langsam durch die Straßenblöcke fressen. Doch ich muss mich beeilen. Die Eingangstüren stehen sperrangelweit offen, förmlich einladend. Das macht mich zwar stutzig, aber das immer wiederkehrende Zucken im meinem Bein ermahnt mich zur Eile. Ich öffne die knarzende Tür des Treppenhauses und ich erschrecke fürchterlich, als mich die abgewetzte Fratze einer diese Wesen anspringt. Ich springe reflexartig zurück und falle über einige Trümmerstücke, die sicher einmal eine Trennwand waren. Schlürfend trieft diesem Monster undefinierbare, grün-gelbliche Flüssigkeit aus dem Maul und laut kreischen mir seine Laute in den Ohren. Doch dieses Vieh bleibt stehen, blickt mich nur mit hohlen Augen an. Wenn die Augen abgenutzt sind, reagieren sie meist nur auf Geräusche. Doch diese Totgeburt kann sehen, das erkenne ich. Es starrt mich an, ächzt einige Male auf und geht dann schleichend an mit vorbei. Es hält mich schon für einen seiner Art!

Ich springe auf. Nein. Nein! NEIN!

Ich sprinte so gut es geht die Treppen hinauf. Lasse Spitzhacke und zweite Jacke zurück und klettere behände über die ganzen sinnlosen Barrikaden ehemaliger Bewohner. Der achte Stock, das ist noch nicht hoch genug. Meine Lunge schreit, doch ich versuche das zu ignorieren. Mein infiziertes Bein wird lahm, verweigert den menschlichen Dienst, kurz vor dem elften Stock. Wie viele Minuten habe ich noch? Fünf, vielleicht zehn?

Ich beschließe, es bei dem dreizehnten Stock zu belassen. Fallbeilartig schoss das Fieber in meine Glieder. Ein letztes Aufbäumen meines Immunsystems. Ich zerre an der Tür zum Mittelgang, zu den Balkonen. Ich will so nicht enden. Nicht so! Nicht als einer dieser hilflosen Hüllen, die nur noch ein Ziel kennen. Ich trete zur Balustrade und seit einer halben Ewigkeit erhalte ich einen Ausblick auf das Viertel. Ich sehe die Rauchschwaden, den grau-diesigen Horizont. Eine kleine Herde Zombies hat sich auf der Hauptstraße versammelt und wartet auf einfallende Reize. Nein, so nicht!

Ich klettere über das Mäuerchen und bin dabei nicht einmal wirklich traurig. Endlich hat das all ein Ende. Oft stand ich davor, es bereits früher hinter mich zu bringen. Doch die Hoffnung bleibt doch, dass es auch wieder besser wird. Doch diese Welt ist nicht die meine. Nur noch eine ausgebrannte Hülse dessen, was einst ein schönes Land gewesen war. Schummrig dreht sich dieser Anblick, ich habe es gerade so geschafft, bevor die Sinne gänzlich schwinden.

Ich springe ab.

Und ich war die letzten Jahre nie so glücklich wie jetzt. Martina, du bist endlich frei. Und mit einem Lächeln auf den Lippen verlasse ich diesen Albtraum.

 

Langsam lösen sich die Finger, die Knochenreste heben sich gemächlich vom Vorplatz. Der Darm, verfangen in Betongestänge, zurrt sich fest um seine Falle. Doch der Kopf ist annähernd unbeschadet, steuert erbarmungslos, was von einem Menschen übrig blieb. Gesäumt von Maiskörnern und Thunfisch, hungert der Leib doch nach lebendigem Fleisch. Nur ein Gleicher unter vielen. Ein Wesen, das nicht um sein Schicksal weiß.

Impressum

Texte: Natalie Elter
Bildmaterialien: Ultradialectics @ deviantart.com
Tag der Veröffentlichung: 19.02.2014

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