[de]„Freust du dich, Matti? Gleich sind wir bei Oma.“ Mein Papa fährt in unserem kleinen, blauen Familienauto über die Autobahn. Nur hier darf er so schnell fahren, da freut er sich immer. Mama findet das eher nicht so gut, schon oft haben sie sich dann gestritten. Zu Weihnachten, Ostern und im Sommer sind wir bei Oma in Deutschland. Und ich freue mich immer sehr.
„Oui, oui… Omaaaa!“ Ich sitze in meinem kleinen Sitz, der ist extra für mich. Papa sagt immer, da dürfen nur besonders gute Kinder drin sitzen und das ich brav sein muss und während der Fahrt nicht jammern oder weinen. Mein großer Stoffelefant, Bobo, sitzt auch neben mir. Er ist immer bei den langen Reisen dabei. Oma hat mir erzählt, dass Opa ihn mir geschenkt hat, aber ich habe ihn nie kennengelernt.
[fr]„Jetzt rase nicht so, Hermann! Du machst mich ganz nervös. Und wie oft sollen wir eigentlich noch zu deiner Mutter fahren?“ Meine Mama klingt böse und die Luft ist schon ganz stickig von den vielen Zigaretten, die sie raucht. Ich mag das nicht. Und Papa auch nicht, doch sie will es so.
„Du weißt doch, dass sie seit dem Tod meines Vaters niemanden mehr hat! Die paar Kilometer, das können wir ruhig machen.“
Wenn Papa französisch redet, klingt das immer etwas abgehackt. Aber ich habe mich daran gewöhnt. Er ist aus Deutschland, so wie Oma auch. Mama ist aus Frankreich und will auch nicht wirklich Deutsch sprechen lernen. Er ist Franzose geworden und soll es auch sein. Und wenn sie mich und Papa reden hört, wie er mir neue deutsche Wörter beibringt, schnaubt sie manchmal so komisch durch die Nase aus.
„Soll das jetzt ewig so weitergehen? Meine Eltern wollen auch mal zu Weihnachten besucht werden.“
„Du hast vier Geschwister, Angie. Sie sind nicht allein.“ Papa fährt langsamer und biegt auch endlich von der Autobahn ab. Ich freue mich schon so auf Omas tollen Käsekuchen und den Garten und…
„Matthieu kennt meine Eltern kaum und ich will vielleicht auch mal bei ihnen sein. Verdammt, Hermann! Ich habe die Schnauze voll!“
„Jetzt beruhige dich doch! Nicht vor dem Kleinen! Und er heißt Matthias, nicht Matthieu! Die eine Woche Karlsruhe, dann reden wir zuhause darüber.“
„Mama – nicht streiten!“, rufe ich laut. Sie blickt nur nach hinten und lächelt mich lieb an.
„Nein, Matti, wir streiten nicht. Wir reden nur.“ Sie lügt und ich weiß es.
„Was bist du nur gewachsen! Komm in meine Arme, Matthias!“
Ich renne auf meine Oma zu, falle ihr um den Hals. Ganz faltig ist sie und ihre Schürze duftet nach Bratensoße. Sie kocht immer ganz viel und sie weiß genau, was ich am liebsten mag.
„Ich dich lieb, Oma.“
„Das heißt ‚Ich habe dich lieb, Oma‘.“ Papa verbessert mich und ich schäme mich ein wenig. Leise flüstere ich ihr den richtigen Satz noch einmal ins Ohr und sie küsst mich auf die Wange.
„Macht doch nichts, mein Engel. Schau mal im Garten, da ist eine Überraschung für dich.“
Und als ich schon hinausrenne, höre ich nur noch, wie meine Mama meine Oma gelangweilt begrüßt und wie Papa gleich nach ihrer Gesundheit fragt. Doch die neue Schaukel im Garten bannt mich vollkommen und es dauert nicht lang, da schwinge ich mich auch schon auf sie.
„Paaaaapaaaa! Paaaapaaaa… anschubsen!“
Doch es ist Mama, die herauskommt und sie wirkt fast erleichtert. Sie zündet sich eine neue Zigarette an und kommt zu mir. Aber eigentlich will ich lieber, dass Papa das macht.
„Nun sieh sich einer diesen Wonneproppen an. Wie goldig. Wie heißt sie denn nun?“
Oma und Opa aus Nantes sind da. Die Eltern meiner Mama und ich finde sie irgendwie komisch. Er ist Beamter und sie arbeitet im Büro eines Warenhauses. Sie bringen auch immer so merkwürdige Geschenke mit. Und Mama will immer, dass ich mich brav bedanke und mich freue. Doch warum soll ich mich über Socken und einen Pullover mit einem doofen Hund darauf freuen?
„Beatrice. Sie ist unser ganzer Stolz.“
Ich fühle einen Kloß im Hals. Ich stehe neben der Tür im Kinderzimmer meiner neuen Schwester. Seit sieben Wochen ist sie hier und schreit die ganze Zeit herum, als wollte sie jemand abstechen. Papa arbeitet meist bis spät abends. Ich glaube, damit er ihr Schreien nicht hören muss. Er macht das Leder auf Autositze und auf die Ablagen teurer Wagen. Aber jetzt ist sie natürlich ruhig. Klar, sie hat ja auch Besuch. Mama erblickt mich plötzlich und legt ein ernstes Gesicht auf.
„Matthieu, hast du schon deine Hausaufgaben gemacht? Du weißt doch, wie wichtig das ist.“
„Ich heiße Matthias!“, schreie ich sie plötzlich an und renne aus dem Zimmer. Dabei weiß ich nicht einmal, warum genau.
„Kommt mehr nach seinem Vater, was?“, höre ich Nantes Oma noch sagen, doch Mamas Antwort ist es, die mir wehtut.
„Zu viel deutscher Einfluss. Aber bei Beatrice wird alles anders.“
Ich schmeiße die Zimmertür zu und werfe die Schulhefte von meinem Schreibtisch. Wegen meiner blöden Schwester fahren wir auch nicht diesen Sommer nach Deutschland zu Oma. Mama will nicht, sie findet Beatrice zu klein. Bockmist!
Ich verbringe den ganzen Tag in meinem Zimmer, ramme ein Modellauto nach dem anderen gegen die Wand. Teile fallen ab und ich weiß bereits jetzt, dass Papa mich dafür anschreien wird. Aber dann hat er wenigstens Zeit für mich und trägt nicht die ganze Zeit dieses Kreischbündel durch das Haus und küsst ihr ununterbrochen auf die Stirn.
Jetzt bin ich wieder in Karlsruhe, es regnet draußen und Papa hält meine Hand. Ich fühle sein inneres Zittern und höre ihn schluchzen. Doch ich weine nicht und mir ist auch nicht danach. Nur ein paar Leute sind da und nehmen Abschied. Einige Männer im Anzug tragen die große Kiste, den grauen Sarg an uns vorbei zum Ausgang der kleinen Kirche auf dem Friedhof. Auch Opa liegt hier und sie wird neben ihm liegen.
Krebs.
Stumm fahren wir zurück. Mama ist daheim und pflegt Bea, sie hat Windpocken. Ich werde Oma und das kleine Häuschen nie wieder sehen. Mama ist vielleicht sogar froh, dann ist das leidige Thema endlich vom Tisch. Obwohl sie sehr lieb zu Papa ist, doch sie hat auch wieder angefangen zu arbeiten und hat kaum Zeit. Mit einer Freundin hat sie einen Blumenladen eröffnet. Damit sie sich auch verwirklichen kann und was Eigenes hat. Das sind jedenfalls ihre Worte.
„Du bist doch jetzt ein großer Junge, oder Matthias?“
„Ja, Papa“, antworte ich knapp.
„Dann wirst du doch sicher brav sein und die nächsten Wochen keinen Ärger machen, oder? Ich habe viel um die Ohren und Mama ist mit Bea und ihrem Laden auch voll ausgelastet.“
„Brav…“
„Tu uns den Gefallen, Matti. Bitte. Ich verspreche dir, im Herbst wird es besser. Wenn erst einmal die Schulden für das Geschäft von Mama kleiner sind und ich das mit Omas Haus geklärt habe.“
„Warum bezahlt ihr die Schulden nicht mit Omas Haus?“
Er blickt kurz über den Rückspiegel zu mir nach hinten. Ich sehe ihm direkt in die Augen, soll er ruhig sehen, dass ich nicht so dumm bin, wie er vielleicht denkt.
„Opa hat damals viele offene Rechnungen hinterlassen. Das Haus gehört der Bank.“
„Dann verzichte doch auf das Erbe.“
„Woher weißt du denn sowas?“
„Ich lese viel… irgendwas muss ich ja machen, wenn ihr dauernd streitet und Bea draußen rumzickt.“ Die Anmerkung habe ich eher sehr leise ausgesprochen. Er hat es sicher nicht gehört.
„Ist doch schön, dass du so viel liest. Das wird dir noch einmal nützlich sein, Matthias. Aber ich will mich um Omas Sachen kümmern.“
Und während ich nur stumm nickend aus dem Fenster die französischen Grenzposten erblicke, frage ich mich, ob ich nicht doch lieber Matthieu heißen sollte.
Der gewundene Metallstab dreht sich. Fach 23A, Gummibärchen. Jeden Montag ziehe ich mir hier ein kleines Andenken an vergangene Zeiten aus dem Snack-Automaten. Gummibärchen, von Haribo. Wie damals, bei meiner Oma in Karlsruhe. Ich beobachte die Technik, habe schon einen leicht wässrigen Mund, die roten Bären schmecken mir am besten.
„Nein! Verdammt!“
Ich schlage aufgebracht gegen das Frontglas. Meine Packung hat sich verkeilt! Verdammter Mist und ich habe keinen Francs mehr, um notfalls zwei Packungen zu erhalten. Ich werde wütend. Das erste Semester an der Universität, ewig die gleichen langweiligen Fächer, hunderte Studenten. Stress. Deutsch, Französisch, Belgisch, auf allen Fluren ein ewiger Mischmasch. Und ich bekomme keine verfickten Gummibärchen! Laut trete ich gegen den Automaten und fluche, wie es nur ein 18jähriger Junge kann.
„Hi, ich hab dich beobachtet!“
Abrupt bleibe ich stehen und sehe sie an. Sofort fallen mir ihre langen Wimpern auf, und der Glanz ihrer Augen ist überwältigend.
„Du hast was?“ Mein Herz scheint kurz auszusetzen. Sie ist doch mindestens 3 Jahre älter als ich. Ihr dunkelbraunes langes Haar und das gekonnt aufgelegte Make-up verwirren mich noch zusätzlich.
„Ich habe dich beobachtet. Deine Wut gefällt mir. Hat was Draufgängerisches.“ Sie kichert leise und sofort spüre ich mein Herz davonschmelzen. Nie habe ich daran geglaubt, habe in Filmen nur über die Trottel gelacht. Die Einfaltspinsel, die, die an Liebe auf den ersten Blick glauben, glauben auch an den Weihnachtsmann. Doch ab jetzt wohnt auch für mich ein dicker Mann im roten Mantel am Nordpol.
„Mein Name ist Emanuelle… und wie heißt du, hmm?“
„Emanuelle…“ Was für ein wunderschöner Name.
„Das glaube ich nicht. Du bist doch ein Mann.“
Wann wurde ich schon einmal mit einem Mann verglichen? Eine geistige Ohrfeige holt mich aus der Lethargie.
„Ich meine… ich heiße Matthia- ähm, Matthieu.“ Ich habe meinen deutschen Namen kurz vor meinem Baccalauréat abgelegt. Ich heiße nicht mehr Matthias Hermann Arnold, sondern Matthieu Henry Arnauld. Ich empfinde mich nicht als deutsch, nur weil mein Vater einer war. Dennoch muss ich mich noch daran gewöhnen.
Wieder kichert sie leise und stellt sich sogar einen Schritt näher zu mir. Schamesröte schießt mir ein wenig in die Wangen. Ich weiß nicht, was ich sagen könnte. Ich habe doch noch nie… mit einem Mädchen, einer Frau so nah…
„Ich wollte nachher ein wenig in die Stadt gehen, möchtest du mich begleiten? Auf einen Café au lait vielleicht?“
Oh mein Gott, das muss mein Glückstag sein. Vergessen sind die Gummibärchen, vergessen ist das Krimibuch in meinem Zimmer.
„Ich… ja, klar. Gerne. Wann denn genau?“
„Um 17 Uhr an der großen Treppe?“ Ihr Lächeln legt leichte Grübchen in ihre Wangen, die ich gerne in Gips gießen und anschließend an meine Wand hängen würde.
„Ich bin da… ja.“
„Sehr schön. Bis dann, Matthieu.“
Ich dusche, ziehe mich um und lege sogar ein Rasierwasser auf. Die 20 Francs, die ich meinem Zimmergenossen klauen muss, werde ich später zurückzahlen. Nur für sie bin ich nach vierzig Minuten ein neuer Mensch und sie würdigt diese Veränderung auch, mustert mich und greift meine Hand, als wir den Campus verlassen.
Kaum haben wir den offiziellen Weg hinter uns gebracht, greift sie nach einer Zigarettenschachtel in ihrer Handtasche und zündet sich eine an.
„Möchtest du auch?“
Ich will erst ablehnen, aber das würde ja bedeuten, dass ich noch ein Kind bin und mich nicht diesen erwachsenen Gepflogenheiten widme.
„Ja, gerne.“
Sie hält mir die Flamme hin und ich nehme unbedarft einen tiefen Zug und -
Sie klopft mir besorgt auf den Rücken, ich huste mir fast die Lungenflügel aus dem Hals und ich hoffe und bete inständig, dass ich mich nicht gleich übergeben muss. Nach etlichen Anläufen und mit krächzender Stimme kann ich endlich sagen:
„Geht schon, habe mich nur verschluckt.“
Ihr Lächeln wirkt ein wenig gekünstelt, doch ihre Augen leuchten mir wie heimdeutende Sterne über dem Ozean entgegen.
Wir gehen schließlich weiter und ich bin froh, dass sie mir keine neue Zigarette anbietet. Ich folge dem Duft, der sie zart umgibt und ab und an weht mir die frische Spätherbst-Luft eine Haarsträhne in meine Richtung.
„Was studierst du denn, Emanuelle?“ Vielleicht studiert sie ja auch Wirtschaftspolitik, dann könnten wir zusammen lernen, uns bei den Hausaufgaben helfen, gemeinsam in der Bibliothek…
„Medienwissenschaften. Im letzten Semester.“
„Oh…“ Ich weiß nicht einmal, was man in ihrem Fach so lernt. Ich sollte das Thema wechseln, bevor sie meine Unwissenheit bemerken kann.“
„Bist du aus Strasbourg?“
„Nein, ich bin aus Colmar. Aber nach dem Abschluss möchte ich direkt ins Ausland und dafür sind hier die Anbindungen an andere europäische Universitäten besser.“
„Ach, und in welches Land?“
„Ich weiß noch nicht…“ Weit bläst sie den Zigarettenrauch vor sich in den Wind.
„England vielleicht. Oder Deutschland. Ich will auf jeden Fall mal viel Geld verdienen und eine Arbeit haben, bei der man was zu entscheiden hat. Nur Sekretärin oder so wäre ein Albtraum für mich.“
„Ja, das verstehe ich. Du bist für Höheres bestimmt.“
„Das ist süß von dir, Matthieu.“ Zart streckt sie eine Hand in meine Richtung und fährt sanft mit dem Rücken ihrer Finger über meine heiße Wange. Als könnte ich die Chöre dabei hören, kommt diese Berührung mir engelsgleich vor.
Im Café bestellt sie sich Kuchen und einen Café au lait. Ich werde mit meinen 20 Francs nicht sehr weit kommen, aber ich unterdrücke den Drang nach einem Kakao und bestelle mir eine normale Tasse Kaffee. Die ganze Zeit über erzählt sie von sich, ihren zwei älteren Schwestern und wie sie alles besser machen will, im Verhältnis zu denen. Über ihre Karriere, ihre Wünsche, ihre Hobbies. Es stört mich nicht, dass sie mich kaum fragt, sich nicht so sehr für meine Details interessiert. Ich lausche ihr einfach und lächle schweigend. Ich bin froh, dass ich in ihrer Nähe sein darf.
„Ich würde gerne noch in ein Schuhgeschäft, das schließt aber gleich. Du zahlst ja und kommst dann einfach nach, ok?“
Kurz starre ich leicht panisch in die Welt. Ich soll zahlen? Für uns beide?
„Ja, klar… nicht, dass der Laden schon zu hat. Ich kümmere mich.“
„Sehr schön. Der Laden ist einfach da vorne an der Ecke, du kannst es nicht verfehlen.“ Und mit einem leichten Kuss auf meine Wange verabschiedet sie sich und geht schnell Richtung Schuhgeschäft davon. Ich werde mir nie wieder die Wange waschen, das schwöre ich mir.
Ich winke den Kellner heran und ärgerlicherweise muss ich hören, dass man erst ab 50 Francs mit Karte zahlen kann. Aber was bleibt mir schon übrig? Als ich aus dem Café trete, mein teuerster Kaffee, den ich je trank, sehe ich sie bereits in eine Parfümerie gehen. Ich folge ihr und begleite sie beim Bummel durch die Altstadt von Strasbourg, bis gegen 19 Uhr die Geschäfte schließen.
Gemeinsam machen wir uns auf den Weg zurück, der auch bereits nur noch von Dämmerlicht erleuchtet wird. Sie besteht auf die Abkürzung durch den Park, da wohl eine wichtige Fernsehfolge auf sie wartet. Ich trage derweil ihre Tüten, damit sie ungestört eine weitere Zigarette rauchen kann. Auf dem Campusgelände verabschiedet sie sich leider schnell von mir, doch ich bin so glücklich über diesen wundervollen Tag, dass es mich nicht stört. Erneut haucht sie mir einen Kuss auf die Wange und ich atme bewusst die Luft ein, damit ich sie möglichst riechen kann.
Es klopft an meiner Tür. Es ist Samstag, halb elf Uhr nachts. Mein feiernder Zimmerpartner ist wie erwartet unterwegs und wird sicher bis zum Morgengrauen nicht wieder auftauchen. Ich habe bereits die VHS im Player, STAR WARS Teil 1, schließlich will ich mit Frederic, einem Freund, nächste Woche zu Teil 2 ins Kino gehen. Ich öffne die Tür und kann es nicht glauben. Da steht sie, Emanuelle, nur in ein leichten Seidenmorgenrock gekleidet und mit ihrer Umhängetasche.
„Emanuelle, ist alles in Ordnung?“
„Ich habe mich ausgesperrt, Matthieu. Wie ärgerlich. Kann ich reinkommen, bevor mich jemand sieht?“
„Ja, natürlich. Kein Problem.“ Diese wunderbare Frau in meinem Zimmer, halbnackt… nun ja, fast… und hilfsbedürftig. Doch schlagartig wird mir meine Ninja Turtles Bettwäsche und der allgemein sehr unsaubere Zustand des Zimmers bewusst.
„Mein Zimmerpartner ist unterwegs. Keine Ahnung, warum der noch so bescheuerte Bettwäsche hat. Setz dich doch, wenn du möchtest.“ Ich ziehe einen der Drehstühle heran und setze mich selbst auf das eigentlich falsche Bett. Doch er hat schwarze Seidenbettwäsche, das zählt als kleine Notlüge. Sie stellt die Tasche neben mich und sieht mich plötzlich ganz merkwürdig an.
„Weißt du, Matthieu, eigentlich habe ich mich gar nicht ausgesperrt. Eigentlich wollte ich zu dir.“ Mit einem schweren Augenaufschlag blickt sie zu mir und leicht beißt sie sich selbst auf die Unterlippe. Meine innere Erregung beginnt natürlich sofort überzukochen. Doch ich versuche, möglichst ruhig zu bleiben.
„Warum zu mir?“
„Ich finde dich süß und ich weiß, dass du mich auch ganz nett findest. Das sagen mir jedenfalls deine verstohlenen Blicke.“
Ich muss schwer schlucken, während sie sich vom Stuhl erhebt und sich zu mir beugt. Ich sehe direkt in ihr Dekolleté und ich muss eine Hand in meinen Schritt legen, um mich nicht zu verraten.
„Ach, Matthieu. Zier dich doch nicht so. Komm schon.“ Sie greift nach meiner Hand, hebt sie an und legt stattdessen ihre Hand in meinen Schritt. Laut muss ich ausatmen. Was geschieht hier bloß? Sie will doch nicht? Oder doch? Ich habe keine Kondome hier, wo hat mein dämlicher Zimmergenosse seine bloß nur? Oh Gott, mein erstes Mal!
Sie beugt sich nun komplett über mich und sanft schmiegen sich ihre großen, vollen Lippen an meinen schmalen, aber bebenden Mund. Ihre Zunge schmeckt nach Lindenblüten, nach Sommer voller Freude. Immer deutlicher macht sie, was sie von mir will. Sie drückt mich nach hinten auf das Bett, zieht mir mein T-Shirt aus und nestelt auch sehr schnell an meiner Hose.
„Emanuelle, bist du dir sicher? Wir kennen uns doch kaum… oder?“
„Pscht, Matthieu. Ich weiß einfach, dass wir für einander gemacht sind. Genieße es.“ Ihre Hand fährt unter den Saum meiner Hose und sofort schweige ich. Ich betrachte ihr porzellangleiches Gesicht, ihre makellose Haut. Sie setzt sich auf mich und zieht auch Morgenmantel und Oberteil aus. Brüste. Die ersten echten Brüste, direkt über mir und in Griffreichweite.
„Fass mich an, mach ruhig.“ Ich hebe die zittrigen Hände, berühre sie vorsichtig. Sie sind so weich und voluminös, so fantastisch. Sie küsst mich wieder stürmisch und zieht dann plötzlich ruckartig meine Pyjamahose und meine Boxershorts herunter. Meine Erregung prangt im Raum und sie nimmt sich kaum Zeit, da setzt sie sich auch schon auf mich. Ich lege meine Hände an ihre Taille, befühle ihre Haut, ihre Kurven. Sie ist perfekt.
Relativ schnell reitet sie auf mir, ich habe mir das immer ganz anders vorgestellt. Sanft und romantisch, eine Beziehung, Schüchternheit. Doch nun bin ich in ihr und stöhne laut in das Zimmer hinein. Auch sie genießt unser kleines Spiel, senkt sich immer wieder schwungvoll hinab. Nur einige Minuten dauert der Ritt, da komme ich auch schon. Es rauscht in meinen Ohren, mein Unterleib verkrampft sich und heulend stöhne ich meinen Orgasmus in die Welt.
Da höre ich das Klickgeräusch. Ich öffne irritiert die Augen und sehe, wie sie die Kamera senkt. Sie hat ein Foto gemacht. Sie steigt von mir ab, sucht sich ein Taschentuch, um sich von mir zu befreien und lächelt mich siegessicher an. Ich verstehe die Welt nicht mehr.
„Vielen Dank, Matthieu. Ich habe gewusst, dass ich gewinnen werde.“
„Was… was meinst du?“
„Du hast doch nicht wirklich geglaubt, dass ich was von dir wollen könnte, oder? Wer zuerst einen Neuen an diesem Wochenende flachlegt, bekommt den Ehrenplatz auf der Silvesterparty. Ganz einfach.“ Sie kleidet sich derweil wieder an.
„Was… du hast?“
„Japp, ich habe Beweise. Tuch und Foto. Danke dir. Bis dann.“
Sie greift sich ihre Tasche und mit wippenden Schritten verlässt sie das Zimmer. Ich stehe da, nackt und ich fühle deutlich, dass mir etwas entgangen sein muss. Ich hatte schon überlegt, wann wir zusammenziehen und Kinder zeugen und jetzt hat sie was getan? Meine Jungfräulichkeit ist ihr erhabener Platz auf einer bescheuerten Feier?
Sie hat mich nie wieder beachtet, während ich sie fast auf Schritt und Tritt verfolge. Ich schreibe ihr Briefe, kaufe Rosen von meinem bisschen Taschengeld. Ich stehe an ihrem Fenster und warte, bis ich seufzend ihre Silhouette erkenne, kaufe ihr Parfum, damit ich es riechen kann. Ich liege nachts mit dem Bettbezug unserer Vereinigung zusammen und versuche, ihren Duft nicht zu verlieren. Schläge musste ich meinem Zimmergenossen androhen, damit er sie mir überließ.
Erst als mich meine Eltern im Krankenhaus besuchen müssen, da mich ihr Freund, den sie zu allem Überfluss wohl noch auf dieser bescheuerten Party kennenlernte, mit einem Tennisschläger verdrosch. Nachdem ich nächtelang vor ihrer Tür saß und nicht gehen wollte, hatte er keine Geduld mehr und prügelte wie von Sinnen auf mich ein. Sie ist doch meine Prinzessin, meine Emanuelle. Es sollten meine Hände auf ihr sein, nicht seine. Er brach mir zwei Rippen und die kleine Narbe an meiner rechten Augenbraue wird auch für immer bleiben.
Ich habe im ersten Semester nicht eine Prüfung bestanden und es hat mich viel Fleiß gekostet, mich davon akademisch zu erholen. Alles wollte ich ihr geben, bis hin zu Selbstmordgedanken. Ich werde sie nie vergessen. Und auch, als ich mit zwanzig während des Studiums endlich zum ansehnlichen jungen Mann heranreife, habe ich kein Vertrauen zu Frauen entwickeln können. Eine Ewigkeit habe ich gebraucht, um sie zu überwinden. Doch noch immer, mit bereits fünfzig Jahren, denke ich manchmal mit hasserfüllter Liebe an sie.
„Der ist ja niedlich! Wo hast du den denn her, Etienne?“
Ich stehe im Büro meines Domitors, meines Mentors. Und wieder einmal ist sie zu Besuch, diese impertinente Person, die immer so respektlos mit allen umgeht. Außer mit Etienne, den scheint sie sehr zu mögen und das beruht wohl auf Gegenseitigkeit. Claudette Lejeune, in meinen Augen mehr Schein als Sein. Eine Ventrue, die sicher ihres Aussehens wegen zu dieser gehobenen Position gefunden hat und ich befürchte, dass sie Etienne genauso benutzen wird.
„Das ist Matthieu, er hat sich vor einigen Wochen in meiner Kanzlei beworben und ich fand ihn ganz brauchbar.“
Sie wuschelt mir mit der rechten Hand durch mein Haar und mein wütendes Gesicht bringt sie zum Lachen. Ich lege sehr viel Wert auf meinen korrekten Mittelscheitel, da kann ich so etwas ganz und gar nicht gebrauchen.
„Er ist bereits Mitte Dreißig, Claudette. Kein kleiner Junge. Er hat sogar einen Doktorgrad.“
Ich habe kein Recht, den Mund zu öffnen und etwas zu sagen. Dies darf nur er für mich und ich bin froh, dass er diesen Fakt doch wenigstens erwähnt.
„Doktor Niedlich?“ Sie kichert leise, rafft ihren langen Rock etwas und dreht sich dann schließlich von mir weg. Ich kann mir ein Augenrollen nicht verkneifen, doch leider hat Etienne es bemerkt. Mit strammen Schritt geht er plötzlich auf mich zu und kurz darauf sitzt die Ohrfeige, vor der ich nicht einmal zurückschrecken darf.
„Du Wurm wirst dich entschuldigen, dass du die Augen überheblich verdreht hast! Du stehst ganz unten, also auf die Knie vor ihr und bitte Mademoiselle um Vergebung!“
Ich schlucke meine Wut herunter, nicke ihm zu und senke mich auf meine Knie nieder. Sie scheint es nicht zu stören. Sie setzt sich auf einen der Gästestühle und schlägt ihre Beine übereinander. Mit gehobenem Haupt sieht sie mich an, während ich zu ihr krieche.
„Es tut mir leid, Madame Lejeune, dass ich so anmaßend war. Ich bin ein undankbarer und schlechter Ghul und hoffe, dass Sie mir verzeihen werden.“
„Nun ja, Etienne wird dich sicher zwei Nächte in den Keller sperren. Ohne Wasser und Brot wirst du schon lernen, wen du zu achten hast. Und jetzt verschwinde aus meinen Augen!“
Ich warte dennoch ab, denn nur er darf mich wegschicken. Sein Blut, meine Geißel und ich liebe es. Auch wenn es nicht das einzige Mal ist, dass ich derart bestraft werde, ist es doch ein probates Mittel, einem Anfänger die Regeln deutlich klarzumachen. Und ich habe seine Übermachtsstellung erschöpfend oft spüren müssen.
Ich hetze durch die Straßen. Mein Erzeuger, Etienne, ist mir dicht auf den Fersen. Er muss mich bewachen, das verlangt die Maskerade. Die Camarilla, mein neuer Gesetzgeber, duldet keine Zwischenfälle, die auf uns aufmerksam machen könnten. Stunden sind es schon. So wie gestern und vorgestern. Mein Durst ist brennend und immer wieder sehe ich zu ihm und kann das Blut in seinen Venen riechen. Mein Blick senkt sich tief. Nein! Nicht so!
„Siehst du überhaupt richtig hin?“, raunt er mich an. Laue Spätsommer-Abende und ich streife mit ihm durch die Innenstadt von Straßburg.
„Natürlich!“, fauche ich genervt zurück. Und dass er mich nicht deswegen ermahnt, zeigt mir, wie bedrohlich ich geklungen haben muss. Frauen, Männer, Dicke, Dünne, Kranke, Alte… nichts! Niemand ist dabei. Bei wem ich mir auch vorstelle, ihn zu trinken, treibt es mir sprichwörtlich die Galle hoch.
„Lange geht das so nicht weiter, Matthieu! Wenn du bis morgen niemanden hast, wirst du mein Blut trinken. Ob es dir nun passt oder nicht!“
„Ich will kein Band, das mich zu einem emotionalen Krüppel macht!“
„Besser als wenn du jemanden im Elysium anfallen wirst. Und jetzt weiter. Noch zwei Stunden, bis die Sonne aufgeht. Vielleicht ist das Glück dir ja noch hold. Obwohl ich nicht wüsste, was du noch nicht an Material hier gesehen hast.“
Ich grunze ihn an und sein missfallender Blick sagt mehr als es alle Worte von ihm könnten. Doch Fortuna hat kein Erbarmen mit mir. Die Nacht bleibt erfolglos und mein Durst wird immer quälender.
Ich öffne die Augen. Ich ächze leise auf, meine Glieder fühlen sich bleiern an, träge. Nur mit Mühe finde ich die Konzentration, mich einigermaßen ansprechend zu kleiden. Ich reiße die Tür auf und schreite hinunter in das Erdgeschoss. Etiennes Haus, ein Relikt aus seinen Anfängertagen, vollgestopft mit Möbeln und Accessoires aus den 50ern. Elendig hässlich und erst seit ich die Verwandlung hinter mich gebracht habe und den blinden Blutgehorsam damit verlor, erkenne ich auch diesen Umstand wieder. Die Mächte der Gefühlsbeeinflussung sind fast grenzenlos. Eine Eigenschaft, die ich mir auf jeden Fall zunutze machen sollte. Doch dafür habe ich jetzt keine Gedanken.
Blut. Blut!
Da rennt er plötzlich durch mein Sichtfeld. Ein kleiner Junge, sicher geht er noch nicht einmal zur Schule. Ich frage mich gar nicht, was er hier verloren hat. Mein Blick saugt sich an ihm fest, meine Nasenflügel heben sich. Oh Gott, er ist es! Er! Ich bleibe wie angewurzelt stehen. Etienne ist nirgends zu entdecken, doch dafür rennt plötzlich eine seiner Haushälterinnen dem Jungen hinterher.
„Albert! Albert, komm her! Hier wird nicht herumgetobt!“ Als sie mich erblickt, bleibt sie kurz stehen. Erschrocken hebt sie entschuldigend die Hände.
„Es tut mir leid, Monsieur Arnauld. Ich musste ihn heute mitnehmen, meine Mutter ist krank.“
Ich nicke ihr nur zu. Unfähig, auf sie einzugehen. Noch immer umnebelt der Duft des Kinderleibes meine Sinne. Obwohl er nicht mehr zu sehen ist, nur das laute Lachen erfüllt die unteren Räume. Sie folgt ihm weiter, wie es eine gute Mutter tun sollte. Und ich folge ihr.
Ich öffne die Tür zur Küche, in der die Ghule ihre Mahlzeiten einnehmen. Dort steht er in der Vorratskammer, über und über mit Mehl eingestäubt. Sie schimpft mit ihm, doch er lacht weiterhin herzerfrischend und wirft erneut eine Handvoll auf den Boden. Meine Gedanken rasen und fast wie von selbst tritt meine Planung in Kraft.
„Du! Hör mir zu!“ Ich kenne nicht einmal den Namen der jungen Mutter. Sie sieht mich an und mit einem Mal wird ihr Blick ganz selig, mir ergeben.
„Geh hoch in das Dachgeschoss und warte, bis man dich holt. Ich kümmere mich um den Kleinen!“
Sie zögert erst ein wenig, blickt zu ihrem Sohn, dann wieder zu mir.
„Sehr wohl, wenn es Sie glücklich macht.“
Ich grinse ihr ein finsteres Lächeln zu.
„Ja, das macht mich glücklich.“
Sie macht einen kleinen Knicks, sagt noch leise zu ihrem Sohn, dass er sich benehmen soll, dann verschwindet sie aus der Tür. Ich bin endlich mit ihm allein. Doch noch windet sich etwas in mir, einfach so über ihn herzufallen.
„Albert…“, sage ich leise und setze mich auf einen der Stühle. Er hält inne und seine Pausbacken stechen mir rot zwischen dem Mehl auf seinem Gesicht entgegen.
„Komm her!“
Er zwinkert kurz, bleibt aber stehen.
„Komm her, ich habe ein Geschenk für dich.“
„Schokolade?“
„Ja… ja, Schokolade. Aber nur, wenn du zu mir kommst.“
Er setzt einen Schritt vor den anderen und beäugt mich.
„Du hast gar keine Schokolade.“ Schlaues Kerlchen.
„Doch, doch. Hier, in meiner Jacke. Komm her und hol sie dir.“ Ich öffne mein Jackett und ignoriere die Tatsache, dass ich wie ein Kinderschänder wirken muss. Was heißt wirken? Ich habe ja wohl vor, auch einer zu sein. Ich warte, bis er endlich ganz dicht vor mir steht. Ohne mein Zutun fühle ich plötzlich die langen Fangzähne in meinem Mund und mein Speichelfluss erhöht sich merklich.
„Gut so… Albert…“, flüstere ich und beuge mich zu ihm. Da blickt er plötzlich hoch und sein Gesicht verzieht sich erschrocken. Er schreit laut auf und ich kann ihn nicht schnell genug greifen. Er dreht sich flink herum und rennt davon. Mein Instinkt verdrängt meinen Verstand, Panik kriecht mir in den Leib. Wenn ich ihn verliere, wenn ich ihn nicht trinke… Durst… unsagbarer Durst…
Ich fauche laut aus und presche vor, doch ich bekomme nur seine Kinderjacke zu greifen, aus der er sich geschickt herauswindet. Er rennt auf die Schwingtür zu und stürzt immer noch laut schreiend auf den Flur. Wie schnell der Kleine mit seinen kurzen Beinchen doch ist. Ich hetzte ihm wutschnaubend hinterher und es sind nur ein paar Schritte nötig, da werfe ich mich mit voller Wucht am Absatz der Treppe auf ihn. Er ächzt laut und schlägt sich auch bäuchlings das Kinn am Boden auf. Blut tritt hervor und vermengt sich mit seinem Tränenfluss. Ich bin nicht mehr ich. Ich zögere nicht und hege keine Bedenken. Tief fahren meine Fänge in seinen weichen Hals, mein Unterkiefer findet kaum genügend Platz, so winzig ist dieser Menschenkörper eigentlich noch. Er verstummt und diese Ruhe ist wie ein Segen. Der warme, nahrhafte Fluss seines jungen Blutes drängt sich in meinen Mund. Befeuchtet erlösend meine Kehle und mildert ein wenig den Wahn, der mich vor Panik zum Tier werden ließ. Ich trinke weiter und weiter, fühle, wie mein Körper sich an das Gefühl von Leben erinnert und vor innerer Freude fast aufheult. Leise stöhnend entfahren erregte Laute meinem Rachen. Es ist so wunderbar.
„Matthieu! Matthieu, was tust du denn da?“
Ich beachte meinen Erzeuger nicht, er ist mir egal. Die letzten Schlucke entraube ich meiner Beute. Süß, fast würzig schmecken die letzten Tropfen, die gänzlich ohne Puls in mich dringen. Ich halte die Augen geschlossen, ziehe meine Zähne nur sehr langsam aus dem Fleisch heraus. Atme noch den betörenden Hauch, der über der Wunde liegt, in mich hinein, da packt mich Etienne am Kragen. Mit viel Kraft, mehr als ich ihm je zugetraut habe, wirft er mich an die Wand neben der Eingangstür. Krachend fühle ich meine Schulter brechen und der Schmerz verblendet kurz meine Sicht. Meine Eckzähne sind immer noch die eines wilden Tieres und meine hierarchische Akzeptanz doch sehr gedämpft. Doch ich schweige und betrachte Etienne, wie er sich zum kleinen Albert herunter beugt. Er fühlt an seinem Handgelenk, ob es noch Hoffnung gibt. Doch ich fühle tief in mir die Genugtuung, dass ich dafür gesorgt habe, dass Albert keine Zukunft mehr hat. Da steht Etienne auf und wutentbrannt stürmt er auf mich zu. Seine Faust trifft mich schwer im Gesicht und ich fühle, wie sich zwei meiner Schneidezähne leicht lockern.
„Du Scheusal! Was hast du nur getan? Sieh ihn dir an, Matthieu! Sieh ihn dir an! Er ist tot!“
Blut trieft mir vom Kinn und ich schmecke immer noch das Kind in meinem Rot. Doch durch den Schmerz und den Zorn von Etienne fühle ich mich an meinen Gehorsam ihm gegenüber erinnert. Und kaum sind meine Fangzähne und damit die rasende Gier gewichen, blicke ich voller Schreck auf die kleine Leiche an der Treppe.
„Es tut mir leid… ich… was habe ich nur getan… Etienne… bitte… was habe ich nur getan?“ Ich krieche unter meinem Erzeuger hervor und robbe auf Albert zu. Auf dem Bauch liegend und den Hals ganz verdreht kann ich in die angstgeweiteten Augen des Kleinen blicken. Seine letzte Furcht liegt ihm mehr als deutlich auf dem Gesicht. Er hatte Angst vor einem Monster, vor mir.
„Wo ist Yvette?“
Ich streiche immer wieder über den Rücken meines Opfers und will nicht verstehen, dass ich jetzt solch ein Wesen sein soll.
„Wo ist Yvette, verdammt?“ Etienne schlägt mir hart von hinten an den Kopf und zeigt mir so, dass er eine Antwort verlangt.
„Wer ist Yvette?“, frage ich nur flüsternd. Mein Hals ist so zugeschnürt, dass ich keine Stimme finde.
„Die Mutter, du Idiot!“
„Sie wartet im Dachgeschoss. Ich habe sie hochgeschickt… ich habe ihr gesagt, dass ich mich um Albert kümmere…“
Er antwortet nicht, sondern stürmt nur die Treppe nach oben. Jetzt kümmert sich Etienne um sie.
„Matthieu, bist du dir sicher? In Paris kann ich meine Hand nicht schützend über dich legen. Das weißt du.“ Etienne sieht besorgt aus und auch, wenn es eigentlich nicht möglich ist, wirkt er doch müde. Die letzten Jahre waren nicht allzu gut für ihn. Er hat viel Geld verloren und sein Ruf ist seit der Übernahme seiner Kanzlei durch Claudette nicht der beste. Er wird sich schon wieder aufrappeln, aber das geschieht nicht in den nächsten Nächten.
„Ich bin Neugeborener, Etienne. Und ich fühle den Drang, mich weiterzuentwickeln. Strasbourg ist zu klein. Ich brauche mehr Platz, mehr Klientel. Das weißt du.“ Aufrecht stehe ich vor ihm, mein derzeitiges Einkommen übertrifft seines zurzeit sicher bei Weitem, doch er ist zu stolz, um Hilfe anzunehmen. Die meisten Ventrue dieser Domäne sind alt und uneinsichtig, sie haben gelacht, als ich mich der aktiven Beeinflussung von Menschen widmete. Mehr Zeit mit ihnen als mit meinem Clan verbrachte. Doch es hat sich gelohnt, meine Kontakte sind weitreichend und es gibt kaum ein Problem, das sich nicht lösen lässt. Doch ich stoße hier an meine Grenzen, ich brauche ein größeres Netzwerk. Und gleichzeitig ertrage ich seinen Anblick nicht mehr und sein ewiges Geheule wegen Claudette. Seiner wahren Liebe, die ihn so hinterging.
„Ich weiß, ich weiß. Aber vergiss mich nicht, ja? Melde dich ab und zu. Wann wirst du aufbrechen?“
„Morgen!“ Meine Stimme ist kalt, was nutzt mir geheuchelte Emotionalität. Er wird mich nicht mehr weiter voranbringen.
„Morgen?“ Seine Stimme überschlägt sich fast, doch er beginnt, zu nicken. Seine Welt wird immer kleiner, während ich meine erobere. Ich reiche ihm die Hand und mache es kurz.
„Ja, morgen. Ich danke dir für deine Wahl, Etienne. Doch ich muss weiter. Ich weiß nicht, ob ich noch einmal zurückkehren werde, aber du solltest nicht darauf bauen. Ich wünsche dir noch ein schönes Leben.“
„So verlässt du mich einfach? Ich wusste ja, dass du ein kaltes Herz hast, aber so?“
„Jetzt tue nicht so, du bist auch nicht gerade mitfühlend. Alles kam, wie es durch dich geformt wurde. Nach meiner Erzeugung war für mich alles mehr als deutlich. Gefühle werden mich verwundbar machen, so wie dich diese Claudette. Also, bis dann, Etienne!“ Ich drehe mich herum und blicke nicht zurück. Vier Jahre als unterwürfigster Ghul, getreten und ständig ermahnt, dann drei Jahre Küken und endlich auch von anderen Ventrue betreut. Dann, 2005, kam der Durchbruch. Selbstständiges Arbeiten und Schaffen. Und von da an kann mich nichts mehr auf meinem Weg aufhalten. Er nicht und auch diese Domäne nicht. Der Pariser Senegal erwartet mich bereits.
„Jerome, kommen Sie her!“ Ich habe nicht viel Zeit, bald begebe ich mich zur Ruhe und morgen ist eine Nacht, auf die ich mich schon lange freue. Doch es bedarf einiger kleiner Vorbereitungen.
„Jawohl, Monsieur. Wie kann ich Ihnen dienlich sein?“
Diese Unterwürfigkeit von Jerome ist mir ja teils ein wenig zu viel, aber nun ja, er kümmert sich äußerst zufriedenstellend um meine Herde. Ich reiche ihm den kleinen Beutel mit dem verheißungsvollen weißen Pulver.
„Ein Gramm auf fünf Milliliter Wasser. Dann geben Sie Pierre davon die Hälfte mit der Spritze. Warten Sie eine halbe Stunde, dann nehmen Sie ihm etwa einen halben Liter Blut ab und füllen es in die weiße Isolierkanne.“
Er nimmt das Beutelchen entgegen, sieht mich aber etwas geknickt an.
„Was?“, frage ich unwirsch nach.
„Die Hälfte der Spritze, Monsieur? Er wird wieder Krampfanfälle bekommen…“
„Wenn es zu wenig ist, habe ich aber nicht genug davon, Jerome. Und die Treffen mit meinen Freunden finden auch nicht oft statt. Also los, machen Sie schon!“ Warum muss ich mich eigentlich vor meinem Ghul rechtfertigen?
Ich gehe in mein Bad, um mir noch ein wenig das Gesicht zu waschen. Anstrengend war es heute, doch so ist es immer, wenn kurz vor Jahresende alle Klienten noch einmal auf mich zu kommen. Vielleicht sollte ich die Kanzlei ganz aufgeben und mich nur noch auf die speziellen Geschäfte einlassen. Doch dann würde mir der rechtliche Rückhalt bei den Menschen fehlen und -
„Hab dich!“
Ich erschrecke fürchterlich. Ein kleiner Junge springt mir aus einer der schattigen Ecken des Flures an die Beine und hält mich fest umklammert. Pierre!
„Warum bist du nicht im Keller?“, frage ich wütend und versuche, ihn von mir loszureißen. Doch er hält sich fest.
„Jerome war gerade da und ich bin weggerannt. Er bringt noch Maurice ins Bett und hat es nicht bemerkt.“ Er grinst mich an und legt dann sein Gesicht an meine Hüfte. Sein über die Jahre durch die Drogen degenerierter Geist hält mich wohl für seinen Vater. Oder was weiß ich.
„Jerome! Jerome, kommen Sie her!“ Ich rufe schallend durch das Haus, doch im Keller kann er mich sicher kaum hören. Ich hebe die Arme, ich will ihn nicht anfassen. Seine Zuneigung widert mich dermaßen an, dass ich mich kaum bewegen kann.
„Spielen wir was?“
„Nein! Und jetzt lass mich los!“
Traurig öffnet er die Umarmung und blickt mich an. Nur alle paar Monate komme ich zu ihnen, zu meinen drei kleinen Jungs, die im Keller auf Verfüllung warten. Ich prüfe, ob sie noch geeignet für mich sind. Nicht älter als acht und jünger als fünf Jahre dürfen sie sein, soweit habe ich es bereits begriffen. Ich hasse es, ihnen das antun zu müssen, doch es bleibt mir keine Wahl. Und warum soll ich auf meine Freuden verzichten, andere Ventrue tun es doch auch nicht. Ich habe gelernt, dass ein Schema nur eine Schwäche ist, wenn man sich davon einschränken lässt. Und ich will nicht schwach sein!
„Liest du mir noch eine Geschichte vor, Papa?“
Mein Zorn brodelt über und ich umgreife Pierres kleine Taille und werfe ihn mir über die Schulter. Er lacht herzlich auf und hält es wohl für Spaß. Ich trage ihn die Treppen hinunter und werde Jerome gleich auffordern müssen, aufmerksamer zu werden. Notfalls muss er sie halt an das Bett fesseln.
„Jerome wird gleich noch mit dir spielen und dann wirst du ganz wild träumen!“
„Aber nicht wieder piksen. Mir wird immer so schlecht.“
Ich seufze laut aus und nehme mir fest vor, mich nicht durch seine Worte jetzt noch zum Umdenken bewegen zu lassen. Ich werde mich morgen mit Freunden treffen, wir werden uns berauschen, lachen und Frauen dabei haben. Und es ist mein gottverdammtes Recht, das auch zu dürfen. Ich gehe nicht weiter auf Pierre ein, bringe ihn in sein Zimmer, denn jeder der drei hat sein eigenes, und trete direkt wieder hinaus. Während ich dir Tür von außen verschließe, höre ich ihn nähertreten. Er weint und ruft nach mir. Nach seinem Papa. Er ist schon so lange bei mir, noch bevor er wirklich richtig geeignet war, er weiß nicht, dass er eigentlich andere Eltern hat. Doch die Gelegenheit war damals günstig und es war ja nur eine Frage der Zeit, bis er passend sein würde.
„Monsieur, es tut mir leid. Ist er wieder rausgerannt?“ Jerome kommt aus dem Nachbarzimmer und schließt ebenfalls von außen ab.
„Ja, verdammt. Und seien Sie achtsamer, Jerome, dass er nicht dauernd rauskommt. Fesseln Sie in an das Bett, wenn es sein muss!“ Ich schreie ihn an. Meine Wut ist kaum zu greifen und immer noch ruft Pierre laut im Hintergrund nach mir.
„Sehr wohl, Monsieur“, antwortet Jerome nur geknickt und sieht mich ängstlich an.
„Und jetzt gebe Sie ihm schon endlich die Spritze, damit das geklärt ist!“
Er macht sich sofort auf den Weg in das angrenzende Bad und ich begebe mich wieder nach oben. Ich hasse es. Das alles. Und am meisten hasse ich mich dafür.
Celine:
Wieder eine Show, bei der ich mehr Bein als Talent zeigen muss. Die Musik ist laut und kommt aus Lautsprechern. Kein Orchester wie früher zu meinen Glanzzeiten. Mein Name ist nur noch eine Erinnerung und andere Mädchen haben ihre Chance ergriffen. Durch Annabelles Bindung konnte ich nicht mehr am menschlichen Trainingszeitraum teilnehmen. Ich wurde nicht mehr gebucht und die Manager der Opernhäuser hatten keine Lust mehr auf meine eingeschränkte Verfügbarkeit. Ich bin Kunstgeschichte.
Die Männer im Publikum geifern und jedes Stück Haut von mir wird jubelnd empfangen. Menschen, doch auch teilweise Mitglieder dieser Domäne buchen mich, damit ich für sie tanze. Und je mehr ich von mir zeige, desto besser wird bezahlt. Ich finde mich kaum mit dieser Entwicklung ab. Doch Annabelles Reichtum war nur geborgt, ihr Haus kein Eigentum. Sie verweigert die finanzielle Hilfe, seit ich Neugeborene bin und meint, ich muss es alleine schaffen. Auch wenn ich sie achte und verehre, so bleibt doch dennoch der bittere Beigeschmack, dass sie mich um meine Karriere gebracht hat.
Eine kleine Wohnung in der Nähe der Pont Neuf, laute Nachbarn und kleine, exklusive Tanzabende bei den Toreador, bei denen ich mein wahres Können zeigen kann, sind alles, was mir geblieben ist. Es muss doch mehr geben als das! Ich weiß es. Doch bisher bleibt nur das leicht trübselige Partyleben und die Gesichter der anderen, die ihre Erfolge feiern. Während ich lächeln muss und innerlich manchmal heulen könnte.
Matthieu:
Mein fünfzigster Geburtstag, doch aufgrund der vielen menschlichen Gäste tarne ich es als meinen dreißigsten. So sollte mir ausreichend Zeit bleiben, um mich etablieren und manifestieren zu können, bevor die Leute sich wegen meiner ewigen gleich glatten Haut wundern können. Etwas mehr als drei Jahre bin ich nun schon in Paris und es hat sich wirklich gelohnt. Die Ventrue hier haben viel mehr Verständnis für meine Vorgehensweise. Auch wenn ich einige Konkurrenten von meiner Stellung überzeugen musste, sie bestechen oder vom Markt drängen musste, ist meine Position gefestigt. Mitglieder aller gesellschaftlichen Clans treten an mich heran und kaufen sich bei mir die Lösung ihrer Probleme. Gerade die Toreador Regierung tut sich selbst etwas schwer mit diesem Geschäftssinn, stellt aber selbst viele Ansprüche an die sie umgebene Welt. Bauvorhaben, Öffnungszeiten, Abmahnungen, Gesetzesänderungen. Ich kann diese Wünsche in die Wege leiten oder kenne andere, die das können. Diese wiederum natürlich auch mit Hilfe von Geld, aber ich wäre nicht ich selbst, wenn ich nicht mit Gewinn aus dem Handeln heraustreten würde. Meine Kunden sind zufrieden und meine menschlichen Freunde vertrauen mir. Nicht ohne Grund ist selbst der Bürgermeister und viele andere städtische Mitarbeiter gehobenen Ranges mit auf meiner kleinen Veranstaltung.
Doch auch Kainiten sind natürlich hier und mit einem Lächeln schüttelt mir mein treuester Toreador-Kunde die Hand und deutet dann in den Eingangsbereich des Festsaales. Da ist sie, in ihrer ganzen prachtvollen Anmut. Musik beginnt zu spielen und meine sicher an die hundert Gäste werden stumm. Sie sieht mich an, ihr zartes Lächeln verzaubert mich ein wenig. Auch wenn ich natürlich weiß, dass das Geld sie zum Lächeln bringt. Doch bei wem ist das nicht so? Sie tanzt eine Weile verschiedenste Figuren, bei denen ich mir auf jeden Fall das Rückgrat brechen würde. Dann fordert sie mich auf, zu ihr zu gehen, und fast etwas widerwillig lasse ich mich darauf ein.
Celine:
Ich betrete den Saal, es ist wie immer. Nun ja, etwas pompöser vielleicht. Ein Ventrue feiert mal wieder sich selbst und ich bin die Kirsche auf der Sahnetorte. Die Musik spielt auf und das wohltrainierte Lächeln ziert meine Wangen. Es sind viele Leute hier, mehr als üblich. Und ich bemerke ihr Staunen, ihre Verzückung. Minute um Minute werde ich hingebungsvoller und die Musik ein Fluss, dem ich am Ufer artig folge. Der große schwarzhaarige Mann ist die Person des Abends, ich muss ihm das Gefühl geben, dass ich nur für ihn tanze, nur wegen ihm hier bin. Was ja teilweise auch stimmt, doch mein Primogen war es, der mich hierzu fast schon nötigte. Was ist an diesem Kerl so wichtig, dass sogar der Primogen meinen Einsatz wünscht?
Zur zweiten Ouvertüre locke ich ihn zu mir. Steif wie ein Brett erhebt er sich, er hat kein Gefühl für Rhythmus und Melodie. Doch das ist nicht wichtig. Er steht in der Mitte des Raumes und ich umstreife mit meinem Seidenoberteil seine Schultern. Lehne mich ab und zu an ihn und bemerke zufrieden, dass es ihn nicht gerade kalt lässt. Da kann er noch so sehr auf harten Geschäftsmann machen, bei mir gehen sie meistens in die Knie.
Matthieu:
Endlich habe ich diese Peinlichkeit hinter mich gebracht. Die Kleine ist süß, keine Frage. Aber dennoch möchte ich nicht wegen Inkompetenz im Mittelpunkt stehen. Kaum ist die Musik verstummt, bitte ich sie zu mir an den Tisch. Sie interessiert mich. Schnell habe ich natürlich erkannt, dass die Bewegungen für sie nicht anstrengend sind. Sie atmet nicht, also muss sie untot sein. Und ich setze tausend Euro, dass sie eine Toreador ist. Für einige Minuten stimmt sie meinem Wunsch zu und setzt sich zu mir. Doch da kommen schon die nächsten Gratulanten und einer schüttelt mir besonders überschwänglich die Hand und wünscht mir alles Gute.
„Das meinte er nicht ernst. Er hasst Sie eigentlich.“
„Was?“ Ich blicke zu ihr. Wie nebenbei hat sie diese Aussage getätigt und schlingt gerade ihre seidenen, fast durchsichtigen Stoffe um sich.
„Er ist ein Heuchler. Wenn Sie an der Klippe stehen, ist er der erste, der Ihnen einen Stoß versetzt.“
Ich blicke Elias hinterher. Könnte sie Recht haben? Er war mir nie besonders aufgefallen. Ein Ventrue, vielleicht seit einem Jahr Neugeborener. Sägt er heimlich an meinem Stuhl?
„Woher wissen Sie das, Madame?“
„Ich heiße Celine. Und ich kann es sehen. Eine Gabe, wenn Sie es so wollen.“
Meine Gedanken rasen und die Möglichkeit, die sich mir hier gerade auftut, beflügelt mich so sehr, dass ich schwungvoll aufstehe und sie mit mir ziehe.
„Was soll denn das?“, fragt sie dementsprechend aufgebracht. Doch als ich ihr im Nebenraum, in aller Stille meine Idee erörtere, wirkt sie nicht mehr so ablehnend. Meine Begleiterin, die mich vor falschen Partnern warnen soll. In Menschen liest und mir sagt, ob ich ihnen endgültig vertrauen kann. Und das Gehalt, das ich nebenbei erwähne, lässt sie dann ganz umstimmen. Ab jetzt sind wir Partner.
Monatelang haben wir wunderbar mit einander kooperiert. Sie sagt mir, wem ich trauen kann und ich sorge dafür, dass sie nicht mehr für jeden Tölpel tanzen muss. Selbst kleine Beobachtungsaufgaben kann sie übernehmen. Sie beschattet erfolgreich und das eine oder andere Geheimnis kam zutage, ohne dass ich einen Nosferatu dafür bezahlen musste. Ein sehr praktisches Bündnis. Doch heute Abend ist etwas anders. Sie trägt ein auffällig aufreizend rotes Kleid und schaltet einfach die Musikanlage in meinem Wohnzimmer an, nachdem sie mir von der letzten Person berichtet hat. Sie kennt sich gut bei mir aus, sie ist der häufigste Gast in meinen vier Wänden. Und ich gebe zu, ab und an verdreht sie mir ein wenig den Kopf. Doch nun steht sie plötzlich da, nach Wochen der geschäftlichen Beziehung und beginnt unerwartet, mit den Hüften zu kreisen. Leise Bewegungen, feingliedrig und sanft, federn sie über das teure Parkett. Ich schlucke kurz trocken und lasse den Stift sinken. Ich kann meine Augen nicht von ihr lösen. Wie damals auf der Feier, nur, dass wir jetzt ungestört sind.
„Matthieu, findest du mich schön?“
„Warum fragst du das, Celine?“
Sie kommt näher auf mich zu, legt eine Hand in meinen Nacken und bewegt weiter schlängelnd ihre Beine.
„Ich finde dich nett, Matthieu. Du bist so ruhig und gewissenhaft. Du gibst mir das Gefühl, wichtig zu sein und ich würde mich freuen, wenn deine Augen mich gerne betrachten.“
„Celine, du weißt genau, dass ich darauf nicht sonderlich viel Wert lege.“
„Dein Körper sagt etwas anderes, Chérie.“ Mit einem Lächeln deutet sie auf meinen Schritt und ich könnte vor Scham im Boden versinken. Solch eine Hingabe zu einer Frau habe ich seit Jahren nicht gefühlt, so unerwartet, dass mein Verstand es noch nicht wirklich begriffen hat.
„Also, findest du mich schön?“ Sie tanzt wieder etwas von mir fort und kurz muss ich mich räuspern.
„Ja, Celine, das weißt du doch eigentlich.“
„Ich will es aber hören. Möchtest du mich gerne anfassen?“
„Was? Das geht doch nicht. Wir arbeiten doch zusammen!“ Ich versuche krampfhaft, die Erregung wieder zu unterbinden, doch es funktioniert nicht. Ihr Anblick duldet diesen Versuch nicht.
„Man kann Arbeit auch durchaus mal mit etwas Spaß verbinden, Matthieu. Und ich sehne mich gerade sehr nach etwas Spaß. Du nicht?“
Mit großen Augen sehe ich sie an. War das gerade eine Einladung zum…?
Sie wartet meine Antwort nicht ab, sondern kehrt wieder zu mir zurück. Ihre weichen Arme legen sich um meinen Hals und ich fühle volle Begierde, wie sie sich auf meinen Schoß setzt.
„Willst du mich, Matthieu? Bitte sage es mir.“
„Ich… ich denke nicht, dass…“
Ihre Lippen berühren die meine und ihr leichter Geschmack nach Rosen und Lust lassen mich ganz meine Abscheu vergessen. Ich küsse sie zurück, umfasse sie, fühle sie.
„Sag es, Matthieu.“ Sie flüstert leise, doch beharrlich auffordernd.
„Ich will dich, Celine. Ich will dich!“
Ihr Lächeln wirkt sehr zufrieden und mit einem gekonnten Griff beugt sie mich seitlich auf die Couch. Das erste Mal finden wir so zusammen, doch es soll nicht das letzte Mal bleiben. Es sind besondere Augenblicke, für die ich sie auch besonders beschenke. Ich weiß, dass es ein Klischée ist, doch ich bin dankbar für dieses intime Glück, vor dem ich keine Angst haben muss. Pelz und Schmuck, Reisen und eine neue Wohnung. Dinge, die ich ihr finanziere, damit sie weiterhin so perfekt für mich bleibt. Es ist keine Liebe, es ist Freundschaft mit einer ganz besonderen Note.
Texte: Natalie Elter
Bildmaterialien: okilok/ Martin Malovec @deviantart.com
Tag der Veröffentlichung: 01.01.2014
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