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Betäubt

Laut klirrt das Glas, als ich die Einkaufstüte in der Küche auf den Boden stelle. Nur kurz halte ich inne, um meinen Blick schweifen zu lassen. Das Geschirr stapelt sich, Verkrustungen, die ich sicher niemals mehr fortwaschen kann. Der Kühlschrank ist leer, der Ofen seid Wochen nicht mehr in Gebrauch. Ich drehe mich herum und hänge meine Schlüssel an das Brettchen im Flur. Weiter tragen mich meine Schritte, wie jeden Nachmittag. Auf dem Weg in das Schlafzimmer knöpfe ich mein Hemd müde auf und schlüpfe heraus. Ein Wurf und es liegt auf dem großen Wäscheberg, morgen werde ich es sicher erneut anziehen. Die Flecken kümmern mich nicht, ebenso wenig wie die abgestandene Luft in meiner Wohnung. Ja, jetzt ist es nur noch meine Wohnung.

Ich schlüpfe in Shirt und Jogginghose, so ist es bequemer. Ein ausgetrampelter Pfad, der vorbeiführt an all den Überresten meines Lebens, und ich gehe ihn jeden Tag erneut. Zurück in der Küche greife ich die Einkaufstüte, stelle die drei Flaschen vor mir auf. Erbarmungslos bricht sich das Licht der grellen Deckenlampe in der klaren Flüssigkeit. Ja, es wird mir meinen Abend erleichtern.

Ich greife die erste Flasche und gehe in das Wohnzimmer, setze mich auf die kleine freie Stelle auf der Couch. Das Knacken, als ich den jungfräulichen Schraubverschluss öffne. Ich werfe den Deckel in die Ecke zum Fernseher, zum bereits angehäuften Zeugnis meiner letzten Monate des Versagens. Diese Flasche werde ich nicht mehr verschließen.

Endlich. Der erste Schluck. Ein Brennen, ein Stürzen. Gierig nehme ich diesen Heilsbringer in mich auf. Ich will vergessen, will nicht mehr sehen, was in dieser Wohnung so dringend fehlt.

„Manuela …“, flüstere ich leise und kann selbst den stechenden Duft meines Atems riechen. Manuela, meine Frau … nein, meine Ex-Frau. Mein Blick fällt auf den Baum, die Nadeln vertrocknet und vergilbt erinnert er mich an das letzte Weihnachtsfest. Als sie noch hier war, sie und meine beiden Kleinen. Sechs Monate ist das nun schon her.

Ein weiterer Schluck, zügig leert sich bereits dieses Gefäß, nur um mich zu verfüllen, um zu verdrängen, was ich nicht ertrage. Ich seufze aus, setze den Boden der Flasche auf meinem Schoß ab. Fasse immer wieder in mein Gesicht, noch spüre ich die erhoffte Taubheit nicht. Ich muss schneller trinken!

Das laute Ticken der Uhr verhöhnt mich. Draußen dämmert es. Heute war kein guter Tag. Ich habe die Kunden angeschrien, sie beschimpft. Bereits die zweite Abmahnung, eine dritte und ich muss gehen. Es wird sich schon ein anderer Trottel finden, der sich an meiner Stelle an die Kasse setzt und stumpfsinnig die Ware über den Scanner zieht. Bitter schmeckt der letzte große Schluck. Seit Jahren steigt mein Pegel, mein Bedarf. Die Fingerspitzen kribbeln, ich lächle. Das erste Mal an diesem verhassten Dienstag. Ich stehe auf, kurz muss ich mich schwankend an der Stehlampe festhalten. Zucke zurück, als hätte ich mich verbrannt. Sie hat hier abends oft gesessen. Im Schein des warmen Lichtes und hat gelesen. Hat sich geflüchtet in eine andere Welt, während ich heimlich meine Verstecke abgeklappert habe, damit sie nicht bemerkt, dass ich …

Ich stelle die Flasche zu den anderen auf den Tisch. Schlürfend ziehen sich meine Schritte wieder zurück in die Küche, dort warten die beiden anderen, treu und dienlich. Ich greife beide, wozu mich selbst belügen. Heute will ich nicht von allein in den Schlaf entfliehen, heute will ich mich vom Alkohol bis zum zwanghaften Schwarz tragen lassen. Meine Gedanken rasen, meine Zunge bleiern lecke ich mir über die Lippen. Ich bringe meine beiden Freunde in das Wohnzimmer, stelle sie bereit. Doch ich muss erst dem Volumen der ersten Wohltat Tribut zollen. Im Bad angekommen betätige ich den Schalter. Doch nichts passiert. Ach ja, die Glühbirne ist kaputt. Egal, es wird schon gehen. Im dämmrigen Licht des Flures höre ich das Plätschern, dann das Rauschen der Spülung. Mein Blick fällt auf dem Weg zurück in den Spiegel. Zum Glück wird das Bad nicht mehr hell, so muss ich mein Gesicht auch nicht ertragen. Grinse mir kurz zu, die Augen glasig, die Haut aschfahl. Wer bin ich?

Ächzend falle ich zurück auf die Couch. Der nächste Deckel fliegt in die Ecke, ein Sammelsurium, moderne Kunst. Ich lache zynisch über diesen Gedanken, setzte den Glasrand an meine Lippen, verfehle erst knapp das Ziel. Etwas schwappt mir auf das Shirt, aber dann schaffe ich es doch. Es brennt kaum noch.

Der letzte Urlaub, eine Pauschalreise, ein Versuch, es wieder hinzukriegen. Wir haben laut gestritten. Jan, mein Sohn, hat immer wieder geweint. Sophie war noch zu klein. Sie hat es noch nicht verstanden. Es fing alles so perfekt an, die ersten Jahre des Glücks, wir waren jung. Sehr jung.

Ich muss aufstoßen, kurz befürchte ich, ich müsste mich übergeben. Panik drängt sich in meine Gedanken, dass ich dann nicht genug zum Betäuben mehr in der Wohnung hätte. Doch so weit kommt es nicht. Gott sei Dank. Ein dumpfes Lächeln legt sich auf meine Lippen.

Jan. Bei seiner Geburt war ich dabei, fühlte meine stolzgeschwellte Brust. Sie trug ihn liebevoll im Arm, ich wollte für ihn da sein, ein Vater, den ich nie hatte. Die Hoffnung stirbt zuletzt, sagt man. Doch das Hoffen habe ich schon lange aufgegeben. Und während sich mein Arm wieder hebt, um meinen Plan weiter umzusetzen, weiß ich, die Hoffnung hat auch mich aufgegeben.

Mein Kopf hängt schwer, liegt fast auf meiner Brust. Mein eigenes tiefes Atmen, mein Herzrasen. Noch nicht einschlafen! Ich fahre zusammen, erschrocken von meinem eigenen, inneren Befehl. Ich sehe auf die Flasche in meiner Hand, ich habe erst die Hälfte geschafft. Weiter, weiter, verdammt!

Mein Blick klammert sich an die Bilder im Regal, an die lächelnden Gesichter. Auf den meisten ist es ein falsches Lachen. Aber ich habe sie nie angerührt! Habe nie meine Hand gegen sie erhoben, viel eher habe ich ihre unterdrückte Verzweiflung oft in ihren Bewegungen mitschwingen sehen. Sicher hätte sie gerne ausgeholt, mich wachgerüttelt. Wie fing es alles an? Der ansteigende Schlick, in dem ich jetzt zu versinken drohe. Im Grunde weiß ich es genau. Der Anruf kam spät am Nachmittag. Meine Mutter, schon ganz gebrechlich und wie sie mir sagte, dass Martin tot ist. Ein Motorradunfall. Martin, mein einziger Bruder. Gemeinsam gingen wir durch dick und dünn. Doch von da ab ging ich allein. Ich war noch nie dem Trinken abgeneigt, aber es wurde schleichend mehr … und mehr. Bis ich den Gedanken nicht mehr ertrug, ohne diese Stütze durch den Alltag zu gehen. Und ich konnte es gut verheimlichen, jahrelang. Dann sprach sie mich das erste Mal darauf an.

Ein weiter Schluck, ich will mich nicht erinnern, jeden Abend die gleichen Gedanken, ich halte es nicht mehr aus. Krachend fällt die Flasche zu Boden, doch sie zerbricht nicht, der versiffte Teppich bremst die Wucht. Ich kann meinen Blick nicht mehr fokussieren, fasse mehrmals an der dritten Flasche vorbei, ich werde wütend. Ich schreie laut auf, da endlich packe ich ihren gläsernen Hals. Schneide mir selbst in die Hand, als ich viel zu grob an dem Gewinde zerre, das Alu bricht und der Grat fährt in meine Haut.

Zorn.

Ich springe auf, will nicht länger sitzen bleiben. Schnell dreht sich meine kleine Welt kreisend um mich, ich verliere den Halt. Höre das laute Scheppern, als ich vornüber auf den Couchtisch falle. Meine Hände krallen sich fest um die Flasche, ich wehre meinen Sturz nicht ab. Spüre schmerzhaft, wie sich der angesammelte Müll in meine Rippen drückt, wie meine Schläfe auf dem schweren Eichenholz aufschlägt. Sicher werden die Nachbarn wieder meckern. Wie ich sie doch alle verachte. Dann ist es wieder ruhig, ich schließe die Augen. Halte die Flasche immer noch schützend in den Händen, nur ein wenig ist verschüttet. Versuche, mit den Beinen Halt zu finden, wuchte mich wieder auf. Warm rinnt es an meiner Wange entlang. Ich werde mir wieder eine Ausrede einfallen lassen müssen, ach, ich bin es so leid.

Langsam rutsche ich mit dem Rücken an der Wand zu Boden. Sehe die Spieldecke von Sophie vor mir, greife nach ihr, während ich die ersten Schlucke der letzten Flasche nehme. Wie sie jetzt wohl aussieht? Ob sie schon laufen kann? ‚Ich hasse dich, Papa! Warum tust du uns das an?‘ Jans Worte, in der Nacht bevor sie ging. Als ich mich heimlich aus dem Bett geschlichen habe. Im Küchenschrank unter der Spüle, ganz hinten versteckt, hatte ich mich am Vorrat bedient. Da stand er plötzlich neben mir. Und ich habe auf seine Frage keine Antwort gewusst.

Heiß rollen meine Tränen, lalle traurig ihre Namen. Die Decke in der linken Hand, die Flasche rechts, krauche ich langsam in das Schlafzimmer. Verliere auf halbem Weg die Spielwiese meiner Kleinen und stemme mich am Bettrand hoch. Ich habe kaum noch Kontrolle über meine Bewegungen. Ja, so soll es sein. Und mit letzter Müh kann ich den Inhalt schließlich leeren. Falle zurück auf die Matratze und mit meinem letzten wachen Atemzug bemerke ich, dass nicht einmal mehr der Duft von Manuela in ihrer Bettwäsche liegt.

Mein Tag ist endlich vorbei.

Impressum

Texte: Natalie Elter
Bildmaterialien: LostOneself @ deviantart.com
Tag der Veröffentlichung: 03.10.2013

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