Cover

Eine Welt der Dunkelheit

Melville von Natalie Elter

 

Kapitel 1: Ich will keine andere Ehre mehr als deine Schande.

 

 

Kapitel 2: Man fällt nicht über seine Fehler. Man fällt immer über seine Feinde, die diesen Fehler ausnutzen.

 

 

Kapitel 3: Geld verdirbt vielleicht den Charakter – aber arm zu sein macht ihn nicht besser!

 

 

Kapitel 4: Das Leben ist herzlos, warum sollte das Leben nach dem Tod anders sein?

 

 

 

Dieser Roman beruht auf dem Rollenspielwerk ‚Vampire – The Masquerade‘ (1991) von White Wolf. Zweite, überarbeitete Version (September 2013).

 

Titelbild von der Künstlerin Ronja Melin, Schweden.

 

Bei Fragen und Anregungen freue ich mich über Emails an: elter.natalie@gmail.com.

 

Alle in diesem Buch geschilderten Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären zufällig und nicht beabsichtigt.

 

© 2013 CCP hf. All rights reserved.

- Ich will keine andere Ehre mehr als deine Schande. –

(H. von Kleist)



Prolog

Alles endet, alles beginnt.

1978


„Komm schon, Mel ...“, Jonathan, mein älterer Bruder, zieht etwas genervt an der Jacke meiner Schuluniform und verlangt, dass ich aussteige.

„Ich will aber nicht!”, sage ich trotzig.

„Willst du, dass Mama wegen dir traurig ist?” Er legt ein vorwurfsvolles Gesicht auf. Ich blicke aus dem Fenster und erkenne diesen verhassten Ort wieder. Hier irgendwo liegt sie seit bereits zwei Jahren, zwischen Bäumen, Sträuchern und Steinen fremder Gräber. Ich bin gerade einmal sechs Jahre alt, mein Bruder neun. Er kann sich wenigstens noch richtig an sie erinnern, darum beneide ich ihn immer wieder heimlich.

„Mama kann nicht mehr traurig sein“, antworte ich trocken. Jonathan seufzt und blickt hilfesuchend zum Fahrer, der uns beide von der Schule abgeholt hat, doch er sitzt nur stumm auf seinem Platz und wartet, dass wir endlich aussteigen.

„Gut, wenn du es so nicht willst, dann denke daran, wie sauer Papa sein wird, wenn wir nicht gleich bei ihm zur Messe in der Kapelle sind!“

Ich senke den Blick, ja, Papa kann sehr wütend werden, manchmal macht er mir richtig Angst. Schweren Herzens gebe ich mich geschlagen und lasse meine Beine auf den Boden des Fahrzeugs gleiten. Jonathan öffnet die Tür und zieht mich hinter sich her. Die Luft ist nasskalt, mein Atem zeichnet sich als Nebelhauch vor meinem Mund ab und die Kälte kriecht mir langsam in die Glieder. Mit zögerlichen Schritten folge ich meinem Bruder über die langen Wege. Links und rechts von uns sind unzählige Gräber, ich erschauere ein wenig, denn ich habe Angst vor ihrem Inhalt, besonders seit mir Jonathan manchmal diese Gruselgeschichten vorliest.

In der Kapelle sind kaum Menschen und ich erkenne meinen Vater gleich, als wir durch die Tür treten. Schnell drückt mich Jonathan in die Reihe und die Orgelmusik beginnt, noch bevor wir bei ihm ankommen. Ein zorniger Blick von ihm straft mich für mein offensichtlich widerstrebendes Verhalten. Doch ich will einfach nicht hier sein.

Hier wohnt der Tod.



1981


Ich bin ganz aufgeregt und springe mit einem Satz aus dem Bett. Heute, am dreiundzwanzigsten Juli, ist mein Geburtstag und da auch noch Sonntag ist, muss ich nicht einmal zur Schule. Ich schlüpfe schnell in meine Hausschuhe und werfe mir den Morgenmantel über. Vielleicht bekomme ich ja endlich das Teleskop, das ich mir schon so lange wünsche.

Ich nehme mehrere Treppenstufen auf einmal und hechte in das Wohnzimmer, voller Hoffnung, gleich meinen Vater und Jonathan zu erblicken. Niemand ist zu sehen, alles ist ganz still und das fahle Licht des Morgens scheint durch die großen Fenster. Aber sicher sind mein Vater und Jonathan im Salon. Fast rutsche ich auf dem glattpolierten Parkett aus, kann mich aber gerade noch halten. Ich biege in den Salon ab, doch auch hier ist niemand. Leicht enttäuscht stehe ich da und überlege, ob sie vielleicht im Arbeitszimmer meines Vaters sein könnten. Die letzten Jahre war er an meinen Geburtstagen immer geschäftlich auf Reisen, ich erinnere mich nicht, dass ich jemals an meinem Tag direkt mit ihm feiern konnte. Doch dieses Jahr ist er da, das weiß ich ganz genau. Da höre ich Geräusche aus der Küche. Oh ja! Vielleicht will Vater nur die Wohnbereiche für den Familienbesuch später sauberhalten. Ich renne los, meine Wangen färben sich gewiss rötlich vor innerer Anspannung und mit einem Schwung werfe ich die Tür auf.

Da steht die Haushälterin und sieht mich fragend an. Sie rührt gerade in einer Schüssel und bereitet einen der Kuchen für die späteren Gäste vor. Und als ich begreife, dass wohl niemand für mich etwas vorbereitet hat, dass keine Überraschung auf mich wartet, kein Lachen und keine Umarmung, schießen mir die kleinen heißen Tränen in die Augen. Die Haushälterin setzt die Schüssel ab und kommt auf mich zu. Sie will mich wohl trösten, doch ich mag es nicht, wenn mich Fremde anfassen. Auch wenn sie schon seit mehr als einem Jahr hier arbeitet, kenne ich nicht einmal ihren Namen. Ich mache kleine Schritte rückwärts. Der Gurt, der sich aus meinem Morgenmantel gelöst hat, verfängt sich zwischen Tür und Rahmen und ich werde von ihm festgehalten. Ich kann kaum etwas durch den Tränenschleier sehen, also zerre ich fest an dem Stoff und höre nur, wie er reißt. Abgeschreckt durch meine Bewegungen bleibt sie stehen und beobachtet mich nur. Scham über mein unbeholfenes Verhalten mischt sich jetzt noch in meine Enttäuschung und als ich endlich frei bin, renne ich schleunigst zurück in mein Zimmer. Ich schlage meine Tür zu, werfe mich in mein Bett und verstecke mich unter der Bettdecke.

Ich brauche eine Weile, um wieder normal atmen zu können, ohne zu schluchzen und zu schniefen. Ich halte die Decke ganz fest in meinen Armen und spüre, wie die Luft unter der Decke langsam unerträglich wird. Ich strecke meinen Kopf etwas hervor und da erst sehe ich den kleinen handgeschriebenen Zettel von Jonathan auf meinem Nachttisch. Ich greife nach ihm und es dauert seine Zeit, bis ich die Bedeutung der Worte verstehe. Es fällt mir schwer, mich in der Schule auf die Aufgaben und Übungen zu konzentrieren. Und besonders das Lesen und Schreiben erfordert viel Disziplin von mir. Oft musste ich mir schon anhören, dass Vater mich für dumm hält und viele Nachhilfestunden habe ich schon den Sommer über aussitzen müssen.



Bin mit Vater angeln. Er will der Familie heute Abend selbstgefangenen Barsch anbieten. Er meint, du bist noch zu jung. Sind vor 14 Uhr zurück. Alles Gute zum Geburtstag.

Jonathan


Ganz langsam lasse ich den Zettel sinken und spüre, wie ich ihn mit der rechten Hand zusammenknülle. Sie haben mich nicht mitgenommen. Ich bin ganz allein.

Es tut so weh, dass ich mir nicht anders zu helfen weiß, als das kleine Zettelknäuel in den Mund zu stecken und herunterzuschlucken. Dann ist er wenigstens weg.

Langsam gehe ich zu meinem Schreibtisch, nehme mir ein Blatt Papier und fange an, mir meine eigene Nachricht zu schreiben. Ich male ein großes buntes Geschenk in die Mitte und mehrmals kontrolliere ich meine Rechtschreibung, während ich über und unter das Geschenk schreibe: ‘Für Melville. Hab dich lieb’. Ich setze mich auf dem Stuhl zurück und betrachte mein Werk. Ich bin zufrieden. Ich falte den kleinen Zettel und packe ihn ganz vorsichtig in meine Schultasche.

Dann ziehe ich meinen zerrissenen Mantel und die Hausschuhe aus, lege mich wieder in das Bett und kneife die Augen fest zusammen. Langsam zähle ich innerlich bis zwanzig. Dann öffne ich die Augen wieder, richte mich ganz vorsichtig auf und tue so, als müsste ich gähnen und mich strecken. Bedächtig hebe ich die Beine über das Bett, versuche ein möglichst zufriedenes Gesicht aufzulegen und schiebe meine Füße wieder in die noch warmen Hausschuhe.

„Alles Gute zum Geburtstag, Melville”, sage ich zu mir selbst.

„Ich habe ein Geschenk für dich versteckt. Komm, suche es!”

Ich gehe zum Kleiderschrank, zum Schreibtisch, zur Spielzeugkiste und durchsuche gewissenhaft die möglichen Verstecke. Ich umkreise langsam meinen Schulranzen und gaukle mir selber eine spannende Suche vor.

Irgendwann greife ich dann in die Tasche und hole den Zettel hervor. Ganz langsam falte ich ihn auf.

„Das habe ich mir schon immer gewünscht. Danke, Melville.“

Dann nehme ich den Zettel, lege mich zurück in das Bett und halte ihn fest umklammert, während sich langsam wieder ein paar kleine Tränen den Weg durch meine Lider kämpfen. Der Morgen meines neunten Geburtstages. Ich fühlte mich noch nie so einsam.


Die meisten Gäste treffen pünktlich ein und brav lasse ich mich von meinen Onkeln, Tanten und Großeltern in die Wange kneifen und mir über den Kopf fahren. In meinem besten Anzug und mit geputzten Lackschuhen, freue ich mich über die Aufmerksamkeit. Doch kaum haben sie mich begrüßt, ihr Geschenk auf dem Gabentisch geparkt, meist Schulbücher oder Kleidung, und den gedeckten Kuchentisch entdeckt, vergessen sie weswegen sie hier sind. Es ist immer das Gleiche. Die Erwachsenen widmen sich den Gesprächen über Politik und Sport und die Kinder haben sich allein zu beschäftigen, aber nicht zu stören. Ein paar Neffen und Nichten sind da, aber Jonathan ist derjenige, der sich gut mit ihnen versteht. Ich bin von ihrer offenen und teils aggressiven Art eher verängstigt. Ich habe keine Lust ‘Ritter’ oder ‘Räuber und Gendarm’ zu spielen und auch nicht ‘Vater-Mutter-Kind’. Ein Spiel, das ich grundlegend eh nicht verstehe. Was ist lustig daran, eine Familie zu spielen?

Also gehe ich, gelangweilt von den anderen Kindern, zu den Erwachsenen und gönne mir auch ein leckeres Stück Kuchen und einen heißen Kakao. Vorsichtig balanciere ich den Teller und die Porzellantasse auf ihrem Unterteller in meinen Händen und gehe zum bereitgestellten Kindertisch. Leider bemerke ich die kleine umgeschlagene Ecke des Teppichs nicht. Ich stolpere und versuche noch, den überschwappenden Kakao nicht auf den teuren Teppich tropfen zu lassen. Doch dabei komme ich so ins Schwanken, dass ich ganz hinfalle. Das fragile Geschirr zerbricht unter der Wucht des Aufpralls. Ich höre, wie eine meiner Tanten erschrocken aufschreit und sehe aus den Augenwinkeln, wie sich alle Köpfe zu mir drehen und jegliches Gespräch verstummt. Ich bin ganz still, bewege mich nicht, da merke ich auch schon, wie die schweren Schritte meines Vaters auf mich zugehen. Ich verstecke meinen Kopf unter meinen Händen, ziehe meine Knie eng an den Körper und versuche, mich vor seiner Wut zu schützen. Er greift an meinen Arm und zerrt mich schreiend hoch.

„Das war eine Tasse vom Lieblingsgeschirr deiner Mutter!“

Groß fliegt seine Hand auf mich zu, unerwartet und plötzlich trifft er mich. Mein Kopf fliegt zur Seite und fast falle ich wieder zu Boden. Meine Wange glüht und mir ist ein wenig schwindelig, doch ich schaffe es, nicht vor meiner gesamten Familie zu weinen.

„Geh auf dein Zimmer, Melville! Und denke darüber nach, was du getan hast! Ich bin sehr enttäuscht von dir!”

Und kurz nur blicke ich in die Gesichter meiner Verwandten, wie sie leicht erschrocken zu mir sehen. Meine Tante mütterlicherseits, wie sie ihre eigene Tochter auf dem Schoß trägt und fest umarmt. Der Vater meines Vaters, der bestätigend mit dem Kopf nickt. Alle sehen mich, schwach und klein. Ich gehe ganz vorsichtig, immer noch leicht benommen von dem Schlag, aus dem Zimmer und hebe schleppend einen Schritt nach dem anderen über die Treppenstufen. Ich bekomme noch mit, wie mein Vater ein Dienstmädchen anweist, die Bruchstücke zu entfernen und den Teppich schnell vom Kakao zu reinigen, bevor der Fleck sich festsetzt.

„Was für ein Schussel”, höre ich meinen Großvater noch sagen, bevor ich außer Hörweite in meinem Zimmer verschwinde.

Die Feier ist für mich damit beendet.



1982


Zu Weihnachten habe ich einen Hamster geschenkt bekommen. Klein, weiß und ängstlich sitzt er in seinem Käfig, während ich ihn neugierig betrachte. Ich bin mir nicht sicher, warum ich ihn überhaupt geschenkt bekommen habe. Ich habe mir kein Haustier gewünscht.

Doch eines habe ich bekommen, über das ich mich wirklich gefreut habe. Das alte Schnitzmesser meines Großvaters, doch nachdem ich mir zweimal beim Schnitzen in die Hand geschnitten habe, ließ ich es lieber. Also sitze ich hier, das Messer in der Hand und den Hamster im Blick, während ich mich nachdenklich auf meinem Schreibtischstuhl drehe.

Ich öffne langsam den Käfig und er versteckt sich in seinem Häuschen. Doch ich hebe sein Versteck einfach hoch, damit er sich mir nicht entziehen kann. Ich weiß nicht einmal, warum, aber ich bewerfe ihn ein wenig mit dem Heu in seinem Käfig. Er schüttelt sich und beginnt, von einer Ecke in die andere, vor mir davonzurennen.

Ich greife nach ihm und da er mir mehrmals dabei entwischt, werde ich wütend. Kräftig packe ich ihn, er fiept verängstigt. Ich hebe ihn auf den Schreibtisch und halte ihn fest in meiner linken Hand. Ich spüre, wie er sich wehrt, sich panisch windet und immer wieder kläglich schreiende Geräusche von sich gibt. Ich betrachte ihn eingehend, die rosa Schnauze, die kleinen Knopfaugen.

Wie unter Zwang greife ich mit meiner rechten Hand nach dem Messer. Und es sind nur ein paar Berührungen mit der Spitze des Messers nötig, um zu hören, wie er leidet.

Es gefällt mir.

Doch dadurch tropft auch sein Blut auf das helle Holz des Tisches.

Ich bin selber so erschrocken, dass ich beides loslasse, Messer und Hamster. Er versucht, mit seinen Wunden über die Tischplatte zu flüchten. Eine deutliche Blutspur zieht er hinter sich her und ich bekomme plötzlich rasende Angst, dass ich diese Spuren nicht beseitigen können werde. Vater wird mich dafür bestrafen, besonders, wenn er auch noch auf den Teppich flüchten sollte. Doch er ist so schnell und die beschmutzte Fläche wird immer größer, dass ich fast aus Reflex das Messer wieder ergreife und die Klinge gänzlich durch seinen Körper in den Tisch ramme. Dann ist alles wieder still.

Ich setze mich hin und betrachte mein Werk. Sehe diesen kleinen toten Fellball, verendet durch meine Hand. Jetzt ist er endlich leise und ich allein habe dafür gesorgt! Er konnte sich nicht wehren.

Ich ziehe das Messer wieder heraus und werfe den Hamster zurück in das Heu. Schnell wische ich die Spuren auf und mein kleines Herz schlägt wild vor Aufregung. Es ist verboten, doch die Flecken sieht man schon bald nicht mehr, keiner wird davon erfahren. Mein Geheimnis.


Ich gebe mein Taschengeld nun häufiger für einen neuen hilflosen Hamster aus, während ich die Vorgänger achtlos in Mülltonnen auf dem Weg zur Schule entsorge. Und es fällt niemanden auf, dass es nicht mehr der Gleiche ist, den ich geschenkt bekommen habe.


1984


„Ich weiß nicht, was ich noch mit dir machen soll, Melville!” Er ist wütend. Ich stehe in seinem Büro, schweigend. Ich habe mittlerweile gelernt, dass es besser ist, in diesen Situationen nicht zu widersprechen. Drei Jahre nun versucht er mich schon, so zu erziehen. Drei endlose Jahre.

„Das ist dein zweiter Tadel dieses Semester. Du machst deiner Familie Schande, Melville. In vierter Generation geht die Familie Lancaster auf diese Eliteschule und du schaffst es, die Arbeit und den Fleiß aller zu vernichten.” Er wurde heute wieder zu meinem Direktor bestellt. Das letzte Mal ist gerade einmal zwei Monate her.

„Hast du etwas dazu zu sagen, Junge?” Er drückt grob mein Kinn nach oben, damit ich ihm in die Augen blicken muss.

„Nein, Sir“, nuschle ich leise.

„Ich werde dir Anstand und Ordnung schon noch einbläuen, Melville. Es kann nicht sein, dass du ein Mädchen deiner Klasse, auch noch von einer uns befreundeten Familie, fast krankenhausreif prügelst.”

Ich sehe wieder zu Boden. Ich erinnere mich an ihre Schreie, aber auch an die verletzenden Worte, die sie mir zuvor an den Kopf geworfen hatte.


Hat deine Mama dir nicht beigebracht, wie man sich benimmt? Ach ja, stimmt, du hast ja gar keine Mama. Wahrscheinlich hat dich eine Giraffe ausgetragen, so lang und tollpatschig, wie du bist.


Ihre Freundinnen standen um sie herum und haben mich ausgelacht. Ich hatte angefangen, zu weinen, und wollte gehen, doch sie sind mir hinterhergerannt.


Ooh, jetzt weint das Giraffen-Söhnchen ... na, na, na, Giraffenkind, na, na, na, Giraffenkind ...“


Mein erster Faustschlag traf sie mitten in das Gesicht, in ihre falsche Fratze. Ich spüre noch in meinen Fingerknöcheln, wie ihre Nase unerwartet und mit einem knackenden Geräusch nachgab. Und obwohl ich jetzt Angst vor meinem Vater habe, erfüllt mich die Erinnerung an ihr hervorquellendes Blut mit Genugtuung. Ihr Schmerz ist jede Strafe wert.


„Was gibt es da frech zu grinsen, Melville? Ich werde schon dafür sorgen, dass du wieder auf die richtige Bahn gelangst. Hol den Stock!“

Ich nicke nur und schlucke meine Wut und meine Angst herunter. Er setzt sich auf die Ledercouch, auf seinen angestammten Platz, während ich mich herumdrehe und aus einem Schrank in seinem Büro einen langen, dünnen Rohrstock hole. Meine Knöchel sind weiß vor Anspannung, als sich meine Kinderhände um das Holz legen. Ich hasse dieses Instrument so sehr ... so sehr.

„Du weißt, wo dein Platz ist!”, raunt er mir mit tiefer zorniger Stimme entgegen, als er mir den Stock aus der Hand reißt und beginnt, sich die Ärmel hochzukrempeln.

Ja, ich weiß, wo mein Platz ist. Es ist fast schon zum wöchentlichen Ritual geworden. Langsam streife ich meine Hose herunter und beuge mich der Gewalt meines Vaters. Es dauert ihm zu lange.

„Ich habe nicht ewig Zeit, junger Mann!“ Er zieht mich mit einem Griff über seine Knie.

Grob schlägt er auf mich ein, ich kneife meine Augen fest zusammen und presse meine Lippen aufeinander. Ich will nicht laut aufschreien, doch er schlägt nur fester zu. So lang, bis ich endlich meine Strafe wahrnehme, meine Schmerzenstränen hervortreten und ich um Vergebung bettele. Ich fühle genau, wie er mich mit seinem anderen Arm schwer herunterdrückt und ich mich nicht entziehen kann. Als die Haut dann nachgibt und ich jegliches Hoffen auf seine Gnade fallen lasse, vergesse ich alles um mich herum und ergebe mich seiner Form von Erziehung. Ich bin ihm unterlegen und hilflos ausgeliefert.

Drei Jahre.


In meinem Zimmer dann liege ich auf dem Bauch und drücke mein heißes Kindergesicht in die Kissen. Es schmerzt, es blutet und ich weiß, dass ich die nächsten Tage in der Schule nicht wirklich werde sitzen können. Jonathan kommt wieder einmal zu mir. Er versucht, mich zu trösten.

„Mel, es wird schon wieder gut.”

„Verschwinde!”

„Komm schon, es ist doch nicht meine Schuld. Du darfst Papa nicht immer so wütend machen.”

„Wieso schlägt er dich nicht?“

Jonathan setzt sich zu mir auf das Bett, ich merke, wie er erst versucht seine Hand auf meinen Rücken zu legen, es aber doch sein lässt.

„Ich weiß nicht, vielleicht, weil ich ihm nicht so viele Sorgen bereite? Versuch doch einfach nur das zu machen, was er will, dann lässt er dich sicher auch in Ruhe.“

„Du hast doch keine Ahnung. Du bist ja bald schön weit weg, auf deinem blöden College und lässt mich hier ganz alleine in Bristol ... mit ihm.“

„Was soll ich denn tun, Melville? Die Schule abbrechen und hier bleiben? Und dann?“

„Ach, was weiß ich ... ist eh alles egal.”


„Tue mir den Gefallen und versuche, ihn nicht zu wütend zu machen ... okay?”

„Hau endlich ab!“ und dann höre ich nur, wie sich meine Tür öffnet und wieder schließt.


1985


Die Nächte sind lang. Die einzigen Momente der Ruhe; die Stille liegt im Haus und ich fühle mich sicher. Dann sitze ich auf meinem Bett, betrachte den hellen Mond oder die Wolken und frage mich, ob es nicht auch ein anderes Leben für mich geben kann. Die Hände um meine Knie geschlungen versuche ich mich auch, an meine Mutter zu erinnern, doch mit den Jahren wird sie immer mehr zu einem Schatten, zu einer blassen Ahnung in meinem Geist.

Manchmal wirkt der Mond so groß und nah, als könnte ich ihn greifen. Er ist so viel ehrlicher als die Sonne, man sieht ihn manchmal auch tagsüber und dann mahnt er uns, an die kommende Nacht zu denken. Die Sonne scheint ungnädig, egal wie schlecht es einem geht. Die anderen Kinder lachen und spielen auf dem Schulhof, doch ich sitze im Schatten, blass und mit tiefen Augenringen. Ich ertrage die Hitze und die Zuversicht nicht. Mir ist kalt.

Ich wärme mich unter der Decke, wenn das Mondlicht im Schnee und Eise glitzert. Das nächtliche Schauspiel der Geborgenheit vor meinem Fenster. Ich wünschte, ich wäre stark und hätte ein Talent, das mich von hier wegbringen könnte. Irgendwas.

Doch ich habe keine Talente, bin nichts Besonderes. Vater sagt es immer wieder und es ist sicher auch der Grund, warum er mich hasst und Jonathan nicht. Ich fühle mich so wertlos, dass ich mich hin und wieder selber frage, warum er mich überhaupt noch beachtet.

Ich weine in diesen Nächten nicht, ich weine genug auf seinen Knien. Ich fühle mich nur eins mit der Dunkelheit und ich kann sicher sein, dass niemand mich hierbei stören wird.

Dann hauche ich an die kalte Fensterscheibe, zeichne vorsichtig Mond, Wolken und Bäume nach, damit ich es auch tagsüber sehen kann, falls ich wieder in mein Zimmer gesperrt werde.


Ich habe fast aufgehört zu reden, doch es fällt niemandem wirklich auf. Meine Schulklasse ist so groß, dass es der Lehrer nicht bemerkt. Jonathan hat viele andere Freunde und verbringt seine Freizeit draußen, ich sehe ihn nur noch zum Abendessen, wenn wir schweigend unsere servierten Mahlzeiten kauen. Mein Vater redet nur in diesen Momenten der verhassten Zweisamkeit mit mir und da das Personal ständig wechselt, habe ich keine Bindung zu ihnen aufgebaut. Und jetzt wird es erst recht nicht passieren. Ich antworte, wenn ich gefragt werde. Immer darauf bedacht, keinen Widerstand zu bieten und mich höflich aus der Situation entziehen zu können. Ich lebe in mir selbst und das ist der friedlichste Ort, den ich kenne. Der Einzige an dem niemand sein kann, der mir wehtut.

Es ist diese Welt, in der ich manchmal, wenn ich mich extrem schlecht fühle, anderen wehtun kann. Ich mir vorstelle, wie ich die Hand erhebe und mächtig bin. Die Angst auf anderen Schultern lastet und sie sich mir nicht entziehen können. Denn das ist die Form von Erhabenheit, die ich kenne und auch anstrebe. An der anderen Seite des Rohrstocks sein, ein Gefühl der Überlegenheit. Zu wissen, dass man es geschafft hat.

Kein Opfer mehr. Nie mehr!



1988


Als auch ich endlich an ein College kann, hört mein Vater auf mich körperlich zu züchtigen. Beim letzten Mal passte ich kaum mehr auf seine Knie, obwohl auch er sehr groß ist und dazu noch besonders kräftig. Er hatte mich dafür bestraft, dass ich, ohne anzuklopfen, in sein Büro ging. Ich brauchte Papier für meine Hausaufgaben. Ich lerne viel, verstecke mich hinter Büchern in meinem Zimmer und versuche mich somit vor den dunklen Gefühlen und seiner Wut zu schützen. Er kann mich nicht für Lernen bestrafen. Meine Bildung wurde zu meiner wichtigsten Aktivität und besonders gerne tauche in die Welt der Zahlen und Formeln ab, denn sie bieten ehrliche Sicherheit, wo sonst keine ist.


Ich war unbedarft hineingegangen und unterbrach meinen Vater beim Sex mit seiner Sekretärin. Auf der Couch, auf der er sonst für gewöhnlich versuchte, seine Fürsorge an mir zu verdeutlichen. Sie schrie überrascht auf und er fluchte laut. Ich war wie erstarrt und unfähig sofort wieder das Zimmer zu verlassen. Ich erkannte ihre aufsteigende Scham im Gesicht und bewunderte ihre blanken Brüste. Doch leider raffte sie schnell ihre Kleidung zusammen, rannte an mir vorbei zur Tür und verließ das Zimmer. Mein Blick hing an ihrem Hintern und ich war machtlos gegen diesen Anblick. Kaum hatte mein Vater seine Hose wieder verschlossen, griff er nach seinem Stock und es setzte eine Tracht Prügel, die ich nie wieder vergessen werde. Von ihrem Anblick eben noch erregt, schlug er mich auf den Boden der Realität zurück. Ich ertrug es, doch akzeptieren konnte ich es nicht.

Einer der Bediensteten musste mir danach aus seinem Büro helfen und mich stützen, damit ich aus seinen Augen verschwinden konnte.

So liege ich jetzt hier, in meinem Bett und meine Wunden fühlend. Doch die Gedanken an ihren Körper, ihr sich wiegender Busen und ihr erschrockenes Gesicht bringen auch andere, mir zwar bekannte, aber andersartig gefärbte Emotionen hervor. Und kurz kann ich meinen Schmerz vergessen, indem ich ihn durch eine angenehmere Empfindung tausche und das erste Mal meine Lust in Verbindung mit Pein verspüre.


Drei Wochen später, nach quälend langen Sommerferien ohne Jonathan, denn seine Noten waren so schlecht, dass er eine Sommerschule besuchen musste, darf auch ich endlich diesen Haushalt verlassen. Zum Abschied am Bahnsteig drückt und umarmt mich mein Vater, als ob wir eine glückliche Familie wären. Ich bin so verwirrt, dass ich wie versteinert diese Szene über mich ergehen lasse.

„Ich begrüße es, Melville, dass deine guten Noten dir sogar eine Förderung des Eton Colleges ermöglichen. Hat es sich doch am Ende gelohnt, dich nicht zu vernachlässigen?“

„Ja, Sir“, sage ich tonlos.

„Nun steige schon ein, sonst fährt der Zug noch ohne dich ab.” Und ich lasse es mir nicht zweimal sagen. Ich greife nach meinen Taschen und blicke mich nicht mehr nach ihm um. Eine neue Zeit beginnt.

Meine Freiheit.


Aufstieg und Fall


Ich genieße die unbeschwerte Zeit am College. Auch wenn meine Mitschüler dies sicher anders von mir denken. Ich schließe keine festen Freundschaften, halte mich fern von allem, dass mich auf meinem Weg aufhalten könnte. Ich verbringe meine Zeit entweder im Klassenzimmer oder im Zimmer meines Wohnheims, um zu lernen. Das Geld und der Ruf meines Familiennamens ‚Lancaster‘ bringen mir Anerkennung meiner Tutoren, noch bevor ich mich selbst beweisen kann. In zweiter Generation kontrolliert mein Vater eine florierende Maschinenbau Firma. Bekannt für ausgezeichnete Qualität und Zuverlässigkeit, muss ich mir keine Sorgen um die finanziellen Mittel meiner Ausbildung machen. Ebenso wenig wie Jonathan, der sich im letzten Jahr seiner Collegezeit befindet. Auch wenn es Jonathan vielleicht nicht klar ist, versuche doch ich, der nächste Lancaster in der Reihe zu sein, der unseren Familienbetrieb übernehmen wird.

Ich habe meinen Bruder schon lange aus den Augen verloren. Nur zu Weihnachten sehen wir uns in unserem Elternhaus in Bristol und die Beziehung ist eisig. Denn ich merke bei diesen Treffen auch immer wieder, wie sehr mein Vater im Grunde ihn bevorzugt. Immer wieder redet er davon, besonders wenn er zusammen mit meinem Bruder einen Scotch zu viel getrunken hat, wie er auf den stolzen Moment wartet, Jonathan endlich in die Firma einführen zu können. Als Bedingung setzt er ein abgeschlossenes Masterstudium und ich weiß, dass mein Bruder sich mit seiner Bildung sehr schwertut. Ich muss also nur vor ihm oder mit einer besseren Note meinen Studienabschluss schaffen, um ihn ausbooten zu können. Und gerade diese Winterferien sind es immer, die mich noch weiter antreiben.


Doch auch wenn ich wirklich versuche, zu sämtlichen Ablenkungen größtmöglichen Abstand zu bewahren, kann ich einige Entdeckungen und Entwicklungen meiner Sinne und Gedanken nicht verhindern. Und vor allem ein Umstand macht mir schwer zu schaffen. Meine Blicke heften sich nicht nur auf Mädchen allein. Erwische mich immer wieder dabei, wie ich die sportlichen Jungen und auch Männer durch mein Fenster beobachte. Wie ich in kleinen Lernpausen kaum zurückfinde aus den wirren Gedanken, die mich beeinflussen. Und schnell wird mir klar, dass ich gerade diesen körperlichen Versuchungen widerstehen muss, wenn ich schnell und erfolgreich durch mein Lernpensum schreiten möchte. Aber besonders in einem Kurs fällt mir dieser Vorsatz extrem schwer. Ein Mädchen, siebzehn oder vielleicht achtzehn Jahre alt, sitzt direkt vor mir. Ihr Haar ist lang und sehr gepflegt. Immer wieder weht mir der Duft ihres Shampoos entgegen, wenn sie gedankenverloren ihr Haar zurückstreicht. Besonders, wenn sie es ganz auf eine Seite legt und ich dann ihren freien Nacken betrachten kann, bin ich nicht mehr in der Lage dem Unterricht effektiv zu folgen. Immer wieder muss ich dann auch an die Sekretärin meines Vaters denken, wie sie damals vor mir stand, die Schamesröte im Gesicht, die blanken Brüste. Und nicht selten muss ich am Ende des Unterrichts möglichst schnell, aber unauffällig auf mein Zimmer hechten, um mich von diesem inneren Aufruhr zu erlösen. Meist liege ich dann da und der anfängliche Höhenflug meiner Emotionen weicht dem Gefühl der Verzweiflung und der Scham.

Niemals würde es mir einfallen, eines dieser begehrten Geschöpfe anzusprechen, ich genieße still aus der Ferne und akzeptiere meine passive Rolle. Diese verliebten Spielereien sind nicht für mich gedacht.


Mit Bravur durchstehe ich die Collegezeit und schaffe es schließlich, genauso wie mein Bruder, an die renommierte Universität von Bristol. Ich erfahre hier schnell, dass Jonathan einen weniger rühmlichen Ruf aufgebaut hat. Er ist den Partys, den Frauen, dem Alkohol und auch den Drogen näher als dem trockenen Lernstoff. Wir sehen uns so gut wie nie auf dem Universitätsgelände, räumlich nah, könnten wir doch nicht weiter voneinander entfernt sein.

Schnell weiß ich genau, welche Richtung ich einschlagen möchte und lege mir bereits im ersten Jahr viele Kurse in meinen Stundenplan. Der Master ‚Finance and Investment‘ sollte sich so in verkürzter Zeit erwerben lassen.

Zwei ungleiche Brüder, der eine beliebt und auf jeder Gästeliste eingetragen, der andere stumm und zurückhaltend. Doch ich weiß, meine Entsagungen werden sich auszahlen.


In den Osterferien vor meinen Abschlussprüfungen ersuche ich meinen Vater schließlich um ein offizielles Gespräch. Deutlich vernehme ich seine Verwunderung am Telefon, als ich ihn um einen Termin in seiner Firma bitte. Ich nehme meine Bewerbungsunterlagen mit, ganz als wäre ich kein Teil dieser Familie. Denn objektiv betrachtet, bin ich der Bessere für diese Aufgabe. Und das versuche ich meinem Vater auch zu beweisen.

Ich trete in sein Firmenbüro und reiche ihm die Hand.

„Ich weiß zwar noch nicht ganz was das bringen soll, Melville, aber was liegt dir auf dem Herzen?”

„Ich bin hier, um über unsere Firma zu sprechen, Vater.”

„Unsere Firma?“

„Ja. Ich bin mir bewusst, dass du als Nachfolger sicher an Jonathan denkst, aber ich fürchte, damit triffst du eine schlechte Wahl. Er konzentriert sich nicht wirklich auf sein Studium und mit seinem Verständnis für Planung und Struktur wird er es nicht schaffen, die Firma weiter aufzubauen. Eher im Gegenteil.”Mit wächsernem Gesichtsausdruck sitze ich vor ihm, ich fühle immer eine aufkeimende Angst, wenn ich mit ihm spreche, aber um meiner selbst willen, muss ich jetzt standhaft sein.

„Bist du nur gekommen, um deinen Bruder schlecht zu machen, Melville?“

„Nein, ich wollte dir nur aufzeigen, dass auch ich Interesse an der Führung der Firma habe. Ich habe ausgezeichnete Noten, Vater, und ich möchte meine Fähigkeiten ganz zum Wohle der Familie Lancaster einbringen. Ich bitte dich um die Chance, mich, anstelle von Jonathan, in die Firma zu holen. Du sagtest einmal, dass du nur ein abgeschlossenes Studium voraussetzt. Nun, ich werde wie Jonathan in diesem Jahr meinen Abschluss machen. Wenn er denn seinen überhaupt schafft.“ Seine Augen werden groß, es war ihm wohl nicht bewusst, wie sehr ich Jonathan bereits eingeholt habe.

„Dieses Jahr schon? Ihr seid doch ...”, er überlegt kurz,

„an die drei Jahre auseinander. Wie kann das sein?“

Ich lächle ihn siegessicher an und antworte:

„Er ist langsam und ich bin schnell. Siehst du jetzt, dass ich es verdient habe, diese wichtige Aufgabe zu übernehmen?”

Er räuspert sich leise und faltet seine großen Hände auf dem Schreibtisch. Kurz erinnere ich mich an die Schmerzen, die mir diese Hände in meinem Leben schon zugefügt haben und ich rutsche einmal unsicher auf meinem Stuhl hin und her.

„Melville, es gehört mehr zu einer Firmenleitung, als der akademische Titel. Es braucht auch einen Charakter, der dem Ganzen gewachsen ist. Ein Geschäftsführer muss in der Lage sein, sich mit anderen seines Ranges gütlich auseinanderzusetzen. Die Theorie allein lehrt einen nicht das Leben, Melville.”Ich werde wütend, als ich erkenne, dass sich seine Bedingungen wohl auf mehr ausdehnen, als nur die, die ich bisher kannte.


Willst du mir das damit sagen, Vater?”, meine Stimme ist zwar ruhig, aber leicht zittrig.

„Du merkst doch sicherlich selber, dass du bereits jetzt nicht in der Lage bist deine Interessen vernünftig zum Ausdruck zu bringen. Wie soll das erst später werden, Melville?” Ich starre ihm in das Gesicht, fassungslos wie er mir vor den Kopf stößt. Er seufzt kurz leise auf und sagt:

„Wenn Jonathan dieses Jahr seinen Abschluss nicht schafft, kann ich dir ein Praktikum in der Firma anbieten und euch dann beide hier anstellen. Und dann kannst du zeigen, ob du wirklich besser bist als er. Doch werde ich dir nicht versprechen, dass du der nächste Firmenbesitzer werden wirst.“

„Danke, Vater. Ich brauche nur eine Chance, um mich zu beweisen. Du wirst es nicht bereuen.“


Mit viel Fleiß, Mühe und durchgelernten Nächten schaffe ich meinen Abschluss als Jahrgangsbester im gleichen Jahr wie Jonathan. Denn auch ihm gelingt es, erstaunlicherweise, mit einem Titel die Universität zu verlassen. Doch fast drei Notenstufen trennen uns. Unser Vater muss mir auch einfach eine Stelle geben, er wäre ein Narr und töricht es nicht zu tun. Doch er enttäuscht mich auf ganzer Linie. Kaum wieder in Bristol angekommen, erfahre ich, dass Jonathan bereits als stellvertretender Geschäftsführer eingeführt wurde. Er muss nicht einmal eine Bewährungszeit durchlaufen, um diese Ehre zu erhalten. Und zur Feier seines Einstandes bin auch ich in die Geschäftsräume eingeladen. Ich gehe nur hin, um meinem Vater ein letztes Mal verständlich zu machen, dass er sich irrt. Doch er speist mich nur ab.

„Ich habe gesagt, wenn Jonathan es dieses Jahr nicht schafft ...“ und widmet sich dann wieder Sekt anstoßend meinem älteren Bruder zu, der bereits mit einer Sekretärin flirtet.


Der unkontrollierbare Zorn in mir scheint mich in einem Strudel davon zu reißen. Und ich schwöre mir selbst, dass ich solange hart arbeiten werde bis ich es mir aus eigenen Mitteln erlauben kann, diesen dreckigen, stinkenden Familienbetrieb aufzukaufen und meinen Vater zu vernichten. Still verlasse ich die Party, hinterlasse keine Botschaft und melde mich die nächsten Jahre auch nicht mehr bei ihnen. Anonym verfolge ich die unverdiente Karriere meines Bruders, während ich mit aller Macht nach oben strebe. In London erhalte ich, dank meiner Qualifikation, schnell eine Anstellung und bald auch mehr Verantwortung. Mit vierundzwanzig Jahren erlange ich eine Abteilungsleitung und lerne schnell mich im harten und gnadenlosen Alltag der Geschäftswelt zurechtzufinden. Kaufen, zerstückeln, verkaufen. Einen Kleinbetrieb in Geldnöten nach dem anderen raffe ich dahin, immer bedacht auf größtmöglichen Profit, an dem ich direkt beteiligt bin. Viele Neider zeugen von meinem Erfolg und kurz darauf kann ich mit meinem Ersparten ein eigenes Wirtschaftsunternehmen gründen: Lancaster Ltd. Der Markt für Kreditgeschäfte und spekulativen Handel expandiert kräftig und ich bin ein großer Nutznießer dieser Entwicklung. Meine erste verdiente Million wird noch im gleichen Jahr von folgenden Millionen aufgestockt.


Ich möchte nicht gleich, dass mein Vater weiß, wer seine Firma kauft. Denn auch wenn Jonathan jetzt offiziell Geschäftsführer ist, ist er es doch, der die Fäden in der Hand hält.

Durch Zukäufe und embargoartige Bedingungen der Firma meines Vaters gegenüber, treibe ich ihn langsam an den finanziellen Ruin. Und es ist ihm nicht bewusst, warum seine Partner ihn plötzlich im Stich lassen. Denn letztendlich ist eine Geschäftsbeziehung nichts wert, wenn der Druck des Geldes stärker ist. Über eine eigens dafür gegründete Firma in Taiwan, lasse ich die insolventen Reste des Familienbetriebes aufkaufen. Als sein unbekannter, neuer Firmeninhaber lasse ich ihn in sein eigenes Büro antreten, dabei wiege ich ihn in dem Glauben, es ginge um seine weitere Anstellung in diesem Hause.

Ich trage einen Anzug, der etwa seinem momentanen Monatseinkommen entsprechen dürfte. Mit einem eisernen Lächeln und gefalteten Händen, ganz wie er vor einigen Jahren, empfange ich ihn. Dieser Augenblick seiner Erkenntnis, als er den Raum betritt, ist unbezahlbar. Doch er missversteht die Lage ganz und reagiert ungehalten.

„Melville! Was machst du hier… du…“. Dann scheint er endlich zu begreifen.

„Was hast du nur getan?“

„Guten Tag, Mr Lancaster, bitte setzen Sie sich doch.”, meine Gesichtszüge spiegeln perfekt meine Abneigung ihm gegenüber wider, während meine Anrede formvollendet bleibt, ungeachtet seines angespannten Gesichtes.

„Ich werde mich nicht setzen! In meinem eigenen Büro, du Verräter! Was hast du dir nur gedacht? Hast du denn gar keine Ehre?“

„Aber, aber, Mr Lancaster, spricht man so mit seinem neuen Vorgesetzten? Ich wollte Ihnen nur erläutern, wie es weiter gehen wird ... mit Ihnen und Ihrer kleinen, unbedeutenden Firma.”, fast befürchte ich, er würde direkt einen Herzinfarkt bekommen. Sein Kopf ist puterrot und Schweißperlen bilden sich auf seiner Stirn. Doch er setzt sich hin und befiehlt mit scharfem Ton:

„Sprich!“

„Du hast mir nichts mehr zu befehlen, alter Mann! Deine Zeit ist abgelaufen!“, sage auch ich nun etwas lauter. Ich erhebe mich und blicke durch die Fensterscheiben Richtung Produktionsstätte, die sicher schon einige Wochen still liegt. Und mit einer ausladenden Geste sage ich:

„Ich werde das alles hier verscherbeln, abreißen und verkaufen. Ich hatte an einen netten Golfplatz gedacht. Sie nicht auch? Ich denke, ich werde dann das erste Mitglied sein.”, dann drehe ich mich wieder zu ihm um und spreche weiter mit einem Grinsen auf dem Gesicht.

„Doch zuerst werden Sie, Mr Henry William Lancaster, wie dem Gründungsvertrag zu entnehmen ist, mit Ihrem Privatvermögen für die Schulden haften, die noch auf dieser Firma ruhen. Dann werde ich Sie entlassen und ich wünsche Ihnen bereits jetzt alles Gute für Ihre weitere berufliche Entwicklung in den Warteschlangen der Obdachlosenfütterung." Ich setze mich wieder und genieße es fast schon, zu hören, wie seine Würde und seine selbstsichere Haltung zerbrechen.

„Das kannst du nicht tun, Melville ... du kannst doch nicht einfach ...”

„Und ob ich das kann, Mr Lancaster. Und glauben Sie mir, ich tue das mit Freude.”Und wirklich, dies ist der bis dahin schönste Augenblick meines Lebens.


Ich bin mir vollkommen bewusst, dass er zu stolz sein wird diese Niederlage zu akzeptieren. Er wird etwas Endgültiges tun, um der Schmach der Armut zu entgehen. Er kann gar nicht anders.

Und einfach weil ich zu neugierig bin, stehe ich noch am selben Abend in der Nähe meines Elternhauses. Mit Blick auf sein beleuchtetes Büro harre ich in dem Nieselregen unter einem Baum aus. Ob er es sich wirklich traut? Ich bekomme dieses zufriedene, selbstgerechte Grinsen nicht von meinem Gesicht, während ich mir vorstelle, wie sich mein Vater in seinem Büro vor Kummer seelisch selbst zerfleischt.



Er


Da spricht er mich das erste Mal an. Er steht plötzlich einfach neben mir. Lehnt an dem Baum und wirkt überhaupt nicht nass. Wo kommt dieser Mann nur so plötzlich her, ganz ohne dass ich ihn hören konnte?

„Das hast du gut gemacht, Melville.“

Er starrt mich an, ich blicke nur kurz in seine Richtung. Seine grauen Augen wirken auf mich so tief und endlos, dass es mir fast schon wehtut, sie länger anzusehen.

„Woher ...”, für mich ungewohnt muss ich mich konzentrieren und sammeln, damit ich die richtigen Worte finde.

„Woher kennen Sie meinen Namen, Sir?“ Ich weiß nicht warum ich ihn ‘Sir’ nenne. Nie wieder wollte ich jemanden so nennen. Mein Vater hatte immer sehr viel Wert darauf gelegt.

„Ganz ruhig, Melville, jetzt nicht die Fassung verlieren“, antwortet er mehr scherzhaft. Ich wende mich von meinem Elternhaus ab und drehe mich fast schon gebannt zu ihm. Ich kann es gar nicht beschreiben, wie einnehmend er wirkt. Dabei steht er wie ein ganz gewöhnlicher Mann vor mir. Ein vollkommen Fremder. Doch sein Lächeln wirkt zynisch, irgendwie einstudiert.

„Wir sollten uns beide unterhalten, Melville. Aber nicht hier.“ und er macht eine Kopfbewegung in Richtung des Hauses.

„Ich möchte, dass du morgen um einundzwanzig Uhr in mein Büro kommst. Und ich dulde keine Entschuldigungen.“ und er reicht mir eine Karte, auf der eine Adresse in der Londoner Innenstadt steht. Auch wenn seine Drohung scherzhaft klang, habe ich das Gefühl, dass er es durchaus ernst meint. Als ich meinen Kopf wieder hebe, ist er bereits einige Meter weit entfernt und geht um eine Häuserecke. Ich blicke irritiert hinter ihm her, als ich aus meinem Familienhaus einen Schuss höre.

Mein Vater hat sich umgebracht.

Und ohne der ganzen Szene einen weiteren Blick zu würdigen, mache ich mich auf den Weg. Ich muss zurück in meine Wohnung, nach London. Ich habe jemanden zu treffen.


Um fünf vor neun setzt mein Fahrer mich an der besagten Adresse ab. Ein großer, gläserner Bürokomplex. Kein Name auf der Karte und auch nicht auf dem Gebäude verrät, mit wem ich es eigentlich zu tun habe. Ich werde bereits von einem Mitarbeiter erwartet, jener händigt mir einen Besucherausweis aus und führt mich in das Gebäude hinein. Er stellt sich nicht vor und ist anscheinend auch nicht sehr auf Kommunikation aus.

Um in das gewünschte Stockwerk zu gelangen, muss der Mitarbeiter eine Magnetkarte im Aufzug verwenden, damit die Wahltaste aktivierbar ist. Mir wird etwas unbehaglich zumute. Schweigend fahren wir in den zwölften Stock hinauf. Als die Türen sich öffnen, erkenne ich eine große Vorhalle. Ein gewaltiger Schreibtisch, an dem sicher eine Art Sekretärin sitzen sollte, steht verlassen vor einem riesigen, abstrakten Gemälde. Unsere Schritte hallen laut auf dem Marmorboden wider. Mit einer weiteren Sicherheitsprüfung öffnet er mir die einzige Tür, hinein in einen holzgetäfelten Gang, welcher geradewegs auf eine weitere große Doppeltür zuführt. Vor dieser Tür bleibt er schließlich stehen und sagt:

„Mr Cansworth wird gleich bei Ihnen sein, Mr Lancaster. Nehmen Sie doch schon einmal Platz.”

„Vielen Dank.”, antworte ich. Er schwingt die beiden Flügeltüren auf und lässt mich hindurch treten. Kaum bin ich in diesem Saal von einem Büro, schließt er die Türen auch bereits wieder hinter mir.

Alles in diesem Raum wirkt antik und edel. Vom großen Mahagoni-Schreibtisch über den dunklen Marmorboden bis hin zu den Spirituosen an der kleinen Bar. Meterweise Bücherregale füllen die Wände, keine Pflanzen verunstalten diesen ehrwürdigen Raum und man hat einen phantastischen Ausblick auf die nächtliche, erleuchtete Metropole. Ich kann ihn nicht sehen und während ich mich auf eines der Ledersofas im Gästebereich setze, überlege ich, mir einen kleinen Drink zu genehmigen.

„Schön, dass du meiner Einladung gefolgt bist.”Schnell drehe ich mich herum. War ich eben nicht noch allein im Raum? Sicher hat er einen zweiten Eingang zu seinem Büro. Er steht in der Nähe seines Schreibtisches und lächelt mir aufmunternd zu. Ich stehe schnell auf, um ihm zu zeigen, dass ich seine Anwesenheit respektiere.

„Dürfte ich erfahren, wer sie sind, Sir?“ Da ist es wieder, das ‘Sir’.

Gott, was ist nur mit mir los?

Er beginnt, mit langsamen und andächtigen Schritten, auf mich zu zugehen. Überhaupt wirkt er sehr ruhig, kaum eine ungewollte Bewegung stört sein Gebaren.

„Ich werde dein Leben verändern, Melville, ich zeige dir neue Möglichkeiten, deine Gabe für das Finanzielle und Zerstörerische effektvoller einzusetzen.“

Ich unterbreche ihn, da ich befürchte einer profanen Falle aufgesessen zu sein.

„Sind Sie ein Broker? Falls ja, ich habe kein Interesse an irgendwelchen zwielichtigen Absprachen, die mich..“, da deutet er mir mit dem Zeigefinger auf seinem Mund, dass ich still sein soll. Und ich folge seiner Anweisung umgehend.

„Ich biete dir ein Bündnis an, Melville. Mein Name ist Benedict Cansworth, ich leite die Kanzlei, der unter anderem dieses Gebäude gehört und ich werde dir ein Angebot machen, dass du nicht ausschlagen kannst. Ich werde dich in die Welt der Großen und Mächtigen bringen, eine Welt voll Ruhm und Ehre, voll Laster und Tugend. Gebrochene Regeln und geltende Ausnahmen.“

Ich sehe ihn fragend an, während er bereits fast neben mir steht.

„Sieh es doch ein, Melville, du hast nun alles erreicht, was du wolltest. Du hast deinen Vater besiegt, deine Familie gedemütigt und du besitzt bereits jetzt mehr Geld als du ausgeben kannst. Was soll deiner Meinung nach noch passieren? Ich sage es dir ... du wirst dich langweilen, du wirst spielen wollen. Wahrscheinlich wirst du irgendwann zu Drogen und Orgien abschweifen, ohne dabei die Kontrolle behalten zu können. Du wirst mehrere Frauen haben, von denen du dir aber nie die Vornamen merken kannst. Dein Alltag wird trist und grau, bis du eines Morgens entweder an deiner eigenen Kotze erstickt bist oder mit einem Herzinfarkt über einer Hure zusammenbrichst!“ Ich sehe in sprachlos an. Was redet er da nur, wer ist er?

„Setzen wir uns doch, Melville, das ist weniger anstrengend für dich.“ Ich setze mich, ganz wie er es angemerkt hat. Er gesellt sich neben mich und wieder habe ich das Gefühl, dass seine Augen gefährlich für mich werden könnten. Dennoch bin ich nicht in der Lage, meinen Blick von ihm abzuwenden.

„Ich bin sehr mächtig, Melville, ich weiß und kann Dinge, von denen du nicht einmal träumst. Du hast dein Talent zwar bewiesen, doch unter meiner Führung und mit Hilfe meines Clans, kannst du Wege beschreiten, die deiner würdiger sind.“ Seines Clans?

Er nimmt meine Hand. Seine Finger sind eiskalt, aber man merkt, dass er sicher nie körperlich gearbeitet hat.

„Ist dir schon aufgefallen, dass an mir etwas anders ist?“, fragt Mr Cansworth mich. Er scheint Mitte vierzig zu sein, leicht graue Schläfen und erste Ansätze von Fältchen zieren sein Gesicht. Ich sehe ihn noch genauer an. Seine Haut ist bleich, doch seine Präsenz so voller Anmut, dass es wirklich etwas unnatürlich wirkt, wenn man denn genauer darüber nachdenkt.

„Ich bin mir noch nicht sicher.“ Er lacht.

Kurz sitzen wir stillschweigend nebeneinander. Meine Hand hat er wieder losgelassen. Ich fühle mich eigenartig geborgen bei ihm. Als wäre ich endlich daheim.

„Wirst du einwilligen, Melville?“

„Ich weiß es nicht so recht ... was genau muss ich denn tun?”, frage ich zögerlich und senke meinen Blick, da ich seinem nicht mehr länger standhalten kann.

„Du arbeitest für uns. Du vertrittst unsere Interessen, auch mit deiner Firma. Du wirst für unser Wohl die Geschicke am Finanzmarkt mitlenken. Nichts weiter. Dafür gebe ich dir von meiner Macht, meinem Wissen und schenke dir ein neues Leben. Dein altes Leben wäre dann vorbei. Du wärst ein Mitglied deiner neuen Familie.“ Ich nicke, ganz als könnte ich wirklich verstehen, was er sagt.

Eine neue Familie.

„Und wenn ich das nicht möchte?“, ich sehe ihm wieder in seine kalten Augen, im Schein der diffusen Lichter des Raumes, werden sie immer hypnotisierender.

„Dann werde ich deine Erinnerungen ausradieren und falls du Pech hast, erlebst du den nächsten Morgen nicht mehr.“ Er grinst kurz, doch verschwindet diese emotionale Regung wieder schnell von seinem Gesicht.

Innerlich ringe ich mit den Worten. Ich habe Angst, nein, ich habe Ehrfurcht vor ihm. Obwohl mir sein letzter Satz sicher einen Schauer über den Rücken hätte jagen sollen, beginne ich innerlich bereits, ihm Recht zu geben. Ich habe kein Ziel mehr vor Augen. Wenn ich sein Büro jetzt verlassen würde, wäre ich in einem leeren, sinnlosen Nichts gefangen. Und davor habe ich im Grunde am meisten Panik. Sinnlos zu sein.

„Ja, ich ... ich willige ein“, antworte ich etwas tonlos.

„So ist es gut, Melville. Willkommen“, sagt er und legt eine Hand in meinen Nacken und beugt meinen Kopf leicht nach hinten. Ich lasse es geschehen, einfach nur, weil ich es unhöflich finde, ihn in seiner Handlung zu unterbrechen. Ich bin plötzlich wie gelähmt. Er hält sich kurz sein Handgelenk an den Mund und legt es mir dann an die Lippen. Lauwarm fließt es über meine Zunge. Es schmeckt eisern, brennt sich in mein Fleisch und dringt in meine Poren.

Sein Blut? Sein Blut!

Es ist der Himmel auf Erden. Ich habe nicht die Zeit, um Entsetzen oder Ekel zu empfinden, die sofortige Hingabe an sein Blut lässt keine Zweifel zu. Ich lege meine Lippen um die Wunde und sauge etwas an der Stelle. Es rauscht laut in meinen Ohren, meine Innereien schreien auf. Mein Verstand rast und mein Herz setzt teilweise unbeholfen aus. Mehrere Schlucke dieses flüssigen Glücks gewährt er mir. Ich bin vollkommen überwältigt von den Gefühlen, dass sein mir geschenktes Gut in mir auslöst. Als er die Hand wegnehmen will, halte ich ihn mit meinem Griff fest. Ich kann nicht anders. Ich habe es gekostet und nun bin ich davon besessen. Ich bekomme einige Tropfen mehr, dann reißt er seinen Arm weg.

„Genug!“

Ich halte die Augen leicht geschlossen und sinke tief in die Couch. Der Geschmack hallt blechern nach. Mein Atem geht flach, meine Beine werden taub.

„Genieße es“, sagt er und steht auf. Ich bin nicht in der Lage, ihm zu folgen. Wie ein Fieber übermannt es mich. Ich spüre förmlich wie Zelle um Zelle in meinem Körper von seinem Blut durchtränkt wird. Es tut herrlich weh, es beherrscht mich und vor allem ist es sehr erregend. Ich stöhne auf. Dann öffne ich die Augen. Ich sehe alles gestochen scharf, als hätte ich mein ganzes Leben zuvor keine Brille aufgehabt. Ich erkenne jedes Detail im Raum. Mein Körper rebelliert, doch ich spüre die Macht in mir aufkeimen. Ich fühle mich plötzlich voller Energie, voller Tatendrang. Ich springe auf, ich muss einfach, drehe mich und sehe wie er am Schreibtisch sitzt und Dokumente durchsieht.

Da rauscht es plötzlich in meinen Innereien. Wie ein Schlag in den Magen bleibt mir die Luft weg, ich sinke kniend auf die Couch. Nur ein leises Seufzen entfährt meinem Leib.

„Das kann beim ersten Mal schon passieren. Du gewöhnst dich daran“, ruft er durch den Raum. Ich würge, noch bekomme ich keine Luft und halte mich an der Rückenlehne fest. Meine Muskeln spannen sich an, doch mein Brustkorb will sich einfach nicht heben. Ich habe das Gefühl, dass ich jetzt sterben muss. Mein Körper wehrt sich gegen sein Blut. Ich röchele und sinke auf der Sitzfläche zusammen, die Hände um den Hals gelegt. Vielleicht hat er mich ja auch nur vergiftet? Dann reiße ich den Kopf nach hinten, nehme alle Willenskraft zusammen und atme tief durch. Wie lauter kleine Nadelstiche öffnet sich meine Lunge für die Welt, fast widerwillig. Es riecht nach allem und nach nichts. Es sind viel zu viele Eindrücke, um sie alle auf einmal zu verarbeiten. Ich rieche das Holz und das Leder, sein Parfum, mein Duschgel und ja, das Blut kann ich auch noch riechen. Ich begreife nur langsam, was passiert ist. Ich beruhige mich wieder etwas. Ich versuche, weiter zu atmen. Ich fühle mich, als könnte ich mir selbst dabei zu sehen, wie das Schicksal gerade launisch darüber entschied, ob ich leben oder sterben sollte. Ich sehe ihn wieder an, er lächelt. Und ich spüre förmlich, wie sich der erste Eindruck nach dem Genuss seines Blutes verändert. Fühle die Verbundenheit und die aufrichtige Treue, die ich ihm entgegenbringen möchte. Ich gehöre ihm, Benedict.


„Höre mir gut zu und lerne, Melville, dieses Wissen wird sehr wichtig für dich sein." Ich bin in Benedicts Haus gezogen, natürlich habe ich, auch schon rein aus praktischen Gründen, noch meine eigene Wohnung, aber ich sehne mich in die Nähe meines Mentors. Der mich immer wieder von seinem Blut, meinem Glück, kosten lässt.

Wir sitzen am großen Konferenztisch in seinem Arbeitszimmer und wieder lehrt er mich die Fakten, die seine Welt ausmachen.

„Du bist jetzt ein Teil der Camarilla, eine ehrbare und hoch schützenswerte Institution, die von jetzt ab das Wichtigste in deinem Leben sein sollte. In ihr vereint sind die besten und reinsten Clans, unter denen sich die Kainiten aufteilen.”

„Kainiten?“, frage ich nach. Er hat mir gesagt, dass ich alles erfragen soll, was ich nicht kenne und ich nutze dieses Recht reichlich.

„Ein Synonym für Vampire, Untote, abgeleitet von der überholten Annahme, wir würden von Kain abstammen, dem Brudermörder aus dem Alten Testament. Jedenfalls ist die Camarilla in sieben Clans unterteilt. Als Erstes sind die Ventrue zu nennen, der höchste Clan von allen. Und das sage ich nicht nur, weil ich einer von ihnen bin. Wir herrschen mit Würde und Achtung, unsere Aufgabe ist es, mit der Verantwortung belastet zu werden und gleichzeitig die Statuten der Camarilla aufrecht zu erhalten. Wir kontrollieren die Medien und sorgen dafür, dass die Menschen nicht zu aufmerksam werden. Ventrue, der Clan der Könige. Unser Symbol ist das Zepter der Könige, genauso wie Macht, Reichtum und Einfluss.”Er lässt eine bedeutungsschwangere Pause auf mich einwirken, bevor er mit der Erläuterung fortfährt.

„Toreador, der Clan der Rose, meist für die künstlerische und kreative Ausprägung innerhalb der Domäne zuständig. Ach ja, die Camarillagruppierung einer Stadt nennt man Domäne. Du bist jetzt ein Teil der Domäne London, Melville“, er lächelt mir zu und ich fühle wie mir vor leichter Entzückung das Blut in den Kopf schießt. Nur fast wie nebenbei erkenne ich, dass seine Nasenflügel sich leicht bewegen.

„Auch Toreador geführte Domänen sind üblich, auch wenn doch eher die Ventrue die politische Herrschaft haben sollten. So wie es hier auch der Fall ist. Die Toreador sind doch eher etwas zu verspielt und freizügig in einigen Entscheidungen, so dass es schnell mal ein Durcheinander geben kann. Der Clan der Rose, also ist auch die Rose ihr Erkennungszeichen.“ Und mit einem leichten Zwinkern deutet er mir an, wie emotional fehlgeleitet er dieses Symbol findet. Ich hänge an seinen Lippen und sauge alle Daten in mich auf. Eine neue Welt, die sich mir eröffnet, hoffentlich darf auch ich einer von ihnen werden.

„Die Brujah, Clan der Gelehrten. Aber lass dich durch die Bezeichnung nicht in die Irre führen. Heutzutage findet man unter ihnen mehr Raufbolde und revoltierende Draufgänger, als wirkliche Gelehrte. Es gibt noch einige unter ihnen, die den alten Werten frönen, aber sinnvoller ist es von ihnen als schlagfertige Gruppierung zu sprechen. Und reize sie nicht, falls du ihnen mal begegnest, sie können schnell sehr aufbrausend sein und ihre eigentliche Erziehung und den Anstand vergessen. Ihr Symbol ist das umgedrehte Anarchisten Zeichen, daran erkennst du, wie sie heutzutage eher einzuschätzen sind. Dann kommen die Gangrel. Sie sind sehr mit der Natur verbunden und leider merkt man es ihnen auch oft an. Der gepflegte zivilisierte Umgang ist ihnen meist fremd. Einige von ihnen haben mich schon beschimpft, einfach nur dafür, dass ich Anzüge trage und mein Leben nicht in Hütten im Wald verbringe. Jedenfalls tragen sie die passende Bezeichnung ‘Clan des Tieres’. Ich glaube eine Art Wolfskopf ist ihr eigenes Symbol. Das Gegenstück zu den Toreador bilden die Nosferatu“, er bemerkt mein Lächeln, als er den Namen dieses Clans ausspricht.

„Ja, Nosferatu, ‚Clan der Verdammten‘. Sie sind hässlich, stinkend und abstoßend, doch zum Glück besitzen sie die Fähigkeit, sich optisch zu verwandeln. Und trotz ihres Äußeren sind sie mit die Wichtigsten, um den Ventrue das Herrschen zu ermöglichen. Sie kontrollieren die Datenwege und Informationskanäle und gegen ein gewisses Entgelt erhältst du fast jede Information von ihnen, auch wenn sie sie erst besorgen müssten. Eine weinende Maske ist ihr Markenzeichen. Also, achte auf eine gute Verbindung zu ihnen, du könntest es schnell bereuen. Was die Nosferatu mit ihrem Netzwerk sind, sind die Malkavianer mit ihrem wirren Geist. Nicht wenige von den ‚Kindern des Mondes‘ wurden direkt aus Psychiatrien rekrutiert und benehmen sich auch leider oft so. Es geht sogar so weit, dass sie gemeingefährlich werden können. Behalte sie im Auge, denn sie selbst schaffen es für sich alleine kaum. Und versuche ihnen alle Waffen fernzuhalten ... nur zur Sicherheit. Ein zerbrochener Spiegel steht als Symbol für sie.“

„Werde ich denn selbst mit den Clans zu tun haben, Benedict?“, frage ich neugierig.

„Nicht gleich, aber später vielleicht. Erst einmal musst du deine Ghulphase erfolgreich hinter dich bringen und beweisen, dass du eines Ventrue würdig bist. Doch daran habe ich eigentlich keine Zweifel, ich wähle meine Kinder mit Sorgfalt aus. Du bist jetzt weder Mensch noch Vampir, kannst aber durch mein Blut nicht mehr altern und deine Wunden werden schneller heilen. Aber wenn ich dir mein Blut verwehre, wirst du mit der Zeit wieder ein normaler Mensch werden. Doch das habe ich nicht vor“, ich nicke stolz und lasse ihn weiter berichten.

„Und als letztgenannter Clan wären da die Tremer. Sie sind geübt im Umgang mit Magie und Ritualen. Ich bin mir nicht sicher, wie und was genau sie anstellen, aber ohne sie wären wir um viele Sicherheitsaspekte ärmer und viele Dinge müssten bedeutend mühseliger bewerkstelligt werden. Versuche, die Tremer möglichst zu meiden, sie sind aus einer anderen Welt. Ihr Zeichen setzt sich aus geometrischen Formen zusammen, vielleicht soll das zeigen, dass sie auch den Naturwissenschaften nahe stehen. Nun wiederhole alle Clans, die ich dir genannt habe, Melville“, er sieht mich mit erwartungsvollem Blick an. Ich räuspere mich und fange an.

„Die Ventrue, Clan der Könige, Toreador, Brujah, Tremer, Nosferatu..“, ich komme ins Grübeln und ganz verbissen versuche ich, mich an die Namen zu erinnern.

"...Gangrel und Machiavelli.”

„Nein, Melville, sie heißen Malkavianer, aber ansonsten richtig.“ und ein amüsiertes Lächeln umspielt seine Mundwinkel. Ich schäme mich für meinen Fehler und präge mir sofort eingehend den Namen ‘Malkavianer’ ein.

„Wie werden wir politisch regiert? Monarchie? Demokratie..“, frage ich nach einer kurzen Pause, in der er ein Schluck aus dem Glas vor sich nimmt. Blut. Und immer wieder sticht mir dabei die rote Farbe warnend in das Auge.

„Man könnte es als demokratisch gewählte Diktatur bezeichnen, mit monarchistischen Zügen.“ und er lacht laut auf, als er mein verwirrtes Gesicht sieht.

„Es gibt einen Prinzen oder, wie in unserem Fall, eine Prinzregentin. Er oder sie wird vom Ältesten Rat der Domäne ernannt. Dieser wiederum rekrutiert sich aus den ältesten und erfahrensten Mitgliedern einer Domäne. Das Wort des Prinzen gilt wie das Gesetz für die Menschen. Doch muss er auf die Sorgen und Nöte der ihn beratenden Primogene eingehen. Jeder Clan stellt einen Primogen, der vom Clan selbst gewählt wurde. Der Prinz ist die Judikative, sein Sheriff die Exekutive und die Regeln und Statuten der Camarilla die allseits über alles liegende Legislative. Natürlich gibt es als Kontrollorgan über dem Prinzen noch weitere Stände, aber das hat dich jetzt nicht zu interessieren und außerdem sind diese Stände nicht mehr regional in den Domänen anzutreffen.”

„Ich verstehe langsam, wie sich das Gefüge zusammensetzt.“

„Ja, ich gebe zu, es ist etwas verworren, aber wenn man sich erst einmal darin zurechtgefunden hat, bekommt man sehr schnell ein Gefühl für die Feinheiten.”Wieder nimmt er einen größeren Schluck. Er verhält sich wirklich sehr zivilisiert dabei. Hätte man mich früher gefragt, wäre das meine letzte Bezeichnung für vampirisches Verhalten gewesen.

„Ich sollte dir auch noch die Stände erklären, damit du weiß, wer über dir steht und wer nicht. Doch im Moment ist es einfach, so gut wie jeder steht im Rang über dir.”Er lächelt mich an und es amüsiert ihn wohl, dass ich mich mit diesem Gedanken erst noch anfreunden muss.

„Obwohl, eine Stufe hast du bereits geschafft. Du bist von mir auserkoren, weiter in die kainitische Gesellschaft hineinwachsen zu dürfen. Andere Ghule sind teilweise nur dafür geschaffen worden, um niedere Haus- oder Clanarbeit zu leisten. Wenn du von mir gezeugt, also zum Vampir gemacht wurdest, nennt sich dein Stand ‘Küken’.”Ich lache, etwas überrascht von diesem albernen Namen.

„Küken?”

„Ja, dieser abfällige Begriff soll zeigen, dass du selbst dann noch nicht viel wert bist. Ohne meine Vormundschaft wärst du nichts und jeder andere hätte das Recht, dich ohne Anklage oder Verhandlung zu vernichten.“ Ich sehe ihn erschrocken an. Ich habe nicht angenommen, dass das Leben als Untoter doch dermaßen bedroht ist.

„Keine Bange, Melville. Ich bin ja dann bei dir, um für dich zu sprechen. Und niemand wird es wagen dich einfach zu vernichten. Sonst müsste er sich mit mir auseinandersetzen. Und glaube mir, ich bin nicht für meine Nettigkeit gegenüber Fehlverhalten bekannt.“ Er leert sein Glas nun komplett und nur ganz kurz erkenne ich seine leicht hervorstehenden Eckzähne und wie er sich über die Schneidezähne leckt. Doch dieses tierische Gebaren wird sofort von seiner überaus korrekten und genauen Art wieder überlagert. Ich bewundere ihn für seine Willenskraft. Doch mir drängt sich dabei auch eine Frage auf.

„Warum trinkst du nicht von mir, Benedict?”, er schüttelt kurz lachend den Kopf.

„Das ist ein sehr nettes Angebot, Melville. Doch noch bin ich nicht so weit. Und glaube mir, dass mir diese Option überhaupt freisteht, ist auch nicht selbstverständlich. Wir Ventrue unterliegen, so wie jeder andere Clan auch, einer ganz spezifischen Schwäche.“ Er räuspert sich leicht. Eine Schwäche des Clans der Könige zuzugeben fällt ihm bestimmt nicht leicht.

„Unsere mögliche Beute ist sehr eingeschränkt. Wir können nicht einfach trinken, von wem wir wollen. Tierblut ist uns gänzlich verwehrt und selbst wenn wir von Menschen trinken, die aber nicht unserem Schema entsprechen, können wir es nicht bei uns behalten.”

„Das ist ja furchtbar.”Ich sehe ihn mit etwas Mitleid in den Augen an, blicke dann aber auch auf sein Glas und mir wird bewusst, dass der Spender wohl sehr genau für Benedict ausgewählt worden ist.

„Es gibt Schlimmeres, Melville. Und zum Glück sind es ja keine Einschränkungen, die uns massiv im Wege stehen. Jedenfalls nicht die mir bekannten Phänotypen. Obwohl bei einigen auch das Verhalten mitentscheidend ist. Aber grundsätzlich ist es eher unhöflich, einen Ventrue nach seinem Beuteschema zu fragen. Jeder lebt und arrangiert sich mit seiner Spezifikation.”Er lächelt mir verschmitzt zu. Es macht den Eindruck, als ob es ihm Spaß macht, mir all diese Fakten zu erörtern.

„Aber von mir könntest du ...?”, frage ich. Denn nach seiner eben erfolgten Belehrung, sollte ich ja nicht direkt fragen, welche Eigenschaften für ihn entscheidend sind.

„Ja, von dir könnte ich.“ Dabei drängt sich mir gleich die nächste Frage auf.

„Wenn man sein späteres Küken nicht trinken kann, wie macht man dann einen Vampir aus ihm? Ich meine, sicherlich muss doch auch ...”, er unterbricht mich sanft.

„Es ist nötig, dass zur erfolgreichen Zeugung sämtliches altes Blut des Gezeugten entfernt wird. Ist der Erzeuger selbst dazu nicht in der Lage, muss es gegebenenfalls jemand anderes übernehmen und sollte sich niemand mit passendem Schema finden, muss das baldige Küken ausbluten. Obwohl es fast eine Schande ist, es so zu tun.“ Er schnalzt kurz mit der Zunge. Die Vorstellung einer Zeugung dieser Art, lässt mich kurz erschauern. Es ist wie das Schächten von Tieren, dass langsame Sterben durch Aufschlitzen und Ausbluten. Grauenhaft.

„Aber lass mich dir weiter unsere innere Hierarchie erklären.”Ich setze mich wieder etwas aufrechter hin und höre seinen Worten zu.

„Nach der Kükenphase wird man als Neonatus bezeichnet, als Neugeborener. Dies ist die Grundform des kainitisch gesellschaftlichen Zustandes. Die Neonati bilden die größte Gruppe der Domäne. Sie haben das Recht auf Selbstbestimmung und Gerichtsbarkeit im Elysium. Das Elysium ist vergleichbar mit dem britischen Parlament. Neonati werden bei Bedarf von Primogenen angehört und können eigenen Berufen nachgehen. Alles Rechte, die Küken nicht haben. Nach den Neonati folgen die Ancillae. Sie haben sich durch besonderes Verhalten oder durch wichtige Errungenschaften diesen Titel verdient und haben das Recht Neonati zu befehligen. Im normalen Umfang jedenfalls. Als einen Ahn bezeichnet man besonders ehrwürdige und auch alte Vampire in der Domäne. Diese Bezeichnung hängt nicht zwangsläufig mit dem Titel des Ancilla zusammen, aber selten ist ein Ahn nur Neugeborener. Hast du das alles verstanden, Melville?“ Ich versuche, ihm wirklich aufmerksam zuzuhören, doch die ganzen neuen Begriffe machen es mir schwer zu folgen.

„Ich gehe davon aus, dass du Ancillae bist, oder Benedict?”

„Ancillae ist der Plural, Melville. Aber ja, ich bin Ancilla und auch sehr stolz darauf.“ Die Begriffe fangen an sich langsam in meinem Kopf zu vermischen und ich muss mir kurz die Augen reiben, um meine Aufnahmefähigkeit möglichst aufrechterhalten zu können.

„Kannst du dich noch konzentrieren, Melville?“, fragt er sanft.

„Oder sollen wir es fürs Erste dabei belassen?”

„Ich denke, ich habe alles verstanden, doch muss ich die ganzen Namen und Fakten erst einmal in meinem Kopf sortieren. Ich hoffe du verzeihst mir, aber ich denke, ich sollte wohl lieber eine Unterbrechung einlegen.”

„Natürlich verzeihe ich dir. Ein Wunder, dass du nicht schon früher um eine Pause gebeten hast.”Sein Lächeln ist so warm und seine Nähe so herrlich, dass ich mich beherrschen muss, nicht seine Hand zu ergreifen.

„Du hast ja schließlich auch noch einiges zu tun. Wie laufen denn die Geschäfte?“

„Sehr gut, Benedict. Ich habe das mir zugeteilte Vermögen gewinnbringend reinvestiert und werde demnächst weiter in Technologie- und Rohstoff- Fonds investieren. Von Hedgefonds lasse ich lieber die Finger, ich denke, dass in naher Zukunft eine Rezession über Europa und vielleicht auch den gesamten globalen Markt hereinbrechen wird. Also meide ich allzu spekulative Geldflüsse lieber.”

„Wie groß ist der Gewinn bisher?“

„Ich denke, er bewegt sich in einem Rahmen zwischen fünf und sechs Millionen Pfund.”

Benedict nickt anerkennend und sagt:

„Das ist doch eine ansehnliche Summe. Ich denke, du bereitest dir jetzt schon einen guten Ruf. Ich bin stolz auf dich, Melville.”Und es bricht mir fast das Herz, weil ich weiß, dass mein Vater nie etwas Derartiges zu mir gesagt hat und erst ein untoter Rechtsanwalt, der mich von seinem Blut trinken und an seinem Wissen und seiner Macht teilhaben lässt, mich in meiner Person bestätigt. Doch ich respektiere und schätze Benedicts Wort bereits jetzt mehr, als ich es jemals bei meinem Vater getan habe.


Doch es gibt auch noch die anderen Momente, Momente in denen ich froh bin, dass Benedict mich nicht sehen kann und nicht Zeuge meiner Taten und Gedanken ist.

Das pulsierende, berauschende Blut Benedicts und auch meine teilweise neue Freizeit, lassen meine Gedanken schweifen und meine Sehnsüchte nach gewissen sexuellen Taten und Erlebnissen ausufern. Anfangs ist es nur die Erinnerung an die hübschen Jungen und Mädchen meiner College- und Studienzeit, die mich in Tagträumereien verfallen lassen. Doch schnell reichen meine Vorstellungen weiter. Und bald schon bin ich nicht mehr gewillt, es mir andauernd nur vorzustellen. Dieser kainitisch angefeuerte Menschenkörper sehnt sich nach Erfüllung seiner Wünsche. Aber ich habe keinerlei Interesse, mich an eine Frau zu binden. Eine ‘Freundin’ erscheint mir vollkommen sinnlos. Will ich doch nicht mehr, als für ein paar Stunden ihr Eroberer zu sein, ohne das ganze Drumherum. Also fahre ich in die Rotlichtviertel und kaufe mir die Frauen, die mir augenscheinlich gefallen.

Mein sogenanntes ‚Erstes Mal‘ ist also ein Erlebnis mit ausgeprägter Kälte und penibler Planung. Ich bestimme genau, was sie zu tun hat und was nicht. Ertrage zärtliche Spielereien nicht, will ihre Hände nicht auf meinem Körper spüren, nur das Abreagieren des hemmungslosen Triebes in mir, genährt von ihrem Stöhnen, ihrem sich rhythmisch bewegenden Leib. Ich bin bereits neunundzwanzig Jahre alt, als ich diese Errungenschaft in meinem Leben endlich abhaken kann.

Die ersten Monate reicht das auch, bis ich beim Wegrennen einer dieser Huren merke, was genau ich eigentlich mit ihnen mache. Meine Behandlungen immer gröber werdend und meine Bedürfnisse immer dunkler, ist es nicht mehr der reine Sextrieb, der mich zu ihnen führt, sondern das Verlangen meine Macht an ihnen zu demonstrieren, sie zu erniedrigen und auch zu schlagen. Wie im Wahn, und die ersten roten Tropfen ihrer teils zarten Leiber erblickend, kann ich mich meinem Sadismus nicht erwehren. Ihr Leid ist meine Lust. Doch was erwarte ich von billigen Prostituierten? Ich muss in anderen Bereichen meine Spielpartner suchen, Orte, an denen sie aus dem gleichen Grund da sind wie ich. Meine Neugierde auf die Londoner SM- und Fetischclubszene ist geboren. Und es gibt reichlich Auswahl, trotz der restriktiven Gesetze.


Meine neue Familie


Es gibt immer wieder gesellschaftliche Abende, an denen Benedict mich dem Clan der Ventrue näher bringt. Ich lerne Geschäftspartner von ihm kennen und vor allem auch andere Ghule. Doch jeder für sich ist seinem Meister oder seiner Meisterin so ergeben, dass er kaum Gedanken für andere Dinge findet. Zu meinem Vorteil besitzt Benedict aber getrennte Ghule für den Service und erst das zweite Mal einen Ghul wie mich; ein geplantes baldiges Kind des Clans der Könige.

Alle sind sie äußerst zuvorkommend und höflich, wobei immer ganz deutlich der Wert der Hierarchiestufen zum Vorschein kommt. Ähnlich muss es sicher auch im Königshaus gehandhabt werden, so stelle ich es mir jedenfalls vor, denn wirklich höfisches Gebaren habe ich nie erlebt. Und im Grunde befinde ich mich auf der untersten Stufe der Anerkennung. Benedict hat mir deutlich zu verstehen gegeben, wie ich mich Mitgliedern seines Clans gegenüber zu verhalten habe. Kein direkter Augenkontakt, nur reden, wenn man angesprochen wird. Keine Widerworte und keine abwertenden Aussagen. Es wäre sonst Selbstmord an meinem eigenen Ruf, was laut seiner Aussage schade wäre, wo ich doch schon einen dezent positiven Eindruck vermittelt habe. Ich verstehe es natürlich, Benedict allein hat nicht das Recht mich zu Seinesgleichen zu machen. Es ist eine besondere Ehre, diesen Status durch eine Direktive der Prinzregentin zu erhalten und es gibt immer nur eine limitierte Anzahl von sogenannten ‘Zeugungsrechten’ pro Zeitraum.


Und so ist es für mich ein ganz besonderer Augenblick, als ich Benedicts Erzeuger kennenlernen soll. Ein Ahn, ein hochgeachteter Mann, er hat großen Einfluss auf die Entwicklungen im Clan der Ventrue und ich weiß, dass gerade Benedict viel Wert auf seine Meinung legt. Gleichzeitig trägt er den Titel des Ancilla, eine Würdigung seiner hervorragenden Taten und eine Betonung seiner Wichtigkeit für die Domäne.

Meine Hände zittern und kleine Schweißperlen tropfen mir von der Stirn, als ich verzweifelt versuche, meine Krawatte zu binden. Doch bereits an den Manschettenknöpfen scheine ich wieder zu scheitern. Das letzte Mal war ich so nervös, als ich um einen offiziellen Termin bei meinem Vater gebeten hatte. Nur ist der erdrückende Eindruck, dass alles von diesem einen Moment abhängen könnte, nun noch stärker. Ich seufze laut auf, während ich weiter an meinen Hemdsärmeln nestele.

„Brauchst du Hilfe?” Benedict steht im Türrahmen und wieder übermannt mich dieses Gefühl der Wärme, der Geborgenheit, so wie es immer ist, wenn ich mir seiner Nähe bewusst bin. Ich fahre mir mit der rechten Hand durch das Haar.

„Ja, bitte. Ich weiß nicht, irgendetwas stimmt mit diesen Manschettenknöpfen nicht.”Er kommt mit kaum hörbaren Schritten auf mich zu, elegant und anmutig. Und fast vergesse ich, ihm meine Hände auch zu reichen, damit er mir beim Verschließen der Ärmel wirklich helfen kann. Ein gutmütiges Lächeln legt sich kurz auf seine Lippen und derweil ich beobachte, wie er sich mit vollkommener Ruhe den Verschlüssen widmet, kommt mir der Gedanke, dass das allgegenwärtige Fehlen von unterbewussten Handlungen sicher mit seiner Natur als Untoter zusammenhängt. Wie alt mag er nur sein?

„So, das sollte jetzt halten“, sagt er und umgreift kurz meine Hände. Ich senke meinen Blick, meine Nervosität, obwohl doch begründet, ist mir etwas unangenehm.

„Deine Hände zittern“, stellt er nüchtern fest.

„Fühlst du dich nicht wohl?“

Ich blicke etwas betreten zur Seite, doch ich weiß auch, dass eine Notlüge ihm gegenüber absolut nicht angebracht ist.

„Es ist nur ... heute ist ein sehr wichtiger Abend. Dein Erzeuger wird anwesend sein und ich möchte dir keine Schande bereiten ... auf keinen Fall.“ Er lässt meine Hände wieder los und klopft mir seicht auf die Schulter.

„Nun ja, Melville, er ist ja kein Monster. Er weiß, dass du ein Mensch bist und er wird sicher nicht die gleichen Ansprüche an dich haben, wie an Mitglieder unseres geachteten Clans.”Es versetzt mir einen kleinen Stich, dass der Umstand, dass ich ‚nur‘ ein Mensch bin, wohl zu geringerem Anspruch an meiner Person führt.

„Ich bin überzeugt, dass du mir keine Schande machen wirst. Verhalte dich einfach, wie ich und deine gute menschliche Erziehung es dir beigebracht haben. Dann sollte dir kein Fauxpas unterlaufen.”

„Natürlich, Benedict“, stimme ich ihm zu. Meine gute menschliche Erziehung. Plötzlich habe ich das Gefühl des festen Griffs um den dünnen Stock meines Vaters in Erinnerung. Immer wenn ich dieses Erziehungsinstrument für ihn holen musste.


Benedict begrüßt seine Gäste wie ein Staatsmann. Ich halte mich stets einige Schritte hinter ihm auf. Immer wenn er mich vorstellt, trete ich nach vorn, reiche meine Hand und verbeuge mich leicht. Doch selbst für mich Wort zu ergreifen ist mir untersagt, solange mich niemand direkt anspricht. Und bis auf zwei Personen, die sich anscheinend an meine profitablen Investitionen für die Ventrue erinnern, gibt es am Anfang des Abends niemanden, der sich weiter für mich interessiert. Sie nehmen mich nur höflich zur Kenntnis und wenden sich dann eigenen Gesprächen mit Benedict zu. Doch das ändert sich umgehend, als Benedicts Erzeuger kurz nach Mitternacht vom Butler angekündigt wird.

„Mr Rufus Safford, Duke von Devonshire.“ Mir stockt kurz der Atem, doch besinne ich mich ganz auf die Worte meines Meisters vor einigen Stunden. Benedict geht zügig auf ihn zu und macht eine leichte Verbeugung.

„Rufus, schön, dass du meiner Einladung gefolgt bist.”

„Wenn mein Kind meine Anwesenheit erwünscht, ist es mir doch eine Freude, an solchen kleinen Zerstreuungen teilzuhaben.“ Er hebt die Arme und gestattet es Benedict somit, ihn zu umarmen. Doch nur solange wie es der Anstand zulässt. Dann heften sich seine stählernen blauen Augen auf mich. Sofort neige ich mein Haupt, ich hatte es gewagt ihn anzublicken.

„Das ist dann wohl Melville Lancaster, nicht wahr?“ und zu meiner Überraschung wendet er sich direkt an mich und reicht mir sogar als Erster die Hand.

„Guten Abend, Sir. Ja, ich bin Melville Lancaster und es ist mir eine Ehre Sie kennenlernen zu dürfen.“ Ich hebe meinen Blick wieder etwas, denn wenn man angesprochen wird, ist es ein Zeichen des Respekts, seinem Gegenüber auch in die Augen zu blicken. Ich erkenne ein anerkennendes Nicken von seiner Seite.

„Ich habe schon einiges von Ihnen gehört, Mr Lancaster, Benedict lobt Sie in den höchsten Tönen“, dabei lächelt er kurz seinem Kind zu. Benedict tritt etwas zur Seite, um mir die Möglichkeit zu geben mit Mr Safford zu sprechen, ohne dass er sich zu mir wenden muss.

Ich weiß nicht genau, was ich auf solch ein überraschendes Kompliment antworten soll, doch unterbricht er diese kurze Stille schnell und sagt:

„Setzen wir uns doch. Es interessiert mich sehr, wen genau Benedict in meine Erblinie einbringen möchte.”Er deutet auf die große Couch und sofort machen einige, dort bereits sitzende Ventrue Platz, um seine Wünsche erfüllen zu können. Mir wird dadurch nur noch bewusster, wie wichtig sein Wort in der Domäne sein muss. Ich setze mich zu seiner linken und Benedict zu seiner rechten Seite.

„Erzählen Sie doch mal, wie genau Sie den ersten Kontakt zu den Ventrue erfahren haben.“ Ich beschließe sofort, den Selbstmord meines Vaters bei dieser Erzählung außen vor zu lassen.

„Es war vor meinem Elternhaus in Bristol. Ich habe an diesem Tag erfolgreich die Firma meines Vaters übernommen, wollte mich aber bereits wieder auf den Weg nach London machen. Es war eine eher kleine Firma, nichts von Bedeutung. Dort sprach mich Mr Cansworth an und hat mir einen Termin in seinem Büro für den nächsten Abend gewährt.“

„So, so, hatten Sie denn da bereits eine Ahnung? Ach, es muss herrlich sein, wenn man diese Welt, dieses Paralleluniversum, dass erste Mal erblickt. Ich erinnere mich selbst kaum noch an diese Zeit.“

„Nein, Sir, erst in seinem Büro dann hat er sich mir erklärt, nachdem ich eingewilligt hatte mich ihm anzuschließen.”Ich blicke kurz zu Benedict, in der Hoffnung, dass er mit meinen preisgegebenen Informationen zu diesen Umständen einverstanden ist. Es macht ganz den Anschein und sofort konzentriere ich mich wieder auf Mr Safford.

„Ja, Benedict war schon immer sehr formvollendet. Eine wahre Bereicherung für die Domäne.”

„Danke, Rufus“, merkt Benedict zu seinem Lob an und dieser beugt kurz sein Haupt als Zeichen für die Anerkennung des Danks. Diese Unterhaltung lässt mich die anderen anwesenden Gäste ganz vergessen. Obwohl sicher ein Dutzend Kainiten im Haus rege Gespräche führen, sind es nur seine Worte, die gänzlich zu mir durchdringen.

„Wie lange sind Sie jetzt schon in Benedicts Obhut?“

„Es sind jetzt knapp zwei Jahre, Mr Safford.“ und er scheint kurz in Gedanken zu verfallen, nachdem er meine Antwort hört. Er schürzt kurz die Lippen und fragt dann weiter:

„Sie haben ja wohl auch schon eine gewisse monetäre Verbesserung für unsere Clanskasse herausgearbeitet. Ich gehe doch recht in der Annahme, dass somit die Finanzwelt ihr erfolgreichstes Betätigungsfeld ist?“

„So ist es, Mr Safford. Ich darf einen akademischen Abschluss in diesem Bereich mein Eigen nennen, ebenso gehobene Aufgaben in den verschiedenen Wirtschaftsinstituten und eine eigene Kreditfirma, die ich vor fünf Jahren gegründet habe.“

„Na, das ist doch etwas, auf das Sie stolz sein können.”

„Vielen Dank, Mr Safford.”

„Wenn Sie uns jetzt entschuldigen, ich muss eine private Unterredung mit Benedict führen." Er erhebt sich bereits und auch Benedict scheint von diesem abrupten Umschwung etwas überrascht und tut es ihm gleich. Ich stehe auch schnell auf und antworte:

„Natürlich, Mr Safford. Ich danke Ihnen für Ihre Zeit.”Und da er anscheinend nicht vorhat, noch einmal an diesem Abend mit mir zu sprechen, reicht er mir zum Abschied die Hand, die ich mit leichtem Stolz in der Brust auch gewissenhaft schüttele. Dann geht er Benedict hinterher, der ihn bereits in Richtung seines Büros führt. Ich stelle mich wartend etwas abseits und bin froh, dass es doch durchaus positiv verlief.


Benedicts Feierlaune

Alle paar Monate gibt es ganz besondere Nächte in Benedicts Terminkalender. Nächte, in denen er seinen Status und den Erfolg seiner Firma zelebriert. Und er lässt mich ausgiebig an seiner guten Stimmung teilhaben. Da er ja nun keinen Alkohol trinken kann, aber dennoch ein wenig dem Rausch erlegen sein möchte, bin ich es, der stellvertretend ein wenig vom teuren Whiskey kostet, damit er sich anschließend an mir laben kann. Er hat erst nach über einem Jahr damit begonnen, von mir zu trinken, hat es lange hinausgezögert, um mir das Gefühl zu nehmen, nur aufgrund seines Durstes sein Kind zu sein. Denn die Ventrue haben ja nun eine ganz besondere Schwäche und ich begrüße diese, für mich intimen Momente mit ihm immer sehr. Das erhebende Gefühl, wenn er seine Zähne in mich taucht, mich an sich drückt und voller Gier meine Hingabe verlangt, ist jegliche Schwäche im Nachhinein wert. Und in diesen besonderen Nächten, in denen er sein eigenes Dasein feiert, trinkt er von mir und auch mir gewährt er Blut von sich. Ich kann mich nicht wehren und will es auch gar nicht. Zu köstlich, zu belebenden ist sein Geschmack.

Es ist genau eine dieser Nächte, in denen Benedict unerwartet freizügig mit seinem Gut ist und er sich immer wieder an meinen Reaktionen auf sein geschenktes Glück erfreut. Ein, für mich berauschender und fataler Umstand.


Er findet mich kurz vor Sonnenaufgang. Ich sitze auf dem unteren Absatz der Kellertreppe. Meine Hände blutig, mein Oberkörper und mein Gesicht zerkratzt. Er setzt sich zu mir und blickt auf den Kellerboden, der mit meinem Blut befleckt ist. Ich höre ein unterschwelliges Atmen von ihm und es muss ihn sicherlich Willenskraft kosten, so beherrscht neben mir sitzen zu können.

„Es wollte raus“, sage ich leise.

„Was wollte raus?“, seine Stimme klingt ungewöhnlich dünn.


Das Monster in meinem Kopf, das Tier in mir will raus. Das Wesen, das du in mir heranzüchtest, bis du es endlich freilassen kannst. Es will diese lächerliche Hülle abstreifen und frei sein!“

Das würde ich ihm am liebsten antworten, stattdessen kommt nur ein:

„Ach, nichts …“ über meine Lippen.

„Versorge deine Wunden, kehre vorher nicht zurück!“, sagt er mit scharfem Ton. Ich stehe bereits auf, schäme mich für mein selbstverletzendes Verhalten in Grund und Boden.

„Und, Melville … ich möchte, dass so etwas niemals wieder in meinem Haus passiert. Hast du mich verstanden? Reiß dich zusammen! Ich ziehe keinen Irren groß!“ Er klingt wirklich wütend. Tief lasse ich Kopf und Schultern hängen, spüre den eigentlichen Schmerz meiner Verletzungen kaum. Ich hatte mich nicht unter Kontrolle, ein Zeichen von Schwäche. Ich habe ihn enttäuscht!

„Es wird nicht wieder vorkommen, Benedict. Das verspreche ich.“

Er nickt nicht einmal zur Antwort, sondern blickt nur stur geradeaus. Ich drehe mich um und gehe die Treppen hinauf. Die Gäste sind bereits gegangen und ich gehe in das Bad, um herauszufinden, ob es auch ohne einen Arzt gehen wird. Nicht ganz sicher beginne ich, mich zu versorgen, und meine Gewebereste unter den Fingernägeln zu entfernen.

Um ihm keine Schande mit meinem Äußeren zu machen, meide ich fast zwei Monate den Kontakt zu ihm. Ich bin ein Schatten meiner selbst; unfähig mich zu konzentrieren, denke ich nur an ihn. Und täglich beginnt der Kampf erneut, dem Drang zu ihm zu gehen zu widerstehen. Erst nach dieser für mich ewigen Zeit, kann ich ihm mein Gesicht ohne Verletzungen präsentieren. Obwohl es sicher mit Hilfe seines Blutes einfacher gewesen wäre, will er doch, dass ich meine Lehren daraus ziehe.



Casino


Nach längerer Suche in der tabuisierten, aber sehr frivolen Umgebung der Fetischisten, Sadisten und sonstigen gemeinhin als Perverse bezeichneten Welt, entdecke ich einen kleinen erlesenen Club, der ausgesprochen reizvoll für mich ist. Nur einmal die Woche öffnet er seine Tore für die elitäre Auswahl an Privatmitgliedern. Und mit dem entsprechend großzügig ausgestellten Scheck erhalte auch ich dort Einlass. Ich nutze ihn, um mich inspirieren und unterhalten zu lassen. Ich habe einen festen Platz, kein Servicepersonal stört mich bei meinem Genuss, denn mit einer regelmäßigen Spende am Eingang sorge ich für meinen absoluten Freiraum, und dazu gehört es, nicht angesprochen zu werden.

Öffentlich werden hier Abstrafungen von Sklaven und Masochisten aufgeführt, ebenso wie die Belohnung dieser. Meine Augen wandern von einer ekstatischen Misshandlung zur nächsten, über sexuelle Kreativausbrüche bis hin zur Inanspruchnahme von Hilfsmaschinen zur Penetration, durch physische Fixierung gefügig gemachter und gleichzeitig williger Opfer. Ich genieße stumm, doch mein Verstand jubelt, jubelt und applaudiert.

Ich sitze nun schon mehrere Wochen hintereinander in meiner mir vertrauten Ecke, als ich sie bemerke. Ohne Begleitung durchstreift sie mein Blickfeld und ich denke erst, dass sie auf mich zugeht, doch sie nimmt an dem Tisch neben mir Platz. Sie würdigt mich nur mit einem kurzen Blick und auch mir reicht ein kleiner Moment, um ihre Erscheinung komplett zu erfassen. Die enge weiße Bluse, der knappe Rock und die braunen Haare, etwas kürzer aber stilsicher präsentierend ist ihr äußeres Erscheinungsbild wohlgefällig für meine Augen. Seit ich mich an Benedicts Blut stärke, ist meine Auffassungsgabe deutlich gesteigert. Und obwohl die Show in der Mitte des Raumes gerade einen Höhepunkt erreicht, ist sie es, die mich bannt. Ich lasse es mir nicht anmerken, doch nehme ich ihre Präsenz mit all meinen Sinnen wahr. Bemerke ihre leichte Erregung, wie sich ihre Wangen rot färben, ihr schmeichelhaftes Parfum, wie es mir verführerisch entgegenweht.

Doch ich bleibe meinen Prinzipien treu, ich spreche sie nicht an. Auch wenn es noch so verlockend ist. Nach bereits zwei Stunden erhebt sie sich wieder und verlässt den Club und obwohl ich merke, dass sie sich noch einmal nach mir umsieht, konzentriere ich mich ganz auf die dargebotenen Szenen der Unterwerfung.


Eine Woche später treibt mich eine gewisse Neugier bereits zur, für mich frühen Öffnungszeit in das ‘Casino’. Ich habe mich ganz den Wachzeiten Benedicts angepasst. Wesen wie er haben nur die Möglichkeit unentdeckt vom Sonnenlicht ihr Leben zu genießen. Und somit schlafe auch ich tagsüber, gehe früh am Abend meinen Geschäften nach und bin dann nachts ganz für Benedict da. Aber auch meine eigene Firma will gepflegt und geführt werden, auch wenn ich für viele Tätigkeiten einen Stellvertreter ernannt habe, doch auch er tut nur das, was ich anordne.

Somit erlebe ich die seltene Situation, dass in dem Club nur wenige Freunde dieser Spielart anwesend sind. Und sie ist nicht unter ihnen. Und während ich meinen Blick durch den fast leeren Raum schweifen lasse, erkenne ich ein Augenpaar, das mich fixiert. Sie gehören einem Mann, der mit dem Rücken zur Theke gewandt an der Bar sitzt und mich beobachtet. Und genauso offensiv blicke ich zurück und lasse ihn genau merken, wie ich ihn innerlich gerade bewerte. Er sieht gepflegt aus, schwarze Hose, weißes Hemd und eine schmale Glattlederkrawatte. Sein dunkles kurzes Haar setzt sich wunderbar von seiner hellen Gesichtshaut ab. Er nimmt einen Schluck aus seinem Glas und prostet mir dann dezent zu. Ich nicke, doch keine weitere Regung spiegelt sich in meinem Gesicht wieder. Schnell wird mir klar, um was es hier geht. Ich lasse meinen Blick über seinen Körper streifen, ähnlich wie er es auch tut. Und während wir uns so begutachten, betreten immer mehr Menschen den Raum, Gelächter und Gespräche dringen an mein Ohr. Anfangs ist die Stimmung meist etwas gewöhnlich, doch das ändert sich zu später Stunde glücklicherweise immer.

Ein Pärchen wagt sich in den mittleren, exponierten Bereich. Er an ihrer Leine wird schnell deutlich, worauf das hinausläuft. Und kaum beginnen die ersten Spiele, erhebt sich mein Beobachter und geht zu den hinteren Séparées, in denen sich für gewöhnlich öffentlichkeitsscheue Genießer einfinden. Ich erhebe mich und gehe ihm zielstrebig hinterher.

Ich finde ihn in einem der Zimmer, mit dem Rücken zu mir gewandt wartet er bereits auf mich. Ich gehe hinein, drücke langsam die Tür zu, lasse sie geräuschvoll ins Schloss fallen und drehe den Schlüssel.

„Was jetzt?”, fragt er, ohne mich anzusehen. Ich gehe einige weitere Schritte auf ihn zu.

„Was denkst du, was wir jetzt tun werden?“ Ich lege meine Hände an seine schmale Hüfte, fühle seine Wärme und den leichten Schauer, der ihn bei dieser Berührung überzieht. Mit etwas Nachdruck führe ich ihn zu dem Bett am Ende des Raumes und es macht auf mich nicht den Eindruck, dass es ihn stören würde. Er spielt, genauso wie ich es tue. Ich lege mich auf das Bett und deute ihm, sich neben mich zu setzen. Mit meinen Fingerspitzen fahre ich seine Wangenknochen entlang und fühle anschließend die Gänsehaut auf seinem zarten Hals. Kräftig ziehe ich ihn an seinem Nacken zu mir und das erste Mal legen sich meine Lippen auf die eines Mannes. Ich rieche sein Aftershave, schmecke seinen Mund und ich fühle förmlich, wie sich das Blut von Benedict in mir in Bewegung setzt. Fühle das Brodeln unter meiner Haut, die aufsteigende Erregung. Ich lasse seinen Nacken wieder los, seine Wangen sind gerötet und mit einem eindringlichen Blick fixiere ich seine Augen. Und nur wie nebenbei bemerkt er, dass ich mit meiner anderen freien Hand bereits meinen Gürtel öffne. Er lächelt mich wissend an und ich muss kurz, bei dem Gedanken an das, was gleich folgt, laut ausatmen.

„Du weißt, wie das geht, gib dir Mühe!“, befehle ich ihm. Fest greife ich mit meiner Hand in sein Haar und drücke ihn herunter. Ich spüre seine warmen Lippen, seinen weichen Mund. Ich schließe die Augen, voller Genugtuung und Erfüllung meiner lüsternen Wünsche. Ich presse ihn fester auf mich, fühle die Enge seiner Kehle, wie er unter meiner Behandlung ächzt und stöhnt. Doch er entzieht sich mir nicht, folgt meinen Vorgaben genau. Ich sage kein Wort, nur seine Laute und mein Stöhnen füllen den Raum. Und ich empfinde es als mein Recht, ihn so zu benutzen, so viele Jahre habe ich auf diese Momente verzichtet. Jetzt bin ich an der Reihe. Ich lasse mir Zeit, Zeit für uns beide, Zeit für mich.

Völlig außer Atem gewähre ich ihm schließlich Freiheit zum Luftholen. Ich betrachte sein Gesicht, diesen zufriedenen Ausdruck und höre deutlich, wie auch er nicht nur atmet, sondern leise stöhnt.

„Zieh dich aus! Ich will dich ... nackt.”

Er steigt vom Bett und beginnt sofort, sein Hemd aufzuknöpfen, doch als er Andeutungen macht, sich seiner Krawatte zu entledigen, herrsche ich ihn an.

„Die nicht! Alles, außer der Krawatte.”

Sofort lässt er die Hand von diesem exklusiven Stück Leder. Sein Hemd fällt zu Boden, seine Schuhe tritt er zur Seite, gefolgt von seinen Socken. Ich sehe, wie sich seine geschmeidige Haut auf den Brustmuskeln bewegt, die sich beim Entkleiden immer wieder hervorheben. Und als er endlich beginnt, die Hose zu öffnen, und sie samt Unterhose herunterzuziehen, berühre ich mich. Ich kann nicht anders. Dieser Anblick ist zu verlockend. Doch es sind nur ein paar Züge, denn er steht vollkommen nackt und schutzlos auf mich wartend neben dem Bett. Das schwarze Textil um seinen Hals und ich weiß bereits genau, was ich damit anstellen werde.

„Geh vor dem Bett auf die Knie!” Ich steige vom Bett herab. Während er meinem Befehl willig folgt, lege ich mein Jackett beiseite und knie mich ebenfalls hinter ihn. Mit einem Ruck drücke ich seinen Oberkörper auf die Liegefläche und er muss sich mir so ergeben. Ich genieße seine innere Anspannung, wie er schweigend mit seinem Körper bettelt endlich mit mir eins sein zu dürfen. Und ich lasse ich nicht lange bitten. Mit einem lauten Stöhnen und Aufbäumen seinerseits dringe ich in ihn. Ich presse ihn wieder auf das Bett, er hat kein Recht, auf meiner Augenhöhe zu sein. Eng schmiegt sich sein Fleisch um mich. Es tut fast etwas weh, doch steigert dies mein Verlangen nur noch weiter. Er soll wissen, was passiert, wenn man mich so offensichtlich im Club mustert und herausfordert.

Immer wieder dränge ich mich in ihn und auch wenn mir klar ist, dass ich mit Sicherheit nicht sein erster Eroberer dieser Art bin, genieße ich doch diese Macht, die ich über ihn habe. Ich beuge mich vor, lege meinen Kopf in seinen Nacken und einfach, weil es auch einem anderen Trieb in mir entspricht, verbeiße ich mich in seiner Haut. Er jammert etwas, doch wohl eher vor Verzückung. Immer weiter, immer weiter treibe ich unsere Leiber. Fühle seinen Schweiß, meine ungezügelte Geilheit. Ich greife nach der Krawatte und führe sie um seinen Hals, so dass der Knoten zu mir gerichtet ist. Ich ziehe die Bindung stramm, mehr als es normal wäre. Er beginnt, zu keuchen, doch es treibt ihn auch dazu, sich mir im Gegenrhythmus entgegenzustellen. Tiefer und heftiger werden somit meine Stöße. Ich umwickle meine Hand mit dem losen Krawattenende. Noch fester, noch weniger Luft. Er beginnt, zu röcheln, und ich treibe ganz auf den Emotionen dahin. Fühle die Wellen der Lust, die immer wieder an meinem Verstand aufschlagen. Ich schließe meine Augenlider und verschwende keinen Gedanken daran, ob es ihm auch gefallen könnte. Und es ist gerade das fremde Blut in mir, das mich empfänglicher, aber auch ausdauernder macht. Und so erliegt mir dieser fremde, aber so hingebungsvolle junge Mann sicher gut eine Stunde. Eine Stunde, in der er mehrmals kommt und ich es ihm auch nicht verbiete. Würge ihn mal mehr und mal weniger, fasziniert von seinem Körperspiel und seiner sensiblen Aufopferung für mich. Fühle immer wieder sein krampfartiges Muskelzucken, doch er fordert mich nicht auf, es zu beenden. Er schuldet mir meine eigene erregte Befreiung.

Und dann entlade ich mich mit einem befreienden Laut in ihm. Fühle mein impulsives Wallen. Nichts hat in diesem Moment mehr Bedeutung als meine rauschdurchflutete, vollkommen von Gedanken und Sorgen entleerte Welt.

Einige Minuten vergehen, in denen ich nur in ihm verweile und selbst wieder langsam zu Atem und Verstand komme. Dann ziehe ich mich zurück und verschwende kein weiteres Wort an ihn. Ich schlage ihm einmal kräftig auf den Hintern, erhebe mich, verschließe meine Hose und greife nach meinem Jackett. Und ohne mich noch einmal umzusehen, verlasse ich das Zimmer. Er wird sicher noch etwas länger brauchen als ich, um wieder normal agieren zu können. Ein leichtes Lächeln umspielt meine Lippen, als ich mich wieder zurück in den Hauptsaal begebe. Es hat sich doch gelohnt, etwas früher hier zu erscheinen.


Und als ob meine Bestimmung es gut mit mir meint, erkenne ich sie. Wie sie anmutig an ihrem Tisch sitzt, ihr samtenes Mieder erzwingt nicht nur ihre aufrechte Haltung, sondern betont auch überdeutlich ihre weiblichen Reize. Eben noch betrachtet sie angeregt das Treiben der anderen Gäste, doch als sie mich erblickt, senkt sie kurz ihre Augen und scheint sich sammeln zu müssen. Ich setze mich an meinen Tisch, als wäre ich vollkommen desinteressiert an ihr. Ich merke ihr kurzes Zögern, ihre vorsichtige Regung in meine Richtung und es hat sicher nicht viel gefehlt und sie hätte mich angesprochen. Ich spüre die Spannung, die zwischen uns in der Luft liegt. Da ich mich gerade eben von meinen reinen sexuellen Trieben befreit habe, kann ich meine Gedanken unbeeinflusst in andere Extreme schweifen lassen. Und während ich mir bereits vorstelle, was ich alles mit ihr anstellen könnte, sehe ich, wie sich meine Eroberung von eben zurückbegibt und fast schon etwas reumütig auf einen Tisch am anderen Ende des Raumes zugeht. Dort sitzt eine kleine Gruppe, die sich angeregt unterhält. Er kniet sich neben eine Frau und lässt sich widerspruchslos von ihr ein Halsband umlegen. Sie tut es eher wie nebenbei, doch ich sehe, wie sie ihm etwas ins Ohr flüstert, er zaghaft nickt und den Kopf entschuldigend sinken lässt. Es erheitert mich, zu sehen, dass er wohl eben etwas ungehorsam ihr gegenüber war, indem er sich mir so zur Verfügung gestellt hat. Seine offensichtliche Herrin blickt kurz zu mir, doch ich lasse ihren leicht wütenden Blick unkommentiert.

Meine Unbekannte neben mir erhebt sich und macht sich, mit leicht enttäuschtem Gesichtsausdruck, auf den Weg zum Ausgang. Ich belasse sie in dem Glauben, dass es heute keinen weiteren Kontakt zwischen uns geben wird. Doch ich betrachte ihren Gang, ihre langen Beine und weiß, dass dem nicht so sein wird. Ich gebe ihr einen Augenblick Vorsprung, doch geistig hefte ich mich bereits an ihre Fersen. Mit ihm habe ich nur gespielt, doch sie wird heute Nacht mein Meisterstück werden.

Und so mache auch ich mich, früher als gewöhnlich, auf den Weg zum Ausgang. Draußen wartet mein Fahrer, pflichtbewusst wie immer, und ich weise ihn an, dem Taxi zu folgen, in das sie gerade gestiegen ist. Nur eine kurze Fahrt später hält das Taxi in einem mittelständischen Vorort von London. Mit etwas Abstand warte ich darauf, dass es keine weiteren Zeugen für meine Jagd auf sie geben wird. Sie steht an ihrer Haustür und ist gerade dabei, ihre Schlüssel in das Schloss zu stecken, als ich mich vorfahren lasse und das Fenster heruntersenke. Ich muss nicht einmal laut reden, die Straße ist menschenleer und kein Verkehrslärm stört mich.

„Steig ein!“

Überrascht dreht sie sich herum, doch ihr Blick verrät schnell, dass sie mich erkennt. Sie umgreift ihre Schlüssel, scheint kurz mit sich zu ringen, und kommt dann auf meinen Wagen zu. Mit etwas neckischem Unterton und an meiner Seitentür lehnend antwortet sie:

„Ich bin nicht so eine, die man einfach mitnehmen kann.”

Ich sehe ihr nur kurz einschüchternd in die Augen und antworte daraufhin kühl:

„Ich bin aber jemand, der dich einfach mitnimmt, also schwing deinen Arsch ins Auto!“ Ich merke, wie mir gewisse ungeahnte Mächte in dem Blut meines Meisters dabei helfen, auf sie einzuwirken. Sie scheint irritiert, stellt sich wieder aufrecht hin und ich sehe, wie sie beginnt, zögerlich um das Auto zu gehen, um schließlich einzusteigen. Ein siegessicheres Lächeln kann ich mir nicht verkneifen.

Sie öffnet die Tür und steigt vorsichtig zu mir auf den Rücksitz der Limousine. Damit ist sie mein. Wie bereits mit meinem Fahrer abgesprochen, fährt er sofort los und bringt uns beide zu meiner Wohnung. Und ich bin froh, dass ich mich nie von meinem eigenen Reich getrennt habe. Meine Planung für heute Nacht geht niemanden weiter etwas an. Nicht einmal Benedict.

Etwas eingeschüchtert sitzt sie neben mir und ich erkenne, wie sie nervös mit ihren Fingern spielt. Um meine Vorfreude und ihre mögliche Angst noch weiter auf die Spitze zu treiben, beginne ich, auf sie einzureden.

„Ich werde dir heute Nacht sehr wehtun und es ist mir egal, ob es dir gefällt oder nicht. Doch ich werde versuchen, dich nicht allzu lange zu quälen.”

Sie schluckt laut und ihre Hände krampfen sich fest in den vorderen Rand des Ledersitzes. Ich kann es mir nicht verkneifen und koste diesen Moment voll aus.

„Es wird mir Freude bereiten, deinen Willen zu brechen. Deiner Gesundheit wegen solltest du aber versuchen, nicht allzu dickköpfig zu sein.“

Und jetzt kann ich mir ihrer Angst vollkommen sicher sein und mit einem Tastendruck auf der Konsole an meiner Seite des Wagens, verschließe ich die hinteren Türen. Ich lasse es nicht zu, dass sie mir entkommt. Das erste Mal, dass ich jemanden derart an mich zwinge und beherrschen werde, ich will auf keinen Fall, dass etwas schiefläuft.

Als wir endlich in der Tiefgarage meines Wohnhauses halten, kralle ich meine Hände fest um ihre Handgelenke. Sie ist sehr erschrocken, habe ich doch die gesamte Fahrt über kein weiteres Wort gesagt oder Hand an sie gelegt. Ich zerre sie aus dem Auto und sie ist nicht wirklich in der Lage, mir ebenbürtige Gegenwehr zu präsentieren. Ich schleife sie schon fast zum Fahrstuhl, der mich direkt in mein Penthouse bringen wird. Doch um nicht unnötig weiter auf diese Szenerie aufmerksam zu machen, packe ich ihre Hände, drehe sie ihr auf den Rücken und stelle mich hinter sie. Mit einer Hand fixiere ich die ihrigen und lege meine andere Hand an ihren Mund. Noch soll die kleine Schlampe nicht schreien. Die Fahrstuhltüren schwingen auf und ich schubse sie hinein. Ich drücke sie fest an die Wandung des Lifts, lege meine Magnetkarte an den Sensor und betätige den Knopf für die Penthouse Wohnung. Eng an sie gedrückt flüstere ich in ihr Ohr.

„Glaube nicht, ich hätte deine Blicke nicht bemerkt, deine Geilheit, wie du dich mir innerlich angeboten hast. Ich nehme mir jetzt nur, was du mir nicht freiwillig geben konntest.”

Sie brüllt etwas zur Antwort in meine Hand, die auf ihren Lippen liegt, doch ihre Worte interessieren mich nicht. Ich fühle die Nässe ihrer Tränen, da sind wir auch schon angekommen. Ich werfe sie in meinen Flur, sie stolpert und kommt auf dem Boden zum Liegen. Laufmaschen haben sich bereits in ihre Strumpfhose gefressen und ihr Make-up ist verlaufen. Ich stehe ruhig da, betrachte sie, genieße ihren Anblick. Wie sie versucht, von mir davon zu krabbeln, sich umsieht und im Grunde erkennt, dass es keine Fluchtmöglichkeit gibt.

„Bitte ... bitte, lassen Sie mich gehen. Ich will das nicht. Nicht so!“ Sie wirkt angenehm verzweifelt, während sie unwissend auch noch auf den Raum zugeht, den ich für uns beide heute Nacht im Sinn habe. An meinem Gesicht erkennt sie, dass mir ihr Flehen wohl noch zusätzliche Freude bereitet. Ich gehe nur langsam hinter ihr her. Lege mein Jackett ab und hänge es ordentlich über die Rückenlehne der Couch im Wohnzimmer. Lockere meine Krawatte und entferne sie, ebenso meine Armbanduhr. Und als ich meine Hemdsärmel hochkrempele, höre ich ihr verzweifeltes Schluchzen. Ich sehe, wie sie ihren ganzen Mut zusammennimmt und an mir vorbei Richtung Fahrstuhl hechtet. Doch als sie begreift, dass die Elektronik nicht für sie arbeiten wird, halte ich meine Magnetkarte hoch. Ich habe den Fahrstuhl verriegelt. Niemand kommt hinein oder heraus. Sie lässt die Arme resigniert sinken, doch ich darf sie nicht unterschätzen. Ich greife wieder nach meiner eben abgelegten Krawatte, nutze den Moment ihrer Schwäche und fessele ihre Handgelenke hinter ihrem Rücken zusammen. Sie wehrt sich nicht einmal wirklich. Und mit einem Griff in den Nacken bewege ich sie Richtung Schlafzimmer. Das Zimmer, in dem mein ‘Spielzeug’ lagert, welches ich für genau solche Zwecke angeschafft habe.

Ich werfe sie bäuchlinks auf das Bett, greife in eine Schublade meines Schrankes und setze mich schließlich, mit der Schere in der Hand, auf sie. Ich trenne die Schnürung ihres Mieders auf, ziehe es unter ihr hervor und lasse so auch Rock und Bluse folgen. Sie trägt wunderschöne Reizwäsche und der Gedanke, dass sie sie vielleicht angezogen hat, weil die Möglichkeit bestand, mich zu erobern, lässt mich schmunzeln. Wie die Dinge sich doch wandeln können. Doch auch die Dessous zerschneide ich, es gibt nichts Schöneres, als einen begehrten Körper komplett frei von schützender Kleidung zur Verfügung zu haben. Ich gönne ihr keinen Knebel, ich will sie hören. Will hören, was sie zu sagen hat, auch wenn es natürlich nichts an meinem Verhalten ändern wird.

Und so beginnt die Nacht ihrer Schmerzen und meiner Lust. Und es ist als Erstes die scharfe Klinge meines geliebten Schnitzmessers, das ihre Haut küsst und liebkost. Und die roten Linien, die sich auf ihr abzeichnen, machen mich nur noch rasender. Immer wieder lecke ich über ihre Haut, will sie kosten, ihr Blut schmecken. Und ich freue mich schon sehnsüchtig auf die Zeit, wenn auch ich in der Lage sein werde, es wirklich zu trinken. Gerne bin ich dafür bereit, und natürlich auch für die anderen Annehmlichkeiten, die es mit sich bringt, auf mein biologisches Leben zu verzichten.

Auf die Schnitte folgen die Schläge. Und da ich mich weder zurückhalten noch kontrollieren muss, wähle ich den Rohrstock. Denn ich bin mir vollkommen bewusst, wie schmerzhaft er sich in das Fleisch graben kann. Zuvor fessele ich sie mit Hand- und Fußschellen und ziehe sie auf den Fußboden herunter. So treibe ich sie mit dem Stock durch mein Schlafzimmer, dirigiere und strafe sie noch fester, sobald sie nicht sofort meinen Anweisungen folgt. Immer wieder hole ich mit meiner flachen Hand oder auch meinen Fäusten aus. Ich sehe ihre Schwäche, ihre Wunden und Schwellungen, doch ich gönne ihr keine Ruhe, bis ich entscheide, dass es genug ist. Ich suhle mich in dem Gefühl, etwas so Prächtiges wie sie langsam zu verunstalten und somit ihre Schönheit ganz für mich zu besitzen.

Ja, für mich allein.


Ich lege ihren ohnmächtigen Leib im Morgengrauen vor ihrer Haustür ab. Die zerschnittene Kleidung bedeckt sie nur schlecht. Sie atmet sehr flach. Ich gebe ihr einen leichten Kuss auf die Stirn und verabschiede mich so von ihr. Ich denke, dass sie meine Behandlung überstehen wird. Vielleicht.



Erkenne die Möglichkeiten


Natürlich ist mir bewusst, dass ich von jetzt an das ‘Casino’ meiden muss. Es ist zwar etwas bedauerlich, aber ich werde eine ganze Weile von den Erinnerungen an meine schöne Fremde zehren können. Mein Fahrer wird mir gegebenenfalls ein Alibi ermöglichen und da ich keine Körperflüssigkeiten an ihr hinterlassen habe, fühle ich mich eigentlich sicher. Meine gesellschaftliche Stellung ist derart exponiert und meine finanziellen Mittel einigen kleineren Banken und produzierenden Firmen in der Stadt gegenüber so bedeutend, dass sie auf mich nicht einfach verzichten können. Wenn ich den Geldfluss versiegen lasse, falle nicht nur ich. Und das ist meine Stärke, meine ‘Du-kommst-aus-dem-Gefängnis-frei‘-Karte. Doch ich denke nicht einmal, dass ich diese Register ziehen muss. Und hin und wieder erwische ich meine sachlichen Gedanken dabei, wie sie sich vorstellen, dass es besser wäre, wenn sie einfach tot ist.


„Mr Safford wünscht, Sie um ein Uhr in seinem Büro zu sprechen, Mr Lancaster. Kann ich Mr Safford eine Bestätigung von Ihrer Seite übermitteln?”

Ich stehe gerade vor meinem Firmengebäude und habe den Anruf dieser mir unbekannten Nummer entgegengenommen. Und es trifft mich wie ein Schlag, dass es die Sekretärin von Mr Safford ist. Und er wünscht, mich auch noch zu sprechen. Kurz muss ich mich räuspern.

„Selbstverständlich können Sie Ihm mitteilen, dass ich pünktlich erscheinen werde.”

„Dann noch einen angenehmen Abend, Mr Lancaster.“

„Danke, Ihnen ebenso.“ Ich lasse das Telefon langsam sinken. Er wählt nicht den Weg über Benedict, sondern kontaktiert mich direkt. Erste Zweifel und Sorgen breiten sich in mir aus. Habe ich etwas falsch gemacht? Ein Uhr, noch zwei Stunden also, in denen ich mich auf dieses Gespräch vorbereiten kann. Wenn ich doch nur wüsste, um was es geht, dann könnte ich mir Gedanken über meine Antworten machen. Ich hasse es, unvorbereitet jemandem entgegenzutreten, doch natürlich habe ich keinerlei Anspruch auf Erläuterungen von Seiten Mr Safford. Meine Planung für den Abend ist somit dahin, ich kehre wieder um und lasse mich von meinem Fahrer zurück zu Benedict fahren. Da ich mir aber schon denken kann, dass dieser Termin wohl eher unerwähnt bleiben sollte, berichte ich ihm nicht von dieser Einladung. Ich suche sämtliche Unterlagen zusammen, die meine Arbeit für den Clan der Ventrue betreffen. Ziehe meinen besten Geschäftsanzug an, natürlich erst, nachdem ich noch einmal vorsichtshalber dusche. Ich habe zwar bereits vor einigen Stunden diese nötigen Verpflichtungen hinter mich gebracht, doch es ist besser, noch einmal sämtliche Schritte zu wiederholen. Es ist mein erstes Treffen allein mit diesem mächtigen Ahn ... und ich bin nur ein Mensch.


Mr Safford arbeitet in einem eher unauffälligen Gebäude in der Stadt, im Gegensatz zu Benedict und seinem gläsernen Rechtsprechungstempel. Doch auch hier deutet kein Name am Gebäude oder eine Hinweistafel auf das innenliegende Imperium hin. Ich beginne, mir zu überlegen, ob ich meine große Leuchtschrift mit meinem Firmennamen und Logo vielleicht auch lieber entfernen lassen sollte.

Eine Empfangsdame führt mich, nachdem ich mich vorgestellt habe, zu Mr Saffords Büro. Und es ist nicht nur eine bewaffnete Wache, der ich auf den Fluren begegne. Etwas eingeschüchtert von den fixierenden Augen dieser Maschinengewehrträger, folge ich der Dame bis zum Ende eines großen Flures. Alles wirkt hier sehr steril und kalt, keine unnötige Kunst an den Wänden, keine Farben. Ich richte mich noch einmal auf und gehe dann mit erhobenem Haupt und festem Schritt in das Büro hinein.

Er sitzt an seinem großen gläsernen Schreibtisch, auch hier wird der Gesamteindruck kaum von Farben beeinflusst, fast erinnert es mich an ein klinisches Umfeld. Es ist natürlich alles da, was man als Geschäftsmann braucht, doch eben sehr untergeordnet in der Betonung. Ich gehe direkt auf ihn zu, verbeuge mich und sage:

„Guten Abend, Mr Safford, Sie haben nach mir verlangt.“

Er legt den Kugelschreiber zur Seite, blickt noch einmal kontrollierend auf seine Notiz und erbarmt sich dann schließlich, mich wahrzunehmen. Ich verbleibe in der gebeugten Haltung, bis er mir endlich antwortet.

„Ja ... Mr Lancaster, gut, dass Sie so pünktlich sind. Setzen Sie sich doch.” Er deutet auf die chromatierten Weißlederstühle vor seinem Tisch. Ich setze mich, knöpfe mein Jackett auf und stelle den Aktenkoffer neben mir ab. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass er gar nicht über geschäftliche Dinge sprechen möchte. Ich sehe ihn aufrichtig an und er lächelt etwas amüsiert über meine angespannte Haltung. Er faltet seine Hände auf dem Tisch, ein Gebaren, dass wohl alle führenden Positionen aus dem Effeff beherrschen.

„Mr Lancaster ... Melville, ich habe letzte Woche einen etwas beunruhigenden Anruf dich betreffend erhalten. Kannst du dir vorstellen, worum es ging?“ Er fixiert mich mit seinen Augen, sie wirken kalt und berechnend.

„Nicht wirklich, Sir, habe ich eventuell geschäftlich etwas falsch gemacht? Jemanden verärgert?“

„Ich sage es mal so, nach dem Anruf musste ich in ein Krankenhaus fahren und einer Frau das Gedächtnis löschen, damit sie sich nicht mehr an dein Gesicht erinnert.” Er redet vollkommen emotionslos, obwohl das Thema gerade Dimensionen annimmt, die mich zutiefst erröten lassen. Ich merke, wie er in meinen Regungen und meinem Verhalten liest wie in einem Buch. Ich brauche einige Sekunden, um mich zu sammeln, und meine Antwort zu überdenken.

„Ich wollte Ihnen wirklich keine Umstände bereiten, Sir ...“, doch bevor ich weiter ausführen kann, unterbricht er mich.

„Und einige Videobänder deines Parkhauses musste ich entfernen lassen. Du hast dich wirklich etwas stümperhaft benommen, Melville.” Er erhebt sich, ich balle vor Angst meine Fäuste. Habe ich somit alles verspielt, meine Zukunft in dieser Gesellschaft mit eigenen Händen vernichtet?

Er beginnt, in seinem großen Büro auf und ab zu gehen. Ich bin gezwungen, mich auf dem Stuhl zu ihm zu drehen, um ihm weiter aufmerksam folgen zu können.

„Die Frau sah nicht gut aus, Melville. Mich interessiert nur eine Sache. Hattest du eine persönliche Fehde, einen ausufernden Streit mit ihr oder hattest du einfach nur Spaß daran, sie so zuzurichten?”

Leider ist es mir nicht möglich, aus seiner Betonung dieser Frage herauszuhören, welche der beiden Antworten ihm lieber wäre. Und an meinem Zögern erkennt er, dass ich wohl genau diesen Umstand abwäge.

„Ich würde dir raten, in diesem Thema und vor allem mir gegenüber nicht zu lügen, Melville. Es wäre nicht sonderlich dienlich und glaube mir, ich wäre auch nicht erfreut, wenn du es wagen solltest.”

Ich kaue kurz auf meiner Oberlippe und begreife, dass ich wohl keine andere Möglichkeit als die Wahrheit selbst habe.

„Ich hatte Spaß daran”, sage ich knapp und er bleibt stehen.

„Das dachte ich mir, Melville.“

Noch nie habe ich jemandem meine Neigung so direkt gestanden und erst als ich es auch laut ausspreche, wird mir bewusst, wie gesellschaftlich falsch meine Ausrichtung eigentlich ist.

Mr Safford legt seine Hände auf den Rücken und spricht ganz sachlich.

„Es ist dir hoffentlich klar, dass du so nicht weitermachen kannst. Hat dich Benedict bereits unsere Regeln und Traditionen gelehrt?“

„Nicht explizit, Sir.“

„Nun, dann lass dir gesagt sein, dass es nicht in unserem Interesse liegt, die Aufmerksamkeit der Menschen auf uns zu lenken. Wir agieren unauffällig und stets bedacht, unsere uns umgebende Beute von unserer Existenz in Unkenntnis zu lassen.“

„Ich verstehe, Sir. Ich werde sämtliche Tätigkeiten natürlich sofort einstellen.”

„Nicht so schnell, Melville, ich sage ja nicht, dass deine Neigung nicht durchaus auch Vorteile für uns haben könnte.“

Ich sehe ihn fragend an. Vorteile?

„Es gibt immer wieder Umstände, die es erforderlich machen, dass, sagen wir mal, andersdenkende Individuen Informationen preisgeben müssen, obwohl sie es eigentlich nicht wollen.”

Ich begreife langsam, in welche Richtung dieses Gespräch gehen könnte.

„Individuen, die es nicht wert sind, die eigenen Mächte an ihnen zu vergeuden, bei denen etwas Nachdruck aber dennoch zu hilfreichen Erkenntnissen führen könnte.”

Ich nicke nur zustimmend.

„Ich will ganz offen sein, Melville. Deine Zeugung ist bereits terminlich festgelegt und sicher wird auch Benedict dir bald mitteilen, wann es soweit ist. Und ich bin nicht gewillt, aufgrund einer kleinen Extravaganz von dir, diesen Schritt rückgängig zu machen. Mal abgesehen davon, dass es Fragen aufwerfen würde, warum du plötzlich nicht mehr geeignet sein solltest. Doch meine Hilfe, die ich letzte Woche geboten habe, erfordert eine Gegenleistung von deiner Seite. Das verstehst du doch sicherlich.”

Die Nachricht über meinen baldigen Wechsel überrascht mich und meine Freude darüber ist mit nichts vergleichbar.

„Ich werde mein Bestes tun, um diese Hilfe zu erwidern, Sir.“

Er lächelt kurz kühl und fährt dann fort.

„Das freut mich. Natürlich werden deine zukünftigen Befragungen dann nicht in einem privaten Umfeld stattfinden, die dich oder andere, dir Vertraute verraten könnten. Doch diese Details besprechen wir, wenn du erst einmal ein Küken geworden bist.”

Küken, Benedict wäre dann immer noch mein Vormund, doch es ist die erste Stufe auf der Leiter nach oben. Der erste Schritt, um ein vollwertiges Mitglied der Ventrue zu werden.

„Ich danke Ihnen vielmals, dass Sie mir diese Chance gestatten, Mr Safford. Ich werde Sie nicht enttäuschen.“

„Es ist wohl auch in deinem Interesse, wenn du diese kleine Abmachung zwischen uns, auch Benedict gegenüber, unerwähnt lässt. Ich fürchte, er sieht die Situation etwas anders als ich und hätte kein Verständnis für die Nutzbarmachung deiner Verspieltheit. Natürlich musst du im Clan nicht vollkommen mit deinen Taten unentdeckt bleiben, doch ich habe nicht vor, es groß zu verkünden. Erfreuen wir uns lieber an den Informationen, die somit bald möglich werden, ohne höhere Ränge unsererseits zu bemühen.“

Ich erhebe mich von dem Stuhl und verneige meinen Oberkörper tief.

„Ich werde verschwiegen sein und hoffe auch, dass ich in der Lage sein werde, unsere Gegenspieler zum Reden zu bringen. Um unsere Vormachtstellung in London zu erhalten und im besten Fall auch weiter auszubauen.“

Er geht auf mich zu, reicht mir seine Hand und verabschiedet mich.

„Dann sei willkommen und auf eine baldige zufriedenstellende Zusammenarbeit. Ich melde mich dann bei dir, wenn es Zeit ist, deine besondere Aufgabe zu erfüllen. Auf dann, Melville.“

„Auf Wiedersehen, Mr Safford.”

Leichten Schrittes und voller Zuversicht verlasse ich sein Büro und ich freue mich auf die Zeit, die vor mir liegt und empfinde große Dankbarkeit, dass Mr Safford sich so meiner Angelegenheit angenommen hat. Er hätte es nicht tun müssen, er trägt keinerlei Verantwortung mir gegenüber. Selbst wenn es innerhalb des Clans auch eine Frage der Ehre ist, das baldige Kind seines Kindes zu unterstützen. Doch eigentlich hätte er mich auflaufen und abstrafen lassen können. Ich bin mir sicher, dass eine derartige Öffentlichkeitsgefährdung, die meine dumme Tat ja bedeutet, auch meinen Tod zur Folge hätte haben können.



Hingabe und Vertrauen


Mit meinem Kopf liege ich auf Benedicts Schoß, die Augen geschlossen, genieße ich diese Ruhe. Er liest in einem Buch, während er immer wieder meinen Kopf sanft berührt und durch mein Haar fährt. Es erinnert zwar auch ein wenig an einen Besitzer, der seinen Hund streichelt, aber es stört mich nicht. Es kam zu dieser Stellung, als ich wieder einmal von ihm trank und er mich aufmerksam dabei beobachtete. Eine gewisse Schwäche überkam mich, es wurde schwarz um mich herum und ich verlor das Bewusstsein. Und als ich kurz darauf wieder zu mir kam, lag ich bereits in seinem Schoß und er las konzentriert sein Buch.

Ich traue mich nicht, mich zu bewegen, doch anscheinend ist es meine Atmung, die mich verrät. Er sieht kurz zu mir herunter und lässt das Buch sinken.

„Schön, du bist wieder wach.” Doch er ändert nichts an unserer Haltung und ich bin der Letzte, der sich seiner Nähe entziehen würde.

„Es tut mir leid, dass ich das Bewusstsein verloren habe. Ich will dir keine Umstände machen.“

„Du machst mir keine Umstände, Melville, ruhe dich weiter aus, du bist noch sehr blass.“

Ganz seinen Worten folgend schließe ich meine Augen wieder und höre, wie auch er erneut sein Buch anhebt und eine Seite weiterblättert. Und nur wenige Augenblicke später spüre ich wieder seine gedankenverloren streichelnde Hand auf meinem Haupt. Ich fühle mich so sicher und geborgen, dass es mir fast etwas wehtut, denn irgendwann werde ich mich wohl wieder erheben müssen. Die Zeit vergeht, ungestört von lästigen Telefonaten oder dienenden Ghulen, die seine Aufmerksamkeit fordern. Und so kommt es, dass ich etwas schläfrig werde und nicht mitbekomme, wie er, nach sicher einer halben Stunde, das Buch ganz beiseitelegt und mich betrachtet.

„Glaubst du an das Schicksal, Melville? Glaubst du an eine höhere Macht, die dich leitet?“

Ich blinzele ihm entgegen und versuche schleunigst, meine Müdigkeit abzulegen, um ihm antworten zu können. Immer noch streichelt er mich ganz vertraut.

„Du leitest mich, Benedict.“

Er lacht leise auf.

„Das meine ich nicht, Melville.“

Ich mag es, wie er meinen Namen immer wieder betont, es schmeichelt mir, ihn mit seiner Stimme hören zu dürfen.

„Ich weiß …“ und kurz atme ich tief ein und aus.

„Ich glaube nicht an das Schicksal, ich glaube an die Bestimmung. Jeder hat seiner Bestimmung zu folgen.“

„Ist das denn nicht eine andere Art von Schicksal, Melville?“

„Hinter Bestimmung steht ein Sinn, auch wenn man ihn selbst vielleicht nicht erkennt, er ist da. Das Schicksal ist launisch und sprunghaft. Ich halte mich lieber an die Bestimmung.“

„Ich verstehe, was du damit sagen willst. Interessante Ansicht.”

Die Kälte, die sein Körper ausstrahlt, stört mich schon lange nicht mehr. Ich habe mich daran gewöhnt, dass er nun einmal anders ist. Seit zwei Wochen weiß ich auch offiziell von ihm, dass meine Verwandlung feststeht und er hat mir freudig gratuliert, dass meine Ghulphase so kurz ausfällt. Es waren nur fünf Jahre nötig, um mich zu etablieren und meine Statusanhebung zu bewilligen. Ein Zeichen seiner guten Wahl und meiner Qualität. Und ich fühlte mich so von seinen Worten geschmeichelt, dass ich es nur als richtig empfand, dass er zur Feier des Moments von mir trank und ich anschließend von ihm.


„Benedict?” Nach einem Moment des vertrauten Schweigens, kann ich diese Frage in mir nicht mehr zurückhalten.

„Was gibt es denn, Melville?”

„Du weißt sicher, dass ich alles für dich tun würde, nicht wahr?“

„Ja, das weiß ich. Mein Blut zwingt dich dazu, mich zu verehren. Wir haben ein sehr starkes Band aufgebaut. Und das ist gut so.“

„Ich denke, es sind mehr als die Blutsbande, die ich mit dir teile. Ich fühle schon immer eine tiefe Vertrautheit zu dir, bereits als ich dich das erste Mal sah.” Ich sehe zu ihm hoch, seine linke Hand ruht auf meiner Brust, seine rechte Hand dicht an meinem Kopf, krault er nur noch ganz leicht mit seinen Fingerspitzen durch mein Haar.

„Das ist schön, Melville, Vertrauen ist für unsere Bindung zueinander immer die beste Grundlage. Aber was möchtest du mir denn genau mitteilen?“

„Nun ja, ich ...“ Ich schaffe es nicht, meine Gefühle direkt zu formulieren und er bemerkt meine Unsicherheit, besonders, da ich ja sonst so redegewandt bin. Also versuche ich, es mehr anzudeuten, damit ich ihn am Ende nicht verärgere.

„Wenn du es also wünschst, wäre ich bereit, mehr zu tun. Ich wäre dir ergeben.“

„Ich kann mir schon vorstellen, was du meinst, aber es freut mich zu hören, wie du versuchst, es zu erklären.“ Und sein verschmitztes Lächeln lässt mich etwas mehr Mut fassen und ich gebe mir einen Ruck.

„Ich spüre diese Zuneigung zu dir ... auch körperlich. Ich kann es nicht richtig einordnen oder verstehen, aber ich muss es wissen. Hast du vor, mich einmal zu küssen oder sogar mit mir … mit mir zu schlafen?" Es ist mir dennoch dermaßen peinlich, dass ich ihn nicht mehr ansehen kann und diese zutrauliche Haltung, die wir beide haben, macht es nicht gerade besser. Doch er scheint nicht vorzuhaben, mich aus dieser Position zu entlassen.

„Möchtest du wissen, ob ich es vorhabe, oder bittest du mich eigentlich darum, Sex mit dir zu haben?“

Das war eine trickreiche Frage. Einerseits empfinde ich unsere Verbindung als heilig und in meinen Augen würde Sex vielleicht etwas von diesem Zauber zerstören. Andererseits will ich ihm nah sein, so nahe ich kann. Solange ich es auch als Mensch erleben kann. Ich will seine Hände auf mir spüren, nicht nur an meinem Kopf, will mehr als nur sein Blut. Ich will ihn. Doch es ist auch ungewöhnlich für mich. Ich bin in Verbindung mit einem Partner nie die schwache Partei. Egal, ob Mann oder Frau, ich entscheide aktiv immer, was passiert. Und bei ihm müsste ich mich vollkommen fallenlassen.

Anscheinend dauert ihm meine Antwort zu lange, was mich natürlich auch verrät.

Er zieht mich hoch, ich setze mich neben ihn auf die Couch.

„Melville, ich kann dir vertrauen und dir sagen, wie es ist. Ich empfinde nicht auf eine körperliche Art und Weise. Mit dem Blutdurst fiel bei mir das Verlangen nach Sex und Partnerschaft aus. Auch wenn ich dich sehr gerne bei mir habe. Für mich allein müsstest du dich also nicht hingeben. Solltest du aber dieses dringende Bedürfnis spüren, so kann ich es ermöglichen. Es wäre also ein Geschenk an dich. Überlege es dir gut, Sex mit einem Kainskind kann für einen Menschen sehr anstrengend sein, auch wenn du ein Ghul bist.“ Er sieht mich lächelnd an, doch ich verzweifele fast. Ich bin mir über meine eigenen Gefühle so unsicher, dass ich nur zur Bestätigung nicke. Dann klopft er mir seicht auf das rechte Knie.

„Überlege es dir und bis du eine Antwort hast, lass uns beide weiter um die Vorbereitungen für deinen Wechsel kümmern. Es gibt noch einiges, das du vorher erledigen musst. Wenn du erst einmal nicht mehr in der Lage bist, tagsüber wach zu sein, wird es schwer mit bestimmten Ämtergängen.” Er erhebt sich und ich folge ihm. Meine Gedanken rasen, doch zu einem Ergebnis komme ich sicherlich nicht so schnell.


Der Tod ist nur der erste Schritt


Auch wenn es kitschig ist, bevorzuge ich den Hals. Dich durch dein Handgelenk leerzusaugen dauert ewig und quält dich nur länger. Sonst gibt es da noch die Aorta, die auf der Innenseite deiner Oberschenkel entlangläuft, aber ich glaube, diese Stelle ist mir zu heikel. Wenn du nichts dagegen hast, beiße ich dir einfach in den Hals. Oder hast du etwas dagegen?“


Während ich mich auf die Liege lege, muss ich lächelnd an diesen Kommentar von Benedict denken. Gestern, kurz bevor er sich zur Ruhe legte, hat er ganz nebenbei darüber gesprochen. Und ich habe nichts gegen den Hals gehabt.

Es ist Sonntag, der dreizehnte November 2005. Ein kleiner abgedunkelter Raum im Clanshaus der Ventrue soll der Ort meines Todes und meiner Wiedergeburt sein. Er hatte mich zuvor erst einige Male mit hierhergebracht, das wird sich aber sicher nach diesem Ereignis ändern. Ich trage einen maßgeschneiderten neuen Smoking, denn es soll sowohl meine Beerdigung als auch mein zweiter Geburtstag werden. Ein triftiger Grund, es besonders zu zelebrieren. Mein letzter Haarschnitt, mein letzter, körperlich veränderbarer Zustand. Auch Benedict hat sich in seinen besten Smoking gekleidet und würdigt somit diesen Vorgang. Ich bin sein zweites Kind, also ist es auch für ihn alles andere als ein gewöhnliches Ereignis. Er steht noch etwas abseits neben mir und betrachtet aufmerksam die vier Personen, die leise in den Raum treten. Die offiziellen Zeugen meiner Verwandlung. Drei Männer und eine Frau setzen sich auf die bereitgestellten großen Stühle, keiner von ihnen spricht ein Wort. Und ich meine, nur einen der Männer bereits einmal auf einer von Benedicts Veranstaltungen gesehen zu haben. Ich bin extrem nervös, ich fühle, wie mein Puls rast und ich leicht nasse Hände bekomme. Falls etwas schiefgehen sollte, würde ich einfach nur in dieser Nacht sterben. Sterben und vergessen werden. Ob sterben an sich schmerzhaft ist? Ob ich einen kurzen Einblick auf das, was eventuell nach dem Tod folgt erfahren kann?

Ich drehe den Kopf wieder weg von den Zeugen und merke, wie Benedict auf mich zugeht. Ich habe mich, trotz seines Angebotes vor über einem Monat, nicht körperlich mit ihm vereint. Ich bewahre mir lieber diese väterliche und gleichzeitig partnerschaftliche Liebe zu ihm, als sie möglicherweise mit einem groben Akt zu mindern. Doch meine Verehrung für ihn bleibt und als er meinen hilfesuchenden Blick erkennt, ergreift er meine Hand.

„Vergiss die anderen einfach, sie sind gar nicht hier. Lass dich nicht unnötig von ihnen nervös machen. Sie sichern nur, dass alles nach festen Regeln abläuft …”

„Gebrochene Regeln und geltende Ausnahmen.“

Er sieht mich leicht irritiert an. Ich erkenne deutlich, wie seine Mundwinkel flüchtig zucken und höre, wie er meinen Duft durch seine Nase einsaugt. Doch ansonsten wirkt er vollkommen beherrscht. Ich weiß, dass er seit mehreren Nächten auf Blut verzichtet, um sich mir heute Nacht ganz widmen zu können. Sicher kostet es ihn Kraft, sich noch so mit mir zu unterhalten.

„Was?”, fragt er nur.

„Das hast du gesagt, als du mich das erste Mal in dein Büro in die Kanzlei bestellt hattest. Dass du mich in eine Welt holst mit gebrochenen Regeln und geltenden Ausnahmen.“

Er lächelt kurz, überlegt und antwortet mit weicher Stimme.

„Ja, das klingt nach mir. Aber jetzt versuche, dich etwas zu beruhigen, Melville, dein Puls ist sehr schnell.“

Ich blicke noch einmal kurz zur Seite und erkenne auch die leichte Blutgier in den Augen der Frau, die in einiger Entfernung sitzt.

Oh Gott, gleich sterbe ich!

Da spüre ich, wie Benedict meinen Kopf wieder zu sich dreht und, wohl um mich abzulenken, seine Lippen plötzlich vollkommen unerwartet auf die meinen presst. Ich schließe die Augen und wirklich vergesse ich alle Anwesenden, konzentriere mich nur auf ihn, seine Zuneigung, seine Liebe. Ich spüre, wie er eine Hand unter meinen Nacken schiebt und mich in einer leicht seitlichen Haltung fixiert. Seine Lippen lösen sich zaghaft und ich sehe, wie nach und nach seine Eckzähne emporbrechen. Ich fühle, wie mich seine Anwesenheit beginnt einzulullen, und wie aus Benedict langsam der blutsaugende Vampir wird. Ich höre ihn laut aushauchen, als er beginnt, an meiner Wange entlang, immer dicht an meiner Haut, nach unten zu wandern. Ich halte ihn fest umarmt und lasse es zu. Ich fühle seine Gier, sein Verlangen und dennoch beißt er nicht direkt zu. Ich bin mir nicht sicher, ob er mir Zeit geben möchte, mich darauf einzustellen oder ob er nur seine eigene Vorfreude noch etwas hinauszögert.

Dann fühle ich, wie seine scharfen Zähne meine Haut durchbohren, anfänglich immer ein kaum erträglicher Schmerz, der aber stets schnell von dem Sog und dem lieblichen Gefühl des Trinkens überrannt wird. Doch diesmal wird Benedict nicht Halt machen. Ich fühle, wie er kräftiger als gewöhnlich meinen Lebenssaft aus meinen Adern herauszieht und schnell setzt das Schwindelgefühl ein. Ich höre, wie er stöhnt und fast schon tierhaft seiner Aufgabe nachkommt, während ich merke, wie meine Fingerspitzen taub werden, meine Beine kalt und ich meine Augen vor Erschöpfung schließen muss. Ich lasse meine Arme langsam sinken und es fühlt sich an wie eine beginnende Schläfrigkeit. Meine Gliedmaßen kribbeln bereits und ohne es überhaupt verhindern zu können, spüre ich, wie sich Benedict tiefer mit seinen Reißzähnen in mein Fleisch gräbt. Er will alles. Und ich fühle, wie mein Herz kläglich versucht, dagegen anzupumpen, doch es findet sich kaum noch etwas in mir, das sich pumpen lässt. Mein letzter Atemzug und dann bin ich fort.

Absolute Leere, kein Gefühl, keine Notwendigkeit zu fühlen. Es ist kalt und gleichzeitig auch wieder nicht. Es ist einsam und dennoch fühle ich mich nicht allein. Ewige Stille.

Ich bin tot.


Mit einem Schrei reiße ich mich von der Liege hoch. Dieser Schmerz, dieser alles mit sich reißende Schmerz! Meine Augen brennen, meine Haut fühlt sich an, als ob sie an allen möglichen Stellen bricht. Meine Lungen, kalt wie Eis, scheinen unter meinen schnellen, panischen Atemzügen zu bersten. Dann folgen die Krämpfe und ich merke nur ganz weit entfernt, wie ich festgehalten werde. Ich rolle mich zur Seite, Galle fließt mir aus dem Mund, würgend und verzweifelt erliege ich dieser unsäglichen Pein. Ich bin nicht ich selbst, bin nur ein reflexgesteuerter Leib, der auf diese Schmerzen reagiert und versucht, nicht daran zu zerbrechen. Funken sprühen vor meinem inneren Auge, es rauscht und lärmt in meinen Ohren und mich beschleicht die Panik, dass sich dieser Zustand womöglich nie ändern wird. Und für einen kurzen Augenblick wünsche ich mich in die Arme des Todes zurück.

Dann öffne ich die Augen. Der Raum ist wahnsinnig grell, aber ich erinnere mich, dass er eigentlich abgedunkelt ist. Und ich bin sehr dankbar dafür. Ich ertrage die kleinen Lichter kaum. Ich sehe Benedict, doch wild wandert mein Blick weiter durch den Raum. Einige der Zeugen sehen etwas besorgt aus. Benedict hält mich fest im Griff, er hat wohl verhindert, dass ich bei den mich schüttelnden Krämpfen von der Liege falle. Ich fühle, wie der folternde Schmerz in mir langsam abebbt und ich allmählich zurückfinde. Zurück in meinen Körper. Mein Atem wird immer langsamer, immer flacher und ich verstehe bald, dass es nur ein alter antrainierter Reflex ist, der mich dazu treibt es überhaupt zu tun. Ich entlasse sämtliche Luft aus meinen Lungen und genieße fasziniert das Gefühl, nicht dem Zwang zu erliegen, sie wieder füllen zu müssen. Benedicts Griff lockert sich langsam und er erhebt sich. Ich drehe mich herum, erkenne die kleine, auch mit Blut durchtränkte Pfütze neben der Liege und denke noch, dass selbst zweitägiger Essensverzicht nicht verhindern konnte, dass ich mich erbreche. Aber je länger ich mich konzentriere und in mich horche, desto mehr spüre ich, wie gut ich mich eigentlich fühle. Meine Muskeln gestärkt und meine Gelenke willig, springe ich schon fast von der Liege. Ich fühle mich so vital wie nie, direkt nach meinem Tod.

Und dann bemerke ich es. Den aufkeimenden Durst, wie stark und unnachgiebig er ist. Meine Nüstern blähen sich, als sie den Duft von Blut wahrnehmen. Benedict öffnet ein metallenes Gefäß, legt den Deckel beiseite und hält mir die Karaffe hin. Und ohne groß zu zögern, stürze ich den Inhalt in mich. Dickflüssig und warm gleitet das Menschenblut, mein Ambrosia, durch meine Kehle.

Herrlich!

Doch es ist wie ein Tropfen auf den heißen Stein. Und als ich bereits das nächste Gefäß in seinen Händen erblicke, lasse ich die erste Karaffe einfach fallen und greife nach der neuen. Und nur mit der steigenden Menge in mir beginne ich, meine Umwelt rationaler wahrzunehmen. Sehe immer mehr Details um mich herum und vergesse langsam den rasenden Hunger, den ich eben noch empfand. Benedict macht einen zufriedenen Gesichtsausdruck, als er mir das letzte Behältnis abnimmt und fragt:

„Wie fühlst du dich, Melville?“

Ich brauche etwas Zeit, um Luft zu holen und meine Stimmbänder in Schwingung zu versetzen und mit leicht rauer Stimme antworte ich:

„Ich war noch nie so lebendig wie jetzt.”


Meine neue Welt


„Das ist das Elysium, Melville, die Machtzentrale der Domäne London.“ Mit einer ausladenden Geste deutet Benedict in den Empfangsbereich, den ich nun das erste Mal betrete. Und ich bin wirklich beeindruckt. Hochglanzpolierte Marmorböden, hohe stuckverzierte Decken und Luxusornamente soweit das Auge reicht. Ja, es ist wirklich ein würdiges Hauptquartier. Einige Wesen der Nacht halten sich in dieser ehrwürdigen Halle auf und ein paar von ihnen betrachten mich und Benedict aufmerksam. Er schreitet voran und ich gehe ihm hinterher.

„Hier laufen alle Fäden zusammen und sämtliche wichtigen Entscheidungen werden hier getroffen. Primogensitzungen, offizielle Termine mit der Prinzregentin, diplomatische Treffen und größere Veranstaltungen der Domäne sind hier beheimatet.”

Ich erkenne, wie einige der Anwesenden beim Vorbeigehen Benedict höflich grüßen oder sich einfach nur kurz stumm verbeugen. Ein Mann geht auf Benedict zu und reicht ihm die Hand.

„Mr Cansworth, die Prinzregentin erwartet Sie und Ihr Küken bereits.”

„Danke, Mr Matherson, wir werden uns sofort zu Ihr begeben.”

Ich werde mich heute Ms Youngfield präsentieren, unserer geschätzten Prinzregentin, die Herrscherin über London.

Wir gehen Richtung Fahrstuhl und Benedict erläutert weiter die Umstände meiner neuen Welt.

„Das eben war Mr Matherson, der Senegal des Elysiums. Er kümmert sich um sämtliche Verwaltungsaufgaben innerhalb der Domäne. Wenn du also einmal einen Termin oder Dokumente benötigst, ist er der richtige Ansprechpartner.“

Ich höre ihm aufmerksam zu. Jetzt, als Untoter, erhalte ich sämtliche Informationen, die ich zum Agieren und erfolgreichen Manövrieren innerhalb unserer Gesellschaft brauche. Wir treten in den Fahrstuhl und er vergewissert sich noch einmal, dass ich mir gegenüber Ms Youngfield auch wirklich bewusst bin, wie ich mich zu verhalten habe. Er ist mit meinen Ausführungen zufrieden und wünscht, dass ich mich auch wirklich an sie halte. Natürlich werde ich das.

Wir treten aus dem Lift und werden bereits von einem kräftig aussehenden Mann erwartet. Es folgt eine kurze höfliche Begrüßung Benedicts, ein abschätzender Blick in meine Richtung und dann führt uns der Mann durch den langen Flur, direkt auf die große Doppelflügeltür zu. Sicher ist dies der Sheriff, der Oberbefehlshaber der domäneninternen Sicherheitstruppe. Leider will mir sein Name gerade nicht mehr einfallen, ich weiß nur noch, dass seine direkten Untergebenen als ‘Hounds’ bezeichnet werden. Doch meine Gedanken sind eher meinem folgenden Auftritt gewidmet. Zum Glück sieht man mir meine Nervosität seit meiner Verwandlung nicht mehr ganz so deutlich an, dennoch merke ich, dass meine Bewegungen etwas abgehackter wirken als normal.

Der Sheriff führt uns herein und ich gehe mit gesenktem Kopf und mehrere Schritte hinter meinem Erzeuger in den, ja, man kann es wohl nicht anders nennen, Thronsaal hinein. Da ich aber meinen Blick nach unten richte, kann ich sie nicht wirklich sehen und als Benedict stehen bleibt und sich verbeugt, gehe ich gehorsam auf die Knie. Als Ghul hätte ich nie das Recht gehabt, in diesen Raum zu treten und selbst als Küken werde ich nur in kniender, demütiger Haltung toleriert. Ich höre das erste Mal ihre feine, wohlbetonte Stimme.

„Mr Cansworth, bitte, treten Sie doch weiter vor“ und Benedict folgt ihren Worten. Ich verbleibe in meiner Haltung.

„Ms Youngfield, es freut mich, dass ich heute in der Lage bin, Ihnen ein neues Kainskind Ihrer Domäne präsentieren zu dürfen.”

„Mr Safford hat mir bereits von ihm berichtet. Du kannst dich erheben und zu mir treten, Küken!“ Ich begebe mich wieder auf die Füße und sehe auch das erste Mal in ihr Antlitz. Eine jung aussehende, zarte Frau, vielleicht ein Meter sechzig groß, langes blondes Haar, welches sich um ihr Gesicht schmiegt. Sie sitzt auf diesem massiven Thron, flankiert von Wachposten und einigen Beratern im Hintergrund. Als ich knapp hinter Benedict zum Stehen komme, verbeuge ich mich noch einmal tief.

„Wie heißt du?“

„Mein Name ist Melville Conelly Lancaster, verehrte Prinzregentin.“

Sie verzieht keine Miene. Sicher bin ich, seit ihrem Regierungsbeginn Anfang der fünfziger Jahre, nur einer von vielen neuen Mitgliedern unter ihrer Herrschaft.

„Wann wurdest du gezeugt?” Ihre Fragen sind direkt, warum sollte sie sich auch die Mühe machen, sich nett mit mir zu unterhalten.

„Vor zwei Nächten, meine Prinzregentin.“

Benedict steht stumm neben mir und blickt respektvoll zu ihr. Wenn ich direkt von höheren Personen angesprochen werde, bleibt ihm nichts anderes, als auf meine Erziehung zu setzen und mich sprechen zu lassen.

„Und was genau ist dein Begehr? Warum bist du hier?“

„Ich bitte Euch ergebenst um das Aufenthalts- und Jagdrecht in dieser Domäne.”

„Es sei dir gewährt, sobald du mir fehlerfrei die Traditionen der Camarilla zitieren kannst.“ Mit leicht erhobenen Augenbrauen blickt sie mich an. Und Benedict wäre nicht bekannt für seine Förmlichkeit und Regeltreue, wenn er mir nicht bereits am ersten Abend der Zeugung diese Regeln beigebracht und mich immer wieder abgefragt hätte.

„Die Maskerade. Du sollst dein wahres Wesen niemandem enthüllen, der nicht vom Geblüt ist. Wer solches tut, verwirkt seine Blutrechte. Die Domäne. Deine Domäne ist dein eigener Belang. Alle anderen schulden dir Respekt, solange sie sich darin aufhalten. Niemand darf sich gegen dein Wort auflehnen, solange er in deiner Domäne weilt. Die Nachkommenschaft. Du sollst nur mit Erlaubnis deiner Ahnen andere zeugen. Zeugst du andere ohne Einwilligung deiner Ahnen, sollen sowohl du als auch deine Nachkommen erschlagen werden. Die Rechenschaft. Wen du erschaffst, der ist dein Kind. Bis der Nachkomme auf sich selbst gestellt ist, sollst du ihm alles befehlen. Du trägst seine Sünden. Die Gastfreundschaft. Ehre die Domäne anderer. Wenn du in eine fremde Stadt kommst, so sollst du dich dem vorstellen, der dort herrscht. Ohne das Wort der Aufnahme bist du nichts. Die Vernichtung. Es ist dir verboten, andere deiner Art zu vernichten. Das Recht zur Vernichtung liegt ausschließlich bei deinen Ahnen. Nur die Ältesten unter Euch sollen die Blutjagd ausrufen.”

Innerlich empfinde ich leichten Stolz, dass ich fehlerfrei und ohne zu zögern in der Lage war, sie zu rezitieren. Meine neuen und einziggültigen Gesetze.

„Somit gewähre ich dir, Melville Conelly Lancaster, das Aufenthalts- und Jagdrecht innerhalb Londons. Ich hoffe, dass du die Traditionen vollkommen verinnerlicht hast und stets nach diesen Prämissen leben wirst.“

„Das werde ich, geehrte Prinzregentin.”

„Mr Cansworth, ich gehe davon aus, dass Sie weiterhin für seine Erziehung zuständig sind?“

Da sie das Wort an Benedict richtet, begebe ich mich wieder auf die Knie und höre beiden aufmerksam zu.

„Jawohl, das bin ich, Ms Youngfield.“

„Dann bin ich überzeugt, dass er gut erzogen und uns keine Sorgen bereiten wird. Sie können nun gehen.”

Er verbeugt sich wieder, dreht sich herum und geht Richtung Ausgang. Schnell erhebe ich mich und folge ihm mit gebührendem Abstand. Ich höre nur noch, wie sie einen ihrer Angestellten befehligt.

„Teilen Sie Mr Matherson mit, dass er die Akte von Mr Lancaster abändern kann. Er ist nun offiziell geduldet.”

Ein kleines Lächeln huscht über meine Lippen. Ich habe diese Bewährungsprobe wohl bestanden. Und ich weiß auch, dass Benedict direkt im Anschluss die nächste Premiere mit mir feiern möchte. Meine erste Jagd. Das Recht dazu habe ich gerade eben erworben. Ich spüre ein inneres Kribbeln, ein Verlangen, das mich noch zusätzlich anspornt, mich endlich diesem Bereich meiner neuen Natur zu widmen.

„Ich bin stolz auf dich, Melville, du hast dir keinen Fehler erlaubt“, sagt Benedict zu mir, als sich die Fahrstuhltür wieder schließt. Wir waren keine zehn Minuten in dieser Etage des Elysiums, ich kann mir vorstellen, dass Ms Youngfields Zeit allgemein knapp bemessen ist. So bleibt für die administrativen Pflichten nur ein enger Zeitrahmen.

„Danke, Benedict ... und ich danke dir auch, dass deine Erziehung so vorbildlich ist. Ich denke, dass nicht alle Kinder der Domäne das Glück haben, so gut vorbereitet zu werden.”

„Da hast du durchaus Recht. Es gibt nicht wenige, die immer wieder an der Etikette und den Verhaltenskodizes scheitern. Doch das trifft natürlich nicht auf unseren Clan zu.“

Wir nicken uns beide wissend zu, dass wir einer Kaste angehören, die dazu bestimmt ist, sich in dieser Umgebung wohlzufühlen.


Ich steige in den Wagen und bin gespannt, wie ich wohl die Jagd erlernen werde. Gerade für uns Ventrue ist es wichtig, sich schnell mit unserer Beute zu beschäftigen, um möglichst frühzeitig zu wissen, welche Art Mensch in Frage kommt und welche nicht. Und zwar, bevor der Durst wieder einsetzt. Der erste, alles verzehrende Durst direkt nach der Zeugung verzeiht noch Abweichungen von dem eigentlichen Geschmack des Kainiten, doch danach müssen wir uns an das Schema halten. Ob wir es wollen oder nicht.

„Wir fahren jetzt in die Innenstadt, Melville. Leicester Square, Piccadilly Circus, dorthin, wo viele Menschen und auch Touristen sind. Wir werden gemeinsam aufmerksam sein und wenn du jemanden erblickst, der dich anlockt, dein inneres Wesen verführt, sag es mir. Du wirst nichts tun, außer ich gestatte es dir. Wir wollen auf alle Fälle vermeiden, dass du wie ein Triebtäter über deine Beute herfällst. Ich werde dir beibringen, vorsichtig und unauffällig zu sein.”

„Ja, Benedict.“ Und deutlich schwingt ein erregter Unterton in meiner Stimme mit, der selbst Benedict etwas aufhorchen lässt.

„Du wirkst nicht gerade verängstigt bei dem Gedanken, gleich deine Zähne in einen unschuldigen Menschen zu stoßen. Es ist sicher von Vorteil, aber hast du keinerlei Zweifel?“ Und selbst wenn ich damit Benedict sicher etwas vor den Kopf stoße, antworte ich wahrheitsgetreu:

„Ganz und gar nicht.“ Ein flüchtiges Grinsen überzieht kurz mein Gesicht. Er betrachtet mich aufmerksam.

„Ich habe dich zu diesem Thema anders eingeschätzt. Mir jedenfalls fiel es damals schwer.”

„Dürfte ich fragen, wie lange dieses ‘damals’ her ist?”

„Sagen wir es so, auf meinem Nachttisch hatte ich die Erstausgabe von Wells ‚Die Zeitmaschine‘ liegen.“

Ich sehe ihn an, nicht ganz sicher, um welches Jahrzehnt es sich handeln könnte. Es muss Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts gewesen sein, als dieser Roman veröffentlicht wurde. Damit könnte Benedict an die hundertfünfzig Jahre alt sein. Ist das jetzt viel für einen Vampir? Ich weiß es nicht.

„Wie alt werden wir Kainiten im Schnitt denn?“, frage ich deshalb vorsichtig nach.

„Wenn kriegerische Zeiten herrschen, sind es bedeutend weniger hohe Zahlen, Melville. Aber wenn es friedlich ist, sind durchaus mehrere hundert Jahre möglich. Mein Erzeuger, zum Beispiel, war bereits über vierhundert Jahre alt, als er sich mir offenbarte. Es ist weniger die Frage, ob dein Körper es verkraftet, denn das tut er, sondern mehr, ob deine Psyche stabil bleibt. So alt zu werden birgt Gefahren, die sich zu Beginn nicht abschätzen lassen.“

Seine Aussage beruhigt und verunsichert mich zugleich. Über vierhundert Jahre, ich bin noch nicht einmal vierzig.


Langsam flanieren wir über den Leicester Square und ich beobachte die Menschen aufmerksam. Obwohl ich mich vorher nie für sie interessiert habe, empfinde ich nun eine gewisse distanzierte Faszination für sie. Wie sie aufgeregt mit ihren Fotoapparaten die Handabdrücke der Stars auf dem Platz für spätere Erinnerungen festhalten. Festhalten, um nicht zu vergessen, bis der Tod sie dahinrafft und die nach ihnen Lebenden diese Dokumente desinteressiert entsorgen. Doch dann werde ich noch leben, jung sein und ein Teil des Pulses der zukünftigen Zeit. Und es sind diese Gedanken, die mich erhabenen Schrittes an den Kinobesuchern und nicht abklingenden Strom an neuen Menschen aus den U-Bahnhöfen und Restaurants vorbeigehen lassen. Dieser philosophische Moment in mir lenkt mich zwar auch ein wenig von meiner jetzigen Aufgabe ab, aber zu meiner Überraschung habe ich eh direkt festgestellt, dass gleich einige für mich als Beute in Frage kommen würden. Die Gemeinsamkeit dieser Auserwählten ist mir nur noch nicht ganz bewusst. Doch ich will Benedict nicht darüber informieren, bis ich nicht jemanden entdecke, der außergewöhnlich intensiv mein Tier in mir herausfordert und mir quasi das Wasser im Munde zusammenlaufen lässt.

Wir können unter ihnen wandeln, ohne dass sie begreifen, wer wir eigentlich sind. Wir beide schweigen und ich habe das Gefühl, dass Benedict ein wenig in alten Erinnerungen schwelgt. Sein Blick gilt weniger den Menschen, viel eher den Gebäuden, die an den Platz grenzen. Öfters richtet sich sein Blick nach oben, zu den Fassaden und dunklen Fenstern, die stillgelegten Bereiche, abseits des nächtlichen Trubels auf den Straßen.


Und dann entdecke ich sie. Sie ist wunderschön, porzellangleiche Haut, zarte Rosélippen, lange Beine, die sie sicher auf eine Körpergröße von über einen Meter siebzig heben. Ihr graziler Gang, während sie eilig an uns vorbeigeht und angeregt durch ihr Mobiltelefon mit jemandem spricht. Für mich fließt ihre Erscheinung eher vorbei. Obwohl es nur einige Sekundenbruchteile sind, stürze ich mich innerlich bereits auf sie. Benedict bemerkt meine plötzliche Drehung in ihre Richtung und greift nach meinem Arm.

„Halt!“, spricht er mir leise, aber sehr bestimmt in das Ohr.

„Ist sie es? Die brünette Frau am Telefon?“

„Ja ...“, hauche ich nur tonlos zurück. Mein Blick immer noch permanent auf ihr liegend fixiere ich ihren mir zugewandten und sich fatalerweise langsam entfernenden Rücken.

„Wir müssen ihr hinterher, sonst verliere ich sie“, kommentiere ich seine, mich immer noch festhaltende Hand. Er scheint kurz zu überlegen, geht dann aber abrupt mit mir hinter ihr her. Er spricht fast flüsternd zu mir, während wir ihr folgen.

„Ich habe dir bereits erklärt, dass du sicherlich innere Kräfte besitzt, die dir in manchen Notsituation, aber auch genau wie jetzt bei einer Jagd, helfen können. Du wirst es direkt ausprobieren müssen, zu was du in der Lage bist und zu was nicht. Versuche, sie zu umgarnen, ihr zu schmeicheln. Lass deinen Charme spielen und sie wird dir folgen, dich begleiten, wo hin du auch möchtest. Unsere herausragendste Clansfähigkeit ist die soziale Manipulation. Und gerade Menschen sind unseren Talenten sehr erlegen. Es sind wohl unsere Augen, die sie, bereits ohne unsere Kräfte aktiv anzuwenden, in ihren Bann ziehen. Nutze das.“

Oh ja, Benedict, die Augen. Sehr gut erinnere ich mich selber an das Gefühl des Ertrinkens, als ich die ersten Male in die seinen blickte. Und ich wirke jetzt auch so!

Schnell laufen wir parallel zu ihr auf der anderen Straßenseite, ich kann mich einfach nicht von ihr lösen. Ich will unbedingt, dass sie das erste selbstbestimmte Blut auf meiner Zunge spendet.

„Wo soll ich von ihr trinken?”, frage ich, ohne den Blick zu meinem Erzeuger zu richten.

„Du hast einen Wagen mit Fahrer zur Verfügung, lass dir etwas einfallen. Vermeide aber sämtliche Orte, die etwas mit deinem eigenen Dasein zu tun haben. Keine privaten Räume, keine öffentlichen Bereiche der Domäne. Und erinnere dich, du wirst permanent gefilmt und überwacht. Auch wenn die Nosferatu für uns das Netzwerk filtern, wollen wir doch keine böse Überraschung erleben.”

„Gut, dann ...“, ich greife in meine Manteltasche und rufe mit meinem Smartphone den Fahrer in meine Nähe. Um die Maskerade zu wahren, muss ich Winterkleidung tragen, obwohl mir sicher niemals mehr kalt sein wird. Doch während ich mit ihm rede, bleibt meine Beute plötzlich stehen und begutachtet die Abfahrtszeiten auf einem Busfahrplan. Sie stellt sich zu den anderen Wartenden und ich erkenne, dass ihr Telefonat sie in irgendeiner Weise glücklich macht. Die kleinen Äderchen, die Rötung in ihrem Gesicht, von der Kälte und der, ja, möglichen Liebe für ihren Telefonpartner. Ihr zarter Atem, der gleichmäßig vor ihrem Mund in einem Nebel zergeht. Und ich könnte schwören, dass ich selbst von hier ihren Herzschlag hören kann. Immer wieder lacht sie verschüchtert, dreht sich von den anderen Menschen weg, damit sie nicht zuhören. Und gerne stelle ich mir vor, dass sie kleine sinnliche Liebesbekundungen in das Telefon säuselt. Auch wenn es vielleicht nicht so ist, aber ich könnte mir vorstellen, dass ein glücklicher Mensch besser schmeckt als ein kranker oder von Sorgen geplagter Körper.

„Ich bin in deiner Nähe, nutze die Chance, bevor sie in den Bus steigt“, sagt Benedict zu mir und ich antworte nicht einmal, sondern trete, nach einem flüchtigen Kontrollblick, über die Straße zu ihr. Ich gehe auf die Bushaltestelle zu, stelle mich mit geringem Mindestabstand zu ihr und lausche kurz neugierig ihren Worten.

„Ich weiß nicht, meine Eltern sind bestimmt sauer, wenn ich dich heute Nacht einfach ins Haus lasse ... Nein ... Nein ...“, sie lacht kurz verträumt.

"Du bist ein schlechter Einfluss für mich, ich hätte auf meine Mutter hören sollen ... Ja, na gut ... Bis nachher ... Ja, meine Eltern sind noch verreist, aber mein kleiner nerviger Bruder ist da ... Ich dich auch.” Dann legt sie auf und blickt nur kurz zu mir. Ich sehe ihr direkt in die Augen und sofort erkenne ich diese Irritation, dieses Fragen in ihrem Blick, ob meine Augen nicht vielleicht gefährlich sein könnten. Ich trete näher an sie heran.

„Guten Abend, junge Dame.” Ich achte peinlichst darauf, dass niemand anderes uns hören kann. Ich kann zwar Benedict nirgendwo erkennen, aber seine Regeln und Hinweise werden schon ihren Grund haben.

„Ähm ... Guten Abend”, antwortet sie mir. Sie ist jünger als ich im ersten Moment gedacht habe. Ich hatte sie auf zweiundzwanzig, vielleicht dreiundzwanzig Jahre geschätzt, doch jetzt wird mir bewusst, dass sie auch durchaus gerade erst volljährig geworden sein könnte.

„Ich frage mich, warum eine schöne junge Frau wie du mit dem Bus fahren muss? Sollte es nicht einen tapferen Begleiter geben, der dich warm und sicher in seinem Auto nach Hause begleitet?“

„Er hat noch keinen Führerschein“, antwortet sie nur, sicher über sich selbst verwundert, warum sie mir das verrät.

„Nun, ich habe einen Wagen und sogar einen Fahrer, der bestens mit dem Londoner Straßennetz vertraut ist. Ist es mir gestattet, dich nach Hause zu bringen? Falls so eine schöne und lebenslustige junge Dame wie du jetzt überhaupt schon nach Hause möchte.” Ich merke selbst, dass in meiner Stimme dieser schmelzende, gefährliche Unterton steckt, den man jedem zuspricht, der nichts Gutes im Schilde führt. Sie beißt sich auf ihre Unterlippe, ich erkenne, dass sie leicht friert und auch sicher wirklich kein Interesse am Busfahren hat. Doch um ihr noch weiter auf die Sprünge zu helfen und weil ich meinen Willen ihr gegenüber durchdrücken möchte, fühle ich, wie sich etwas in mir wandelt. Wie ein Teil meiner fremdgeraubten Nahrung in mir zerfließt, um meinem Ausdruck und meiner Präsenz noch mehr Dringlichkeit zu geben. Und ich starre sie an, so wie sie es auch tut, anscheinend hoffnungslos meinem Wesen ergeben. Ich gehe den letzten kleinen Schritt auf sie zu, lege ihren Arm in den meinen und beginne, sie mitzuziehen. In Richtung der Seitenstraße, in der mein Fahrer stehen sollte.

Es ist so einfach!

Wie abgesprochen steht mein Wagen bereit und ich beuge mich leicht zu ihr herunter und frage:

„Wo darf ich dich denn jetzt hinbringen?”

„Ich muss nach Hause, mein Bruder wartet mit dem Essen auf mich. Holborn Drive 24, ich hoffe, das ist nicht zu weit weg für ... Sie.“ Sie erkennt meine Überlegenheit an und es amüsiert mich auch ein wenig, wie kindlich ihre Aussage gerade war.

„Kein Weg ist zu weit, um meine Schönheit sicher nach Hause zu bringen.“ Jetzt sind es meine Worte, die sie verschüchtert kichern lassen. Ich öffne ihr die hintere Tür und reiche ihr die Hand, um ihr hineinzuhelfen. Ein sicher unbekanntes Verhalten für sie und gerne lässt sie sich von mir führen. Ich schließe die Tür, gehe um den Wagen herum und bevor ich zu ihr steigen kann, sehe ich Benedicts Limousine, die zu meiner aufschließt und wohl darauf wartet, mir folgen zu können.

Mein Wagen setzt sich in Bewegung und ich nenne meinem Fahrer die Adresse. Die Fahrzeit sollte mir noch genug Zeit für Überlegungen lassen, wo genau ich denn wirklich hin will. Ich sehe immer wieder zu ihr und bin ganz begeistert über meine Wahl und mein Glück, sie angetroffen zu haben.

„Wie ist denn dein Name?“, frage ich mit möglichst unaufdringlicher Stimme.

„Alicia ... Und Ihrer?“

„Smith ... Matthew Smith, um genau zu sein.” Sie glaubt meiner Aussage, warum sollte sie sie auch anzweifeln?

„Retten Sie öfters Frauen vor lästigen Busfahrten?“

„In Zukunft vielleicht öfters, aber du bist die Erste, die es verdient hat.“

Sie lacht wieder etwas verschüchtert, es wäre sicher nicht so, wenn sie die wahre Natur meiner Sätze kennen würde. Und mein Verstand arbeitet auf Hochtouren, um einen geeigneten Ort auszuwählen. Ich weiß, dass auf dem Fahrweg einige leerstehende Häuser liegen, aber ich will mich nicht auf dieses Niveau herabbegeben und ich beschließe, es einfach im Wagen zu tun. Parkend, abseits der Hauptverkehrswege natürlich. So gleitet die Limousine durch die Nacht, mit einem Kind, das nur bei mir sitzt, um meinem Gaumen zu schmeicheln.

Ich nehme mein Telefon aus der Tasche und schreibe Benedict und meinem Fahrer die Adresse auf, an der ich gedenke, gleich zu halten. Ein Parkplatz, in der Nähe einer Parkanlage, der jetzt sicherlich nicht stark frequentiert ist. Ich stecke das Gerät zurück und lächle ihr warmherzig zu. Sie erwidert dieses Lächeln und fast fühlt es sich an, als ob sie es aus freien Stücken tun würde. Doch ich weiß, dass dem nicht so ist. Ich erkenne am Leuchten im vorderen Bereich des Fahrers und seinem kontrollierenden Blick auf sein Display, dass er meine Nachricht erhalten hat. Und nur wenige Augenblicke später biegt er in die von mir ausgewählte Gegend ein. Es dauert nur noch weniger als eine Minute, dann wird sie mein sein und gerade ihre Unwissenheit und Naivität kitzeln einen Nerv in mir, den ich nur zu gerne spüre.

Der Wagen hält an, sie blickt aus dem Fenster und sagt:

„Hier wohne ich aber nicht, hat sich Ihr Fahrer verfahren?”

„Nein, das hat er nicht, meine Kleine.“ Ich rücke näher zu ihr, fasse ihre Hände und ich fühle, wie sie innerlich mit sich ringt, ob sie mein Verhalten noch gutheißen kann. Dann übernimmt das Tier, die urtümliche Bestie, die ich bereits selbst als Ghul in mir gefühlt habe, die Kontrolle über mich. Ich spüre, wie mein Zahnfleisch nachgibt und meine scharfen Eckzähne mehr Platz in meinem Mund einnehmen und als ich tierisch einen flüchtigen Laut von mir gebe, höre ich nur vollkommen untergeordnet ihre Schreie. Sie hat begriffen!

Doch ihr Schrei verblasst und ihre abwehrenden Hände sinken nieder, als ich meine Zähne in ihren Hals tauche. Ich erfühle erst den Widerstand ihrer Haut, zart und weich, doch das, was darunter liegt, ist mein Begehr. Und dann sprudelt es hervor, das junge, berauschende Blut. Und alles um mich herum verliert an Bedeutung. Ich schließe die Augen und fokussiere mich nur auf ihren Geschmack, die feinen Nuancen, die Lieblichkeit, die mit aus ihr herausfließt. Zug um Zug nehme ich ihr die Jugend. Ich höre, wie sie stöhnt, wie sie tief atmet. Ich steige ganz über sie, presse sie somit in die Sitze, eine Hand fest um ihre Taille geschlungen, die andere an ihrem Hinterkopf. Innerlich verehre ich sie, begehre ihre Wärme, die sie mir gibt und bemerke gar nicht, wie sie in die Ohnmacht abtaucht.

Nur noch ein wenig mehr, noch mehr!

Da werde ich zurückgerissen, kräftig und ruckartig packt mich jemand an meinen Schultern und zerrt mich aus dem Auto.

„Hör auf!”, schreit er laut, doch meine umnebelten Sinne erkennen Benedict nicht gleich. Ich fauche ihn an, dafür, dass ich in diesem heiligen Augenblick so unterbrochen wurde. Ich blecke die Zähne, schmecke die letzten warmen Reste, als dieser Trieb in mir auch schon von meinem Ich ablässt.

Ich erkenne wieder deutlich, was geschieht. Ich liege am eisigen Boden neben dem Wagen, der dunkle Park hinter mir und die Scheinwerfer von Benedicts Auto strahlen mich an. Er beugt sich in meinen Wagen und begutachtet sie ... Alicia.

Er fühlt nach ihrem Puls und sieht dann wütend in meine Richtung.

„Lecke ihr über die Wunden, damit sie aufhört zu bluten. Aber beherrsche dich, Melville. Um deinetwillen, beherrsche dich!”

Ich stehe auf, immer noch innerlich erregt von dem eben Erlebten, folge aber seinen Anweisungen. Ich gehe zu ihr, er macht mir zwar Platz, aber bleibt in Griffreichweite. Sie ist furchtbar blass und ich kann ihren Herzschlag kaum hören. Ihr Blut sickert durch die etwas ausgefransten Wundmale am Hals und es kostet mich wirklich Willenskraft, ihr diese Wunden nur zu verschließen und nicht wieder in sie zu tauchen. Doch nicht ohne sämtliche Tropfen, die bereits den Weg nach außen gefunden haben, von ihr zu lecken. Und unter dem Einfluss meines Speichels sehe ich, wie sich ihre Wunden langsam schließen. Als ich mich wieder aus dem Wagen erhebe und Benedicts Blick erkenne, überkommt mich ein Gefühl von Schuld. Vergleichbar mit den Emotionen, denen ich früher am College und der Universität ausgeliefert war, immer wenn ich mir selbst etwas sexuelle Erlösung verschaffte.

Er greift in ihre Jacke, holt ein Portemonnaie heraus und studiert ihren Personalausweis.

„Du setzt dich in meinen Wagen und wirst mir hinterherfahren. Du wirst den Wagen erst wieder verlassen, wenn ich es dir gestatte!“

„Ja, Sir“, antworte ich schuldbewusst und mache mich auf zu seinem Auto. Er steigt zu ihr und fährt davon. Und obwohl ich weiß, welche Folgen meine Jagd eben hatte, würde ich es doch immer wieder so tun. Leise grinsend und beseelt von der Erinnerung an den Blutfluss, der mir eben noch in den Rachen sprudelte, folgt sein Fahrer meinem Auto.

Im Holborn Drive angekommen sehe ich, wie er sie aus dem Wagen zieht und vor ihrer Haustür ablegt. Sie wirkt nicht mehr ganz so benommen, nur noch etwas schwächlich. Und an der Art, wie sie nach seiner Hand greift und ihn nicht sofort gehen lassen will, weiß ich, dass er sie mit seinem eigenen Blut versorgt hat, um sie wieder aufzupäppeln. Er entfernt sich von ihr und steigt wieder in meinen Wagen. Und als auch ich langsam von diesem Ort wegfahre, blicke ich ihr nach und sehe noch, wie sie sich erhebt und an der Haustür klingelt.

Danke, Kleines.


„Du bist kein verdammtes Tier, Melville! Du musst lernen, deine Kräfte und deine niederen Bedürfnisse zu zügeln!” Er geht um mich herum, ich sitze mit gesenktem Haupt auf einem Stuhl und lasse diese Predigt über mich ergehen. Seit er mich vor zwei Nächten verwandelt hat sind meine Gedanken und Einstellungen ihm gegenüber lange nicht mehr so ergeben und demütig wie zu Ghulzeiten noch. Richtig, die Blutsbande wurden durch den Austausch meines Blutes aufgehoben.

„Ich trage die Verantwortung für dich. Und ich verlange, von dir zu hören, dass du eben nur die Kontrolle verloren und nicht mit Absicht ihren Tod in Kauf genommen hast!“

Ich blicke zu ihm auf.

„Ich dachte, das ist unsere Beute. So wie die Menschen auch mit Tieren umgehen.”

Er bleibt stehen und sieht mich völlig entgeistert an.

„Das sind Menschen, um Himmels willen! Fühlende und leidende Wesen und dass gerade ich dich daran erinnern muss, wo du selber noch vor zwei Nächten einer warst, schockiert mich, Melville!“ Er rauft sich kurz durch das Haar, eine für ihn vollkommen untypische Übersprungshandlung.

„Ich habe das Gefühl, dass du mir irgendwie entgleitest. Dass mir ein Wesenszug von dir überhaupt nicht bewusst war. Deine Worte, deine Argumentation entspricht eher der des Sabbats ... verdammt nochmal!” Wütend reißt er sich die gelöste Krawatte aus dem Kragen und wirft sie auf die Couch.

„Sabbat?“, frage ich, erheblich eingeschüchtert von seinem Verhalten. Denn so kenne ich ihn überhaupt nicht.

„Das ist unsere Gegenseite, die Ausgeburten, die nicht wissen, wie man sich zu benehmen hat. Sie marodieren wie wilde Bestien durch die Straßen und schlachten alles und jeden ab! Willst du auch so sein, Melville? Willst du das? Dann sage es jetzt, damit ich deine Zeugung noch revidieren kann!” Er schreit mich an und tief in mir bin ich der Überzeugung, dass er mich gleich für meine Taten körperlich züchtigen wird.

„Revidieren ...“, flüstere ich leise.

„Ja! Revidieren. Dich unschädlich machen, bevor du unkontrollierbar bist! Ich habe dich geschaffen und ich habe das Recht, mein Küken auch wieder zu vernichten, wenn ich nicht von ihm überzeugt bin!“

Schwer treffen mich seine Worte, er denkt darüber nach, ob ich ein Fehler war. Ich habe nie angenommen, dass Benedict so für Menschen empfindet. Er hat damals genau gewusst, dass ich nur vor meinem Elternhaus stand, um zu hören oder zu sehen, wie mein Vater sich selbst richtet. Er hat es toleriert, vielleicht sogar als Sieg von meiner Seite gesehen. Ich habe nie mitbekommen, wie er mit Menschen interagiert, es waren immer Ghule oder Untote in seiner Gegenwart. Dass wir anscheinend gewisse unterschiedliche Sichtweisen haben erfüllt mich mit Trauer. Er ist doch mein absolutes Vorbild, mein Retter aus dieser öden und verachtenswert schwächlichen Welt des Menschseins.

„Ich bin keine wilde Bestie, Benedict, das musst du mir glauben. Ich verstehe jetzt mein Fehlverhalten. Mein ganzes Bestreben und mein Sein gilt den Ventrue, der Treue zur Camarilla und zur Prinzregentin.“ Ich rutsche vom Stuhl herab und knie mich vor ihm auf den Boden. Er dreht sich zu mir, akzeptiert meine Demut und erlaubt es mir, weiterzusprechen.

„Ich bin kein Abschaum ... und vielleicht kann ich dich auch nur darum bitten, dass du nicht zulässt, dass ich zu Abschaum werde. Was kann ich tun, damit du meine guten und ehrlichen Absichten weiter befürwortest? Ich will, dass du wieder stolz auf mich sein kannst ... Bitte, Benedict.“

Es ist nur eine sehr kleine Träne, die an meiner Wange entlangrollt und auf meinem Hemd zum Liegen kommt. Rot strahlt mir dieser kleine Fleck entgegen, während ich, so tief ich kann, meinen Kopf nach unten neige. Ich weine Blut!

Er kommt auf mich zu, bleibt vor mir stehen und hält mir wortlos sein blutendes Handgelenk entgegen. Er verlangt somit, dass ich mich in neuerliche Blutsbande zu ihm begebe. Ihm damit, ohne es selbst frei entscheiden zu können, erlegen bin und mich stets an seine Worte und Befehle halte. Ich würde meine Meinung mehr nach seiner formen und mir permanent Gedanken darüber machen, ob meine Taten seinen Segen erhalten würden. Ich zögere kurz. Er selbst hat mir gestern noch erklärt, dass diese Form der Bindung unter Kainiten der höchste Beweis für Zuneigung und Vertrauen ist. Kann er mir anders nicht mehr vertrauen? Aber auch, dass sie gefährlich sind und man immer droht, in die vollkommene Abhängigkeit und eine Art Sklaventum zu rutschen, und das nicht wenige Vampire so für die Ewigkeit anderen Vampiren dienen und sich selbst komplett aufgeben. Also keine Option für Ventrue, die noch etwas erreichen wollen, ohne eigentlich für einen anderen Auftraggeber zu handeln. Doch ich habe keine Wahl. Ich wünsche mir, dass er mir wieder vertraut, trotz meiner eben so töricht gesprochenen Worte. Also neige ich mich nach vorne, zwinge mich zu Akzeptanz und sauge an seiner selbstzugefügten Wunde.

Es schüttelt mich, es ist so viel intensiver als das Blut der jungen Frau vorhin oder damals als Ghul. Ich merke zwar, dass er etwas zu mir sagt, aber ich verstehe nicht, was. Fühle nur, wie etwas in mir lacht und vor Freude tanzt, als ich sein kräftiges Kainitenblut in mich aufnehme. Schluck um Schluck erliege ich ihm und als er seine Hand fortreißt, muss ich mich nach vorne auf alle viere begeben. Ich atme schwer und ruckartig und fühle diese Befremdlichkeit, dass etwas anderes in mir anscheinend auch Einfluss auf mich hat. Nicht nur ich selbst regiere meinen Verstand, nein, da ist noch etwas. Tief verborgen in mir wird es stets warten und hervortreten, wenn ich es denn nur adäquat füttere. Ich bekomme etwas Angst, Angst vor mir selbst.

„Es hat schon etwas mit deinem Blutdurst, etwas, das ich nicht verstehe.” Er hilft mir wieder auf die Beine.

„Danke, Sir. Ich weiß auch nicht, es ist alles sehr verwirrend im Moment.”

Er sieht mir tief und eindringlich in die Augen und daran, wie ich mich etwas unter seinem Blick winde, erkennt er meine neuerlich geprägte Hingabe. Ja, das Band ist geschlossen und ich freue mich jetzt sogar darüber und hätte auch nichts gegen eine weitere Festigung dieser Beziehung. Mein Vertrauen, sein Blut. Er ist mein Erzeuger und ich werde ihn nie wieder erzürnen, das nehme ich mir fest vor.



Zur Arbeit verpflichtet


Schnell begreife ich, dass mein jetziges Dasein sich vor allem um eines dreht: Arbeit.

Als Küken wird von mir erwartet, dass ich meine eigene Tätigkeit als Geschäftsführer der ‘Lancaster Ltd.’ brachliegen lasse und mich stattdessen um die finanziellen Belange meines Clans kümmere. Nächtelang sitze ich mit ähnlich ausgerichteten Clanskollegen zusammen und wir erarbeiten Woche um Woche, Monat um Monat die Investitionspläne, Aktienübersichten und Bestände der weltweit fluktuierenden Gelder der Ventrue von London. Ein riesiges Maschengeflecht aus Gesellschaftsanleihen, Fondanteilen, Aktien und Rohstoffoptionen. Wir entscheiden, ob wir lieber in die Rüstung oder die Forschung investieren, lassen Kredite platzen und ganze Landstriche der Armut entgegengehen oder erheben Firmen, die es im Grunde nicht verdient haben, in den Finanzhimmel, um von der so geschaffenen Geldblase zu profitieren.

Doch auch, wenn diese Tätigkeiten der Machtstufe entsprechen, die ich mir damals als beginnender Student immer gewünscht habe, fehlt etwas.

Es sind diese einzigen hellen Momente der Jagd, in denen ich für Sekundenbruchteile meine Pflichten und Regeln vergesse, nur um mich dann von meiner Beute loszureißen, um den verinnerlichten Regeln von Benedict gehorsam folgen zu können. Ein fortwährender Kampf in mir. Macht haben und der Macht erlegen sein.

Inzwischen ist mir auch bewusst, welche Merkmale meinem Beuteschema entsprechen. Es ist anscheinend die subjektive Schönheit, die ich in meinem Gegenüber erkenne, die mich lockt. Die Art von schönen Wesen, die ich im College niemals angesprochen hätte. Und heute weiß ich, dass ich es damals nicht nur vermieden habe, um mein Studium nicht zu gefährden, sondern auch, weil ich Angst vor der Zurückweisung hatte. Doch jetzt können sie mich nicht mehr ablehnen. Ich zwinge sie zu Gehorsam und Hingabe. Sie dabei zu betrachten, ihre falsche Liebe zu mir zu spüren, erfüllt mich mit Glück. Glück, das ich brauche, um weiter so zu funktionieren, wie es von mir erwartet wird. Und ich trainiere meine Fähigkeiten ausgiebig. Ich habe verstanden, dass ich in der Lage bin, ganze Gruppen zu meinen Gunsten nur leicht zu beeinflussen, sie einzeln vor Panik und Angst in die Flucht zu schlagen oder auch gänzlich ihr Vertrauen zu gewinnen, so dass sie nicht einmal mehr schreien. Selbst wenn sie meine Fangzähne erblicken. Ein Vorfall wie mit Alicia, ist mir nicht wieder passiert, ich beherrsche mich.

Solange ich Küken bin, lebe und wohne ich bei Benedict, natürlich. Auf dem Weg zu seinem Bürokomplex bringt er mich zum Clanshaus und auf dem Rückweg holt er mich immer wieder ab. Alle vier Nächte gehe ich für etwa eine Stunde jagen. Die einzige Freizeit, obwohl auch sie nur zwangsläufig gegeben ist. Kein Urlaub, keine Wochenenden. Wozu auch? Als untoter Körper braucht man keine Erholung.


Ich lege die aktuellen Börsennachrichten und einige Dokumente in meine Aktentasche und als ich das Geräusch der zuschnappenden Verschlüsse höre, halte ich kurz inne. Wie ein Echo hallt dieses Geräusch, das ich jetzt seit über einem Jahr regelmäßig um die gleiche Zeit jede Nacht höre, in mir wider. Ich verharre in meiner Haltung, schlucke kurz leise und habe das Gefühl, ein Gefangener zu sein. Nur ganz flüchtig, als ob ich die kalten Fesseln an meinen Händen spüren könnte. Und ganz weit entfernt höre ich etwas in mir schreien, keine Worte, nur undefinierte Laute. Ich spüre eine Enge in der Brust, die mich dazu bringt, an mein Herz zu fassen. Ich kann keine Schmerzen in der Brust mehr empfinden, das ist lächerlich!

Dann ruft Benedict nach mir, ich springe förmlich auf, greife nach der Aktentasche und gehe die Treppen hinunter. Und ich vergesse den Schmerz von eben wieder, bis er mich in der nächsten Nacht, zur selben Zeit, wieder ereilt.

Und als ich begreife, dass es wohl eine tiefer sitzende Ursache für dieses Symptom gibt, versuche ich, mir darüber im Klaren zu werden, was es sein könnte.

Ich fange an, in der letzten halben Stunde der Nacht, die ich nur für mich habe, nicht wie gewöhnlich die Unterlagen und den Anzug für morgen bereitzulegen, sondern setze mich im Schneidersitz auf mein Bett und denke angestrengt nach.

Doch außer, dass ich mir mehr Mühe geben muss, um Benedict nicht zu enttäuschen, will mir keine Lösung einfallen, denn ich erkenne im Grunde das wirkliche Problem nicht. Und ich tue es damit ab, dass vielleicht jedes Küken am Anfang so eine Phase durchmacht. Und mit der Zeit gewöhne ich mich an den frühabendlichen, innerlichen Aufschrei und das Stechen in der Brust. Solange ich meiner Arbeit nachkommen kann, soll es mich nicht weiter stören.


„Ancilla Safford wünscht, Sie zu sprechen, Mr Lancaster“, ein sekretärähnlicher Ghul meines Clans verbeugt sich tief neben mir und teilt mir diese Nachricht mit. Die anderen beiden an meinem Tisch heben kurzzeitig den Blick von den Bilanzen und betrachten mich neugierig.

„Danke, ich mache mich sofort auf den Weg“, antworte ich dem Ghul und stehe auf. Ich ziehe meinen Anzug glatt und kontrolliere, ob meine Schuhe auch angemessen gepflegt sind. Ein kurzes Räuspern und ich verlasse den Arbeitsraum und begebe mich in das Stockwerk, in dem die Ancillae ihre Aufenthaltsräume haben. Am Entree der Etage steht ein Empfangsschalter, an dem ich mich ankündige und um die Erlaubnis bitte, mit Mr Safford sprechen zu dürfen. Ich werde zu ihm geleitet und noch einmal darauf hingewiesen, keine anderen Räume zu betreten.

Ich klopfe an seine Tür, warte gehorsam sein ‘Herein’ ab und trete dann hinein. Es ist kein Vergleich zu dem riesigen Zimmer seines eigenen Büros, aber dennoch ist es eine Würdigung seiner Person, dieses Büro ständig im Clanshaus zu besitzen.

„Melville, komm, setz dich.“

Ich komme erst gar nicht dazu, meine Etikettepflichten auszuüben, sondern setze mich direkt, ohne Verbeugung und kleiner Ansprache.

„Guten Abend, Mr Safford, Sie wollten mich sprechen.”

„Ja, ganz recht ... erst einmal, wie ist es denn so, dein neues Leben? Zufrieden?“

„Es ist eine Ehre, endlich Teil des Ganzen zu sein und seinen Beitrag für die Domäne leisten zu können.” Es ist mehr eine automatisierte Antwort, die ich sicher bereits das zwanzigste Mal so aufsage, doch es stellt immer alle zufrieden.

„Das freut mich zu hören. Ein Vögelchen hat auch gezwitschert, dass du deine Arbeit hier im Clanshaus gewissenhaft und vor allem erfolgreich ausübst. Gut, dich in der Familie zu haben.“

„Danke, Sir.“ Und obwohl ich weiß, dass es eine wichtige Ehrung von seiner Seite ist, empfinde ich kaum etwas für seine Worte. Ich lächle höflich und bin in Gedanken fast schon wieder bei meinen Zahlen und Zinssätzen.

„Du erinnerst dich doch sicher, dass wir eine kleine Abmachung hatten?”

„Ja, Sir, ich habe es nicht vergessen.”

„Sehr schön, dann freut es dich, zu hören, dass es soweit ist, dass du deine Schuld ausgleichen kannst. Es ist alles vorbereitet und in den nächsten Nächten ist deine Aktionsbereitschaft gefragt.”

Ich muss an Benedicts Doktrin denken und wie sehr ihm das sicher missfallen würde.

„Ist mir eine Frage erlaubt, Sir?“

„Natürlich, Melville, es soll dir ja nichts unklar sein.”

„Hat sich an der Art der Durchführung, die von mir erwartet wird, etwas geändert?“

Er lächelt mich kurz etwas süffisant an.

„Nein, das hat es nicht, Melville, warum fragst du?“

„Mein Erzeuger wünscht keine Handlungen jeglicher Art, die andere verletzen oder töten könnten. Ich bin mir nicht sicher, wie effektiv ich dieser Aufgabe dann nachgehen kann.” Meine Stimme klingt vollkommen ruhig, keine Regung, als ich im Grunde ausspreche, dass ich zur Folterung andere Mitwesen auserkoren wurde.

Er betrachtet mich kurz eingehend, als ob er mich jetzt erst richtig wahrnehmen würde, und fragt dann mit leicht zusammengekniffenen Augen:

„Es geht mich vermutlich nicht wirklich etwas an, aber sag, Melville, hat Benedict dich in einem Bündnis ... hast du nach deiner Zeugung sein Blut getrunken?“

„Ja, Sir, und dieses Bündnis wird in regelmäßigen Abständen aufgefrischt.”

Er sieht kurzzeitig etwas verärgert aus, findet dann aber zu seinem neutralen Gesichtsausdruck zurück.

„Ich denke, dann werde ich wohl ein paar Worte mit meinem Kind wechseln müssen. Ich danke dir, dass du zu mir gekommen bist. Du kannst jetzt deiner Arbeit wieder weiter nachgehen.”

„Danke, Sir, ich hoffe, dass ich Ihnen und Benedict keine Umstände gemacht habe.”

„Nein, das hast du nicht, keine Bange.”

Dann stehe ich auf, verbeuge mich und mache mich auf den Weg zurück an meinen Schreibtisch, meinen Stuhl, meine Welt.



Neue Aufgaben


„Ich muss wohl meine Weisungen an dich neu formulieren. Deine anstehenden Aufgabenbereiche decken sich anscheinend nicht ganz mit denen, die ich für dich vorgesehen hatte.“

Ich kann fast hören, wie Benedict mit seinen Zähnen knirscht. Wir sitzen uns am großen Konferenztisch in seinem Haus gegenüber, ich schweige und höre, was er mir mitzuteilen hat.

„Anscheinend hast du vor deiner Zeugung einen bleibenden Eindruck bei meinem Erzeuger hinterlassen und er wünscht jetzt, dass du gewisse Tätigkeiten ausübst.”

Ich sehe, wie er seine Hände fest ineinander verschlingt und seine Augen vor innerer Anspannung bedrohlich funkeln.

„Mir war nicht bewusst, dass du eine besondere Gabe im ... Verhören ... besitzt. Und jetzt ist es wohl meine Erziehung, die dich daran hindert, deine Verpflichtungen den Ventrue gegenüber auszuüben.” Er schweigt kurz und ich nutze den Augenblick.

„Es tut mir leid, Benedict, er hat mich letzte Woche zu sich gerufen und ich habe ihm gesagt, dass ich nichts tun werde, dass deinen Weisungen widerspricht. Ich wollte dir damit keine Probleme bereiten. Ich werde tun, was du verlangst. Deine Wünsche sind wichtiger als seine.”

Er lacht kurz bitter auf.

„Nein, Melville, ich fürchte, er hat Recht. Ich habe dich zu weit zurück in das unterwürfige Verhalten gezwungen. Deine Worte eben machen das ganz deutlich. Die Wünsche eines älteren Ancilla und vor allem, wenn er auch noch Ahn ist, stehen über den Wünschen eines jungen Ancilla wie mich. Das solltest du wissen, Melville.”

„Ich weiß es, aber ich empfinde nicht so.”

Er seufzt kurz leise auf.

„Ja, ich weiß.” Er sieht mich mit einem warmen, vertrauten Lächeln an und redet weiter.

„Ich wünsche, dass du die Aufgaben, die er dir zuweist und die im Interesse der Camarilla sind, gewissenhaft und sorgfältig ausübst. Aber ich würde es begrüßen, wenn du mich über die genauen Details nicht informierst.”

Ich blicke kurz beschämt auf meine Hände.

„Ich werde ihnen sicherlich Leid zufügen müssen, Menschen, vielleicht anderen Kainiten. Werde ich dich damit verärgern?“

Er schüttelt nur kurz etwas halbherzig den Kopf.

„Nein, Melville, es ist deine Aufgabe, wohl genau das auch zu tun. Solange dem so ist, kann ich diesen Methoden nicht widersprechen. Du hast meinen Segen, deine neue Aufgabe vollkommen frei und ohne Rücksicht auf mich anzugehen. Wirst du das?“

„Ja, Benedict, wenn das dein Wunsch ist.“ Ich höre nur, wie er wieder kurz leise seufzt.

„Ja, das ist es.”



Sag mir die Wahrheit oder ich bringe dich dazu


Praktische weiße Fliesen kleiden den Raum aus. Ein Raum nur für mich, in einem kleinen Bungalow am Rande der Stadt. Keine Beleuchtung tritt nach außen, kein Hinweis auf die Existenz dieser Verhörkammer. Andächtig begehe ich mein neues Reich, während Mr Safford mir noch einige Anweisungen erörtert.

„Es geht nicht darum, sie möglichst effektiv leiden zu lassen, sondern Informationen zu erhalten. Es nützt also nichts, wenn du ihnen erst die Zunge herausschneidest und dann fragst.”

Ich sehe etwas erschrocken über seine Worte zu ihm. Er hält mich wirklich für ein gefühlstotes Monster.

„Du hast hier alles, was du benötigst und sollte doch etwas fehlen, lass es mich wissen.“

Ich gehe um den Seziertisch herum, der sicher eigentlich für die Pathologie einer medizinischen Anstalt gedacht war. Vorbei an einem Metallstuhl mit Bandagen, hin zu einer Kommode mit diversen Schubladen. Etwas neugierig öffne ich sie und eine breite Auswahl an Skalpellen, Messern, diversen Gestellen und Klammern bietet sich mir. Ein kleiner Schauer läuft mir über den Rücken. Ja, er nimmt jede mögliche Handlung in Kauf.

„Ist alles so weit zu deiner Zufriedenheit?”

„Ja, Sir.“ Mein Blick schweift zur Decke und ich erkenne eine kleine blinkende Überwachungskamera. Er folgt meinem Blick und lächelt.

„Im Nebenraum befindet sich das Datenarchiv, damit uns kein Hinweis entgeht werden deine Verhöre aufgezeichnet und ausgewertet. Keine Sorge, alles, was zwischen einzelnen Aussagen passiert, wird herausgeschnitten und vernichtet. Und nur ich und der engste Stab meiner Mitarbeiter werden dieses Material zu Gesicht bekommen.“

Ich nicke zögerlich. Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob ich das überhaupt kann. Die Frau damals war eine impulsive Reaktion, eine Tat, die ich auch aus Leidenschaft begangen habe. Doch jetzt soll alles kalt und berechnend sein. Aber es ist auch meine einzige Möglichkeit, dem eintönigen Wirtschaftsalltag ein wenig zu entfliehen. Und ich freue mich innerlich schon auf die möglichen Schreie und Laute, die mich erwarten und mein Ohr kitzeln werden. Wenn ich es denn über mich bringe, denn noch habe ich erhebliche Zweifel. Doch das sage ich Mr Safford natürlich nicht.

„Morgen Abend, gegen zweiundzwanzig Uhr, wird dir eine Person angeliefert werden“, er reicht mir eine dünne Akte und ich klappe sie auf.

„Dann wirst du dich dieser Kreatur annehmen und alles über ein mögliches Attentat in der Nähe des Hauses eines unserer geschätzten Mitglieder herausfinden. Wir wollen wissen, ob es unsere Gesellschaft oder die der Menschen zum Ziel hatte. Wir konnten Gespräche im Internet dieser Kreatur mitverfolgen und es gibt berechtigte Sorge, dass einer von uns ihr Ziel sein sollte.”

„Werde ich nur mit Menschen zu tun haben, Sir?”

„Das wird sich noch zeigen, Melville. Wenn unsere Feinde die Füße stillhalten, wird sich auch an deiner Klientel nichts ändern.“ Und er lacht kurz trocken auf. Auf den Bildern in der Mappe sehe ich Auszüge von Chatgesprächen, leicht unscharfe Fotos von Personen und eine Bestellliste über Zubehör, das möglicherweise zum Brandsatzbau geeignet ist. Er geht auf mich zu und reicht mir plötzlich die Hand.

„Du wirst einen guten Dienst für die Camarilla leisten. Ich vertraue auf dich, dass du uns nicht enttäuschen wirst”, betont er eindringlich.

„Ich werde meinen Clan nicht enttäuschen, Sir. Ich danke Ihnen für diese Möglichkeit.”

Er brummt kurz zustimmend und wendet sich zum Gehen, fügt dann aber dennoch eine Anmerkung an.

„Mach dich mit Allem vertraut, damit du deine Werkzeuge kennst. Morgen, zweiundzwanzig Uhr.”

„Guten Abend noch, Sir“, wünsche ich ihm pflichtbewusst, dann verlässt er das Haus. So stehe ich da, leicht verloren, die Akte schlaff in der Hand und weiß, ich werde über mich hinaus wachsen müssen, um das hier zu können. Ich seufze einmal kurz leise auf, erinnere mich aber sofort an die Kamera und fange an, sämtliche Schränke und Schubladen zu durchstöbern. Übe, die Verschlüsse der Bandagen schnell zu öffnen und zu schließen, teste die Wasserhähne und bemerke erst sehr spät den Abfluss, der in den Boden eingelassen ist. Eine Zeit lang stehe ich über ihm und betrachte ihn schweigend. Ein Abfluss im Boden.

Worauf hast du dich da nur eingelassen, Melville?


Jetzt sitzt er da, auf dem Stuhl, gefesselt und die Augen verbunden. Sein Kopf an der hinteren Lehne fixiert, zappelt er kläglich gegen die Bandagen an. Noch hat er mich nicht gesehen. Zwei große Muskelprotze haben ihn hier angeliefert und hereingeschleppt. Ich musste ein Übergabeprotokoll unterschreiben und dann waren sie auch schon fort.

Ich stehe schweigend einige Meter hinter ihm und betrachte ihn nachdenklich. Immer wieder ruft er wütend in die hallende Leere dieses Raumes hinein. Er ist sich seiner Lage wohl mehr als bewusst. Doch ich habe noch nicht den Mut gefasst und die richtige Eingebung gehabt, was ich jetzt machen soll. Doch ich weiß, ich muss etwas tun. Ich muss!

Ich wende mich der Arbeitsplatte zu, auf der ich schon einige Werkzeuge bereitgestellt habe und greife zaghaft nach einem Paar Klammern. Doch unsicher lasse ich sie wieder zurück auf den Tisch sinken und greife lieber nach einem längeren Messer. Ich wiege es etwas in der Hand, es ist ziemlich schwer.

Ich drehe mich herum und gehe langsam auf ihn zu. Mit der weißen Kunststoffschürze und den Handschuhen, die ich trage, komme ich mir selber wie ein Metzger oder besser gesagt, wie ein Schlachter vor. Ich gehe noch einmal seine persönlichen Daten durch. Name, Beruf, Familienstand und Wohnadresse. Die Namen seiner Freunde und den Namen des möglichen Anschlagsziels, ein Neonatus meines Clans. Ein Neonatus, der gerade so dem Status des Kükens entstiegen ist. Und jetzt bin ich es, ein Küken, der sich für ihn die Hände schmutzig macht.


Ich stelle mich vor mein geplantes Opfer.

„Mr Hayes, schön, dass Sie es zu mir geschafft haben.”

„Nehmen Sie mir die verdammte Augenbinde ab, damit ich Sie sehen kann!“, schreit er als Antwort zurück. Doch ich denke nicht daran, das zu tun. Er soll mein Gesicht nicht kennen.

„Aber, Mr Hayes, beruhigen Sie sich doch etwas und genießen Sie die Zeit, die Sie noch haben.“ Ich gehe mit der Klingenspitze nach vorne und lege sie an seine Wange, damit ihm klar wird, was ich in der Hand habe. Auch wenn meine Hand erst leicht gezittert hat, sicher nur aus psychischen Gründen, denn meine Muskeln erleiden keine Schwäche mehr, fasse ich mir doch ein Herz und umgreife das Messerheft fest und drücke es in seine Haut. Nur ganz leicht durchstoße ich sie, eine feine Linie dieses alarmierenden Rots tritt zum Vorschein. Dann nehme ich die Klinge wieder weg und gehe ein paar Schritte um ihn herum. Das war doch gar nicht so schwer.

„Warum unterhalten wir uns nicht ein wenig, Mr Hayes? Ich hätte da durchaus einige Fragen und Sie sicher interessante Antworten.”

Er hat den Schmerz eben klaglos ertragen, er ist tapfer, tapfer und dumm.

„Ich habe keine Antworten für Sie.”

„Das wäre aber schade, dann müsste ich wohl Ihre kleine Tochter befragen, ob sie etwas weiß.” Ich merke deutlich wie ein Ruck durch seinen Körper geht. Ja, die Familie, sie ist doch immer ein Schwachpunkt, eine Achillesferse. Und fast tut es mir etwas leid, dass ich diesen ‘Joker’ bereits so früh gezogen habe.

„Sie hat nichts damit zu tun, lassen Sie sie in Ruhe!“, schreit er mich wieder an.

„Mr Hayes, ich denke, Sie verkennen Ihre Lage. Sie sind nicht in der Position, um Forderungen zu stellen. Sie können höchstens versuchen, mich milde zu stimmen und zu hoffen, dass ich keine weiteren Maßnahmen ergreifen werde.” Ich lasse meinen Satz etwas auf ihn wirken. Er presst seine Lippen eng aufeinander, aber ich erkenne, dass er seine Haltung mir gegenüber gerade etwas geändert hat.

„Was wollen Sie wissen?“, fragt er dann leise nach.

„So ist es brav, aber wenn Sie sich mir so schnell ergeben, habe ich ja gar nichts davon. Spielen wir doch erst einmal ein wenig, Mr Hayes, dann sehen wir ja, welche Fragen ich noch habe.“ Ich rede mich selbst in Rage, in eine Vorfreude, die mich meine Restzweifel ein wenig vergessen lässt. Ich könnte ihm ganz sicher auch einfach nur mein Blut geben und meine Blutmächte auf ihn anwenden, um die gleichen Informationen zu erhalten ... doch das wäre in diesem Zusammenhang etwas unspektakulär.


Hustend spuckt er Blut aus und ächzt laut auf. Mehrere kräftige Schläge in seine Magengegend, teilweise auch etwas darüber, habe ich ihm verpasst. Dabei habe ich ihm sicher auch einige Rippen gebrochen, meine Zielgenauigkeit ist nicht sehr hoch, doch ich übe ja noch. Mehrere Schnitte zieren klaffend sein Gesicht und ich habe meine anfänglichen Zweifel vollkommen abgelegt, dass ich vielleicht mit dieser Aufgabe überfordert sein könnte. Um mein Werkzeug gut halten zu können, gehe ich wieder zur Arbeitsplatte, ziehe geräuschvoll die blutverschmierten Nitrilhandschuhe aus und lege neue an.

„Wenn Sie dann jetzt soweit wären, Mr Hayes, mir aufmerksam zuzuhören ...”

„Du elender Bastard, du perverses Schwein ...“, stammelt er nur. Meine Mundwinkel heben sich grinsend bei seinen Worten.

„Ganz wie sie meinen, Mr Hayes.” Ich greife nach dem kleinen und unscheinbaren Reizstromgerät und wähle passende Elektroden aus. Ich stelle die Box neben ihn auf den Boden, reiße sein T-Shirt entzwei und klebe die flachen Elektroden auf seine Brustmuskeln.

„Was ... was hast du vor, du Monster?”, seine Frage klingt zwar wütend, aber die Angst schwingt ganz deutlich mit.

„Nur eine kleine Motivationshilfe, nicht mehr so vorlaut zu sein, Mr Hayes.” Ich nehme die Box wieder in die Hand, lege ein paar Schalter um, damit die Elektronik bereit und eingestellt ist und gehe zwei Schritte nach hinten. Noch nie habe ich solch ein Instrument benutzt und ich habe keine Erfahrung damit, welche Werte schmerzhaft sind und welche nicht. Und zu meiner Enttäuschung zuckt er nach dem ersten Impuls nur kurz mit den Muskeln, aber kein Laut entdringt seiner Kehle. Ich stelle die Regler bedeutend höher ein und aktiviere die Elektroden erneut. Er schreit, laut und unkontrolliert, seine Wunden im Gesicht reißen noch weiter auf, aber er kann sich nicht beherrschen. Ich kontrolliere ihn mit diesem kleinen Gerät, es ist faszinierend. Ich schalte den Strom wieder ab, doch sein Körper zuckt noch eine ganze Weile nach und schmerzverzerrt zieht er ungewollte Grimassen.

„Wollen wir dann jetzt, Mr Hayes?”, meine Stimme ist die ganze Zeit über ruhig und ausgeglichen.

„Ja ...“, stottert er, immer noch gequält von den Nachwirkungen des Stroms. Ich beschließe, die Regler wieder etwas herunter zu drehen, damit er auch nach weiteren Stromschlägen noch in der Lage sein kann, zu antworten.

„Sie planen also gemeinsam mit Freunden ein kleines Attentat. Stimmt das?”

Er zögert und überlegt mir deutlich zu lange. Ich verlange, dass seine Antworten direkt und ehrlich sind. Ich drücke erneut den Auslöser. Ich höre sein Schluchzen und Jammern und ich kann es nicht vor mir selbst verheimlich, es erregt mich.

„Wenn Sie zögern, Mr Hayes, bekomme ich den Eindruck, dass Sie sich gerade eine Lüge ausdenken. Versuchen Sie es doch zur Abwechslung mal mit der Wahrheit. Also noch einmal. Planen Sie mit Freunden ein Attentat?“

„Ja!“, schreit er laut, sicher auch, weil er nicht mehr in der Lage ist, leise zu reden, ohne von den inneren Muskelkrämpfen überlagert zu werden.

„Nennen Sie mir den Namen ihres Ziels.”

„Er heißt Merfield ... Merfield ... bitte, hören Sie damit auf!“

Es ist tatsächlich der Neonatus aus meinem Clan. Dieser Mensch wollte deutlich über die Stränge schlagen und sich mit uns anlegen.

„Ich denke, ich entscheide, wann es genug ist, Mr Hayes, also weiter. Wie und wann wollten Sie ihn töten?“

„Übermorgen, wir wollten ihn und sein verdammtes Haus niederbrennen.”

„Starke Worte, Mr Hayes, zum Glück habe ich Sie vorher festgenommen, um dieses unschuldige Leben zu retten.”

„Das ist kein unschuldiges Leben. Dieser Mann tötet Frauen ... in seinem Haus und die Polizei unternimmt nichts dagegen!”

Anscheinend habe ich es hier mit einem kleinen Maskeradeproblem zu tun.

„Und das gibt Ihnen das Recht, Selbstjustiz anzuwenden?“

„Das machst du doch auch, du Mistkerl!”

Ich drücke den Auslöser, lange und erbarmungslos. Was bildet er sich nur ein, sich mit mir zu vergleichen? Speichel rinnt ihm aus dem Mund, sein Körper bebt, ich lache leise.

„Wie heißen Ihre Freunde? Die, mit denen Sie das Attentat geplant haben?“ Ich lasse ihm etwas Zeit, bis er wieder atmen und antworten kann.

„Das werde ich Ihnen niemals verraten ...”

Das werden wir ja sehen.


Etliche Minuten und Stromschläge später, beginnt sein Widerstand zu bröckeln. Es erstaunt mich, wie lange dieser Mensch sich dieser Qual wirklich aussetzt. Nach und nach verrät er seine Mittäter, auch wenn es ihm sichtlich schwerfällt.

„Ich danke Ihnen, Mr Hayes. Ich wollte nur wissen, ob Ihre genannten Namen mit meinen Informationen übereinstimmen. Und in der Tat, das tun sie.“

Als er realisiert, dass er diesen Kampf nur für einen Abgleich der Namen gekämpft hat, gibt er endgültig auf. Ich habe ihn gebrochen. Meine Arbeit ist getan.

Ich ziehe meine Schürze und die Handschuhe aus und trete in den schallisolierten Nebenraum. Ich greife nach dem Telefon und gebe Mr Safford Bescheid, dass ich alle Informationen habe und das Mr Merfield sich einen Maskeradebruch erlaubt hat. Gerne kann er das Videomaterial sichten. Dann folgt meine alles entscheidende Frage.

„Was soll ich jetzt mit ihm tun, Sir?”

„Das überlasse ich dir, Melville, aber sorge dafür, dass er dich und vor allem uns nicht verraten kann.”

„Ich verstehe, Sir. Sie können dann in einer halben Stunde ihre Männer schicken, den Leichensack abholen.“ Ich kann förmlich hören, wie er auf der anderen Seite der Leitung schmunzelt.

„Gut, sie werden da sein.”

„Auf dann, Sir.“

„Gute Arbeit, Melville.”

„Danke, Sir.“


Ich kehre zu ihm zurück und, warum auch immer, fühle ich mich plötzlich an den ersten toten Hamster erinnert, den ich damals unbedarft einfach mit dem Messer erstochen und somit auch an den Tisch geheftet hatte. Damals war es eine sehr blutige Angelegenheit, ihn zu entfernen. Du hast ja jetzt einen Abfluss, Melville!

Ich greife wieder nach dem großen Messer. Der noch leere, schwarze Kunststoffsack liegt schon in der Ecke bereit. Dieser Mensch wird für keinen Kainiten mehr eine Gefahr sein. Und jetzt erst nehme ich ihm die Augenbinde ab, damit ich seine angstgeweiteten Pupillen sehen kann. Ich verzichte auf die Handschuhe, sie hindern mich nur am eigentlichen Fühlen, am richtigen Erleben der Tat.

„Es war mir eine Freude, mit Ihnen zusammenzuarbeiten, Mr Hayes. Schade, dass Sie mich nun schon verlassen müssen.”

Und bevor er noch etwas antworten kann, ramme ich ihm die Klinge in die Brust. Tief und unnachgiebig, drehend und gewebeerfühlend beuge ich mich ganz dicht zu ihm. Um zu lauschen, wie er seinen letzten Atemzug nimmt.

Er ist der Erste ... der Erste auf meinem Weg.



Die Quittung


Ich öffne die Augen und blicke direkt in Benedicts Gesicht. Er sitzt auf einem Stuhl neben meinem Bett, den Kopf auf seine gefalteten Hände gestützt, betrachtet er mich nachdenklich. Ich erinnere mich nicht, mich selbst in das Bett gelegt zu haben. Gestern, als ich gerade meinen Anzug in den Schrank hängen wollte, überkam mich die tägliche Ruhe, wie ein Hammerschlag. Der zwanghafte Schlaf der Untoten, aber viel zu früh.

„Benedict ...” Ich richte mich auf und stütze mich auf meine Unterarme. Mit einem Blick auf die Uhr erkenne ich, dass ich auch bedeutend später wieder erwacht bin.

„Warum bin ich jetzt erst wach ... und warum bin ich gestern früher eingeschlafen?”

Er antwortet nicht, schüttelt nur leicht verzweifelt den Kopf.

„Stimmt etwas nicht mit mir?” Ich versuche, in mich zu horchen, doch ich fühle keine Schwäche. Außer vielleicht, dass mein Durst etwas stärker an mir zerrt und mich drängt, endlich jagen zu gehen. Heute ist zwar wieder meine routinemäßige Beutefindung an der Reihe, aber vorher war der Durst nicht dermaßen präsent. Endlich antwortet er.

„Du hast dich verändert.“

Ich sehe fragend zu ihm. Ich hatte ihm nichts von dem erzählt, was ich gestern in meinem neuen Arbeitsbereich getan habe. Ganz, wie es sein Wunsch war.

„Verändert?“

„Ja. Wenn Wesen wie wir etwas Unverzeihliches tun ... etwas, das unserer Moral gänzlich entsagt, dann ...”, er spricht nicht weiter. Deutlich sehe ich ihm an, dass er versucht, sich nicht auszumalen, was ich getan haben könnte.

„Dann? Was passiert dann?” Ich werde etwas nervös. Niemand hat mir erklärt, dass meine Handlungen direkte Folgen für mich haben könnten.

„Dann wird das Tier in dir stärker, es fordert seinen Tribut. Und je mehr man diesem bestialischen Urtrieb folgt, desto schwerer ist es, sich der Sonne entgegenzustellen.

Es bedeutet, dass man mehr Abstand zu Auf- und Untergang der Sonne braucht. Es zeigt, dass man ein Wesen der Nacht, der Dunkelheit ist ... und kein vernünftiger, mitfühlender Mensch ... Vampir ... mehr.” Er atmet schwer aus. Dauernd bereite ich ihm solche Sorgen. Er hat das nicht verdient. Ich versuche, immer alles richtig zu machen, doch permanent scheine ich dabei gegen seine Prinzipien zu verstoßen.

„Ich weiß, dass du diese Aufgabe erfüllst, weil es von dir erwartet wird und ich bedauere es, dass ich dich davor nicht schützen kann. Aber vielleicht ist es mir möglich, dich vor den möglichen Folgen zu bewahren. Bereust du es? Bereust du deine Taten aufrichtig?“ Seine Stimme klingt eine Spur zu hoffnungsvoll, als hätte er meine Seele eigentlich bereits aufgegeben.

„Ich hätte ihn vielleicht nicht töten müssen ...“, sage ich sehr leise und auch traurig. Nicht, weil es mir wirklich um den Menschen leidtun würde, sondern eher, weil ich mit der Folge meiner Tat Benedict so verunsichere. Er ist ein ehrenhafter und angesehener Mann, er sollte keine Zweifel hegen.

„Oh Gott, Melville ...“, sagt er nur und reibt sich mit der rechten Hand seine Nasenwurzel.

„Du hast jemanden getötet? Hat mein Erzeuger dir das befohlen?“ Und zu meiner eigenen Schande muss ich gestehen:

„Ja, das habe ich, aber er hat es mir nicht direkt befohlen.“

Seine Augen durchbohren mich förmlich und ich kann seinem Blick nicht standhalten. Da höre ich, wie sein Handy vibriert, er hat eine Nachricht erhalten. Nur zögerlich nimmt er sein Telefon aus dem Jackett und liest die Nachricht. Er lacht bitter auf und liest sie mir vor.

„Benedict, es wird dich freuen, zu hören, dass dein Kind ein aufkeimendes Problem unseres Clans abgewendet hat und ich ihn lobend Ms Youngfield gegenüber erwähnt habe. Dein Küken hat noch Großes vor sich. Rufus.” Er erhebt sich, geht zur Tür und mit dem Rücken zu mir gewandt spricht er kühl zu mir.

„Mach dich bereit, wir fahren gleich los. Die Arbeit wartet.” Dann schließt er die Tür hinter sich und lässt mich allein zurück. Und wie er es mir aufgetragen hat, stehe ich auf und ziehe mich um. Denn ich tue möglichst alles, was er sagt.



Ausgestoßen


„Weißt du schon, was für ein Kostüm du anziehst?”, ich blicke verwirrt auf, was für eine ungewöhnliche Frage. Ich lasse den Stift sinken und pausiere meine Finanzarbeit. Einer der anderen beiden Mitarbeiter hat mich angesprochen.

„Kostüm?“, frage ich irritiert.

„Ja, zum großen Ball am Sonntag. Die Domäne spricht seit Wochen über nichts anderes.”

Ich höre das erste Mal von einem angeblichen großen Ball. Benedict war noch nie mit mir auf einer domänenweiten Veranstaltung und ich bin davon ausgegangen, dass es Küken einfach nicht gestattet ist. Da ich nicht gleich antworte, redet er einfach weiter.

„Ach ja, vor drei Monaten, auf der Silvesterfeier, habe ich dich auch nicht gesehen. Hattest du ein schönes Mädel daheim und hast lieber privat ins neue Jahr gefeiert?” Er zwinkert mir frech zu und kichert leise. Und ich muss erkennen, dass es Küken anscheinend durchaus erlaubt ist, an solchen Festen teilzuhaben.

„Ich war beschäftigt, mein Erzeuger legt sehr viel Wert auf meine qualitativ hochwertige Ausbildung.”

Er verzieht kurz die Augenbrauen und deutet seiner Sitznachbarin an, dass ich wohl ein abgehobener Snob bin. Aber mir ist diese Annahme lieber, als dass sie merken, dass ich offiziell nie eingeladen wurde. Jedenfalls hat Benedict mich nicht informiert. Und ich greife wieder nach meinem Stift und arbeite weiter. Es gibt viele Daten abzugleichen und zu optimieren. Und seit ich vor über einem halben Jahr meinen Zweitberuf angenommen habe, gibt es immer wieder viele Stunden nachzuholen.


„Bin ich dir peinlich, Benedict?“ Wir sitzen gerade im Wagen auf dem Weg nach Hause. Er wirkt etwas abgekämpft, anscheinend hatte er einen schweren Tag im Büro. Trotzdem muss ich ihn das fragen.

„Warum solltest du mir peinlich sein? Dein Ruf ist doch der Beste für deinen Stand.“ Deutlich höre ich diesen leicht säuerlichen Unterton.

„Ich habe heute erfahren, dass es mehrere große Feste innerhalb der Domäne gibt, an denen Küken auch teilnehmen dürfen ... Silvester zum Beispiel.”

„Ich gebe nicht viel um solche sozialen Interaktionen zwischen den Clans. Ich wüsste nicht, wie einem das direkt weiterhelfen soll. Ich selber bin nur alle

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Natalie Elter
Bildmaterialien: Ronja Melin
Tag der Veröffentlichung: 31.05.2013
ISBN: 978-3-7309-3738-9

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für meinen Mann. Mein Licht. Meine Inspiration. Mein Herz.

Nächste Seite
Seite 1 /