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Ausbruch

Mein einundneunzigster Geburtstag und keiner gratuliert mir. Wer auch? Meine beiden Ehemänner sind tot, und mein einziger Sohn ignoriert meine Nochexistenz. Um mich herum nur Sieben-Achtel-Tote und quietschende Blechmaschinen! Ein richtiger Mensch hat sich schon lange nicht mehr in diese Gruft verirrt.

Doch ich werde mir heute selbst das schönste Geschenk machen, die Freiheit. Anders als bei meinen Mitinsassen ist mein Gehirn nämlich noch nicht im Schlafmodus, und ich habe in der Zeit, die ich nun schon in diesem Gefängnis bin, sehr genau beobachtet.

Wie jeden Morgen kommen drei Pflegeroboter lärmend hereingerollt. Keiner hat sich bei ihrer Entwicklung Gedanken über Schalldämpfung gemacht. Schließlich sind ja alle alten Leute schwerhörig. Leider funktionieren meine Ohren immer noch viel zu gut und schmerzen von dem Quietschen auf dem Gummiboden.

Aber das ist nichts gegen die Prozedur, die danach folgt. Kalte metallene Tentakel wandern über meinen Körper, messen Blutdruck und Zuckerspiegel, tasten die Haut auf Wunden oder entwichene Flüssigkeiten ab. Einfach nur stillhalten, gleich ist es vorbei.

Rasch flößen sie mir den faden Nährstoffmix für zahnlose Münder ein, dann darf ich mich ins Gemeinschaftsgrab begeben, wo über hundert Gestalten vor sich hindämmern und auf das Flimmern an der Wand starren.

„Guten Morgen zusammen“, lächelt eine gertenschlanke weißhaarige Dame im Trainingsanzug von der Wand herab.

Ein Gespensterchor aus Husten, Räuspern und knackenden Knochen antwortet ihr. Kaum jemand begreift, dass die Frau eine Projektion ist.

Danach die demütigende Gymnastik. „Hoch vom Hocker, Zehen locker, Arme strecken, spannt das Becken ...“

Wenige mühen sich ab, viele bleiben stumpfsinnig sitzen, ich erhebe mich und gehe nach draußen. Keiner der Roboter hält mich auf. Diese Maschinen sind bei weitem noch nicht ausgereift. Durch Ausprobieren habe ich nach und nach herausgefunden, wie man sich an ihnen vorbeischleicht, ohne dass sie einen wahrnehmen.

Auf dem Flur verrichten die Putzautomaten ihr Tagwerk – noch schlechter als in früheren Zeiten die Frauen mit den Kopftüchern. Aber die wurden abgeschafft oder mit Arbeitsverbot belegt, wie ich aus den Nachrichten gehört habe. Neue Gesetze nach diversen blutigen Anschlägen.

Mit meinen immer noch flinken Augen, die fast ein ganzes gewalttätiges Jahrhundert gesehen haben, erspähe ich den mechanischen Müllmann. Er ist ein primitives Modell und verfügt über keine Sensoren, die ihm anzeigen könnten, dass ich hinter ihm und den stinkenden Müllsäcken ins Freie schlüpfe.

Draußen werde ich fast von der Oktoberhitze erschlagen. Wie kann es sein, dass die Bäume schon ihr Laub verlieren und trotzdem noch die Luft so flirrt? Auch sonst kommt mir alles fremd vor. In welchem Teil der Stadt liegt dieses Abschiebeheim? Darüber habe ich mir keine Gedanken gemacht, als ich unterschrieben habe. Meine Einwilligung, dass ich an dem ersten Experiment mit „nichtmenschlichen Betreuungskräften“ teilnehme. Hatte ja keine Wahl. Die Rente aufgebraucht. Ein gleichgültiger Sohn. Das staatliche Seniorenheim völlig überfüllt.

Unsicher setze ich einen Fuß vor den anderen, bleibe immer wieder stehen, weil mir schwindlig wird. Ein junger Mann kommt mir entgegen, wirft einen erschrockenen Blick auf mich und flieht, als hätte er einen Geist gesehen. Auf der anderen Straßenseite gehen eine Frau und ein kleines Mädchen vorbei. Das Kind zeigt mit dem Finger auf mich und beginnt eifrig zu plappern, doch seine Mutter zieht es schnell weiter.

Peinlich wird mir bewusst, dass ich nur einen kurzen weißen Kittel und Pantoffeln trage und dass mein Kopf geschoren ist wie bei einem Sträfling.

Schwer atmend gelange ich zu einer Biegung und finde mich auf einer belebten Straße wieder. Erinnerungen an frühere Einkaufsbummel kommen in mir hoch. Das berauschende Gefühl, von der Menge getragen zu werden. Doch wenn man alt und schwach ist, wird man nicht mehr getragen, sondern geht unter. Ein Vorbeihastender rempelt mich an und bringt mich fast zu Fall. Sobald ich hilflos am Boden liege, werden sie mich zertrampeln, hier kümmert sich keiner um den anderen. Panik steigt in mir auf, dazu das Flimmern von den Wänden der Hochhäuser:

Zeig dem Alter die lange Nase! Anti-Wrinkles-OP mit unfehlbarer Robochirurgie!

 i-Pott! Der neue intelligente Küchendiener!

 Niemand beachtet mich. Die Menschen sind mit sich selbst beschäftigt. Noch gut erinnere ich mich an die Zeit, als alle wie besessen auf ihren Mobiltelefonen herumtippten. Völlig überholt! Eine Art Brille, kombiniert mit einem Knopf im Ohr, ist das neueste Spielzeug. Dieses Gerät sagt den Trägern, wohin sie gehen und was sie kaufen sollen, und dient natürlich auch dem zwanghaften Schnattern mit unsichtbaren Gesprächspartnern.

Lärm und Hitze rauben mir den Atem, und ich drücke mich in einen Hauseingang, um Luft zu holen. Als gäbe es nicht schon genug Hektik, zieht nun auch noch eine Gruppe Demonstranten vorbei. „Nieder mit den USA! Wir sind Europa!“, skandieren sie.

Benommen, wie ich bin, glaube ich einen Moment an eine Sinnestäuschung: Auf einem der Hochhausmonitore erscheint das Bild einer kahlköpfigen Person, irre Augen funkeln fiebrig aus einem faltenzerfurchten Gesicht. Die Durchsage dazu wird von der Anti-Amerika-Demonstration übertönt. Aber ich kann mir denken, wie sie lautet: Achtung, Achtung! Eine einundneunzigjährige Frau ist aus einer Seniorenanstalt ausgebrochen. Die Dame ist verwirrt und dringend auf medizinische Hilfe angewiesen.

Fassungslos starre ich auf mein Quasi-Spiegelbild, bis es wieder verschwindet, um einem Werbespot über den 3-D-Printer twenty-twenty Platz zu machen.

Wie Ameisen flitzen die Passanten an mir vorbei, und plötzlich wird mir eine Sache ganz deutlich bewusst: Nicht einer von ihnen ist alt. Vor ein paar Jahren haben Omas und Opas das Straßenbild dominiert, man sah sie überall, zu Fuß oder einen Rollator vor sich her schiebend. Doch hier sind die Ältesten vielleicht sechzig bis siebzig, so wie mein Sohn, der sich nicht um mich kümmert, und versuchen ihr Alter durch gefärbte Haare und Schönheits-OPs zu verbergen. Sobald sie verschrumpeln, sich nicht mehr richtig bewegen können, Satzanfänge vergessen, werden sie abgeschoben zu den Robotern, die sich nicht an ihrer Verwirrtheit und Hilflosigkeit, ihrem Geruch und ihrer Inkontinenz stören. Hier ist die Welt der Jungen, unser Leben spielt sich woanders ab.

Wie die Maus in der Falle bleibe ich im Hauseingang stehen und zapple auch nicht, als mich Roboterarme fassen und in ein surrendes Elektroauto schieben.

 

 

 

 

Impressum

Texte: Melpomene
Bildmaterialien: Uwe Pacyna / PIXELIO
Tag der Veröffentlichung: 01.09.2013

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