Tote Tiere, die mich aus Glasaugen anglotzten. Das brauchte ich nicht. Die Sorge um meinen Bruder, die finsteren Schweizer Berge, die auf mich so gar nicht romantisch wirkten, und nun auch noch so etwas. Vor allem der Kopf einer Wildkatze mit rotem Fell erinnerte mich an etwas. Die grünen Murmeln in den Augenhöhlen ...
„Grüezi! Kann man helfen?“
Erschrocken fuhr ich herum. Ich hatte den Mann nicht kommen hören. Dann seufzte ich erleichtert auf, weil ich ihn vom Foto erkannte. Anfang vierzig, graumeliertes Haar, hohe Wangenknochen, südländischer Typ, die große Liebe meines kleinen Bruders.
„Herr Aquilotti! Gott sei Dank sind Sie da. Ich bin Vera Specht aus München, Jans Schwester. Ich hatte Ihnen auf die Mailbox gesprochen, aber Sie haben nicht zurückgerufen.“
„Pssst“, machte der Ladenbesitzer und sein Kopf schnellte in Richtung Hinterzimmer. „Entschuldigung“, flüsterte er dann. „Meine Frau arbeitet in ihrer Werkstatt hinten. Sie präpariert die Tiere und ich kümmere mich um den Verkauf.“
Feigling, tönte es irgendwo ganz hinten in meinem Kopf. Doch ich hatte im Moment ein drängenderes Problem, als den Kerl zu beschimpfen.
„Bitte sagen Sie mir, dass Jan hier ist“, flehte ich ihn an. „Oder hier war. Dass Sie ihn gesehen haben! Bitte!“
„Kommen Sie in mein Büro!“ Er winkte mich in einen kleinen Raum, der zum Glück frei war von ausgestopften Tieren – und wahrscheinlich außer Hörweite seiner Frau.
„Jan war nicht hier“, sagte Aquilotti, als er die Tür hinter uns geschlossen hatte. „Ich habe nichts mehr von ihm ... ich meine ... er hat mich mehrmals angerufen, aber ich habe das Handy die meiste Zeit ausgeschaltet gelassen. Ich brauchte Abstand. Setzen Sie sich doch erst einmal, Vera – darf ich Sie so nennen? Du liebe Zeit, was ist denn? Sie sind ja ganz aufgelöst.“
Tatsächlich konnte ich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Die ganze Taxifahrt von Chrum nach Hinterwalden hatte ich noch mit Bangen gehofft, dass ich mich geirrt hatte in meinem grausigen Verdacht, dass Jan hier war, bei seinem Geliebten.
„Entschuldigen Sie, ich mache mir solche Sorgen um ihn. Hätten Sie vielleicht ein Glas Wasser für mich?“
Während er den Raum verließ, um mir etwas zu trinken zu holen, versuchte ich meine Gedanken zu ordnen. Ich durfte noch nicht die Hoffnung aufgeben. Es bestand immer noch die Möglichkeit, dass Antonio Aquilotti mich anlog.
„Danke“, sagte ich, als er mir das Wasser brachte, und nahm einen großen Schluck. „Jan hat mir viel von Ihnen erzählt, Antonio. Er liebt Sie, Sie sind der Mann seiner Träume. Aber das beruht wohl nicht auf Gegenseitigkeit.“
Antonio setzte sich mir gegenüber.
„Jan ist mir keineswegs gleichgültig“, verteidigte er sich. „Aber die Situation ist nicht ganz einfach.“
„Haben Sie Angst, dass Ihre Frau Sie auch ausstopft und an die Wand hängt, wenn sie erfährt, warum Sie so oft ans andere Ufer nach München fahren? Das Geschäft gehört ihr, nicht wahr? Deswegen können Sie sich nicht so einfach scheiden lassen. Aber mit vierzigtausend Euro beziehungsweise fünfzigtausend Schweizer Franken sähe das alles ganz anders aus!“
Antonio sah mich an, als sei ich eine ausgestopfte Wildgans, die wieder zum Leben erwacht war und ihn hektisch mit den Flügeln schlagend zuschnatterte.
„Was denn für fünfzigtausend Franken?“, fragte er verblüfft. „So viel Geld hat er nicht. Jan ist Student und permanent knapp bei Kasse. Ich habe immer alle unsere gemeinsamen Ausgaben bezahlt.“
Seine Reaktion beseitigte meine Zweifel. In den Jahren, die ich nun schon als Lehrerin arbeite, habe ich einen inneren Lügendetektor entwickelt. Wenn ein Schüler behauptet, er hätte seine Hausaufgaben allein gemacht, merke ich genau, ob er die Wahrheit sagt oder nicht. Antonios Überraschung war echt. Er wusste nichts davon, dass der dumme verliebte Junge unserer dementen Tante vierzigtausend Euro abgeluchst hatte und mit dem Zug in die Schweiz aufgebrochen war.
„Antonio, entschuldigen Sie bitte, ich wollte Sie nicht verdächtigen. Aber Jan ist seit letzter Woche mit dem Geld verschwunden. Er hat es gestohlen. Ich habe auf seinem Computer seine Zugfahrkarte gefunden und bin ihm nachgereist. Heute morgen bin ich mit der Bahn in Chrum angekommen.“
„Chrum? Das ist ja noch ein gutes Stück weg von Hinterwalden.“
„Genau. Jan hat am letzten Freitag erst spät abends den Ort errreicht, weil sein Zug Verspätung hatte. Es hat gestürmt und geregnet, und er hat den einzigen Bahnhofsangestellten gefragt, ob ein Bus nach Hinterwalden fahre, aber der letzte war schon weg. Dann hat er ihn gefragt, ob es am Ort eine Jugendherberge gebe, wo er übernachten könne. Das weiß ich, weil ich den Mann angesprochen und ihm ein Foto von meinem Bruder gezeigt habe. Er sagte, es gebe keine Jugendherberge, aber er nannte ihm ein paar billige Pensionen, bei denen er sein Glück versuchen könne. Natürlich begann ich sofort, sie abzuklappern. Die ersten vier hatten entweder geschlossen oder ihre mürrischen alten Wirtinnen wussten von nichts und gaben sich kaum Mühe, Hochdeutsch mit mir zu reden. Die fünfte lag ganz oben am Ende einer steilen Straße und wirkte so schäbig, dass ich kaum klingeln wollte.“
Antonios Blick ruhte erwartungsvoll auf mir, während ich weitererzählte ...
Villa Freyheit. Erst als ich schon ganz nah davorstand, erkannte ich die Buchstaben über der Tür des heruntergekommenen Gebäudes. Das Schild mit der Aufschrift Zimmer frei lehnte unauffällig in einem Fensterrahmen.
Als ich klingelte, geschah lange nichts. Ich trat einen Schritt zurück und meinte an einem der oberen Fenster einen Schatten zu erkennen. Entschlossen, nicht aufzugeben, klingelte ich ein zweites Mal. Endlich hörte ich Schritte und die Tür öffnete sich.
Nach meinen Erfahrungen in den anderen Häusern hatte ich auch hier eine ältere Person erwartet, die mit dem Haus verfiel. Doch die Frau, die mir gegenüberstand, war noch jung, wenn auch nicht mehr jugendlich. Ihr rotes Haar, das sie locker hochgesteckt trug, stach aus der düsteren Umgebung hervor wie der einzige Farbtupfer in einem Schwarzweißfilm. Ein wenig ängstlich blickten mir ihre Augen unter farblosen Wimpern entgegen.
„Grüezi“, sagte sie leise und schenkte mir das erste, wenn auch scheue Lächeln seit meiner Ankunft in diesem trostlosen Kaff.
„Grüß Gott“, antwortete ich. „Entschuldigen Sie die Störung. Ich suche jemanden, der wahrscheinlich letzten Freitag bei Ihnen zu Gast war, einen jungen Mann, Anfang zwanzig ...“
„Nein, ganz bestimmt nicht“, wehrte die Frau ab. „Es hat hier so wenig Gäste um diese Jahreszeit. Und es war schon ganz lange niemand mehr hier.“
Es war nur ein unmerkliches Zucken in ihrem Gesicht, ein leichtes Zittern in ihrer Stimme. Doch das reichte, um meinen inneren Lügendetektor zum Vibrieren zu bringen. Ich setzte meine Lehrerinnenmiene auf und legte meine Hand in den Türrahmen.
„Bitte überlegen Sie doch noch einmal genau. Ein Mädchen hat mir nämlich erzählt, sie hätte ihn gesehen, wie er hier heraufstieg und bei Ihnen klingelte“, log ich nun meinerseits. „Etwa einen Meter fünfundsiebzig groß und schlank, halblanges dunkelblondes Haar, im Nacken leicht gelockt. Er hatte einen blauen Tramperrucksack bei sich und trug wahrscheinlich eine gelbe Regenjacke, denn es hat fürchterlich geschüttet an diesem Abend. Seine Nase ist so ähnlich wie meine. Ich bin nämlich seine Schwester.“ Mein Lachen sollte die Situation entschärfen, doch es klang gekünstelt.
Zum Glück war die Wirtin keine von der selbstsicheren Sorte. Sie errötete, lächelte dann leicht und ging zur Seite, um mich eintreten zu lassen.
„Ja, natürlich, jetzt, wo Sie es sagen, erinnere ich mich. Ich hab bloß gedacht, das wär schon viel länger her als letzte Woche. Die Tage sind so gleichförmig jetzt im Herbst. Kommen Sie herein, wollen Sie vielleicht Ihre Jacke ablegen?“
„Vielen Dank.“ Erleichtert trat ich in den Flur, hängte meine Jacke an die Garderobe und streckte ihr die Hand hin. „Vera Specht.“
„Estelle Frey. Mit Ypsilon am Ende. Darum heißt das Haus Villa Freyheit.“
„Ah, also kein Schreibfehler. Ist mir als Deutschlehrerin natürlich prompt aufgefallen.“ Auch ich versuchte gezwungen, witzig zu sein. Die Situation war verkrampft und nicht zum ersten Mal ärgerte es mich, dass ich nicht die offene Art meines kleinen Bruders besaß. Ich konnte ihn mir so gut vorstellen, wie er durchnässt in der Eingangstür stand und Estelle Frey mit entwaffnendem Lachen erzählte, dass er eine trockene Unterkunft für eine Nacht suche. Sie hatte ihn dann wohl in die schäbige, aber gepflegte kleine Küche geführt und ihm noch ein leichtes Abendessen serviert. Mir bot sie immerhin einen Tee an.
„Ich hab sowieso gerade Tee gemacht – für meine Mutter. Sie wohnt oben und kommt nie runter, weil sie nicht mehr so gut laufen kann. Aber starrköpfig, wie alte Leute sind, will sie nicht ins Erdgeschoss ziehen. Ich bring ihr geschwind den Tee und komm gleich wieder zu Ihnen.“
Hastig verschwand sie mit dem Tablett und ließ mich in der Stille sitzen. Aus einer Ecke starrte mich ein ausgestopfter Adler aus leeren Augen an. Jan hatte es bestimmt geschafft, auch in dieser düsteren Atmosphäre noch eine angenehme Stimmung zu verbreiten.
Oben hörte ich das Knarzen von Holzdielen und das Quietschen von alten Türen, dann gedämpft zwei Frauenstimmen, die jüngere von Estelle und eine alte herrische, die sich aufgeregt in harten kehligen Lauten unterhielten. Ob sie sich nur anschrien, weil die Mutter schwerhörig war, oder herrschte Aufregung wegen meines Besuchs? Ein paar Mal klopfte es hart auf den Boden – wahrscheinlich der Gehstock der Greisin.
Als Estelle wiederkam, ging sie ein wenig gebückter als vorher und ihr blasses Gesicht war von Röte übergossen. Sie setzte sich zu mir und schenkte mir Tee ein.
„Leben Sie ganz allein mit Ihrer Mutter?“, fragte ich.
„Ja, der Vater ist schon lange tot.“
Ich verzichtete darauf, nach einem anderen Mann zu fragen.
„Unsere Eltern sind auch früh gestorben“, erzählte ich stattdessen. „Mein Bruder Jan ist vierzehn Jahre jünger als ich. Deswegen fühle ich mich ihm gegenüber ein bisschen als Mutter und bin wohl überbesorgt.“
Oben knarzte das Gebälk.
„Ja, Mütter sind oft sehr besorgt um einen“, erwiderte Estelle. „Mehr als einem lieb ist.“ Sie flüsterte, als hätte sie Angst, die Alte könne sie hören.
Ein peinliches Schweigen entstand. Die junge Wirtin war unruhig, ihre Fingernägel krallten sich leicht in die Tischdecke. Sie wirkte wie eine Schülerin, die nicht gelernt hatte.
„Frau Frey“, sagte ich endlich und holte tief Luft. „Es kommt Ihnen sicher komisch vor, dass ich hier einfach so hereinplatze und nach meinem Bruder frage. Er war in Schwierigkeiten, und ich habe fürchterliche Angst, dass ihm etwas zugestoßen ist. Darum bitte ich Sie inständig – erinnern Sie sich an etwas, was er gesagt hat, worüber Sie mit ihm geredet haben? Alles kann wichtig sein.“
„Geredet? Ja, so belangloses Zeug halt ...“ Sie blickte nervös zur Decke, als hause dort oben ihre Erinnerung. „Jetzt weiß ich's wieder. Er hat gesagt, das ganze Tal hier käme ihm wie eine Falle vor. So als würden die Berge immer näher rücken, um dieses Spielzeugdorf zu zerquetschen ...“
„Wirklich?“ Seit wann gab mein Bruder poetisch-depressives Gerede von sich? Oder waren das ihre eigenen Gedanken? „Hat er auch gesagt, was er hier macht und wo er hinwill?“
Sie schüttelte energisch den Kopf, so dass sich ihr rotes Haar ein wenig auflöste.
„Nein, gar nichts. Und ich hab auch nicht gefragt. Ich weiß wirklich nicht mehr, was ich Ihnen sagen kann. Aber wollen Sie vielleicht das Zimmer sehen, in dem er übernachtet hat?“ Hastig erhob sich Estelle Frey und sah mich ungeduldig an.
Erstaunt ließ ich meinen dampfenden Tee stehen und folgte ihr die Stufen hoch ins erste Stockwerk.
„Wohnt Ihre Mutter auch auf dieser Etage?“
„Nein, noch eins höher.“
Ich besah die steile Treppe und fragte mich, wie eine behinderte alte Frau es jemals schaffen sollte, diese Stufen hinauf- oder hinunterzugehen.
Auf dem engen Flur reihten sich vier Türen aneinander, dahinter ging es um eine Ecke. Estelle ließ mich in Zimmer Nummer 1 eintreten.
„Da, schauen Sie sich um. Ich seh noch mal nach der Mutter.“
Hastig entschwand sie die Treppe hoch und ließ mich in dem kleinen Raum stehen. Ein rustikales Bett, Tisch, Stuhl, Schrank, Waschbecken. An den Wänden hingen Bilder von der kargen Berglandschaft, als gäbe es nicht genug davon, wenn man aus dem Fenster sah. Ich beugte mich über das Bett und hielt meine Nase an das Kissen. Die Bettwäsche roch feucht und modrig, als hätte hier seit Jahren niemand mehr geschlafen.
So leise es ging, schob ich mich auf den Flur. Von oben hörte ich Geräusche und eine Art trockenes Husten, dann Estelles Stimme, die schweizerdeutschen Worte konnte ich aber nicht verstehen.
Etwas sagte mir, dass ich die anderen Gästezimmer genauso unberührt vorfinden würde wie Raum Nummer 1. Doch das, was sich hinter der Ecke verbarg, zog mich unwiderstehlich an. Die erste Tür führte in das Badezimmer mit Dusche, daneben war die Toilette. Ein panisches Würgen ergriff mich bei dem Gedanken, dass mein Bruder hier nackt und hilflos geduscht hatte – doch wovor hätte er Angst haben sollen, wenn nur zwei Frauen im Haus waren?
Gegenüber der Dusche war noch ein weiteres Zimmer, ich öffnete es einen Spalt, es schien eine Art Abstellkammer zu sein, Staubsauger, Putzeimer, und in einer Ecke lehnte ein großer blauer Rucksack, wie ihn mein kleiner Bruder besessen hatte.
Bevor mein Gehirn verarbeiten konnte, was meine Augen gesehen hatten, hörte ich Schritte. Jemand kam langsam die knarzenden Treppenstufen herunter. Nicht Estelle, sie wäre schneller gegangen. Das waren alte Beine und ein Gehstock.
„Mutter, nein!“, ertönte Estelles Stimme schrill und verzweifelt, dann war plötzlich Ruhe. Vorsichtig schob ich meinen Kopf um die Ecke und sah eine koboldartig gebückte Gestalt mit dem Gehstock die Treppe herunterkommen und in Zimmer Nummer 1 gehen. Doch es war keine alte Frau. Eine alte Frau hat kein leuchtend rotes Haar und sie bewegt sich auch nicht so flink. Es war Estelle, die in dem leeren Zimmer verschwand und gleich darauf in harten, kehligen Lauten zu fluchen begann, nicht mit ihrer eigenen Stimme, sondern mit der einer alten Frau.
Ohne noch eine Sekunde zu überlegen, stürzte ich an dem offenen Zimmer vorbei, die Stufen hinunter, riss noch rasch meine Jacke von der Garderobe und flüchtete aus dem Haus. Kein einziges Mal blickte ich mich um oder lauschte hinter mich. Dann hetzte ich weiter den Abhang hinab, rannte und rannte, bis ich keuchend an der Straße stehenblieb und zitternd mein Handy hervorholte, um ein Taxi zu rufen.
Ich vermied es, Antonio Aquilotti in die Augen zu sehen, als ich meinen Bericht beendet hatte. Jetzt, da ich es in Worte gefasst hatte, erschien mir alles selbst ungeheuerlich. Doch ich hatte Jans Rucksack gesehen, das war eine Tatsache. Beim Gedanken an die gebückte Gestalt mit dem Gehstock in der Hand liefen mir immer noch kalte Schauder über den Rücken.
„Eins verstehe ich nicht“, brach mein Gegenüber die Stille. „Warum haben Sie nicht die Polizei gerufen?“
„Die hätten mich doch nur für hysterisch und verrückt gehalten“, erwiderte ich. „Der Rucksack allein ist ja kein Beweis. Theoretisch könnte Estelle den gleichen besitzen. Außerdem hatte ich immer noch die verzweifelte Hoffnung, dass er hier bei Ihnen ist. Oder hier war? Bitte, Antonio, wenn es so ist, sagen Sie es mir. Sagen Sie mir, dass ich mir das alles nur eingebildet habe.“
„Es tut mir leid, Vera. Aber Jan ist nicht hier. Außerdem – während Sie das Ganze erzählt haben, ist mir etwas eingefallen, was vor ein paar Jahren passiert ist. Hier in den Bergdörfern macht ja alles recht schnell die Runde. Es hieß, dass ... ach nein, ich will Sie nicht noch mit mehr grausigen Spekulationen belasten ...“
„Schonen Sie mich nicht, Antonio, ich will Gewissheit“, beharrte ich.
„Nun gut, es hieß, dass eine Frau jahrelang mit ihrer sehr dominanten Mutter allein in einem alten Haus gelebt hat. Als die Mutter dann gestorben ist, wollte die Tochter ihren Tod nicht wahrhaben und hat so getan, als wäre die alte Dame noch am Leben, zeitweise hat sie sogar mit ihrer Stimme gesprochen und ihre Kleider getragen ... aber das ist natürlich Unsinn. Ich glaube, man hat die Arme dann in ein Heim gebracht ...“
„Vielleicht ist sie wieder entlassen worden.“ Eine kalte Hand griff nach meinem Herzen. „Und Jan – oh, ich weiß, wie Jan manchmal war ... er ist ihr auf die Schliche gekommen und hat sie ausgelacht, der dumme Junge! Und dann ...“
„Oder sie hat sich in ihn verliebt und ihre Mutter, die immer noch in ihr lebte, hatte etwas gegen diese Liebe“, spann Antonio den Gedanken fort. „Kommen Sie, wir fahren hin!“, sagte er plötzlich.
„Sollen wir nicht doch die Polizei holen?“, gab ich nun zu bedenken.
„Was haben wir denn schon in der Hand?“, fragte er. „Dunkle Vorahnungen und Gerüchte! Nein, wir müssen uns das selbst ansehen. Ich schließe den Laden ab. Mein Auto steht draußen. Ich sage noch rasch meiner Frau Bescheid, dass ich etwas zu erledigen habe.“
Der Abend begann schon zu dämmern, als wir uns in Antonios Wagen der Villa Freyheit näherten. Wir hielten ein gutes Stück von dem Gebäude entfernt, und ich kauerte mich auf dem Rücksitz zusammen. Von dort sah ich immerhin, dass im obersten Stockwerk, wo die Alte hauste oder auch nicht, Licht brannte.
„Und wenn sie gar nicht aufmacht? Wenn sie Verdacht schöpft, weil du doch heute schon der Zweite bist, obwohl sonst nie jemand kommt?“, gab ich zu bedenken. Mein Herz hämmerte wild.
„Mach dir keine Sorgen“, antwortete Antonio und drehte sich vom Fahrersitz zu mir um. „Sie wird aufmachen, das ist ihr Job. Wir machen es so, wie wir es gerade besprochen haben. Ich bin ein Geschäftsmann auf Durchreise, der ein Zimmer für die Nacht sucht. Sobald die gute Estelle zu ihrer Mutter geht, mache ich dir die Tür auf, oder ich sage ihr, ich mache noch einen Spaziergang ins Dorf. Wir werden eine Gelegenheit finden, uns im Haus umzusehen.“
Er nahm seine Reisetasche vom Beifahrersitz und öffnete die Autotür.
„Antonio“, rief ich, als er schon mit einem Bein draußen war. „Glaubst du, dass Jan noch lebt?“
Er nahm meine Hand und drückte sie.
„Es wird alles gut, Vera“, flüsterte er. Dann stieg er aus und entfernte sich in Richtung der Pension. In der Dämmerung sah ich ihn vor der Villa Freyheit stehen und die Klingel drücken. Kurz darauf ging die Tür auf und er verschwand im Haus. Angst schnürte mir die Kehle zu. Er war nun allein mit dieser Frau – was würde sie ihm antun?
Der Himmel verfinsterte sich immer mehr und ich fühlte mich eingequetscht auf der unbequemen Rückbank. Entgegen Antonios Anweisung öffnete ich die Autotür, sah mich um, erblickte keine Menschenseele und kroch ins Freie. Es war nun empfindlich kühl und die steinernen Riesen warfen drohende Schatten ... als würden die Berge immer näher rücken, um dieses Spielzeugdorf zu zerquetschen ...
Langsam näherte ich mich der Villa Freyheit. Was für ein Hohn dieser Name doch war. Die Bewohnerin war eine Gefangene ihres Wahns und vielleicht hielt sie auch meinen Bruder gefangen. Ob es wohl einen Hintereingang gab? Als ich um das Haus herumging, hatte ich das Gefühl, mich immer weiter von der Welt der Menschen zu entfernen. Auf der anderen Seite des Abhangs gab es nur Wald und in der Ferne die übermächtigen Berge. Die Rückwand des Hauses war sehr schlicht: Ein Komposthaufen und eine Mülltonne, dahinter führte eine Treppe zu einem Kellereingang. Ich konnte nicht anders, als hinunterzugehen und die Klinke zu drücken. Als die Tür nachgab, überlief es mich eiskalt. Jetzt gab es kein Zurück mehr.
Ich befand mich in einer muffigen Waschküche, die einzige weitere Tür führte nicht zu einem finsteren Verlies, sondern zu einer Treppe. So leise ich konnte, stieg ich sie hoch und fand mich dort wieder, wo ich vor ein paar Stunden gewesen war. Die kleine Rezeption, die Küche, alles war wie zuvor – nur totenstill. Vor mir baute sich die Treppe zum ersten Stock auf und ich wusste, dass ich diese Stufen nun auch nehmen musste, jetzt da ich so weit gekommen war.
Um kein Geräusch zu machen, zog ich mir die Schuhe aus, nahm sie in die Hand und begann hochzusteigen. Als ich halb oben war, sah ich, dass die Tür zu Zimmer Nummer 1 offen stand. Von drinnen fiel ein Lichtschein auf den Flur und beleuchtete Estelles flammend rotes Haar, das über der Schwelle ausgebreitet lag. Eine Perücke, schoss es durch mein Hirn. Sie hat die ganze Zeit eine Perücke getragen.
Noch ehe ich einen weiteren Gedanken fassen konnte, tauchte Antonios Gesicht im Türrahmen auf. Mit rasendem Herzen rannte ich die letzten Stufen hoch und sank in seine Arme.
„Antonio“, flüsterte ich, „wo ist ...“
Weiter kam ich nicht, denn meine Frage beantwortete sich von selbst. Estelle lag reglos vor uns am Boden, ihr Haar war echt, genau wie das Blut, das von ihrer Stirn auf den Teppich tropfte. Mein Blick wanderte von ihr zu Antonio, und ich versuchte mich langsam aus seinen Armen zu lösen. Doch er packte mich mit eisernem Griff und presste mich gegen die Wand.
Wieder fiel mir die ausgestopfte Wildkatze in seinem Geschäft ein und ich wusste plötzlich, wie sich eine Maus fühlen musste, die naiv und gutgläubig vor die Krallen eines Raubtiers gelaufen war. Die dunklen Augen des Mannes wurden rund und begannen leicht hin und her zu rollen. Zwischen seinen vollen Lippen schob sich die Zungenspitze heraus, als wollte er noch ein wenig mit seinem Opfer spielen, bevor er es verschlang.
„Genau wie dein kleiner Bruder“, zischte das Wesen, das sich unter der Maske des charmanten Geschäftsmanns versteckt hatte. „Läuft mir nach und klammert sich an mich wie eine Klette ...“
„Du hast Jan getötet.“ Meine Stimme war nur noch ein Krächzen.
„Er ist zu mir gekommen letzten Freitag, mitten in der Nacht und ohne Gepäck. Das hat er dann wohl hier gelassen. Unser rothaariger Engel hier hat es anscheinend aus der Abstellkammer entfernt nach deinem Besuch heute, jedenfalls war es nicht mehr dort. Aber ich werde schon aus ihr rausprügeln, wo sie das Geld versteckt hat, wenn sie wieder zu sich kommt!“
„Warum?“, brachte ich heiser hervor. „Wegen deiner Frau?“
„Meine Frau!“ Er lachte so heftig auf, dass mir sein Speichel ins Gesicht sprühte. „Hast du vielleicht eine Frau gesehen in meinem Geschäft? Ich habe Jan nur vorgeflunkert, ich sei verheiratet, damit er nicht auf den Gedanken kommt, das zwischen uns könnte was Ernsthaftes werden. Als er dann unangemeldet auftauchte und mein Geheimnis entdeckte, machte er mir eine fürchterliche Szene und ging auf mich los. Es kam zu einer Rangelei, dabei ist er an eine Tischkante gestoßen und gestorben. Es war ein Unfall, verdammt! Aber wer sollte mir das glauben? Von dem Geld hat er mir nichts erzählt. Dabei käme mir das gerade recht, um hier meine Brücken abzubrechen.“
„Jan hat dich geliebt“, flüsterte ich und verfluchte mich innerlich, dass ich weder fähig war zu schreien noch mich sonst auf irgendeine Weise zu wehren. Mein Körper, meine Stimme, alles war gelähmt. Meine Hilflosigkeit schien seine Grausamkeit zu nähren, denn er lachte wieder auf, diesmal höhnisch und sarkastisch.
„Ich liebe ihn auch, Vera. So sehr, dass ich ihm seinen sehnlichsten Wunsch erfüllt habe. Dein kleiner Bruder darf für immer bei mir bleiben. Er ist nämlich ...“
Ein dumpfes Geräusch ertönte und das Grinsen auf Antonios Gesicht wich einem Ausdruck tumber Verblüffung. Bevor er sich umdrehen konnte, sauste ein zweiter Schlag auf seinen Kopf nieder. Sein Körper fiel vornüber, prallte gegen die Wand und riss mich mit zu Boden.
Über uns stand eine alte Frau. Sie atmete zwar schwer vor Anstrengung, doch der Ausdruck finsterer Entschlossenheit auf ihrem Gesicht ließ keinen Zweifel daran, dass sie ihren Gehstock auch noch ein drittes Mal als Waffe benutzen würde, sollte der Mann, der ihre Tochter bewusstlos geschlagen hatte, noch nicht erledigt sein. Estelles geheimnisvolle Mutter – es gab sie also doch.
„Aber nur fünf Minuten, sie braucht Ruhe“, ermahnte mich die Krankenschwester.
Ich setzte mich an Estelles Bett und nahm ihre Hand. Sie war bei Bewusstsein, durfte sich aber wegen der Gehirnerschütterung nicht bewegen.
„Es tut mir so leid“, flüsterte sie. „Ich hätte Ihnen gleich die Wahrheit sagen sollen.“
„Mir tut es leid“, beschwichtigte ich. „Schließlich habe ich Ihnen Jans Mörder ins Haus geholt.“ Es erstaunte mich selbst, dass ich diese Worte so einfach aussprechen konnte. Schmerz und Trauer würden mich wohl erst später überwältigen. Noch war ich innerlich wie betäubt.
„Jan und ich haben uns auf Anhieb verstanden an dem Abend, an dem er vor meiner Tür stand“, erzählte Estelle. „Er wirkte so verzweifelt. Das schlechte Gewissen, dass er Geld gestohlen hatte, machte ihm zu schaffen. Ich hörte ihm zu, ich habe ja so selten jemanden zum Reden ... er erzählte mir auch von seinem Freund, den er so leidenschaftlich liebte. Für ihn war er zum Dieb geworden, damit sein Liebhaber sich von seiner Frau loskaufen kann. Aber plötzlich war er sich nicht mehr sicher, ob sein Freund ihn auch liebt. Ja, er war misstrauisch ihm gegenüber, und irgendwann sagte er, er werde noch heute zu ihm fahren. Ich bat ihn, doch noch eine Nacht drüber zu schlafen, es war ja schon spät, aber er war nicht davon abzubringen. Also rief ich ihm ein Taxi und gab ihm den Hausschlüssel.“
„Ach, Antonio hatte den Schlüssel bei Jan gefunden. Deshalb kam er ohne zu klingeln ins Haus“, rief ich aus.
„Ich hätte natürlich die Polizei rufen sollen, als Jan am nächsten Tag nicht zurückkam“, berichtete Estelle weiter. „Das wollte ich eigentlich auch tun. Aber meine Mutter war dagegen. Sie sagte, ich könne das Geld doch so gut gebrauchen. Sie will, dass ich endlich von hier weggehe und irgendwo ein neues Leben beginne. So verging über eine Woche. Und als Sie dann vor der Tür gestanden sind, bin ich in Panik geraten. Ich wollte nach oben und meine Mutter um Rat fragen. Ich bin wie ein kleines Kind, das immer zu seiner Mutter läuft, es ist furchtbar!“
„Nicht aufregen, Estelle, bitte!“
„Also, ich habe Sie in das Zimmer Nummer 1 geschickt und bin hoch zu meiner Mutter und sie sagte, sie werde höchstpersönlich runterkommen und Sie zum Teufel jagen. Und ich hab ihr verboten, das zu tun, und hab ihr sogar ihren Gehstock weggenommen, ohne den schafft sie es nämlich nicht die Treppen runter.“
„Ich bin so erschrocken, als ich Sie mit dem Gehstock gesehen habe, Estelle. Wie kindisch von mir! Außerdem dachte ich, Sie reden mit der Stimme Ihrer Mutter.“
„Hab ich ja auch. Ich hab meine Mutter nachgeäfft, weil ich wütend auf sie war. Das mach ich immer, ist so in mir drin. Es tut mir so leid, dass Sie das missverstanden haben. Nachdem Sie weg waren, habe ich den Rucksack in die Mülltonne geworfen. Als ich wieder ins Haus gegangen bin, hab ich dann wohl vergessen, die Kellertüre abzuschließen, was letztendlich mein Glück war. Es tut mir so leid, Vera. Es tut mir auch so leid, dass Jan ... Er war so ein lieber Kerl.“
„Schon gut, Estelle. Schlafen Sie jetzt.“
Noch einmal drückte ich ihre Hand, dann verließ ich das Krankenzimmer, hoffend, dass diese Frau es schaffen würde, irgendwann ein eigenes Leben zu beginnen.“
Draußen erwartete mich ein Polizist. Sein verlegener Gesichtsausdruck verriet mir schon, was er mir sagen wollte.
„Sie haben die Leiche meines Bruders gefunden?“, fragte ich.
Er senkte kurz den Blick und atmete dann tief durch. „Herr Aquilotti hat es uns, ohne zu zögern, gesagt. Er war sogar stolz darauf.“
Der Mann hielt inne und schluckte. In meiner Magengrube begann eine Schar kleiner Insekten zu krabbeln.
„Herr Aquilotti ist Tierpräparator von Beruf“, sagte der Polizist und brach wieder ab, um mich am Arm zu fassen und zu einem Stuhl zu führen. Vermutlich war ich bleich wie eine Wachsfigur geworden. Weitererzählen musste er nicht, denn mir kamen wieder Antonios letzte Worte in den Sinn: Dein kleiner Bruder darf für immer bei mir bleiben. Er ist nämlich ...
Texte: Melpomene
Bildmaterialien: Rainer Sturm / pixelio.de
Tag der Veröffentlichung: 23.01.2013
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