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Wie golden der Heiligenschein leuchtete! In welch makellosem Weiß das Gewand des Gottessohnes erstrahlte. Wie milde belehrend er den Zeigefinger hob! Und wie schäfisch die Zuhörer an seinen Lippen hingen, alle mit dem gleichen frömmigkeitsverschleierten Antlitz!
Selig sind, die da geistlich arm sind, denn ihrer ist das Himmelreich.


Eine unsäglich leblose Darstellung der Bergpredigt – irgendein unbegabter Maler hatte sie an die Wand der kleinen Klosterkapelle gekleckst, wohl um sich beim Heiligen Offizium lieb Kind zu machen.
Träge führte Rosario den Pinsel über die Leinwand und warf von Zeit zu Zeit einen Blick auf das Machwerk. Die junge Malerin hatte schon viele mittelmäßige Bilder kopiert und dabei gelernt, ihren eigenen Künstlerwillen zu bändigen. Doch heute, an diesem unbarmherzig heißen 30. Juli 1843, schienen Dämonenflügel die weihrauchgeschwängerte Luft zu bewegen. Hauch dieser blutleeren Szene Leben ein,

raunte ihr eine von heißem Wind herbeigetragene Stimme ins Ohr. Immerhin soll das Gemälde nach dem Willen Ihrer kindlichen Majestät, Isabella von Spanien, im Palast hängen.


Rosario fuhr herum. Niemand stand hinter ihr. Sie war allein mit Christus und einer stumpfsinnigen Menschenmenge. Die höllische Hitze Madrids, die nicht einmal vor Klostermauern Halt machte, verwirrte ihr die Sinne.

„Ehrwürdige Mutter, ich würde dieses eindrucksvolle Bild gern täglich betrachten“, offenbarte die erst zwölfjährige Königin Isabella der ehrfurchtgebietenden Äbtissin Graciana.
„Es wäre mir eine Ehre, es Ihrer Majestät zur Verfügung zu stellen, doch leider handelt es sich um ein Fresko“, erwiderte eine tiefe Frauenstimme. Das Gesicht der Nonne blieb im Dunkeln.
Das Mädchen lächelte mit scheuer Würde. Selig sind, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen. „Mit Ihrer Erlaubnis werde ich meine Zeichenlehrerin Señorita Rosario Weiss zu Ihnen schicken, damit sie eine Kopie auf Leinwand anfertigt. Sie war Schülerin des großen Hofmalers Francisco de Goya.“
„Goya?“ Wie eine Klinge zerschnitt die Stimme der Äbtissin die Luft.



In was für Tagträume verirrte sich Rosarios Geist denn heute? Sie war doch bei dieser Unterredung überhaupt nicht dabei gewesen. Und die Ehrwürdige Mutter Graciana hatte sie noch nicht zu Gesicht bekommen. Kopfschüttelnd wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder der Bergpredigt zu.

Wenn dich jemand auf die linke Wange schlägt, so halte ihm auch die rechte hin! Und wenn dir jemand den Mantel nimmt, so verweigere ihm auch den Rock nicht.


Ha, was mussten die Zuhörer für Gesichter gemacht haben, als ihnen jemand so eine ungeheuerliche Botschaft entgegenschleuderte? Wie im Spaß begann Rosario den Leuten entsetzte Glotzaugen zu malen und riss ihnen die Münder auf, weit genug, um solch schwer verdauliche Brocken hineinzustopfen.
Christus konnte dieser Masse aber unmöglich so weiß und statuenhaft erschienen sein. So eine Figur hätte der Pöbel ausgelacht. Er musste eine gewaltige, keinen Widerspruch duldende Ausstrahlung gehabt haben. Also veränderte die Malerin die Züge des Gottessohns und färbte seinen Umhang etwas dunkler. Die Dunkelheit hat eine stärkere Anziehungskraft als das Licht,

das hatte Goya sie gelehrt.

Goya ... Vater ... auch er hatte Bilder direkt auf Mauerwerk gemalt, doch so ganz anders als der Bergpredigtpinsler. Die Quinta del Sordo – Landhaus des Tauben –

vor den Toren Madrids: ein Kabinett düsterer Traumgebilde. Rosarito, wie sie damals noch gerufen wurde, ein Kind, acht, neun Jahre alt. Mit staunenden Augen sah sie dem alten Mann zu, wie er mit rascher Hand den Pinsel führte, die unschuldigen Wände in die Bühne eines Höllentheaters verwandelte. Vollkommen still war es in seiner Welt, das wusste das Mädchen, denn er hatte es anschaulich in einer Szene gleich neben der Eingangstür dargestellt: Ein Greis mit langem weißem Bart stützte sich auf seinen Stock, von hinten umfasste ihn ein affengesichtiges Wesen und brüllte ihm Worte ins Ohr, deren gräulichen Sinn der Betrachter nur erraten konnte. Keine Reaktion des Alten. Goya malte in seinem eigenen Universum, schöpfte aus seinem langen Leben in einer Zeit voller Unruhen, Kriege und Revolutionen.

Immer schneller wurde Rosarios Pinsel, führte in einem wilden Tanz ihre Hand über die Leinwand. Schwindel und ein dumpfes Dröhnen in den Ohren bemächtigten sich ihrer, und wieder überkam sie das Gefühl, nicht allein in der kleinen Kapelle zu sein. Ein Schatten fiel auf den Boden neben der Staffelei. Blitzartig tauchte der von einem Schleier bedeckte Kopf einer heimtückisch grinsenden Frau auf. Dann sah sie einen zweiten Schatten, eine andere Frau, die ein Messer hielt und es gleich schwingen würde. Erst als ihr Körper auf dem harten Boden aufprallte, begriff Rosario, dass dieser Schatten ihr eigener und das Messer ihr Pinsel war.
„Señorita, Señorita ...“ Wie durch eine Schicht aus mehreren Vorhängen vernahm die Malerin die Stimme einer Nonne. Warum klang sie so gedämpft? Verlor sie nun auch das Gehör wie ihr Vater?

„Was macht die Frau mit dem Messer, Papa? Will sie ein Schwein schlachten?“ Rosarito hatte die Frage auf ein Stück Papier gekritzelt. Sie konnte den Blick nicht abwenden von der Gestalt, die eine große Klinge schwang und sich mit konzentriertem Gesichtsausdruck etwas oder jemandem außerhalb des Bildes zuwandte.
„Ein Schwein?“ Goya sann über ihre Worte nach. „In ihren Augen war er das sicher. Oder eher ein Ungeheuer, das ihr Volk verschlingen wollte.“
„Verschlingen? Er wollte die Menschen wirklich alle auffressen?“ Das Mädchen packte ihren Vater am Arm und formte die Worte deutlich und aufgeregt mit den Lippen.
„Nein, nicht so, wie du denkst, Rosarito“, lachte der Maler. „Der Name der Frau war Judith und das Ungeheuer hieß Holofernes. Er wollte ihr Volk unterwerfen, so wie Napoleon Spanien unterwerfen wollte. Deshalb schlug sie ihm den Kopf ab.“

Huschen von Röcken und aufgeregtes Schnattern. Ihre energische Mutter Leocadia, die mit Goya schimpfte, weil er dem Kind Schauergeschichten erzählte? Nein, Nonnen – geschäftige, Frömmigkeit ausdünstende Frauen. Rosario spürte warmes Blut ihren Hals herabrinnen. Beim Versuch, sich aufzurichten, durchfuhr ein stechender Schmerz ihre rechte Schulter. Doch der schlimmste Schock kam, als sie die Augen öffnete: Auf dem Gemälde, das ihre Kopie der blutleeren Bergpredigt darstellen sollte, glotzte eine stumpfsinnige Menge aus zusammengepferchten Leibern einen schwarzen Ziegenbock an, der mit Sicherheit nichts von Nächstenliebe predigte.
„Señorita, halten Sie bitte still. Schwester Magdalena will Ihnen die Wunde verbinden“, flüsterte jemand an Rosarios Ohr. Ein schwarz verhüllter Körper versperrte ihr die Sicht auf den Ziegenbock und eine Hand drehte ihren Kopf zur Seite.
Unvermittelt tauchte die Malerin in das Bild ein. Sie war nun eines der Wesen, die in Hitze und Wahnsinn einem Gegenevangelium lauschten und einander zur Seite stießen, um die beste Aussicht auf den dunklen Meister zu erhalten. Aufgedunsene Leiber drängten sich an sie, Gestank nach Schweiß, Fett und dampfendem Blut benebelte ihr die Sinne.
Halt still,

flüsterte die quengelnde Stimme der Vernunft und schubste Rosario zurück in ihren schmerzenden Körper. Sonst denken sie, du bist besessen, und bringen dich auf den Scheiterhaufen.


„Ich verstehe das nicht“, jammerte eine atemlose junge Stimme. „Ich bin hereingekommen, um ihr frisches Wasser zu bringen. Dabei muss ich sie erschreckt haben. Sie hat plötzlich aufgeschrien, dann ist sie umgefallen.“
„Die Hitze – davon wird vielen schwindlig“, erwiderte eine ältere und abgeklärtere Stimme. Sie gehörte wohl zu Schwester Magdalena, die gerade die Kopfwunde säuberte.
„Vielleicht auch der Geruch der Farbe“, bemerkte eine dritte Nonne. Rosario stellte sich vor, wie eine hagere Gestalt mit zusammengekniffenen Lippen das gotteslästerliche Gemälde musterte.
Trotzig befreite sich die Malerin vom Würgegriff der Vernunft und sank noch einmal in ihr eigenes Bild – diesmal verzog sie sich ganz in die hinterste Ecke, wo sie den Tumult beobachten konnte, ohne selbst daran teilzuhaben.

„Wer ist die junge Frau, die dort so abseits des Geschehens sitzt? Francisco, ich rede mit dir!“
Rosarito kannte die Szene nur zu gut: Papa starrte einfach abwesend in die andere Richtung, wenn er keine Lust hatte, auf Mamas Fragen einzugehen. Doch Leocadia blieb hartnäckig, packte ihn an den Schultern und schüttelte ihn, bis er sie ansah und gezwungen war, von ihren Lippen abzulesen:
„Wer ist diese Frau? Warum sitzt sie abseits von den anderen?“
„Woher soll ich das wissen, meine Liebe?“, antwortete Goya gelassen. „Ich bin es nicht, der diese Wesen erschafft. Sie kommen und ich banne sie auf die Wände, das ist alles. Die Zeiten, in denen ich für schnöden Lohn Könige und Minister porträtierte, sind vorbei.“
„Ein Hexensabbat mit einem schwarzen Ziegenbock! Willst du doch noch vom Heiligen Offizium verhaftet werden?“ Leocadias Sorge war berechtigt. Es war die Zeit, als die Inquisition noch einmal zu einer letzten wütenden Flamme aufloderte, bevor sie ein paar Jahre später endgültig zu Asche verglühte.
Aufgebracht wandte sich Goyas Gefährtin der gegenüberliegenden Wand zu. Dort formierte sich der nächste Albtraum: Langsam, aber mit monströser Beharrlichkeit wälzte sich eine Lawine aus Menschenkörpern dem Betrachter entgegen: Die Vorangehenden verdrehten die Augen wie die Möchtegernvisionäre, die man jedes Jahr bei der Prozession am San-Isidro-Festtag sah. Oder wie Irre, die aus der Anstalt ausgebrochen waren ...

„Sie wacht auf!“ Der Satz wurde von mehreren Frauen gleichzeitig ausgesprochen und hallte einem Echo gleich von den Wänden wider.
Rosario war zurück in ihrem schmerzenden Körper. Panische Übelkeit stieg in ihr hoch, als ihr klarwurde, dass sie hilflos auf dem Boden lag, der Willkür der Kreaturen ausgeliefert, die aus schwarzen Schleiern auf sie herabblickten. Das Licht der Abendsonne fiel durch die bunten Fenster und verwandelte ihre Gesichter in abartige Fratzen. Die schlimmste gehörte der Äbtissin, Schwester Graciana. Rosario versuchte, nicht zu schreien, als die schreckliche Frau sich über sie beugte und lockend ihre riesige Hand nach ihr ausstreckte. Trotz ihrer Schmerzen richtete sie sich zum Sitzen auf und versuchte wegzurutschen, obwohl sie wusste, dass hinter ihr ein Abgrund lauerte.

„Ist das eine Puppe, Papa?“, formte das Mädchen mit den Lippen.
Vier dämonische Wesen, zu einer mehrköpfigen Missgeburt verwachsen, schwebten über einer irrealen Landschaft. Eine von ihnen hielt ein winziges Menschlein auf der flachen Hand und betrachtete es wie ein gefangenes Insekt.
Der alte Mann lächelte traurig: „Es gibt Mächte, die mit uns Menschen spielen wie mit Puppen, Rosarito.“
„Und warum hat die Frau, die uns ihr Gesicht nicht zeigt, eine Schere in der Hand?“, fragte das Kind weiter.
„Unser Leben ist wie ein Faden, der von einer Spule abgewickelt wird“, erwiderte Goya. „Und wenn sie

meinen, der Faden sei lang genug ...“ Er machte eine Schnippschnapp-Bewegung mit den Fingern.

„Señorita, Sie sind verwirrt, bitte versuchen Sie aufzustehen, ganz ruhig.“ Rosario fiel es schwer, die freundlichen Worte mit den Lippenbewegungen der Äbtissin in Einklang zu bringen. Das Gesicht der alten Frau war eine feixende Maske, wie sie die Tanzenden am Ende des Karnevals trugen, wenn sie feierlich eine Sardine beerdigten. Rosarios Augen nahmen eine völlig andere Welt wahr als ihre Ohren.
Plötzlich ging die Vernunft dazwischen und befahl ihr, nur den Sinneseindrücken der Ohren zu trauen. Der Ohren ... welche Ironie! War es doch der Gehörsinn, der ihren Vater verlassen hatte ... Doch Rosario gehorchte. Sie schaffte es, sich aufzurichten und die Schere in Schwester Magdalenas Hand zu ignorieren, nicht zu schreien, als zwei Schwarzgekleidete sie an den Armen hochzogen und auf eine der Bänke setzten. Dann entfernten sie sich ein Stück und begannen über sie zu tuscheln, sich über sie lustig zu machen, schwenkten Arme und Beine vor Vergnügen. Auf der Leinwand hielten der finstere Ziegenbock und seine Gefolgschaft ihren Hexensabbat ab. Neben der Leinwand führten die zu einem schwarzen, formlosen Körper verschmolzenen Nonnen einen ekstatischen Tanz auf.
Wie ein Blitz durchfuhr der Schmerz Rosarios Schulter und stellte die alte Wahrnehmung wieder her: Sie sah sich selbst auf der Kirchenbank sitzen, neben ihr die Äbtissin, etwas abseits drei weitere Nonnen, die verlegen auf das gotteslästerliche Bild blickten. Schwester Graciana schickte das Trio mit einer Handbewegung hinaus.
„Ein ungewöhnlicher Christus, Señorita“, bemerkte die Äbtissin, als sie allein waren.
Rosario brachte kein Wort heraus. Sie hörte den Schmerz in ihrer Schulter pochen und das Blut in ihrem Kopf rauschen. Doch hinter diesen Geräuschen war noch etwas anderes – ein monotones Murmeln drang direkt aus dem Bild zu ihr. Sie konnte die Augen nicht von der Frau wenden, die in der hintersten Ecke, abseits von der Masse der Zuhörer, saß.
Eine kühle, trockene Hand legte sich auf ihre schweißnasse.
„Wie alt sind Sie, Señorita?“, fragte Schwester Graciana sanft.
„Neunundzwanzig, Ehrwürdige Mutter.“ Rosario hörte ihre eigene Stimme kaum. Sie sah der älteren Frau nur kurz in die grauen Augen und senkte den Blick gleich wieder. Woher sollte sie wissen, dass ihr milder Gesichtsausdruck Bestand hatte, dass nicht gleich die kichernde Fratze wieder zum Vorschein kam?
„Haben Sie eine Familie?“, fragte die Nonne weiter.
„Ich lebe mit meiner Mutter zusammen, in der Calle del Desengaño.“ Was sollten diese Fragen? Wollte die Alte sie aushorchen, ob sie ein anständiges Leben führte? Die Äbtissin war einflussreich, hatte Beziehungen zu Hofe und kannte sicher das offene Geheimnis, dass die Zeichenlehrerin der Königin Goyas spätgeborene Tochter war, auch wenn sie nicht seinen Namen tragen durfte, weil er Leocadia nicht geheiratet hatte.
„Es war sicher ein großes Privileg, von dem berühmten Goya unterrichtet worden zu sein, nicht wahr? Ich habe Bilder von ihm gesehen. Er stellte die Dinge oft so dar, wie sie sind, nicht wie sie scheinen.“ Die Äbtissin blickte erst auf das Fresko mit der harmlosen Bergpredigt, danach auf Rosarios Hexensabbat. Schließlich wies sie mit der Hand auf den Altar, wo eine sehr blutige Version des Gekreuzigten stand, wie geschaffen, um dem Volk Angst und Schrecken einzujagen. „Aber was ist nun echt? Welcher Christus ist nun der wirkliche, Señorita?“, ergänzte sie schließlich.
Rosario lief der Schweiß über das Gesicht. Hier stimmte etwas nicht. So eine Frage würde eine gottesfürchtige Frau niemals stellen. Die Augen der Nonne begannen aus den Höhlen zu treten wie bei den irrsinnigen Pilgern, wie bei den tuschelnden Ziegenbockanbeterinnen. Sie musste weg von diesem Ort, an dem sich Himmel und Hölle überlagerten – sofort.
Hastig erhob sich die Malerin und versuchte sich rückwärts zu entfernen. Dabei begann sie unzusammenhängend zu plappern: „Vater ... ich meine, Señor Goya ... war ein Genie. Ich dagegen bin mittelmäßig, eine Kopistin, nichts Besonderes. So wie Judith aus der Bibel. Sie war auch nichts Besonderes und wollte sich nur einmal im Leben hervortun, deshalb wurde sie zur Mörd...“
Sie stammelte noch weiter, doch ihre Stimme verlor sich in einem Meer aus Geräuschen: das Getuschel der Menschenmenge, das leise Zischen der Klinge und – immer lauter werdend – ein ekelerregendes Schmatzen.

Die Wand des Schreckens übte eine abscheuliche Faszination auf die kleine Rosarito aus. Auf der einen Seite schwang die finstere Judith ihr Messer. Doch im Vergleich zu dem, was neben ihr, verdeckt durch einen Schrank, lauerte, war sie harmlos. Mama hatte das Möbel mit Hilfe ihres Bruders vor das Bild gerückt, um sich selbst und ihre Tochter vor seinem

Anblick zu schützen. Doch was half es, wenn sie ihn

nicht sah? Rosarito hatte doch junge, empfängliche Ohren, und sie hörte das Schmatzen und Schlürfen aus der Ecke, zwischendurch sogar ein dumpfes Rülpsen.
Mit ganz vorsichtigen Schritten schlich sich das Kind an den Schrank heran, krallte sich dabei an seiner Kante fest und wagte endlich einen raschen Blick um die Ecke. Sofort schloss sie die Augen wieder und presste das Gesicht gegen das Holz, gab sich dem Schauder, dem panischen Klopfen in Brust und Hals hin. Nach einer Reihe rasender Herzschläge rang die Neugier die Angst nieder, und das Mädchen war wieder im Stande, hinzuschauen, diesmal ein wenig länger: Ein Monster, entsetzlich gerade in seiner Menschenähnlichkeit, starrte sie mit wahnsinnsgeweiteten Augen an. In den Händen hielt es einen bluttriefenden, nackten Körper und war gerade dabei, ihm einen Arm abzubeißen. Der andere Arm und der Kopf des Opfers waren bereits in seinem klaffenden, unersättlichen Maul verschwunden. Du musst aufpassen,

flüsterte die Stimme der Vernunft. Wenn du zu lange hinschaust, wird es dich hineinziehen in seine Welt und dich auffressen.


Rosarito schloss ganz fest die Augen. Dennoch fühlte sie eine Verbindung zwischen sich und dem Ungeheuer. Mit der Kraft seiner bösen Gedanken versuchte es, sie in seine Welt zu zerren. Fast übermenschliche Anstrengung kostete es das Mädchen, sich diesem Sog zu widersetzen, sich mit ihren schweißnassen Händen am glatten Holz des Schrankes entlangzutasten, zurück um die Ecke, zurück in die Wirklichkeit. Als sie es geschafft hatte, sank sie erleichtert in die Hocke.

Gleich hatte Rosario die Kapellentür erreicht. Schwester Graciana nahm sie nur noch als flackernden Umriss wahr, so als wäre sie gar nicht echt, hätte keine Substanz. Worte drangen von der geisterhaften Gestalt zu ihr. Es klang wie: „Ich bete für Sie, Señorita.“ Doch das passte nicht, das passte überhaupt nicht zu dem Bild mit dem schwarzen Ziegenbock und zu dem bluttriefenden Christus auf dem Altar. Es war dumm von der Vernunft, den Ohren den Vorzug einzuräumen. Sie war Malerin, sie musste ihren Augen trauen. Nie wieder würde sie die Autorität dieser herrisch flüsternden Stimme anerkennen.
Rosario riss die Tür auf und stürzte ins Freie. Die plötzliche Helligkeit blendete sie, und die Hitze nahm ihr fast den Atem. Sie zog sich ihr Tuch über den schmerzenden, von dem Verband entstellten Kopf und ging auf die Klosterpforte zu. Hinter sich hörte sie Huschen und Flüstern. Sich umzudrehen wagte sie nicht, doch neben dem Weg sah sie die Schatten von zwei Gestalten, die sie verfolgten.
„Haben Sie Ihr Werk vollendet, Señorita?“
Rosario fuhr heftig zusammen. Ihre Angst hatte sie so in Anspruch genommen, dass sie nicht bemerkt hatte, wie eine ältere Nonne sie ansprach. Es war die Pförtnerin, die den Eingang bewachte.
Vor ihr die Frau, die sie misstrauisch beobachtete, hinter ihr – nein über ihr – die beiden Verfolger. Mitten in der Luft hingen sie, ein Mann in Schwarz und eine Frau in Rot. Er wies nach vorne, auf die Welt hinter dem Klostertor, sie dagegen blickte ängstlich zurück.
„Was ist, Señorita?“, fragte die Pförtnerin. Die Nonne schien sich vor Rosarios Augen aufzulösen, ein Geist, der den Durchgang zwischen zwei Welten bewachte.
„Bitte lassen Sie mich gehen“, flehte die Malerin. „Ich muss ... nach Hause ... zu meiner Mutter.“
Die geisterhafte Gestalt bewegte sich auf das Tor zu und schob einen Riegel zurück. „Natürlich“, drang eine freundliche Stimme, die nicht zu dem höhnischen Grinsen in ihrem Gesicht passen wollte, an Rosarios Ohr. „Die Luft ist aufgeladen. Es wird ein Gewitter geben. Ich hoffe, Sie schaffen es vorher noch nach Hause. Gott segne Sie, Señorita.“
Die schwere Tür fiel ins Schloss, und Rosario fand sich in einer Ansammlung von Bettlern wieder. Ein einbeiniger Krüppel hängte sich an ihren Arm und benetzte sie mit seinem Speichel. Angewidert stieß sie ihn von sich und flüchtete in eine schmale Gasse. Dort traf sie auf zwei verdorben aussehende Frauen, die sich über einen Idioten amüsierten, der sich in einer Häuserecke selbst befriedigte. Ein paar Abzweigungen weiter unterhielt sich eine verschwörerische Gruppe von betrunkenen Männern. Als die junge Frau an ihnen vorbeihastete, schickten sie ihr obszöne Pfiffe hinterher.
Auf der Hauptstraße konnte Rosario endlich in der anonymen Geborgenheit der Menge untertauchen und sich von ihr in Richtung der Puerta del Sol tragen lassen, von wo es nicht mehr weit zu ihrem Heim in der Calle del Desengaño war. Doch die Erleichterung währte nur kurz. Wie die Pförtnerin bemerkt hatte, war es gewitterschwül. Die erdrückende Hitze eines langen Sommertags hatte Madrid in einen dampfenden, stinkenden Moloch verwandelt, und die sich immer mehr zuziehende Wolkendecke verhinderte, dass die aufgeladene Luft entweichen konnte. Nur äußerlich menschliche Kreaturen bewegten sich durch die Straßen, keine eigenständigen denkenden Persönlichkeiten, sondern willenlose Gliedmaßen eines gewaltigen Organismus. Schreiend, lachend und fluchend vermischten sie sich zu einem gewaltigen Strom, flossen einem Meer entgegen, das sie alle verschlucken würde ... und Rosario wurde mitgerissen.

Ein entsetzliches Pochen im Kopf weckte das Mädchen Rosarito. Auch Schultern und Rücken taten ihr weh, und als sie sich schlaftrunken umschaute, begriff sie, warum. Sie lag nicht in ihrem Bett, sondern auf dem harten Boden im Flur. Der Mond war aufgegangen und tauchte die bemalten Wände der Quinta in ein silbrig-unwirkliches Licht. Wie war sie hierhergekommen? Rosarito wusste es nicht, doch sie wusste, dass sie sich nicht bewegen durfte, denn dann würden die beiden Geister sie bemerken, die genau über ihr schwebten – eine Frau in Rot und ein Mann in Schwarz, die beide in unterschiedliche Richtungen blickten.
Trotz der Wärme der Sommernacht fror das Mädchen. In ihrem Kopf spukten schwarz gekleidete Frauen herum, die seltsame Tänze aufführten, ein Mann auf einem Bein verfolgte sie, und zuletzt sah sie sich in einer Menschenmenge, die sich unaufhörlich voranwälzte und sie gleich unter sich begraben würde.
Rosarito unterdrückte ein Wimmern, wagte kaum zu atmen. Die Tür zu ihrem Zimmer war nur wenige Schritte entfernt und stand offen, doch genau diese paar Schritte würden sie verraten. Das schmatzende Monster aus dem Erdgeschoss würde sie hören, sobald sie auch nur die kleinste Bewegung machte. Schon meinte das Mädchen seine stampfenden Schritte auf der Treppe zu hören, gleich würden die wahnsinnsgeweiteten Augen aus der Dunkelheit hervorleuchten – und aus dem aufgerissenen Maul würde Blut triefen ... ihr Blut.

Tiefer und tiefer senkte sich die Wolkendecke auf Madrid herab. So viel Hass und Gewalt hatte die Stadt in den vergangenen Jahrzehnten erlebt. All das hing immer noch in der Luft, klebte an den Fassaden der Häuser und steckte im Boden wie ein Gift, das den festen Grund an gewissen Tagen in einen klebrigen Sumpf verwandelte, so auch heute an diesem unbarmherzig heißen 30. Juli 1843.
Vernunft- und willenlos wälzte sich die Masse der Puerta del Sol entgegen. Dort wartete schon eine andere Masse, ein vor Wut brodelnder Mob. War der Kampf, der nun entbrannte, nicht unausweichlich, ein Naturereignis wie eine Sturmflut oder ein Erdbeben? Niemand stellte diese Fragen, auch nicht die königlichen Schergen, die herbeieilten, um die Kämpfenden zu trennen, und dabei noch mehr Unheil anrichteten.
Rosario war im rasenden Herzen der Menge gefangen. Längst hatte sie es aufgegeben, nach links oder rechts, vorn oder hinten auszuweichen, weil sie immer wieder auf neue Körper stieß, immer wieder geschubst und getreten wurde. So flüchtete sie an den einzigen Ort, der ihr noch offen stand – ihr Inneres. Dort angekommen umgab sie Stille, die absolute Stille, die auch ihr Vater gekannt hatte. Und sie sah mit seinen Augen: Statt der vielen hundert Gesichter, Arme, Beine und Rümpfe erblickte sie nur noch zwei Männer. Auf einem weiten Feld steckten sie knietief im Sumpf fest und schlugen mit Knüppeln aufeinander ein. Kein Entkommen gab es für die beiden, sie würden in alle Ewigkeit aufeinander einprügeln oder einfach versinken – so wie sie selbst schon halb versunken war ...

Trotz ihrer Angst musste Rosarito noch einmal für kurze Zeit eingeschlafen sein. Als sie erwachte, war das Mondlicht weitergewandert und erhellte nun das Bild von den beiden Männern, die mit Knüppeln kämpften. Unentrinnbar steckten sie im Sumpf fest und schlugen aufeinander ein, anstatt sich gegenseitig zu helfen.
Und noch jemanden gab es, der feststeckte. Das Bild – ihr liebstes in diesem Haus voller düsterer Albträume – war ganz nahe bei Rosarito, sie konnte auf allen vieren zu ihm krabbeln und es mit unendlicher Schwermut betrachten. Ein einsamer kleiner Hund, verloren in einer Flut aus gelbem Licht, versank langsam in einer zähen Masse – Sand, Sumpf, Wasser? Nur der Kopf sah noch heraus, seine Augen blickten auf etwas ... einen Felsen oder den Schatten eines Hundegottes? Rosarito wollte noch länger über diese Frage nachdenken, doch sie fühlte, wie ihre Lider schwer wurden, und rollte sich vor dem Bild des versinkenden Hundes zusammen.

Ein Schrei zerriss die Morgendämmerung – die Klage einer Mutter, die sich über den leblosen Körper ihrer Tochter beugte.
Rosarito schlug die Augen auf. Sie sah ihre Mutter und sah sie doch nicht, denn Leocadia war alt geworden, ihr Haar ergraut, ihr Gesicht faltig, gezeichnet von unbeschreiblichem Leid. „Mein Kind!“ Ihre Stimme war nicht mehr als ein heiseres Flüstern. „Mein Kind ist tot! Was haben sie ihr angetan?“
„Nein, Mama, nein!“ Verzweifelt richtete Rosarito sich auf und schlang die Arme um ihren Hals. „Ich lebe doch, Mama. Ich habe nur geschlafen. Ich bin schlafgewandelt. Hörst du mich nicht?“

Etwas weckte Leocadia aus ihrer Lähmung. Die ganze Nacht lang hatte sie schreckliche Vorahnungen gehabt, als Rosario nicht von der Arbeit nach Hause gekommen war, während auf der Puerta del Sol wilde Straßenkämpfe tobten. Am Morgen danach hatte sie unter den aufgereihten Leichen den geschundenen Körper ihrer Tochter entdeckt, totgetrampelt von einer entmenschlichten Menge.
Wie lange sie den Leichnam schon in den Armen hielt, wusste sie nicht. Der Schmerz nahm ihr jedes Gefühl für Zeit, machte sie blind und taub für alle Reize der Außenwelt. Weder die Klagen der Menschen um sie herum, die genau wie sie einen schrecklichen Verlust erlitten hatten, noch das monotone Beten des Priesters drangen zu ihr durch.
Doch nun vernahm Leocadia ganz deutlich eine Stimme, Rosaritos Stimme: Ich lebe doch, Mama. Ich habe nur geschlafen. Ich bin schlafgewandelt. Hörst du mich nicht?




Impressum

Texte: Melpomene
Bildmaterialien: Wikimedia Commons
Tag der Veröffentlichung: 06.10.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
El sueño de la razón produce monstruos. Francisco de Goya

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