Cover


Hausfrauen haben von Klicken und Scrollen keine Ahnung und wissen nicht, was ihre Göttergatten so am Computer treiben? Diese Zeiten waren auch auf dem patriarchalen Olymp längst vorbei. ATHENE (Attackiere Technische Hürden – Erlebe Neue Emanzipation)

sei Dank. Die als Modemagazin getarnte Revolutionszeitschrift mit der behelmten Schönheit auf dem Cover, die der Postbote Hermes jeden Montag aus waghalsigem Flug in die Säulenhalle des Chefpalastes fallen ließ, enthielt sämtliche Tricks, wie man Passwörter knackt, Pornodateien aufstöbert und Seitensprungagenturen enttarnt.
Und keine olympische Hausfrau hatte dieses Wissen nötiger als die tausendfach von ihrem Gatten belogene und betrogene Hera, Stiefmutter unzähliger göttlicher und halbgöttlicher Bastarde und Zielscheibe des Spotts sämtlicher Klatschmedien, vor allem eines Schmuddeljournalisten namens Homer, für den sie sich in ihren finstersten Momenten Höllenqualen ausmalte, gegen die sich die Leiden des Tantalus und des Sisyphos wie Wellnessbehandlungen ausnahmen.
Heute war die Gelegenheit für Hera günstig, um ihre Karriere als Hackerin zu starten: Zeus traf sich zum Unterweltsgipfel mit seinen Brüdern Hades und Poseidon. Es ging mal wieder um die leidige Frage, ob ertrunkene Seeräuber in der Hölle oder auf dem Meeresgrund ewigen Qualen ausgesetzt werden sollten. Die drei waren irgendwo ganz tief unten, wo es kein WLAN gab, mit dem der Alte sein spionierendes Weib aufstöbern konnte. Also setzte die Göttin sich an den Rechner, folgte den Anweisungen aus ATHENE

und fand bald die geheimnisvolle Datei, mit der Zeus in den letzten Tagen die meiste Zeit verbracht hatte. Sie trug den verräterischen Namen Kallisto,

was die Schöne

bedeutet und sofort sämtliche tausendköpfigen Wachhunde in Heras Geist zum Bellen brachte.
Das Passwort herauszufinden entpuppte sich als recht einfach. Zeus war da erwartungsgemäß nicht sonderlich einfallsreich: Nach Ausprobieren einiger altgriechischer Synonyme für Kopulieren poppte das Willkommensmenü auf und Hera sah sich einer süßlich-kitschigen virtuellen Idylle gegenüber: Ein paar leicht bekleidete Nymphen fläzten im Kreis um einen Teich herum, flochten Lorbeerkränze und zählten kichernd die Top Ten der strammsten Hirten auf, die sie heimlich beim Schafehüten beobachteten.
Angeödet hörte Hera dem dümmlichen Geschwätz eine Weile zu. Nun, wenn das Zeus' neue spannende Lieblingsunterhaltung war, dann hatte er wohl seine wilden Jahre endgültig hinter sich und sie musste sich keine Sorgen mehr machen.
Die Göttermutter wollte schon den Fernseher einschalten, in dem gleich die neue Seifenoper „Trojan War – Schwerter, Sex und Schande“ begann (selbstverständlich von ihr persönlich zensiert, da die Serie ja auf Motiven von diesem verfluchten Homer beruhte), als in der Simulation lautes Hundegebell ertönte.
Mit Pfeil und Bogen bewaffnet, betrat ein hochaufgeschossenes, muskelbepacktes Mannweib die Bildfläche, begleitet von Dienerinnen, die einen frisch erlegten Hirsch herbeischleppten. Sofort sprangen die Nymphen auf und erwiesen der imposanten Gestalt ihre Ehrerbietung.
Wutfalten bildeten sich auf Heras Stirn und sie stieß das Wort „Bastardin“ aus, denn die Jägerin war niemand anders als Artemis, eines von Zeus' unehelichen Bälgern. Sie und ihr Zwillingsbruder, der blasierte Sänger-Schönling Apoll, hätten niemals aus dem Bauch dieses Luders Leto herauskriechen dürfen. Um die halbe Welt hatte Hera die von Zeus geschwängerte Schlampe gejagt, damit sie keinen Platz zum Werfen fand und die schändliche Brut in ihrem Leib verfaulte. Aber ihr dicker Bauch hatte sogar Poseidons Mitleid erweckt, und er hatte extra eine Kreiß-Insel aus dem Meer auftauchen lassen, wo sie unter entspannendem Wellenrauschen gebären konnte. Sie, Hera, war wieder vor allen als grausame, eifersüchtige Erinnye dagestanden – was wussten denn all diese Gutgötter schon davon, wie es ist, ständig vom eigenen Ehemann gedemütigt zu werden?
Immerhin war Hera die Genugtuung vergönnt, dass sich Apoll weibisch und Artemis unweiblich entwickelt hatte. Ihre riesige Gestalt, die dicken Oberarme und die Haare in ihrem kantigen Gesicht ließen jeden Kerl die Flucht ergreifen. Deswegen war die Jagdgöttin auch Jungfrau geblieben, nicht weil sie ein Gelübde abgelegt hatte, wie sie behauptete, sondern weil sich kein Mann an sie herantraute. Den Letzten, der sie zufällig nackt beim Baden gesehen hatte, hatte sie in einen Hirsch verwandelt und von seinen eigenen Hunden zu Tode hetzen lassen.
Außerdem fühlte sich Artemis wohl eher zu Mädchen hingezogen, denn sie näherte sich gerade mit vielsagendem Augenaufschlag der Hübschesten ihrer Nymphen und winkte ihr, sich neben sie unter einen Baum zu setzen.
„Massier mich mit duftendem Öl, Kallisto, ich bin ermüdet von der Jagd“, befahl sie mit einer Stimme, die tief und heiser wie das Brummen eines Bären klang.
„Es ist mir eine Ehre und ein Vergnügen, Herrin“, antwortete das Mädchen und begann den muskulösen Körper der Göttin unter sanften Bewegungen mit Olivenöl extra vergine zu massieren, was dieser so manches langgezogene Stöhnen entlockte.
„So viel zum Thema Keuschheit“, zischte die Göttermutter angewidert, als sie sah, wie Artemis Kallistos Gesicht zu sich herunterzog und sie ausgiebig auf den Mund küsste. „Hält sich einen Harem aus Nymphen, die nur der Befriedigung ihrer Wollust dienen und keinen Mann ansehen dürfen! Falsche Schlange!“
Apropos Schlange! Hera blieb der Mund offen stehen. Artemis war ja gar keine richtige Frau, sie war ein Zwitter, nein, plötzlich bildeten sich auch ihre Brüste zurück – ihr Lachen klang dröhnend und maskulin, als sie die verwirrte, zitternde Kallisto weg von den Gefährtinnen ins Gebüsch zerrte ...
„In flagranti, Zeus!“, brüllte Hera den Bildschirm an. „Lass sie los! Du wirst nicht auch noch die heile virtuelle Welt mit deinen Bastarden bevölkern!“
Erst nach ein paar Flüchen mehr wurde Hera bewusst, dass ihr treuloser Gatte, der mit Sicherheit nicht auf dem Unterweltskongress war, sie nicht hören konnte und sie doch noch zu sehr Hausfrau war, um zu wissen, wie man sich in die digitale Welt einmischt. ATHENE

hatte bisher noch nicht so viel Insiderwissen vermittelt, aber es gab einen Computerfreak im olympischen Hause, der ihr behilflich sein konnte ...

Das Kinderzimmer war das reinste Arsenal: Von der Holzkeule über den Morgenstern bis zur Kalaschnikow baumelten Waffen von den Wänden. Chipstüten und Coladosen übersäten den Boden, und mittendrin saß Heras Sorgenkind, den Controller der Playstation in der Hand, die blutunterlaufen Augen auf den Bildschirm gerichtet, wo gerade der Kopf des Titanen Koios in den Hades hinabrollte und eine üppige Blutspur hinterließ. Als seine Mutter das Zimmer betrat, stieß der Junge nur ein unwilliges Grunzen aus.
„Ares, ich muss mit dir reden!“, begann Hera.
„Nicht jetzt, Alte. Muss noch Chronos kastrieren.“
Lange fackeln half hier nichts. Hera drückte auf den Ausschaltknopf und baute sich in ihrer ganzen Autorität vor ihrem Sohn auf.
„Früher bist du wenigstens ab und zu zum Fechten oder Bogenschießen an die frische Luft gegangen“, keifte sie. „Und jetzt ... ein ganzes Weltzeitalter hast du schon verspielt mit diesem elenden Schwachsinn.“
„Weiß nicht, was du hast, Mum“, gab der Junge patzig zurück. „Ich bin der Kriegsgott, und Kriege führt man halt heutzutage auf diese Weise.“
„Ein schöner Kriegsgott! Sieh dich doch an, wie fett du geworden bist!“
„Da gerate ich halt ganz nach dir. Sagt der Olle auch immer!“
Hera hatte schon die Hand erhoben, hielt aber kurz vor dem durch Pubertät und schlechte Ernährung picklig gewordenen Gesicht inne.
„Diesmal will ich dir deine Unverschämtheiten nachsehen – wenn du mir hilfst.“
„Wobei? Soll ich einen Sterblichen um die Ecke bringen?“ In den Worten des jungen Gottes lag keine Flapsigkeit mehr, sondern heiliger Ernst.
„Ich nehme doch schwer an, dass sie sterblich ist.“ Hera winkte ihren Sohn in Zeus' Arbeitszimmer. Vor dem Computerbildschirm stieß Ares ein ordinäres Pfeifen aus: „Bei meinem unsterblichen Pimmel, das sind ja geile Ambrosia-Schnittchen!“
Angewidert sah Hera an ihm das gleiche ungeniert vulgäre Lippenlecken, das sie von seinem Vater kannte, und war für den Moment froh, dass er sich kaum aus seinem Zimmer rührte. Sonst wäre sie bestimmt schon mehrfache Bastard-Oma.

„Elende!“, ertönte es aus der Simulation. „Du hast dein Gelübde gebrochen und dich einem Mann hingegeben!“ Zornfunkelnd stand Artemis vor der zitternden Kallisto und deutete auf den gewölbten Bauch der Nymphe – die Zeit raste in der virtuellen Welt viel schneller dahin als auf dem Olymp.
„Aber Herrin, ich konnte nichts dafür! Ihr wart es doch!“, jammerte die Ärmste.
„Du unterstellst mir, ich hätte dich geschwängert?“
„Ihr kamt erschöpft von der Jagd zu mir. Und dann habt Ihr Euch in einen bärtigen Mann verwandelt.“
Artemis schlug ihr ins Gesicht. „Ich verbitte mir Witze über meinen Oberlippenbart, du unverschämte Dirne! Sei froh, dass ich Vorsitzende des Vereins zum Schutz ungeborenen Lebens bin, sonst wärst du jetzt tot. Aber ich will deinem Kind nicht schaden, darum verbanne ich dich nur. Geh und komm mir nie wieder unter die Augen!“

Ares brach in schallendes Gelächter aus, während Kallisto heulend im Wald verschwand.
„Alles klar, Mum, dieses Programm kann sich nur der Alte ausgedacht haben“, brachte er zwischen zwei Lachanfällen hervor. „In Titans' Nightmare spritzt das Blut auch viel schöner als in echt. Bestimmt ist's mit Cyber-Nymphen noch gei...“
„Du sollst nicht die kranken Fantasien deines Erzeugers nachahmen, sondern mir helfen zu verhindern, dass er auch noch virtuelle Bastarde in die Welt setzt! Zeig mir, wie wir am Spiel teilnehmen und das Luder umbringen können! Vielleicht können wir sie einen Hang hinabstürzen lassen oder wie wär's mit einem wilden Tier? Einem Bären zum Beispiel?“
„Ein Bär ... wie geil!“ In den Augen des jungen Kriegsgotts leuchteten blutige Schlachtfelder auf. „Yep, lass mich mal an die Tasten!“
Seine grobe Hand schnellte auf die Maus herab und Ares begann zu klicken, was das Zeug hielt. Er rauschte durch Items mit verschiedenen Charakterfeldern, Farben und Schwertern und produzierte schließlich einen riesigen Braunbären mit außergewöhnlich langen Krallen und gewaltigen Reißzähnen. Hera klopfte ihrem Sohn anerkennend auf die Schulter. Für dieses eine Mal teilte sie seinen Blutdurst.

Doch in der virtuellen Welt waren bereits wieder einige Monate vergangen. Zeus, wo immer er auch war, ließ das Spiel sehr schnell laufen, denn als der Bär sich brüllend und zähnefletschend im Olivenhain vor Kallisto aufbaute, hielt diese bereits ihr neu geborenes Kind in den Armen.
„Herrin Artemis, zu Hilfe!“, schrie die junge Mutter außer sich vor Angst und flüchtete hinter einen Baum. „Ich flehe ja nicht um mein Leben. Aber bitte rettet meinen Sohn Arkas!“

„Da flehst du vergebens, kleine Nutte!“, zischte Hera. „Deine Artemis interessiert sich nur für Jungfrauen!“
„Wenn du da mal nicht falsch liegst, Mum“, ließ sich Ares vernehmen.

Aus dem Nichts tauchte die Jagdgöttin auf und machte eine gebieterische Geste in Richtung des Bären: „Als Herrin der Tiere befehle ich dir, von dieser Frau abzulassen!“

„Bei Chronos' Eiern!“ Wütend haute Ares auf den Tisch. „Das Vieh kann nicht auf Artemis losgehen. Sie hat eine Anti-Beast-Wall um sich aufgebaut.“
„Geh du mal zur Seite, Sohn, das ist jetzt eine Sache unter Frauen!“
Hera übernahm nun Maus und Tastatur und klickte sich durch die Avatar-Steuerung.
„Nein, Mum“, warnte Ares. „Das ist die Melting-Taste! Die darfst du nicht drücken!“
„Erzähl du mir nicht, was ich zu tun habe!“
Hera drückte die fatale Taste – der Bildschirm wurde von einem weißen Leuchten erhellt. Als es nachließ, war Kallisto verschwunden, das Baby lag auf dem Boden, Artemis und der Bär standen einander gegenüber. Letzterer brüllte nun nicht mehr, sondern winselte ängstlich und wollte sich dem Säugling nähern, der sofort zu plärren anfing.
Artemis bedeutete dem Bären, sich nicht vom Fleck zu rühren. Dann hob sie das Kind auf und wiegte es in ihren voluminösen Armen, bis es sich beruhigt hatte.
„Nun, Kallisto“, sagte die Jagdgöttin an das gewaltige Tier gewandt, „so ist das nun deine Strafe für dein unsittliches Verhalten. Ich denke, die Göttermutter Hera hat sie dir auferlegt, weil ihr Gatte Zeus seine Lust an dir befriedigt hat. In solchen Dingen ist sie grausam und unbarmherzig, auch meine eigene Mutter musste das am eigenen Leib erfahren. Leider steht es nicht in meiner Macht, dich zurückzuverwandeln. Du wirst den Rest deines Lebens in dieser zottigen Gestalt umherirren und die Menschen das Fürchten lehren. Auch dein Sohn hat Angst vor dir. Du wirst ihn nie wieder in die Arme schließen können. Aber du musst dir seinetwegen keine Sorgen machen: Ich werde ihn zu deinem Vater Lykaon bringen, dort wird man ihn großziehen.“
Dann entfernte sie sich in Götterschnelle mit dem Kind, während die arme Kallisto in ihrer neuen Bärengestalt zurückblieb und sich vor Schmerz heulend am Boden wälzte.

„O Mum, du hast alles vermasselt!“, maulte Ares. „Hättest du mich machen lassen, dann hätte der Bär die Schlampe und ihr Balg zerfetzt!“
„Geh wieder Titanen abschlachten“, gab Hera zurück. Sie musste allein sein, um nachzudenken. Artemis hatte sie beschuldigt, für die Verwandlung verantwortlich zu sein. Die Jagdgöttin war aber nicht echt, sondern nur ein Avatar, der von jemandem gesteuert wurde, zweifellos von Zeus. Ihr Göttergatte wusste, dass sie sich in sein kleines schmutziges Spiel eingemischt hatte. Und das könnte Ärger geben. Mit Schaudern dachte sie daran zurück, wie er sie vor vielen Zeitaltern mit goldenen Fesseln an den Handgelenken und Ambossen an den Füßen am Himmelsgewölbe aufgehängt hatte, nachdem sie eine olympische Rebellion gegen ihn angeführt hatte. Erst nach vielen Tagen und als sie ihm unterwürfigst versichert hatte, sie werde sich von nun an in die Rolle der braven Hausfrau fügen und sich aus der Politik heraushalten, hatte er sie freigelassen. Seitdem hatte sie nie wieder offen gegen ihn aufbegehrt, sondern sich darauf beschränkt, ihren Frust und Hass an seinen zahlreichen Flittchen und Bastarden auszulassen.


Intermezzo


Denkt ihr, wir Virtuellen fühlen nicht und gehen einfach offline, wenn ihr den Computer ausschaltet, ihr grausamen unsterblichen Götter? Nur weil fünfzehn Jahre für euch nicht länger dauern, als es braucht, einen Pokal frisch gezapften Nektar zu trinken, wären sie auch für uns im Nu vorbei? Während du, Zeus, Despot, Verwandtenmörder und tausendfacher Vergewaltiger, mit deiner Gattin Hera auf der Terrasse des Olymps sitzt und ihr Lügen erzählst, irre ich in Bärengestalt durch die Wälder. Alle Tiere ergreifen die Flucht vor meiner schauderhaften Gestalt, vor mir, die ich doch einst die Schönste und Sanftmütigste unter den Nymphen der Artemis war.
Und in der Ferne sehe ich das Haus meines Vaters Lykaon, auch er ein Despot wie der verfluchte Zeus. Bei ihm wächst mein Söhnchen Arkas auf, erinnert sich nicht an die liebende Mutter, die ihn geboren hat. Dann und wann erhasche ich einen Blick auf ihn, wenn er mit einer seiner Kinderfrauen spazieren geht. Doch lässt man ihn nie in den Wald, denn das Gerücht geht um, dass dort ein Ungeheuer von Bär haust. Ach, wenn du wüsstest, mein Kind, wie sehr es mich danach verlangt, dich in die Arme zu schließen und mit meinen dicken Tatzen an mich zu drücken!




„Was habe ich für einen Bärenhunger, meine Liebe!“
Mit einem Seufzer ließ sich Zeus in seinem Sessel auf der olympischen Terrasse nieder, winkte Helios, der sich gerade am Horizont in sein rotes Abendgewand hüllte, einen huldvollen Gruß zu und schenkte seinem Eheweib ein strahlendes Lächeln.
Hera hatte in ihrem langen Dasein als misstrauische Göttergattin genug leidvolle Erfahrungen gesammelt, um jedem von Zeus' Worten Beachtung zu schenken, besaß aber genug Selbstbeherrschung, um sich nichts anmerken zu lassen. Ebenfalls lächelnd winkte sie den Mundschenken Ganymed mit dem Aperitif herbei. Sie hasste den hübschen Knaben, den Zeus gegen ihren Willen eingestellt hatte, aus ganzer Seele, aber heute könnte er ihr von Nutzen sein.
Tatsächlich war Zeus eine Weile abgelenkt von den reizenden Locken und den perfekt modellierten Muskeln, die sich unter der olivfarbenen Haut abzeichneten. Während er sich noch flüsternd mit Ganymed über den Rebensaft unterhielt und ihm dabei wie beiläufig über die Schenkel strich, kamen auch schon die Diener mit den Speisen, und aus der Stereoanlage ertönte leise Leiermusik – langsam senkte sich die Nacht über den Olymp.
„Haben dich die Meeresfrüchte Poseidons nicht gesättigt, mein Gemahl?“, fragte Hera, als sie sah, wie gierig sich Zeus auf das Ambrosia-Ragout à la palace stürzte.
„Wir waren nicht beim alten Seebären Poseidon, sondern in Hades' finsterer Eisbärenhöhle“, erwiderte Zeus zwischen zwei kräftigen Rülpsern. „Du weißt ja, seine Gattin Persephone fährt immer das halbe Jahr zu ihrer Mutter, die an ihr hängt wie eine Bärin an ihrem Jungen. Deshalb kochte eine bärbeißige alte Erinnye für uns – das war keine Freude, sag ich dir. Schrecklich, so eine Teilzeitehe! Da lob ich mir doch mein treues Weibchen Hera, das immer brav auf dem Olymp mit dem Essen auf mich wartet und sich nicht in meine Geschäfte mischt.“
Sein Grinsen war nun furchterregend. Doch Hera hielt ihm stand.
„Und wie sind die Verhandlungen gelaufen?“, fragte sie eisig.
„Das willst du gar nicht wissen, meine Liebe“, erwiderte Zeus. „Hades forderte seine Rechte mit Zähnen und Klauen ein, doch Poseidon tobte wie ein Tanzbär und zum Schluss musste ich mit dem Donnerkeil dazwischengehen und den beiden gehörig das Fell über die Ohren ziehen. Die Sitzung wurde vertagt, die Geister der ertrunkenen Seebären werden noch einige Zeit heimatlos über das Meer irren müssen und Opernkomponisten inspirieren. Ach, süß wie Waldnymphengesang schmeckt dieser Nektarhonig. Ich kann die wilden Bären wohl verstehen, die dafür Bienennester ausrauben.“
Schweigen senkte sich über die olympische Terrasse. Die wenigen Sterne begannen zu funkeln. Hera wusste, dass Zeus wusste und dass Leugnen keinen Sinn mehr hatte.
„Tja, meine Liebe“, fuhr der oberste Gott schließlich mit ruhiger Stimme fort, „wenn du statt Klatsch und Tratsch den Wirtschaftsteil in der seriösen Götterzeitung DIE EWIGKEIT

lesen würdest, dann hättest du erfahren, dass meine Olymp AG kürzlich den Pressekonzern Metis geschluckt hat, wodurch ich nun die gesamte Nachrichtenhoheit im Götterreich innehabe. Das Frauenmagazin ATHENE (Attackiere Technische Hürden – Erlebe Neue Emanzipation)

ist meinem Haupt entsprungen, sozusagen meine geistige Tochter. Alles, was du in deiner pseudoemanzipatorischen Zeitschrift gelesen hast, habe ich mir höchstpersönlich ausgedacht. Und du, mein dummes Frauchen, hast dir einen Bären aufbinden lassen!“
Zeus brach in derart dröhnendes Gelächter aus, dass das Tischgeschirr zersprang und tief unten Sterbliche aus ihren Häusern flohen, weil die Erde erbebte.
Auch Hera bebte innerlich. Wieder einmal hatte er sie verhöhnt und gedemütigt. Sollte sie das wirklich bis in alle Ewigkeit erdulden?
„Oooh, mein Schnuckelchen, versteh doch mal ein bisschen Spaß!“ Der Gott versuchte liebevoll die Wange seiner Göttin zu tätscheln, doch sie stieß ihn wütend von sich.
„Spaß? Mich zusehen lassen, wie du es mit einer Nymphe treibst und mal wieder einen Bastard zeugst! Du hast einen recht perversen Sinn für Humor!“ Hera wischte sich eine Träne aus dem Auge.
Zeus schüttelte sein bärtiges Haupt über so viel Unwissenheit: „Heralein, das hat sich doch alles nur in der virtuellen Welt abgespielt. Diese Welt ist genauso wenig echt wie die Welt in dieser Troja-Saga im Fernsehen oder wie die Schlachtfelder in den Computerspielen unseres missratenen Sohnes Ares.“ Bei diesem Namen stieß er ein wütendes Schnauben aus.
Im selben Moment ertönte ein vibrierendes Geräusch aus Zeus' Götterrobe und er zog mit weltmännischer Geste sein funkelnagelneues Handy – Sondermodell für Götter – heraus, drückte eine Taste, und auf dem Display erschien Artemis.
„Vater“, begann die robuste Jungfrau atemlos, „bitte, du musst eine Katastrophe verhindern.“
Nun verlor Hera endgültig die Fassung: „Wie kann die Hurentochter es wagen, hier vor meinen Augen in meinem Haus zu erscheinen?“
Zeus brachte sie mit einer Geste zum Schweigen. „Was gibt’s, mein Kind?“
„Dein Eheweib“, fuhr Artemis fort, „das gerade auch meine Mutter beleidigt hat, ist schuld daran, dass die arme Kallisto seit fünfzehn Jahren in Bärengestalt umherstreifen muss und um ihren Sohn trauert. Und nun, sieh dir das an!“
Die Jagdgöttin trat zur Seite und auf dem Display erschien ein sehr junger Jäger, der mit Pfeil und Bogen auf den gewaltigen Bären zielte, der sich vor ihm aufbaute und trotz der Bedrohung mit ausgebreiteten Armen auf ihn zutrottete.
„Siehst du, Vater“, ertönte Artemis' aufgeregte Stimme aus dem Off, „das ist Arkas, Kallistos Sohn. Sie versucht ihn zu umarmen, doch er weiß nicht, wen er vor sich hat, und wird sie töten, wenn man ihn nicht daran hindert. Ich kann es nicht, denn sie befinden sich außerhalb meines Wirkungsbereichs. Bitte tu etwas, Vater!“
„Bei meinem Donnerkeil!“ Zeus atmete schwer und versuchte mit seinen gewaltigen Fingern auf den winzigen Handytasten etwas zu bewirken.
„Warum sorgst du dich um die beiden, mein Gemahl?“, fragte Hera sarkastisch. „Nichts von all dem ist doch echt, wie du mir eben so belehrend erklärt hast.“
„Schweig, Weib, das verstehst du nicht!“, fuhr er sie an. Mit zitternden Fingern tippte er weiter. Arkas hatte bereits einmal daneben geschossen, reines Glück! Gerade als der Junge den zweiten Pfeil anlegte, leuchtete ein weißer Blitz vom Himmel auf und im nächsten Moment standen sich statt Bär und Mensch zwei Bären gegenüber – die große Mutter und der kleine Sohn.
„Gut gemacht, Zeus! Jetzt wird er sie zerreißen oder sie ihn erdrücken!“ Hera stieß ein grausames Lachen aus.
„Das würde dir so passen“, erwiderte der Götterboss und ließ zwei virtuelle Riesenhände vom künstlichen Himmel herabschnellen, von denen jede einen der Bären am Schwanz packte und aus dem Bild schleuderte. Game over!
„Was ...?“ Hera begriff nicht, warum Zeus, das Handy mit befriedigtem Gesichtsausdruck zur Seite legte, sich im Sessel zurücklehnte und versonnen in den Himmel schaute. Doch als sie seinem Blick folgte, blieb ihr der Mund offen stehen. Zwei neue Sternbilder strahlten vom Firmament, und mit etwas Fantasie konnte man in dem einen einen großen und in dem anderen einen kleinen Bären erkennen.
„Sind sie nicht wunderschön, mein Schnuckelchen?“, seufzte Zeus nach einer Weile. „Ohne sie war es doch richtig leer da oben. Aber – warum weinst du denn?“
Hera erhob sich vom Tisch und raffte ihr Gewand zusammen: „Müssen mich deine Flittchen und deine Bastarde jetzt auch noch vom Himmel herab verhöhnen?“, stieß sie schluchzend hervor.
„Aber meine Süße“, beschwichtigte Zeus. „Das ist doch alles gar nicht echt. Was am Himmel ist, hat auch nicht mehr Wirklichkeit als ...“
Doch Hera warf nur den letzten heil gebliebenen Teller nach ihm und verschwand in ihre Gemächer.
Achselzuckend wandte sich der Göttervater wieder dem reicher gewordenen Nachthimmel zu. Warum war seine Gattin nur so engstirnig?
„Begehrt Ihr noch etwas, Herr?“ Die melodische Stimme des Mundschenken Ganymed riss ihn aus seinen Gedanken. Der Junge sah überirdisch schön aus im Licht des großen und des kleinen Bären.
„Aber ja ...“, erwiderte Zeus mit breitem Lächeln.


Epilog



„Siehst du den winzigen blassen Punkt am Rande der Milchstraße, Arkas?“
„Ja, Mama. Aber nur ganz schwach.“
„Das ist Helios, die Sonne. Und um Helios herum kreist Gaia, die Erde. Und auf der Erde wohnt dein Vater Zeus.“
„Das ist lustig, Mama. Wie kann denn ein Winzling, der auf einem winzigen Planeten, haust, den man nicht mal sieht, mein Vater sein? Ich bestehe doch aus ganz vielen Sternen, um die Dutzende von Planeten kreisen, auf denen kleine Wichte hausen.“
„Und wie kann ich deine Mama sein, wenn ich doch nur eine Ansammlung von Sternen bin, die zufällig mit deinen zusammentreffen? Irgendjemand muss sich das doch ausgedacht haben, oder, mein kleiner Bär?“
Wellen galaktischen Gelächters hallten durch den Weltraum.


Impressum

Texte: Melpomene
Bildmaterialien: Josef Fendt / pixelio.de
Tag der Veröffentlichung: 12.03.2012

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