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1519: Amboise, Schloss Clos Lucé


König Franz trat an das Bett des sterbenden Mannes. Dieser hatte die Augen weit aufgerissen und ließ seinen Blick über die Wände schweifen, als wolle er noch irgendwo eine letzte Entdeckung machen, auch das allerletzte Sandkorn seiner Lebensuhr nicht ungenutzt verrinnen lassen. So war er von Jugend an gewesen: niemals stillstehen, alles erforschen, der Natur ihre Geheimnisse entreißen. Ehrfurchtsvoll ergriff der König von Frankreich die faltige Hand, die so viel Wunderbares geschaffen hatte. So auch das Bild über dem Bett. Nie hatte er sich davon trennen wollen, hatte es von Florenz nach Mailand und Rom und schließlich hierher nach Amboise mitgenommen, wo er es erst vor wenigen Tagen zur Vollendung gebracht hatte. Franz war entschlossen, es den Erben des Meisters abzukaufen. Jeden Preis würde er dafür bezahlen.
Ein schwaches Ziehen ging von der Hand des Sterbenden aus. Der Monarch brachte sein Ohr nahe an den Mund des Genies und vernahm dessen letzte Worte: „Fluss der Zeit ... Brücke ... ganz still.“ Dann verstummte Leonardo da Vinci für immer – das Gesicht im letzten Augenblick der Mona Lisa zugewandt.

2012: Paris, Louvre


„Und er bewegt sich doch.“
Die geflüsterten Worte drangen an Claires Ohr, trotz des ununterbrochenen Klickens der Kameras und trotz des Geschnatters der Touristen aus allen Winkeln der Erde.
„Und sie bewegt sich doch, meinst du, oder?“, fragte Claire und erschrak über ihre eigene Forschheit. Schon seit Tagen beobachtete sie diesen merkwürdigen Nerd mit den dicken Brillengläsern und dem zerstrubbelten Haar. Er schien wirklich immer hier zu sein, egal zu welcher Tageszeit. Doch sie war sich sicher, dass er sie noch nicht bemerkt hatte. Dafür hatte sie in der dunkelhaarigen Frau mit dem geheimnisvollen Lächeln eine zu alte und mächtige Konkurrentin.
Mit verblüfftem Gesichtsausdruck wandte sich ihr der Junge zu: „Kennen wir uns?“
„Nicht direkt“, antwortete Claire mit verlegenem Lächeln. „Aber ich seh dich öfter hier. Ich komme regelmäßig in den Louvre, um den Gegenstand meiner Examensarbeit aus der Nähe zu sehen. Studierst du auch Kunstgeschichte?“
„Nein, Physik. Ich weiß schon, dass Galilei gesagt hat, sie, die Erde, bewegt sich doch. Mit er meinte ich den im Bild.“
„Jetzt sag bloß, du hängst dieser Theorie an, dass Leonardo einen seiner Lover oder gar sich selbst porträtiert hätte, nur weil er wahrscheinlich schwul war und die Dame vielleicht ein wenig androgyn wirkt? Klingt natürlich spannender als eine biedere Kaufmannsgattin. Aber ich halte es für recht weit hergeholt.“
„Diese Frage ist für mich als Physiker eher uninteressant. Mir geht es um das Beweisbare, nicht um Spekulationen. Ich heiße übrigens Michel.“ Jetzt, da es um sein ureigenes Fachgebiet ging, legte der Junge seine Schüchternheit ab und brachte sogar ein Lächeln zustande.
„Freut mich. Ich bin Claire.“ Stolz auf ihren Erfolg ballte sie heimlich die Faust.
„Schön, dann sieh dir doch bitte die oberste Spitze des rechten Mundwinkels an, Claire. Jetzt, in diesem Moment. Sieh ihn dir ganz genau an. Und dann mach kurz die Augen zu.“
Claire tat ihm den Gefallen. Innerlich lachte sie. Dachte dieser schräge Vogel wirklich, er hätte das Geheimnis des berühmten Lächelns gelöst?
Als sie die Augen wieder öffnete, war alles wie zuvor. Nur die Heiterkeit war ein wenig gestiegen, da der Führer einer japanischen Reisegruppe wohl gerade einen besonders lustigen Witz gemacht hatte.
Michel schien die Fähigkeit zu besitzen, Störungen jeder Art auszublenden: „Du siehst wahrscheinlich nichts. Ich hab auch lange gebraucht, bis ich es mit bloßem Auge wahrnehmen konnte. Aber der Mundwinkel hat sich um eine Winzigkeit verschoben!“
Claire wurde etwas flau im Magen, und das nicht aus romantischen Gründen. Der Junge war offenbar nicht ganz richtig im Kopf. Allzu oft hatte dieses Bild schon Irre angezogen.

1956: Paris, Louvre


Seit der Säureattacke vor einigen Monaten war das Gemälde mit einer Glasscheibe geschützt. Der Unbekannte, der das getan hatte, musste es auch gesehen haben, dachte Ugo. Ob er das Bild schreien gehört hatte und dann in Panik weggerannt war? Der Täter war ein Feigling gewesen. Er hatte sich nur an den unteren Teil herangewagt und nicht an das Gesicht und an dieses Lächeln. O ja, das süße Lächeln der Mona Lisa. Anscheinend hatten nur wenige genau hingesehen. Merkte denn wirklich niemand, wie sich der Mundwinkel ganz, ganz langsam verschob und wie sich allmählich feine Falten auf der Stirn bildeten? Es sprach mit ihm, so wie es wahrscheinlich mit dem Säureattentäter gesprochen hatte. Jemand oder etwas lebte in dem Bild und Ugo würde wahnsinnig werden, wenn er es nicht erführe. Aufgeregt umklammerte er den Stein in seiner Hosentasche und blickte um sich. Verdammt, ein Wachmann beobachtete ihn! Jetzt kam er auf ihn zu. Er musste sofort handeln. Ugo nahm den Stein heraus, zielte auf den heimtückischen Mund, doch noch während er zur Schleuderbewegung ansetzte, hatte der Uniformierte schon seinen Arm gepackt und ihn zu Boden gerissen, so dass nur der Ellbogen der getroffen wurde. Milde lächelte das Bild auf den jungen Bolivianer herab.


2012: Paris, Café Vieux Pont


Die Fotos in Michels Spezialkamera sahen für Claire alle gleich aus. Er verglich die vorhin im Louvre aufgenommen Bilder mit den gespeicherten. Dabei war er so vertieft, dass er nicht bemerkte, wie die Kellnerin seinen Kaffee brachte, so dass Claire die Tasse hastig wegschob, bevor er sie mit dem Ellbogen umstieß. Nach ihrem anfänglichen Unbehagen hatte sie ihm doch vorgeschlagen, in das Café zu gehen. Auch wenn die Sache verrückt war – sie war nun doch interessiert.
„Ist die Kamera denn eine Neuentwicklung?“, fragte sie. „So was hab ich noch nie gesehen.“
„Meine Erfindung“, gab er knapp zurück.
„Aha.“ Claire versuchte zu entscheiden, ob wirklich kein Hauch von Eitelkeit in diesen beiden Wörtern mitschwang. „Und das Besondere daran ist, dass sie winzigste Veränderungen messen und vergleichen kann?“
„Genau. Es ist wie bei einem Zeichentrickfilm. Die einzelnen Bilder fügen sich zu einem Film zusammen. Nur läuft dieser so unendlich langsam, dass es äußerst schwer feststellbar ist.“
„Hast du die Kamera schon zum Patent angemeldet? Wahrscheinlich bist du allein für diese Erfindung schon der jüngste Nobelpreiskandidat.“
Er schien die Ironie in ihrer Stimme nicht wahrzunehmen: „Claire, Kameras entwickeln kann fast jeder. Das, was ich nachweisen will, ist so einzigartig, es wird die ganze Welt revolutionieren. Das Problem ist nur, dass ich nicht an das Bild rankomme. Wenn ich es über mehrere Wochen Tag und Nacht beobachten könnte, dann hätte ich eine Chance.“

1913: Paris, Rue de L’Hôpital-Saint-Louis


Vincenzo Peruggia hatte sich geschworen, die Truhe nie wieder zu öffnen. Es war unheimlich, und er bereute zutiefst, das teuflische Machwerk jemals aus dem Louvre entwendet zu haben. Doch auch heute konnte er der Versuchung nicht widerstehen. Vorsichtig öffnete er den Deckel und holte die Mona Lisa ans Licht. Was für einen Kontrast: das Werk, dessen Raub vor zwei Jahren die ganze Welt in Aufruhr versetzt hatte, und die schäbige Arbeiterwohnung. Spöttisch starrte sie ihn an und – ja, sie zwinkerte ihm zu. Das sah er ganz deutlich. Es war zwar noch nicht vollendet, dieses Zwinkern, es war nur eine Andeutung wie vom Grunde eines Sees herauf, aber es war zweifellos vorhanden. Hastig legte Vincenzo es in die Truhe zurück. Nein, er musste es loswerden, unbedingt. Niemals hätte er es stehlen dürfen. Er konnte es zu Geld machen. Nicht hier, sondern in seiner Heimat Italien. Gleich morgen würde er sich auf den Weg machen.

2012: Paris, Café Vieux Pont


„Willst du das Bild klauen, so wie dieser italienische Anstreicher vor hundert Jahren? Dazu ist es viel zu gut geschützt. Oder hast du auch schon was Geniales entwickelt, um die Alarmanlagen auszuschalten?“ Claire grinste. Die Geschichte des Handwerkers Vincenzo Peruggia, der das Bild 1911 aus dem Louvre entwendet und nach zwei Jahren versucht hatte, es in Florenz an die Uffizien zu verschachern, amüsierte sie immer noch. Der Idiot hatte behauptet, er hätte aus Patriotismus gehandelt. Doch bis heute war nicht geklärt, warum er so etwas getan hatte.
„Alarmanlagen ausschalten?“ Michel griff nun doch nach seinem Kaffee und versenkte den Blick in die braune Flüssigkeit, als würde er in die Ursuppe des Universums schauen. „Nun ja, ich hatte in der Tat schon mal dran gedacht, mathematisch kein Problem, mir würde auch ein Weg einfallen, die Stromkreise auszuschalten, nur ...“
„Michel, das sollte ein Witz sein. Selbstverständlich will ich dich nicht dazu ermutigen, die Mona Lisa zu klauen.“ Claire hatte so laut gesprochen, dass sich ein paar Jugendliche am Nachbartisch kichernd zu ihnen umdrehten. Der Junge hatte ja absolut keinerlei Sinn für Humor oder Ironie. Aber er war so süß in seinem kindlichen Eifer. Sollte sie es wagen, über sein zerstrubbeltes Haar zu streichen? Er würde es wahrscheinlich gar nicht merken, so besessen war er.
„Claire, das Bild hat sich über die Jahrhunderte stark verändert. Du als Kunsthistorikerin kennst doch sicher die Geschichte, dass es bis vor zweihundert Jahren Säulen an beiden Rändern gehabt hat.“

1804: Paris, Palais des Tuleries


Es war nicht oft in der Geschichte vorgekommen, dass zwei Weltwunder das Schlafgemach teilten. Aber der kleine Mann und die Dame mit dem geheimnisvollen Lächeln taten es seit vier Jahren. Erfolgreiche Jahre: Er war zum Konsul auf Lebenszeit ernannt worden, hatte eine Verschwörung gegen sich aufgedeckt und war einem Bombenattentat entkommen. Morgen würde er sich endlich zum Kaiser der Franzosen krönen, nicht von Gottes Gnaden, sondern von seinen eigenen.
„Nun, hast du das vorausgesehen, Sphinx des Abendlandes?“, fragte Napoleon Bonaparte laut. Er hatte diese rätselhafte Frau so genannt, weil sie ihn an die Sphinx von Gizeh erinnerte, auch aufgrund der Säulen an beiden Rändern, die ihn an einen ägyptischen Tempel erinnerten. Säulen? Der Korse kniff die Augen zusammen. Die Säulen waren verschwunden, eingestürzt, so wie seine Macht vielleicht einstürzen würde. Dafür offenbarte sich die hügelige Landschaft im Hintergrund nun als steinerne Insel, auf der er den Rest seines Lebens verbringen würde. Der siegreiche Feldherr sah sich verbannt, eingesperrt und von dem Lächeln dieser Sphinx verspottet. Du wirst mich nie erobern, raunte sie ihm zu. Einen Moment lang dachte er daran, seinen Degen zu nehmen und das Bild zu zerstören. Doch dann hatte er eine bessere Idee: Er würde es in einem Museum begraben, in einem steinernes Grabmal würde es unter anderen toten Relikten untergehen und ihm nie wieder unter die kaiserlichen Augen kommen.

2012: Paris, Café Vieux Pont


„Nun komm, Michel, es ist einwandfrei festgestellt worden, dass das Bild immer die Größe hatte, die es jetzt aufweist. Die Legende, Napoleon hätte die Säulen beschneiden lassen, damit das Bild in sein Schlafzimmer passt, ist purer Humbug.“ Claire schüttelte den Kopf über so viel Naivität. Der Junge mochte ja ein brillanter Kopf sein, aber in gewisser Weise war er ein Kind.
„Hast du denn im Laufe deiner Arbeit jemals die Fälschungen aus dem frühen 20. Jahrhundert abgeglichen oder ganz alte Fotos?“, widersprach Michel eifrig. Du wirst bemerken, wie sich das Bild immer verändert hat, um Bruchteile von Atomdurchmessern nur.“
„Michel, worauf willst du eigentlich hinaus?“
„Auf Einstein.“ Die Augen des jungen Wissenschaftlers leuchteten.
„Einstein? Ich glaube, er war einer der wenigen, die nie etwas mit dem Bild zu tun hatten.“
„Wenn doch, dann hätte er etwas Fantastisches bemerkt, Claire. Nämlich dass Leonardo da Vinci vierhundert Jahre vor ihm einen Weg gefunden hatte, die Lichtgeschwindigkeit zu überwinden, obwohl er doch nachgewiesen hatte, dass das nicht möglich sei.“
Nun musste Claire doch lachen. „Du meinst, er hätte eine Zeitmaschine gebaut und sei in die Zukunft gereist, um sich von dort seine Inspirationen zu Flugmaschinen und Robotern und all seinen anderen unglaublichen Erfindungen zu holen? Auf solche Theorien bin ich auch gestoßen. Aber das kannst du als Naturwissenschaftler doch nicht ernsthaft glauben.“
„Nicht glauben, sondern wissen ist meine Devise.“ Nun stieß Michel doch vor Aufregung seine Kaffeetasse um. „Ein schwarzes Loch“, fuhr er fort und tunkte den Zeigefinger in die sich ausbreitende dunkle Flüssigkeit, „übt eine extrem starke Anziehungskraft aus. Und wenn ein Beobachter von außen ein Objekt in einem schwarzen Loch betrachtet, dann scheint es für ihn stillzustehen, obwohl es sich in Wirklichkeit bewegt.“
„Soll ich Ihnen eine neue Tasse bringen?“ Mit gezwungenem Lächeln wischte die Kellnerin den Kaffee auf.
Claire machte für Michel eine entschuldigende Geste und schüttelte den Kopf. Dieser war so in seinem Element, dass er gar nichts außerhalb von sich selbst bemerkte.
„Michel, willst du jetzt behaupten, die Mona Lisa sei ein schwarzes Loch?“
„Nein, Claire. Natürlich ist sie kein schwarzes Loch, aber Leonardo hat das Prinzip eines schwarzen Loches erkannt und dieses in seinem Meisterwerk umgesetzt. Er ist nicht durch die Zeit gereist, sondern befindet sich auf einer Zeitreise.“
„Er? Leonardos Geist, oder was?“
„Er, sie oder es – was auch immer – bewegt sich mit Überlichtgeschwindigkeit durch die Zeit, einer fernen Zukunft entgegen, und was für uns Jahrhunderte sind, empfindet er nur als kurzen Wimpernschlag. Wir rasen an ihm vorbei und er nimmt uns überhaupt nicht wahr.“
Claire versuchte zu begreifen, was sie soeben gehört hatte. „Aber – wenn er wirklich mit Lichtgeschwindigkeit in die Zukunft reisen würde, dann müsste er doch schon Jahrtausende, Jahrmillionen, Lichtjahre entfernt sein. Wie können wir dann dieses Bild sehen?“
Michel lächelte still in sich hinein und Claire stellte mit Bedauern fest, dass sie diesem zwar verrückten, aber nichtsdestotrotz anziehenden Jungen nie näher sein würde als Leonardo oder seiner Mona Lisa, egal wie intensiv sie ihn studierte.

1519: Amboise, Schloss Clos Lucé


Der greise Leonardo setzte den letzten Pinselstrich an das Bild, an dem er seit mehr als fünfzehn Jahren arbeitete. Es war viel mehr als das Porträt einer Kaufmannsgattin, viel mehr als ein Abbild seines geliebten Schülers Salai, es war eine Brücke in die Zukunft. Oft hatte er während des Malens Visionen gehabt, von Königreichen, die aufstiegen und fielen, von Maschinen, die durch die Luft rasten, nur zu dem Zweck, Zerstörung zu bringen, und er hatte einzelne Gesichter wahrgenommen, die begriffen und mit diesem Wissen nichts anfangen konnten. Zuletzt war er auf einer wüsten Erde gewandert, auf der nichts mehr wuchs und alle Flüsse ausgetrocknet waren. Menschen und Tiere waren allesamt verschwunden. War all das unabänderlich oder war das nur das Spiel seines Geistes, der sich immer gern zu den höchsten Gipfeln aufgeschwungen hatte? Fragend blickte Leonardo in die Augen der Mona Lisa und sie bedeutete ihm lächelnd, dass es nun Zeit war, die Reise anzutreten.


Impressum

Texte: Melpomene
Bildmaterialien: Wikimedia Commons
Tag der Veröffentlichung: 31.01.2012

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