Das Wasser trägt mich. Der Wind wiegt mich. Beide waren, bevor ich war. Haben sie mich aus ihrem Spiel heraus erschaffen – aus Freude an ihrem ewigen Miteinander? Oder befinden sie sich im Kampf und ich bin das Pfand, um das sie ringen? Immer wieder hebt mich der Wind ein wenig empor, doch das Wasser lässt mich nicht los, selbst wenn ich schon in der Luft bin, perlt es sich in zahllosen Tropfen an mir fest. Das Wasser ist sehr mächtig und von unendlicher Weite. Mühelos überwindet es Form und Raum, und doch braucht es den Wind, der es in Wellen kräuselt, auf denen ich schaukle.
Mit leeren Augen blickt Eva auf das Spiel der Wellen. Ein winziges rotes Rosenblatt wird darauf hin- und hergeworfen, einsam, hilflos, ein Spielball höherer Mächte wie sie selbst. Eva weiß nicht, was sie hier tut, wie sie überhaupt hergekommen ist. Wie lange hält sie schon ihre rechte Hand wie eine Schale geöffnet über den Teich? Ein paar Leute sehen sie komisch an, entfernen sich flüsternd. Da gleitet ein Schwan vorüber und verdeckt für einen Moment das Rosenblatt. Evas Atem stockt, beginnt erst wieder zu fließen, als das zarte Ding erneut in ihrem Blickfeld erscheint. Mit den Fingern macht sie eine lockende Geste, bläst sanft über ihre Handfläche und – sieh an! – der Wind kommt ihr zu Hilfe und wirbelt das Blütenblatt herbei. Sofort umfasst Eva es fest mit der Faust, auf gar keinen Fall darf sie es verlieren. Auch sie selbst fühlt, wie sich eine kalte Hand um sie schließt – gefangen in einer Höhle aus Traurigkeit und Einsamkeit dreht sie sich um die eigene Achse und fühlt sich fortgezogen, weg von dem Teich mit seinen Schwänen, weg von den fröhlichen Menschen und den Kindern, die im Park Drachen steigen lassen.
Dunkelheit. Das also passiert, wenn der Wind das Spiel gewinnt. Das Wasser perlt zwar immer noch von mir ab, es hat mich nicht verlassen, doch es hat seine Macht verloren, es trägt mich nicht mehr, ist jetzt sogar viel kleiner und schwächer als ich. Um mich herum heftiges Pulsieren. Was ist das? Das Gegenteil von Wasser, nicht weich und grenzenlos, sondern hart, eng, begrenzt. Wohin trägt sie mich, diese Schwärze?
Evas Füße werden gegen ihren Willen gelenkt. Schon nähert sie sich dem Haus, das sie keinesfalls betreten will, weil sie weiß, dass dort der Schleier fallen wird, der über einem dumpfen Wissen liegt. Das Gartentor öffnet sich ohne ihr Zutun, ebenso die Haustür. Unerbittlich baut sich die Treppe vor ihr auf und zieht sie Stufe um Stufe empor bis zur Zimmertür, die offen steht wie ein hungriges Maul. Erst im Türrahmen kommt Eva zum Stand und lässt ihren Blick durch den Raum schweifen. Die Morgensonne wirft ein unwirkliches Licht durch die hohen Fenster und lässt die auf dem Teppich verstreuten Rosenblätter wie Blutstropfen funkeln. Rufus' Gesicht wirkt gespenstisch bleich. Sein Kopf ist auf den Schreibtisch gesunken, die rechte Wange liegt auf einem Blatt Papier. Seine Arme hängen herab wie die einer Puppe. Eva senkt den Blick und sieht den nackten Stängel. Sie fällt auf die Knie, nimmt ihn auf und entlässt das Rosenblatt aus ihrer Faust. Ganz von selbst schmiegt es sich in den Becher und aus Evas Mund löst sich ein Flüstern: „Er liebt mich ... nicht.“ Sie schüttelt den Kopf und hebt das nächste Rosenblatt auf: „Er liebt mich.“ Das nächste: „Er liebt mich nicht ...“
Das Wasser hat mich hervorgebracht und der Wind hat mich unaufhaltsam meinem Ziel entgegengetrieben – diesem Becher, der mir festen Halt schenkt. Auch meine Einsamkeit hat ein Ende. Nach und nach kommen viele von meiner Art zu mir, der Becher nimmt sie auf und hält sie. Ich weiß jetzt, wie ich selbst bin, die anderen sind mein Spiegel. Zum ersten Mal empfinde ich wahre Freude, denn ich bin schön, und meine Schönheit erblüht mit jedem Gefährten, der sich an mich schmiegt. Auch fühle ich mich schon viel kräftiger, Saft rinnt durch meine Adern, lässt mich erstarken.
„Er liebt mich.“ Das letzte Rosenblatt fügt sich in die Blüte. Staunend betrachtet Eva das Wunder, das sie vollbracht hat. Sie legt die Rose neben Rufus' Kopf, so dass ihr Duft in seine Nase steigen muss. Dann zieht sie sich in den Türrahmen zurück und wartet mit klopfendem Herzen. Sehr langsam kommt Bewegung in Rufus' schlaffen Körper. Zuerst zappeln seine Finger ein wenig, dann hebt sich sein Arm und greift nach der Rose. Schließlich richtet sich sein Oberkörper auf und er lehnt sich im Stuhl zurück, die Rose umfasst er nun mit beiden Händen und dreht sie unter seiner Nase. Plötzlich wird er von heftigem Lachen geschüttelt und lässt die Rose auf den Tisch fallen. Er bemerkt nun den Brief auf dem Schreibtisch und liest ihn. Dabei schüttelt er ein paar Mal heftig den Kopf und murmelt umverständliche Worte vor sich hin. Nach einer Weile faltet er das Papier zusammen und erhebt sich. Hastig zieht sich Eva ins Schlafzimmer zurück. Sie stellt sich ans Fenster und wartet, bis sie ihn aus dem Haus gehen und in sein Auto steigen sieht. Die Traurigkeit, die sie vorher gelähmt hat, ist einer glühenden Wut gewichen. Eva legt sich aufs Bett, kann aber nicht einschlafen. Schon ist die Helligkeit in die Morgendämmerung übergegangen und bald
wird die Nacht hereinbrechen. Die Nacht, die Rufus mit der Anderen verbringen wird.
Allein war ich schwach und dünn. Zusammen mit meinen Gefährten bin ich in Schönheit erblüht. Zusammen verströmen wir lebenspendenden Duft. Zusammen haben wir die Macht, den Tod zu bezwingen. Jeder Einzelne von uns sehnt sich nach dem „Wir“, immer enger schmiegen wir uns aneinander, immer mehr wollen wir miteinander verschmelzen und eins werden.
In der Abenddämmerung erhebt sich Eva und geht in Rufus' Zimmer, wo Brief und Rose auf dem Schreibtisch liegen. Die Blüte hat sich bereits ein wenig geschlossen.
Eva faltet den Papierbogen auseinander und und liest:
„Mein geliebter Rufus, dem Mann, der mir einst ewige Treue geschworen hat, schenke ich diese Rose. Es ist eine ganz besondere Blume. Sie wird den Feigling und Betrüger, der Du geworden bist, töten und mir den Mann zurückbringen, den ich einst geliebt habe. Deine Eva"
Je länger sie die Schrift betrachtet, desto mehr verblassen die Buchstaben, bis sie nicht mehr vorhanden sind. Als der Papierbogen ganz weiß ist, legt sie ihn sorgfältig auf einen Stapel anderer Papiere. Dann nimmt sie die Rose und trägt sie in den hintersten Winkel des Gartens, den Rufus nie betritt. Dort steht ein einsames, kahles Rosenbäumchen, dem sie nun die einzige Blüte schenkt, die er je tragen wird. Mühelos fügt sich die Rose an den Zweig.
Der Becher ist also gar nicht der Urgrund von allem. Die Pflanze ist es. Sie nährt uns mit dem Saft des Lebens. Sie sorgt dafür, dass sich die Blüte zur Knospe schließt. Doch auch die Knospe ist nicht das Ende.
Glücklich lehnt Eva ihren Kopf an Rufus' Schulter. Eng umschlungen schlendern sie durch den Garten, in den der Frühling Einzug hält. Sie ist sich seiner Liebe völlig gewiss und kann nicht verstehen, wie sie im Sommer noch an seiner Treue zweifeln konnte. An dem Rosenbäumchen in der hintersten verborgenen Ecke, wohin sich Rufus nie verirrt, zeigt sich nur ein winziger Trieb, der bald völlig verschwunden sein wird.
Immer mehr schrumpft die Welt zusammen, die doch am Anfang so unendlich weit war. Wasser fällt vom Himmel und der Wind umweht uns. Wir sind jetzt ganz klein und schwach wie mein Ich am Anfang, doch wir werden nicht umhergewirbelt, sondern sind fest verwurzelt in der Erde. Sie ist Ursprung und Ziel von allem. Mit ihr eins zu werden war von Anfang an der Zweck unseres Daseins.
„Er liebt mich.“ In seligem Triumph führt Eva das letzte Blütenblatt an ihre Lippen. Es ist zart und frisch wie die gerade erst erwachte Liebe zwischen ihr und Rufus. Mit bloßen Händen gräbt sie eine Mulde, legt erst ein Samenkorn hinein, dann das Rosenblättchen. Sie gießt Wasser darüber und murmelt die beschwörenden Worte: „Wenn Rufus' Liebe zu mir je schwindet, dann soll die Rose, die hier wachsen wird, sie mir wieder zurückbringen. Egal, auf welche Weise.“
Texte: Text: © Melpomene
Titelbild: www.oldskoolman.de
Tag der Veröffentlichung: 22.12.2011
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Widmung:
Für ViOletrOse