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Eines Nachts landete ein Ufo im Wald, doch der Einzige, der das helle Licht sah, das alles in der Umgebung verseuchte, war der Dorfdepp, dem niemand Glauben schenkte. Die Dorfbewohner lachten, wenn er ihnen von Wesen mit silbern glänzender Haut, hervortretenden Goldaugen und spinnenartigen Fingern erzählte, sie molken weiter ihre Kühe und fütterten ihre Hühner, als wäre nichts geschehen. Doch ein paar Tage später kamen bewaffnete Soldaten und vertrieben die Menschen aus dem Dorf. Sie sagten, es sei etwas Furchtbares passiert, der Wald und die umliegenden Dörfer würden zur Sperrzone erklärt. Die Leute müssten nun anderswo ihr Leben fristen, denn hier sei es nicht mehr sicher. Nur den Dorfdepp vergaßen sie, denn er hatte sich im Wald versteckt und nahm ganz allein den Kampf gegen die Außerirdischen auf.
Solche Geschichten standen immer in den Heftchen, die Iwan, der Lastwagenfahrer, aus der Stadt mitbrachte, und sie waren mein Ein und Alles. Ich versteckte mich damit im Schuppen, statt meinem Vater bei der Arbeit zu helfen. Doch dass sie Wirklichkeit werden könnten, hätte ich nie gedacht.



„Es gibt Leute, die hier 2012 eine Invasion befürchten.“
„Erst Balljubel, dann Betroffenheitstourismus?“
Galina schmerzte der Klang ihrer eigenen Stimme. Der Gang durch die Ruinenstadt Pripyat hatte sie mehr mitgenommen, als sie für möglich gehalten hätte. Die ausgestorbenen Betonbauten mit den zerschmetterten Fenstern, das Riesenrad, in dem nie jemand die Welt von oben gesehen hatte, weil die Einweihung des Vergnügungsparks erst fünf Tage nach dem Unglück hätte stattfinden sollen – wenn ein Ort den Namen „Geisterstadt“ verdiente, dann dieses sowjetische Pompeji, einst Heimat der meisten Kraftwerksarbeiter von Tschernobyl. Pripyat zerfiel, und Touristengruppen, denen die Pyramiden nicht mehr tot genug und die Gipfel des Himalaya nicht lebensfeindlich genug waren, sahen ihm mit gierigen Augen beim Sterben zu. Sie war froh, als sie wieder im Auto saßen. Schweigen war alles, was sie jetzt wollte, die toten Stimmen, die in der Luft dieser verlassenen Stadt lagen, nachklingen lassen, um zu hören, ob sie ihr etwas mitzuteilen hatten. Doch Schneider, ihr Chef, bewahrte auch hier seine Fröhlichkeit.
„Na, sind Sie in Ihre alte russische Schwermut verfallen?“
„Ukrainische, Herr Schneider.“
„Ich bitte tausendmal um Entschuldigung, Frau Sidorenko. Zur Strafe dürfen Sie mich auch Österreicher statt Deutscher nennen.“
Er begann wieder mit dem Geigerzähler herumzuspielen, wie er es schon während des ganzen Gangs durch Pripyat und auch vor dem „Sarkophag“ getan hatte, der Reaktorblock 4 notdürftig umhüllte. Wenn der Zeiger besonders hoch ausgeschlagen hatte, hatte er durch die Zähne gepfiffen und den Stand sogar mit seinem Handy gefilmt. Die Menschen dieser Zeit waren zu willigen Sklaven kleiner mechanischer Geräte mutiert, folgten ihren Piepgeräuschen wie Hunde der Stimme ihres Herrn und winselten, wenn sie nicht in der Nähe waren.
Dmitri, der Fahrer, begann zu erzählen, als er zwischen den Baumreihen hindurchfuhr, und Galina übersetzte mechanisch für Schneider. Die Nadelbäume, die das Pech hatten, am 26. April 1986 in Windrichtung zu stehen, hatten sich mehr oder weniger über Nacht stark verfärbt, weshalb man immer noch vom „roten Wald“ sprach. Alles war längst abgeholzt und neu aufgeforstet worden. Jetzt gab es hier vor allem Birken, die der verseuchten Erde am besten trotzten.
„Schon eine tolle Einrichtung von Mutter Natur, diese Bäume“, sagte Schneider. „Wenn sie nicht so viel von der Radioaktivität abgefangen hätten, wäre wohl ganz Europa verseucht worden. Wir sollten sie wirklich sorgsamer behandeln.“ Eine SMS, die auf seinem Handy einging, beanspruchte seine Aufmerksamkeit.
Galina sah verwilderte Dörfer am Fenster vorbeiziehen. Sie wirkten ausgestorben und dennoch lebten hier und da Menschen, die in die Dreißig-Kilometer-Sperrzone um den Reaktor zurückgekehrt waren, überwiegend alte Leute, für die Becquerel, Röntgen und Sievert nur wissenschaftlich aufgeblasene Worthülsen waren – sie wollten in ihrer Heimat sterben und nicht entwurzelt in kalten Vorstädten oder Gemeinden, wo sie als Fremde geächtet und gemieden wurden, als ob die Strahlung ansteckend wäre.
Strahlung! Was war das überhaupt, dachte Galina, als sie wieder an den Grenzposten kamen und die Wachen ihr Auto und die drei Insassen mit Detektoren abscannten. Noch ein paar Formalitäten und sie durften die Zone verlassen. War es jetzt auf dieser Seite sicherer als auf der anderen? So wie die Sonne überall hinstrahlte, machte auch die Radioaktivität nicht vor Schlagbäumen und Stacheldrahtzäunen halt.
„Das hier ist alles Niemandsland“, bemerkte sie, als sie weiterfuhren. „Weder Zone noch Zivilisation. Eigentlich ist es hier noch trostloser als drinnen.“
„Aufgeregt, so nah der Heimat?“ Schneider stieß ihr freundschaftlich den Ellenbogen in die Seite. Wie ein dicker, gutmütiger Hund sah er aus, der aß, Geschäfte machte, neugierig umherschnüffelte und sich kaum von etwas aus der Ruhe bringen ließ. Er war ein wenig wie Iwan, der Lastwagenfahrer, fiel Galina ein. Seit Jahren hatte sie nicht mehr an den lustigen dicken Mann gedacht, der die Dörfler mit Waren und Ramsch aus der Stadt versorgt hatte. Warum fiel er ihr jetzt ein?
„Ich weiß nicht, Herr Schneider. Mir kommt es so vor, als hätte ich diese Landschaft hier oft im Traum gesehen und sie beim Aufwachen wieder vergessen. Ich war ja erst neun Jahre alt, als es passierte. Und ein paar Monate danach haben meine Eltern beschlossen, nach Kiew zu ziehen, obwohl Danyliwka gerade außerhalb der Zone lag und nicht evakuiert wurde. Ein kleiner Piep auf dem Geigerzähler mehr und der Stacheldraht hätte uns auch noch eingeschlossen.“
„Meine ältere Tochter ist auch neun. Wenn ich mir vorstelle, dass sie das auch alles durchmachen müsste. Das war übrigens meine Frau eben. Ich hab ihr gleich die ersten Fotos geschickt. Sie ist sehr beeindruckt. Und sie lässt Sie grüßen.“
„Danke.“ Galina spürte ein dumpfes Brennen in der Brust und ihr Atem schien nur noch zäh und schleppend zu fließen, als hätte die Luft ihre Konsistenz verändert. Denn in der Ferne erkannte sie den kleinen See und dahinter Danyliwka, das Dorf, in dem sie 1977 geboren worden war.

Kein Ufo war gelandet, aber etwas lag in der Luft, ein Surren, es schmerzte in meinen Ohren. Ich warf mich zu Boden und heulte wie ein Wolf. Keiner außer mir bemerkte, dass sich etwas verändert hatte. Es war überall, verätzte mir die Augen, drang unter meine Haut und brachte mein Blut zum Kochen. Der Wind trug es her und die Bäume nahmen es mit ihren Wurzeln auf und verbrannten, als es durch ihre Stämme in ihre Eingeweide floss. Ich schaffte es nicht mehr, den Atem, ein- und auszustoßen, weil keine Luft um mich herum war, sondern etwas anderes. Ich wurde der Wald. Meine Nadeln erglühten und fielen zu Boden, meine Rinde fiel ab wie schwarzes Papier. Meine Wurzeln hatten kein Erdreich mehr, in das sie sich krallen konnten. Ich stand in Flammen und doch verbrannte ich nicht, sondern wälzte mich als schreiende Fackel auf dem Boden und keiner verstand mich oder wusste, warum.



Heimaterde, dachte Galina, als sie aus dem Auto stieg. Hier waren ihre kindlichen Füße tausendmal entlanggestolpert. War inmitten dieses Schuttplatzes nicht der Schulbus abgefahren? Verwilderte Pfade mit kratzigen Sträuchern versperrten den Weg zum See, in dem die Männer oft geangelt hatten. Im Winter hatte ihr Großvater Löcher ins Eis gebohrt, um Wasser zu holen, und sie hatte sich immer gefragt, ob sie die schlafenden Fische nicht weckten.
„Da hinten am Waldweg stand unser Haus“, hörte sie ihre Stimme, die jemand anders zu gehören schien. „Aber es ist längst abgerissen worden. Mein Cousin hat es mir geschrieben, der vor ein paar Jahren hier war.“
„Wieso ist denn noch niemand auf den Gedanken gekommen, hier ein Hotel zu errichten?“, fragte Schneider. „Man könnte ein Schild aufstellen: HIER VERLASSEN SIE DEN STRAHLUNGSFREIEN SEKTOR. Wär sicher ein beliebtes Fotomotiv.“ Er zwinkerte ihr zu, doch Galina war nicht zu Scherzen aufgelegt. Sie wartete darauf, dass sie einen Schlag an den Kopf erhielt und am Fuß ihres Bettes in ihrer Berliner Wohnung die Augen aufschlug, aus einem Albtraum gepurzelt.
„Sdrastwuitje, sdrastwuitje!“, hörte sie ihren Chef plötzlich in miserabel klingendem Russisch rufen. Fassungslos kniff sie die Augen zusammen. Eine alte Frau hinter einem Gartenzaun beobachtete sie. Wären Schneider und Dmitri nicht dabeigewesen, hätte sie an einen Geist geglaubt und wäre schreiend davongelaufen. Hier lebte tatsächlich noch jemand?
Das Haus, ein Bauernhof – völlig heruntergekommen, und doch erkannte sie es. Vor ihrem inneren Auge tauchte das frische Gesicht einer ansehnlichen Frau mittleren Alters auf, die keinerlei Ähnlichkeit hatte mit der Greisin, die ihnen misstrauisch entgegenblickte. Auch ein Name kam ihr in den Sinn, und sie versuchte es: „Guten Tag, Ulyana Michailowna“, sagte sie in dem ländlich gefärbten Ukrainisch ihrer Kindheit, das irreal in ihren Ohren klang. „Sie werden sich nicht an mich erinnern. Ich bin Galina Sergejewna Sidorenko. Wir haben am Waldweg gewohnt. Aber unser Haus gibt es nicht mehr.“
Sie wartete. Die alte Frau schien sich erst langsam aus einer Starre zu lösen, in der sie seit vielen Jahren verharrte. Dann sagte sie mit eingerosteter Stimme. „Galina, ja. Kluges Mädchen. Mein Kolja hatte sie sehr gern.“
„Kolja ...“
Galina hielt sich am Zaun fest. All die Jahre hatte sie kein einziges Mal an Kolja gedacht. Doch jetzt bekam der Mantel, den sie über die Erinnerung gebreitet hatte, Risse. Kolja, der Junge, der niemals sprach, der sich stundenlang damit beschäftigte, Kieselsteine zu exakten geometrischen Mustern anzuordnen, oder blitzschnell die Heftromane mit albernen Ufos und Strahlenkanonen durchblätterte, die Iwan, der Lastwagenfahrer, aus der Stadt mitbrachte. Manche hielten ihn für einen Idioten, und dachten, er könne nicht lesen, aber Galina wusste es besser.

Keine Außerirdischen haben die Erde erobert und aus meinem Dorf wurde niemand vertrieben, obwohl natürlich auffiel, dass der Dorfdepp verschwunden war. Aber wer interessierte sich ernsthaft für einen Dorfdepp? Man sah ihn und vergaß ihn wie einen Baum am Wegesrand. Alles blieb, wie es war, und trotzdem wurde es anders. Auch für mein Mütterchen, dem ich nie sagen konnte, was sie mir bedeutete.



„Kommen Sie herein, Galina Sergejewna, Ihre Freunde natürlich auch.“
„Spacibo, spacibo“, schnatterte Schneider und setzte sein breitestes Lächeln auf.
„Ist der gut angezogene Ausländer Ihr Mann?“
„Nein, Herr Schneider ist mein Chef. Er leitet eine Baufirma in Berlin. Wir haben geschäftlich in Kiew zu tun, und da er weiß, dass ich von hier stamme, hat er mich gebeten, ihm die Zone zu zeigen.“
„Will er hier ein Hotel errichten, pünktlich zur Fußball-Europameisterschaft nächstes Jahr?“, lachte Ulyana Michailowna. „Japaner zieht es neuerdings auch in die Zone, auch wenn ich hier noch keinen gesehen habe.“
„Sie kriegen mit, was in der Welt vor sich geht?“
„Fernseher haben wir keinen, aber immerhin Radio und Telefon seit ein paar Jahren.“
„Wir?“
„Kolja und ich.“
Galina fühlte Kälte in sich aufsteigen. Sie wollte die Schwelle zum Haus nicht übertreten, genauso, wie es ihr vor ein paar Stunden widerstrebt hatte, die Grenze zur Sperrzone zu überqueren, doch Schneider legte ihr seine warme, feste Pranke auf den Rücken und schob sie hinein. Sie atmete leichter. Solange dieser dicke, pragmatische Mann bei ihr war, brauchte sie sich nicht vor Geistern zu fürchten.
„Leo, mein Mann, hat uns schon lange verlassen. Und alle andern sind auch weg. Wer will schon hier leben, wo ein paar Schritte weiter die radioaktive Zone beginnt? Ich kriege eine kleine Rente. Reicht gerade so zum Leben. Manchmal kommen Händler vorbei und der Arzt sieht öfter nach mir. Kolja kann sich nicht um mich kümmern. Sie wissen ja, er ist ein bisschen anders als die anderen, aber ein guter Junge, wirklich.“
Drinnen sah es nicht so schäbig aus, wie Galina erwartet hatte. Alles war bescheiden, aber sehr ordentlich. Die alte Frau ließ die drei Gäste am Küchentisch Platz nehmen und begann Tee zu kochen.
„Nun übersetzen Sie doch endlich, Frau Sidorenko. Was hat die alte Dame da die ganze Zeit geredet? Lebt sie wirklich mutterseelenallein hier?“
„Ich kenne Ulyana Michailowna von früher. Sie hatte einen Sohn, Kolja. Er war zwei oder drei Jahre älter als ich. Und er sprach nie.“
„Er war stumm?“
„Nein, ich glaube, er hätte schon sprechen können, wenn er gewollt hätte. Er war autistisch, vermute ich. Nicht dass damals jemand von den Dörflern dieses Wort gekannt hatte, aber nach dem, was ich heute weiß, denke ich, er war ein Autist.“
Sie schwieg und sah Kolja nun wieder ganz genau vor sich. Die wässrigen blauen Augen, die immer nach innen zu blicken schienen. Sie hatten oft zusammen gespielt. Er hatte aus Kieselsteinen wundervolle geometrische Formen gelegt, und sie hatte versucht, es ihm nachzumachen. Doch nie hatte sie es richtig gemacht, immer waren ihre Gebilde um ein paar Millimeter unsymmetrisch gewesen, und er hatte sie geduldig korrigiert, hatte die Steine so platziert, wie sie sich gehörten, und wenn das Muster dann fertig war, hatte sie für einen ganz kurzen Moment Zutritt zu der Welt gehabt, die er ganz allein bewohnte und die allen anderen verborgen war.
„Wir waren Freunde“, sagte Galina. „Und ich habe ihn vergessen. All die Jahre habe ich nicht ein einziges Mal an ihn gedacht.“
„Und wo ist er jetzt?“
„Hier in diesem Haus – so nimmt seine Mutter es jedenfalls wahr. Aber in Wirklichkeit ...“
Die alte Frau brachte den dampfenden Tee an den Tisch. „Kolja freut sich sehr, dass Sie hier sind, Galina Sergejewna. Seine Freundin aus Kindertagen hat ihn nicht vergessen. Das ist wunderbar.“
Galina wurde nun erst bewusst, mit welcher geometrischen Genauigkeit das spärliche Geschirr angeordnet war. Und in einer Ecke sah sie ordentlich gestapelt die alten vergilbten Groschenheftchen mit den Ufos und Strahlenkanonen liegen. Dann hörte sie ganz von fern Koljas nicht enden wollende Schreie in den Frühlingsnächten des letzten Jahres, das sie im Dorf verbracht hatte. Sie wollte zu ihm, um ihn zu trösten, aber man ließ sie nicht. Der Arzt ging ständig im Haus seiner Eltern ein und aus, und schließlich brachten sie ihn fort. Das Getuschel über die seltsame Krankheit des Jungen versickerte schnell, als neue Gerüchte die Runde machten über die Explosion des nahe gelegenen Kernreaktors und deren Folgen.

Was tut man mit einem entwurzelten Baum, dem die Nadeln ausfallen, dessen Stamm von innen heraus verfault? Man fällt ihn. Oder man stupst ihn einfach ein wenig an, dann fällt er von selbst – in die Erde, in der er gewachsen ist. Sie bewahrt die Erinnerung an ihn und an die Krankheit, die ihn von innen her verfaulen ließ. Vielleicht spüren Menschen, welche die Erde betreten, etwas von seinem Leid.


„Was hat sie gesagt, Frau Sidorenko?“, drängte Schneider. „Sie hat 'Kolja' gesagt, das hab ich verstanden. Sie meinen, er ist tot und sie ist ein bisschen wunderlich geworden und bildet sich ein, er sei noch hier, stimmt's? Nun erzählen Sie doch endlich!“
„Es muss um die Zeit gewesen sein, als die Katastrophe passiert ist, vielleicht sogar genau am 26. April, was weiß ich ... Kolja hatte furchtbare Schmerzen, er schrie, wälzte sich am Boden und schien furchtbar zu leiden. Keiner wusste, was mit ihm los war. Er wurde ins Krankenhaus eingeliefert. Kurz danach kamen Wissenschaftler auch zu uns, um die Strahlung zu messen. Sie befanden, dass sie zwar grenzwertig, aber noch im grünen Bereich war. Doch Kolja starb nach wenigen Tagen. Ich habe ihn nicht wiedergesehen, aber es hieß, er hätte Blut gespuckt und ihm seien die Haare ausgefallen.“
Doch jetzt in diesem Moment sah sie ihn vor sich, glatzköpfig, blutleer, abgemagert, mit verbrannter Haut. So zeigte er sich ihr, wie um sie dafür zu bestrafen, dass sie ein Vierteljahrhundert nicht ein einziges Mal an ihn gedacht hatte.
„Die Strahlenkrankheit?“, bohrte Schneider hartnäckig weiter.
„Ich weiß es nicht. Ich war doch noch ein Kind.“ Ihre Stimme klang weinerlich.
„Aber das Gerücht, dass jemand aus dem Dorf verstrahlt worden, war, auch wenn es nur – verzeihen Sie – der Dorfdepp war, verbreitete sich und die Menschen verließen nach und nach den Ort, obwohl er noch nicht in der Sperrzone lag. War es nicht so?“
Galina antwortete nicht und auch Schneider verfiel, ungewöhnlich für ihn, in Schweigen.
Nur Ulyana Michailowna und Dmitri wechselten ein paar belanglose Worte.
Dann wandte sich die alte Frau wieder Galina zu: „Kolja ist so glücklich, dass Sie zurückgekommen sind“, sagte sie noch einmal. „Er dachte wirklich, Sie hätten ihn vergessen.“
Galina nahm ein paar Zuckerstückchen aus der Dose und begann sie in einem geometrischen Muster anzuordnen, wie Kolja sie geliebt hatte. Wahrscheinlich fehlten am Ende wieder ein paar Millimeter, aber wenn Kolja ihr vergeben hatte, dass sie nie an ihn gedacht hatte, würde er es sicher am Ende wieder geraderücken.




Impressum

Texte: Text: © Melpomene Cover: Wikimedia Commons, © slawojar
Tag der Veröffentlichung: 11.11.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Siegertext der 32. Schreibarena Thema: Das Dorf an der Grenze

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