Die Marsianer landeten in der ewigen Finsternis, in der die Erde vor Jahrtausenden versunken war. Ihr Schiff, die Leonardo da Vinci,
den Flugmaschinen dieses Genies nachempfunden, hatte sich einen Weg durch die giftige Wolkenschicht gebahnt, die den Planeten seit der Apokalypse umhüllte. Der Geschichtscomputer hatte genau berechnet, wo vor langer Zeit die Stadt Paris als lebendiges Herz der Welt pulsiert hatte, und der Eiffelturm erleuchtete als einziges Licht die Dunkelheit. Nicht der echte natürlich, der war längst verrostet, sondern eine Nachbildung aus Marsgestein, die erst vor ein paar Tagen vom Himmel geschwebt war, vielleicht so hoch wie ein Weihnachtsbaum. Seine Spitze war ein Sender, der der Besatzung jedes Wesen, das sich ihm näherte, gemeldet hätte. Doch da nichts geschah ...
„... können wir von Bord gehen“, schlug Gaudiangelo, Konstrukteur des Raumschiffs und Kommandant der Mission, seinen drei Mitreisenden vor.
Ludovica Van antwortete mit einem bejahenden Sopran. Anderthalb Jahre lang war sie gezwungen gewesen, in der Enge des Schiffs neue Musik zu komponieren oder alte zu interpretieren, wie es ihr tiefstes Verlangen war. Es hatte ihr körperliche Schmerzen bereitet, die Töne, die ihrer Leidenschaft entsprungen waren, durch das Summen der Maschinen und das kalte Hallen der Metallwände verunstaltet zu hören.
Nurvaljew streckte seine durchtrainierten Arme und machte sich mit theatralischer Geste in Richtung Ausgang. Auch er benötigte Raum, um sich in Tanz und Akrobatik zu entfalten. Sein beweglicher, perfekt modellierter Körper fühlte sich eingesperrt.
Lediglich Homeria blickte stumm vor sich hin und schüttelte leise den Kopf.
„Wenn Sie lieber an Bord bleiben möchten, dann bleiben Sie, werte Freundin“, sagte Gaudiangelo mit leicht ironischem Unterton. Querelen waren nicht ausgeblieben während des langen Fluges, und alle vier hofften insgeheim, sich auf der Erde endlich einmal aus dem Weg gehen zu können.
„Nein, keiner kennt die Sprachen der Vergangenheit so wie ich“, erwiderte sie. „Sollten wirklich noch Menschen hier weilen, dann werde ich gebraucht.“
Doch keiner der anderen glaubte ernsthaft, dass es auf der Erde noch Leben gab, und so schlüpften die vier Marsianer in ihre omniathmosphärischen Druckanzüge, die sich unsichtbar wie eine zweite Haut an den Körper schmiegten, ließen die Landungsbrücke herunter und gingen von Bord. Ehrfurcht überkam sie, als sie den Boden betraten, den ihre Vorfahren vor so vielen Jahren verlassen hatten, und sie trauerten um das Sonnenlicht, das die Menschen einst durch Dummheit und Gier für immer ausgesperrt hatten. Homeria begann die „Ode an den geschundenen Leib von unser aller Mutter“ zu zitieren, die sie eigens für diesen Anlass gedichtet hatte, und Ludovica schuf aus dem Steppenwind, der die eintönige Landschaft durchheulte, eine traurige Melodie dazu, während Nurvaljew einen etwas weltraumsteifen Tanz aufführte.
Gaudiangelo ging ein paar Schritte zurück, um sein Raumschiff, sein Meisterwerk, nach langer Zeit wieder von außen zu betrachten. Über die Grenzen der Zeit hinweg fühlte er sich mit dem Genie Leonardo verbunden – durch diese Maschine, die im Lichte des kleinen Eiffelturms in grandioser Schönheit erstrahlte. Kein anderes Gefährt wäre würdig gewesen, die marsianische Delegation zum Planeten ihrer Vorfahren zurückzubringen.
Versunken in seinen Schöpferstolz merkte Gaudiangelo kaum, wie der Wind hinter ihm immer stärker wurde und ihn unaufhaltsam vom Raumschiff wegzog. Erst als er schon fast in dem Loch verschwunden war, das sich klaffend im Boden auftat, schrie er um Hilfe. Seine drei Gefährten stürzten ihrem Kommandanten völlig kopflos hinterher – sie waren ja kein kaltblütiges Invasionskommando, sondern sensible Künstler –, genau in den Sog hinein und hinab in den Bauch von Mutter Erde. Zum Glück blähten sich ihre Druckanzüge wie Fallschirme auf, und so schwebten sie alle vier unversehrt ins Erdinnere hinab, wo sich die Nachkommen der auf der Erde verbliebenen Menschen eine neue Heimat geschaffen hatten.
„Boah, seht mal, wie braun die sind! Rösten bestimmt den ganzen Tag in der Sonne!“
„Scheint ihnen aber das Hirn verbrannt zu haben. Wie konnten sie sonst nur allen Ernstes glauben, wir würden auf diesen uralten Trick hereinfallen?“
„Halten uns für Neandertaler, nur weil wir in Höhlen leben. Als ob wir was dafür könnten. Sie waren es doch, die unseren Planeten kaputt gemacht haben. Und dann sind sie abgehauen, um den nächsten zu zerstören.“
„Wahrscheinlich haben sie den Mars auch verseucht und verstrahlt und wollen jetzt die alte Erde wieder in Besitz nehmen.“
„Schaut, wie groß und stark sie sind. Das Klima da oben scheint ihnen gutzutun.“
„Ach was, durften ja nur die Reichsten und Schönsten mit damals. Da wurden nur die Besten genetisch ausgewählt. Die Muskeln von dem Riesen, der da so merkwürdig rumtanzt, sind nicht ohne. Wenn er nicht gar so dunkel wäre, dann ...“
Beklommen blickten die vier Marsianer auf die Meute, die sich um das unsichtbare Kraftfeld herum drängte, das sie wie eine Glaskuppel umgab. Dünne Gestalten mit großen, hungrigen Augen und weiß wie der Kalk auf den Hängen von Martia Antigua: ihre Brüder und Schwestern, von denen sie sich vor Jahrtausenden getrennt hatten und die seit Generationen keine Sonne gesehen hatten. Nicht einmal die Sprachgelehrte Homeria verstand etwas von dem wüsten Gebrabbel, das von den Höhlenwänden widerhallte.
Nurvaljew handelte als Erster, denn seine Sprache war die des Körpers, klar, zeitlos und vollkommen – den Worten deutlich überlegen. Er rief sich alle Grußgesten sämtlicher Kulturen, die er studiert hatte, ins Gedächtnis und vollführte Verbeugungen, Knickse, Kniewürfe, rituelle Tänze – alles zu dem Zweck, um den Erdlingen mitzuteilen: „Wir kommen in Frieden!“
„Jetzt breitet er die Arme aus.“
„Das heißt: Kommt zu uns, liebe unterirdische Verwandte, wir wollen euch fressen.“
„Und jetzt zeigt er nach oben, wo ihre Rakete wartet. Holt doch den Stahlkoloss endlich nach unten, ihr Idioten, damit unsere Invasionstruppen heraushüpfen und euch Abschaum endgültig vernichten können.“
„Wir sind ja so dumm und haben noch nie was von der Ilias und von der List mit dem trojanischen Pferd gehört.“
Ilias, trojanisch! Homeria, in deren Gehirn alle nur erdenklichen menschlichen Sprachen gespeichert waren, griff nach dem Faden, der sie möglicherweise verband, und begann die ersten Verse der Ilias im griechischen Original zu zitieren: „Den Zorn singe, Göttin, des Peleus-Sohns Achilleus, den verderblichen, der zehntausend Schmerzen über die Achaier brachte und viele kraftvolle Seelen dem Hades vorwarf ...“ In den Gesichtern der Erdlinge blitzte eine ferne Erinnerung auf, allerdings keine freundliche.
„Hört ihr das? Sie erzählt uns die ganze scheußliche Geschichte noch mal – von den Invasoren, die kamen, um Troja einzunehmen, und die eine ganze Zivilisation vernichtet haben. Sie verspotten uns.“
„Der mit der Stalagmitenfrisur sprüht etwas auf den Boden. Seht ihr das? Was soll das denn sein?“
Auch Gaudiangelo wollte seinen Beitrag zur Kontaktaufnahme mit den Erdlingen leisten, aktivierte die Farbenchips, die unter seiner Haut implantiert waren, und begann jenes Bild, das er so sehr liebte, aber nur von Kopien kannte, auf den Boden zu zaubern. Die Vorfreude, sich bald in die Schönheit des Originals vertiefen zu können, hatte ihn in der endlosen Weltraumnacht vor Depressionen geschützt. Es war das größte Werk, das die irdische Menschheit je geschaffen hatte, und seine Überführung auf den Mars war der einzige Zweck ihrer Mission. Dem Geschichtscomputer zufolge war es kurz vor der Apokalypse in einem unterirdischen Tresor in den Katakomben von Paris eingelagert worden, und die Besatzung der Leonardo da Vinci
sollte es finden. Wenn möglich würden sie sogar noch mehr finden: alte Schriften oder Bild- und Tonaufnahmen, die man damals hatte zurücklassen müssen. Der Mars liebte die Künste – Malerei und Architektur, Dichtung, Musik, Tanz und Schauspielerei –, hatte ihnen seine Zivilisation gewidmet. Nie wieder sollte es Krieg geben wie zu den finsteren irdischen Zeiten.
„Was wird das denn?“
„Eine schwarzhaarige Frau. Die schöne Helena. Auch wieder der trojanische Krieg. Und schaut: Sie lächelt, lacht uns aus. Sie machen sich lustig über uns. Gleich werden die Invasionstruppen von oben kommen.“
„Keine Angst. Es sind genug Wachen aufgestellt.“
„Und wenn sie nun eine Geheimwaffe haben? Also, nicht die da oben, sondern die vier hier unten?“
Nurvaljew tanzte, Homeria zitierte die Ilias und Gaudiangelo malte die Mona Lisa
auf den Boden. Doch was tat Ludovica Van, die bekannteste Musikerin des Planeten Mars? Sie wollte den Erdlingen etwas ganz Besonderes bieten, sie mit der Zaubermacht der Musik an ihr gemeinsames Erbe erinnern. Also aktivierte sie die unter ihrer Haut implantierten Instrumentenchips, ließ ihre Stimmbänder vibrieren und stimmte den letzten Satz aus Beethovens Neunter Sinfonie an:
„Freude, schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium, wir betreten feuertrunken, Himmlische, dein Heiligtum.“
Ludovicas Stimme war für die weiten Ebenen des Mars ausgebildet, wo sich tausende von Menschen zu Freiluftkonzerten versammelten, und nicht für höhlenartige Räume, tief unter der Oberfläche des Planeten Erde, vor allem aber nicht für die Ohren von Menschen, die seit unzähligen Generationen keine so heftigen Geräusche mehr vernommen hatten. Wie ein Tsunami kochenden Wassers stürzten die Schallwellen auf die Erdlinge ein und pressten sie zu Boden, wo sie von grauenhaften Schmerzen gepeinigt wild zuckend um sich schlugen. Das also war die geheime Waffe! Die Marsianer, ihre Gefangenen, folterten sie.
Der Gesang drang bis zu den Schutztruppen hinauf, die zur Verteidigung der Oberfläche abkommandiert waren. Sie hörten ihn dort deutlich schwächer, waren daher weniger überwältigt und setzten ihre Schalldämpfer auf, um eiligen Kriegsrat zu halten:
„Gleich werden sie das Kraftfeld sprengen und uns niedermachen. Wir müssen sie töten. Wir haben keine Wahl.“
„Alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Friede weilt“, tönte es aus der Tiefe.
Zaghafte Stimmen des Widerspruchs regten sich: „Sie sind doch Abkömmlinge des gleichen Geschlechts.“
„Wenn wir sie nicht töten, töten sie uns.“
Homeria verstummte, als sie sah, wie sich die Erdlinge am Boden wälzten, und Nurvaljew hielt verblüfft in seiner Darbietung inne. Gaudiangelo bemerkte es nicht. Er war zu vertieft darin, letzte Korrekturen am Hintergrund des Gemäldes anzubringen.
„Seid umschlungen, Millionen. Diesen Kuss der ganzen Welt“, schmetterte Ludovica mit geschlossenen Augen, während sich die Bewaffneten näherten. „Brüder, überm Sternenzelt ...“
Dann beherrschten plötzlich ganz andere Geräusche den Raum. Von Kugeln durchlöchert sanken die vier Marsianer zu Boden, denn sie waren nichts weiter als fragile Menschen, und da sie in Frieden gekommen waren, trugen sie weder Rüstungen noch kugelsichere Westen. Gaudiangelos Blut verteilte sich auf dem Hintergrund des Bildes, erreichte aber das Lächeln der Mona Lisa
nicht.
Viele Stunden vergingen, ehe die Erdlinge es wagten, die Leichen der Marsianer auch nur anzufassen. Als sie diese untersuchten, fanden sie nichts, was nach Waffen aussah. In ihren Körpern waren Chips implantiert. Zweifellos Sender, mit denen sie Kontakt zu ihren Truppen im Schiff hielten. Das Schiff! Nach hitzigen Beratungen deponierten Spezialisten in Schutzanzügen unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen Sprengsätze an der verseuchten Oberfläche und vernichteten sowohl den Eiffelturm als auch die Leonardo da Vinci.
Gerüchte, dass Überlebende der marsianischen Truppen sich doch noch irgendwo auf der Oberfläche aufhielten, kursierten noch viele Jahre lang wie Gespenstergeschichten.
Die schöne Helena,
wie die Erdlinge das Bild auf dem Boden nannten, wurde mit einem Kraftfeld geschützt und Menschen aus den fernsten unterirdischen Siedlungen kamen, um es zu bestaunen, wobei nicht wenige von dem Marsianerblutfleck mehr fasziniert waren als von dem Gemälde selbst.
Viele Jahre später, als alle, die den Angriff der Marsianer miterlebt hatten, längst gestorben waren, fand man bei einer Höhlenerweiterung einen uralten Tresor, und als man ihn aufbrach, entdeckte man darin das Bild jener Frau mit dem geheimnisvollen Lächeln, um dessentwillen die Marsianer vom Himmel gekommen waren.
Texte: © Melpomene
Titelbild: Wikipedia Commons
Tag der Veröffentlichung: 24.07.2011
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