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Siddadda steckte den Kopf ins Stroh und ließ die langen Ohren hängen. Oddo hatte dieses Jahr das atlantische Osterschicksal ereilt, ausgerechnet Oddo, seinen besten Kumpel. Aber der Dummelstummel war selbst schuld daran, so fett wie er geworden war. Und er war auch noch stolz darauf gewesen, wenn die beiden Fütterer seinen Speckbauch zwischen ihren gierigen Händen liebkosten. Hatte er nicht das Sabbern in ihren Mundwinkeln gesehen? Ach Oddo! Bittere Hasentränen tropften ins Stroh, in dem noch der Geruch des Gefährten hing.
„Gräm dich nicht, Siddadda.“ Tröstend stupste Maulus ihn an. „Er wird leiden, so wie unser Herr Mümmelmann gelitten hat, der für unsere Sünden ...“
Murrend stupste Siddadda ihn weg und zog sich in seine Ecke zurück.
„Aber er wird auferstehen, wie unser Herr Mümmelmann auferstanden ist, und in seiner Herrlichkeit ...“
„Halt die Schnauze, bigotter Fettsack!“
„Lerne Demut, lieber Bruder“, sülzte Maulus und hoppelte auf die andere Seite des Geheges, wo er den restlichen Hasen das Osterevangelium predigte, wie der fromme Herr Mümmelmann grausam durch das Beil zu Tode kam und in den Mägen der Fütterer verschwand, aber am dritten Tage auferstand und seinem gequälten Volke erschien, um es zu lehren, die Knechtschaft noch demütiger zu erdulden bis zu dem Tag, an dem Atlantis untergehen und der große Babba Hase wieder die Herrschaft übernehmen werde ...
Um den Schwachsinn nicht hören zu müssen, richtete Siddadda seine Löffel nach draußen. „Puttha, Puttha, Puttha“, gackerten die Hühner. Das war wohl ihr Obergackermann, den sie um Fruchtbarkeit anflehten. Kurz vor Ostern legten sie immer Eier im Rattertakt, so wie die Maschinen der Fütterer, die rattattattam über die Felder rasten. Sie waren ganz erpicht darauf, denen die Nahrung zu überlassen, die eigentlich ihren Küken zustand.
Eins der Hühner flatterte auf den Zaun gegenüber dem Hasengehege. Es war Pickappapu, eine freche Göre, erst im letzten Jahr geschlüpft.
„He, Dicker, wer wird sich denn gleich das Ei auspusten?“
„Was auspusten? Red verständlich oder halt gleich deinen Schnabel!“
„Heißt: Es gibt keinen Grund zum Traurigsein. Morgen ist Puttha-Tag und alle unsere Eier werden ganz punt, äh bunt bemalt.“
„Und landen dann in den Mägen der Fütterer. So wie der arme Oddo.“
„Ach so, tut mir putterlich leid, armes dickes Mümmeltier.“
„Sag mal, wer ist eigentlich dieser Puttha, den meine Schnauze kaum aussprechen kann? Auch ein auferstandener Osterbraten wie unser Herr Mümmelluschensack?“
„Puttha predigte, dass alles Leben Leiden ist.“
„Bah, genau den gleichen Kötel wie der Mümmel!“
„Die Ursache des Leidens ist die Gier.“
„Stimmt. Wenn der arme Oddo weniger gefressen hätte ...“
„Es gibt Erlösung vom Leiden.“
Siddadda spitzte die Löffel und lauschte der Geschichte vom schönen jungen Hahn, der sich den prächtigen Kamm abscherte, Hof und Harem verließ, durch die Welt zog und dann auf dem höchsten Ast des Potti-Baums sitzend die Erleuchtung erlangte.
„Und was hat er da gesehen? Dass Atlantis untergehen wird, so wie der Mümmelmann?“
„Besser. Er hat gesehen, dass es Atlantis gar nicht gibt. Dass alles nur Einbildung ist. Ich bin nicht da, du bist nicht da, und die Fütterer sind auch nicht da. Auch nicht die Gitter an deinem Gehege. Du könntest also hoppeln, wohin du willst. Oh, und meine olle Frau Mutta, die mich gerade ruft, gibt es auch nicht, aber ich bilde mir mal lieber ein, sie ist da, sonst wird sie stinkiger als der Misthaufen da drüben. Tschüs, Dickerchen!“
Siddaddda war so beeindruckt, dass er gar nicht hörte, wie Mama Henne ihr ungezogenes Kind ausschimpfte: „Schäm dich, einem einfältigen Mümmler so eine Gülle zu verkackern! Wo hast du nur diese Fantasie her?“
„Mutti, zum nächsten Osterfest werde ich ein buntes Ei legen, keins, das die Fütterer färben müssen. Es wird schon bunt aus mir rauskommen, und es wird in tausend Farben glänzen wie der Regenbogen, den die große Henne Puttha manchmal vom Himmel zaubert.
„Grade war's doch noch der große Hahn Puttha, der auf einem Potti-Baum krähte.“
„Ach Mutti! Autsch, nicht hacken!“


1 Jahr später



„Atlantis ist also am Ende?“
„Ja, es ist dem Untergang geweiht wie das Inselreich in der Sage.“
Die Bäuerin Lina versuchte Ironie in ihre Stimme zu legen, doch es gelang ihr nicht. Tiefe Falten hatten sich in ihr Gesicht gegraben und ihre Augen waren gerötet von sorgendurchwachten Nächten. Sie stützte sich auf den Zaun des leeren Hühnergeheges. Dieser Ort war nun gezeichnet, hier hatte ein Massaker stattgefunden, das Gras, das noch wuchs, musste nach Blut und Chemie schmecken.
„Kurt ist schon wieder betrunken. Er verkraftet es einfach nicht. Warum musste diese verdammte Seuche unsere Hühner treffen? Ist das der Lohn dafür, dass wir die Tiere artgerecht gehalten und sie biologisch gefüttert haben?“
Marie legte den Arm um ihre Schwester. Tröstende Worte hatte sie keine. Der Biobauernhof war Linas und Kurts Lebenswerk. Die Bioeier hatten guten Absatz gefunden und „Ferien auf dem Atlantis-Hof“ waren beliebt gewesen unter städtischen Familien. Bis letzten Winter ein seltsamer Virus im Hühnergehege ausgebrochen war und die meisten Hühner dahingerafft hatte. Die restlichen waren getötet worden und mit ihren Kadavern war auch der Ruf des Atlantis-Hofs verbrannt. Das Ganze war groß durch die Presse gegangen. Keine Urlaubsbuchungen mehr. Dafür unbezahlte Rechnungen, Schulden, die Zwangsversteigerung drohte.
Eine Kinderstimme weckte sie aus ihren trüben Gedanken:
„Hasi, Hasi, Hasi.“
„Ach, jetzt Danni hat die Hasen entdeckt. Hör mal, die sind doch nicht infiziert worden?“
„Nein, der Virus war nicht auf Säugetiere übertragbar.“
Dannis mandelförmige Augen leuchteten, als sie vor dem Hasen-Streichelgehege stand, früher der Renner bei den kindlichen Gästen. Sie deutete auf eins der Tiere, das still in einer Ecke saß. Wie immer, wenn sie sich freute, tropfte Speichel aus ihrem Mund. Sie war neun Jahre alt, wirkte aber mehr wie vier und glich in nichts den hübschen, modebewussten Mädchen ihres Alters. Marie haderte längst nicht mehr damit, dass ihre Tochter geistig behindert war. Sie war anders, das war in Ordnung so. Und mit Tieren ging sie unglaublich liebevoll um. Auch der Hase, den ihr Tante Lina nun aus dem Käfig holte und in den Arm legte, schien das zu spüren.
„Sie spricht mit ihm“, sagte Marie stolz, und sogar Lina konnte ein wenig lächeln.
„Du meinst, dass sie eher mit Tieren auf einer Wellenlänge schaltet als mit uns rationalen Denkmaschinen?“
„Unbedingt. Schau, sie erzählen sich was.“
„Komisch, dass sie sich gerade den ausgesucht hat. Wir dachten schon, er wäre krank, weil er so wenig isst und viel dünner ist als die anderen, aber der Tierarzt meinte, ihm fehlt nichts. Er ist ein Einzelgänger, sitzt meistens in der Ecke und schaut aus dunklen Augen in die elende Welt hinaus. Die armen Hasen. Ich fürchte, sie werden alle beim Schlachter landen.“
„Ihr habt sie doch manchmal selbst verspeist.“
„Mein Gott, immer zu Ostern haben wir den Dicksten auf den Tisch gebracht. Sie hatten ein schönes Leben. Keine Massentierhaltung. Es war, als würden wir uns einen alten Freund einverleiben.“
„Wenn du's sagst ...“
„Butta“, sagte Danni plötzlich und deutete mit dem Finger auf den Hasen, als wollte sie ihn vorstellen.
„Butter?“, wiederholte Marie.
„Budda.“
„Buddha?“
Freudestrahlend drückte Danni ihren neuen Freund an sich.

Siddadda hatte viel begriffen in den letzten Monaten. Er lebte nun sein Leben nicht mehr unachtsam und gierig wie vorher, aß nur das Nötigste und beobachtete: seinen Atem, sein Verlangen nach frischem Gras, das Gefühl der Behaglichkeit, wenn er auf dem Stroh lag, die Wut, die in ihm hochstieg, wenn Maulus wieder versuchte, ihn zum Mümmelmanndienst zu schleppen. Immer mehr wurde ihm bewusst, wie sehr er all dem anhaftete, und er lernte, es loszulassen. So wurde er mit der Zeit immer ruhiger und auch glücklicher und langsam stieg in ihm die Ahnung auf, dass es keinen Unterschied zwischen ihm, den anderen Hasen, den Hühnern und sogar den Fütterern gab. Als er dann im Winter das gewaltige Leid der Hühner sah, spürte er es, als wäre es sein eigenes. Doch er verzweifelte nicht daran, denn tief in seinem Inneren wusste er nun, dass es ein Ende des Leidens gibt, auch wenn er es noch nicht gefunden hatte. All dies erzählte er nun dem kleinen Mädchen, das ihn auf dem Arm hielt, und sie schien zu verstehen und gab ihm einen neuen Namen: „Buddha.“
Er spürte auch das Leid der Füttererfrau, sie war traurig, weil Atlantis nun tatsächlich unterging, nicht weil es der Herr Mümmelmann prophezeit hatte, sondern weil alles vergänglich war, und er empfand auch für sie tiefes Mitgefühl.
„Ich darf dich mitnehmen, und du kannst bei mir in meinem Zimmer wohnen. Da kann dir niemand wehtun“, flüsterte ihm Danni in der Sprache zu, die sie beide verstanden. Siddadda fühlte zwar Trauer, weil er Atlantis verlassen musste, doch auch Freude, weil nun etwas Neues anfing.

„Im Schuppen muss noch ein ausrangierter Käfig sein. Den könnt ihr haben“, sagte Lina und schloss auf. „Schön, dass ihr ihn mitnehmt. So findet wenigstens einer von den Hasen ein neues Zuhause.“
„Tja, ich kann Danni wohl nicht mehr von ihm trennen.“
Gackern und Flügelschlagen empfing sie im Schuppen und Marie stolperte erschrocken zurück.
„Was ist das denn?“
„Oh, entschuldige, das hätte ich dir sagen sollen.“
Eine Henne saß in einer Ecke auf einem alten Sofa und gackerte empört über die Störung. Als sie Lina sah, beruhigte sie sich wieder.
„Sie ist als Einzige dem Gemetzel entkommen, weil sie ein paar Tage bevor die Seuche ausbrach, einfach verschwand. Als das Chaos dann losging, hab ich sie auf dem Ast eines Pflaumenbaums im Garten hinten entdeckt, keine Ahnung, was sie da wollte und wie sie so lange allein überlebt hat. Ich hab sie hier versteckt, damit sie nicht auch noch getötet wird, und ihr jeden Tag Wasser und Körner gebracht. Keine Angst, sie ist nicht infiziert, sonst wär sie doch längst tot.“
„Klingt ja, als hätte sie eine Vorahnung gehabt?“
„Wer weiß? Sie brütet übrigens seit ein paar Wochen was aus, aber sie will's mir nicht zeigen.“
„Danni, der Hase!“
Doch dieser war schon aus den Armen des Mädchens gesprungen und schnurstracks zum Sofa gelaufen. Mit einem akrobatischen Satz war er neben der Henne.

„Puttha, Puttha, Puttha, dass ich dich noch mal sehe, mein Mümmel!“
„Ich bin überglücklich, dass du noch lebst, Pickappapu! Ich wollte dir danken, dass du mir vom großen Puttha erzählt hast und davon, wie er die Erleuchtung erlangt hat. Das hat mein Leben völlig verändert.“
Pickappapu gackerte verlegen. „Aber Mümmel, das hatte ich mir doch nur ausgedacht. Ich hatte immer zu viel Fantasie, deswegen hat mich meine Mutti immer ausgeschimpft.“
„Sie hat dich auch ausgeschimpft, als du den Hühnern gepredigt hast, sie müssten fliehen, es würde etwas Schreckliches geschehen.“
„Ja, und die anderen haben sich über mich lustig gemacht und gesagt, sie fantasiert wieder, und jetzt sind sie alle tot, das arme, dumme, faule Federvieh.“ Eine trotzige Hühnerträne fiel auf Siddaddas Schnauze. Er stupste Pickappapu voller Mitgefühl an.
„Aber du hattest recht mit deiner Ahnung. Und du hattest auch recht mit der Geschichte, die du mir erzählt hast, auch wenn du sie selber nicht geglaubt hast. Du hast viel mehr Weisheit, als du denkst.“
Pickappapu konnte schon wieder ein bisschen lachen.
„Weißt du, wo ich war? Bei den großen Bäumen. Ich hab den Potti-Baum gesucht, obwohl ich den ja selbst erfunden hatte. Und weißt du was? Mir ist dort wirklich eine Erleuchtung gekommen. Also nicht die ganz große, aber mein Traum war es immer .... ach, sieh selbst!“
Stolz hob Pickappapu ihren gefederten Popo in die Höhe und zeigte ihrem Freund, was sie so treu gehütet hatte.

Dannis Mandelaugen wurden plötzlich groß und rund. Noch nie hatte sie so etwas Schönes gesehen: Es war, als wäre der Himmel zu einem Ei geschrumpft und auf den Scheunenboden herabgefallen. Sonne und Mond leuchteten gleichzeitig, um ihn zu suchen, und schufen dabei ein ein Meer aus Farben, die es auf dieser Erde nie gegeben hatte.
Das Mädchen konnte nicht anders, als nach diesem tausendfarbigen Wunderding zu greifen, doch sofort entglitt es seinen kleinen, plumpen Händen und fiel zu Boden.
Mutter und Tante schrien entsetzt auf und verstummten verblüfft: Keine Eierschalen mit Glibber verteilten sich auf dem Scheunenboden, sondern ein perfektes Osterei in schillernden Mustern und Farben rollte ein wenig umher und kam dann völlig unversehrt zur Ruhe.


Impressum

Texte: Titelbild: © Gerd Altmann / PIXELIO
Tag der Veröffentlichung: 14.03.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Beitrag zum 28. Wortspiel: "Atlantis, der Buddha und das Osterei"

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