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Die Show hieß „Todes Bruder“ und ihr Motto lautete: „Wer schläft, fliegt raus.“
Fünf Kandidaten hausten zusammen in einer stillgelegten Fabrikhalle und für jeden ging es nur um eins: wach bleiben, und zwar länger als die Mitbewohner. Nicht als Erster gehen müssen. Dabei entschied nicht die Willkür simsender Sofahocker oder sadistischer Juroren über ihr Schicksal, sondern einzig und allein der Gott der Schlafes.
Nach diesem nannte sich einer der Auserwählten: M.Orpheus. Träumerische Kulleraugen und ein Ausdruck von Todessehnsucht auf einem schmalen Gesicht mit leicht exotischem Einschlag qualifizierten ihn von Anfang an für die Rolle des stillen Außenseiters. Sleepless Jean (blond-piepsig), Schönhaarazade (laut-vollbusig), Dreamynator (muskelbepackt-tollpatschig) und Everwaking Soldier (provokant-unsympathisch) ließen es knistern und krachen in der „Loft“. Schönhaarazade oder „Lady Laber“, wie sie bald genannt wurde, unterhielt Mitbewohner und Publikum durch Geschichten, die je nach Sendezeit ins Zotige oder Sentimentale ausarteten. So wurde „ToBru“ nicht zum Tod der Quoten oder zur Penner-Oper, wie manche befürchtet hatten, sondern zum absoluten Must-talk-about.
Intensiv und kurz würde die Staffel sein, das war klar. Denn der offizielle Schlaflosrekord lag bei 266 Stunden, etwas über elf Tagen. Heimliches Dösen zwischendurch bedeutete das Ende der Loft-Karriere: Ein unter die Haut implantierter „Dreamchip“ überwachte die Körperfunktionen und erkannte genau, wann die Grenze zum Reich der Träume überschritten war. Koffein, Taurin und andere Aufputscher waren tabu.
Millionen Menschen fieberten via Fernsehen, Webcam und Telehandy mit, verfolgten die vom Dreamchip übermittelten Kurven, als wären es Börsenkurse, während sie doch lediglich die Herz- und Gehirnfrequenzen der Kandidaten darstellten, und schlossen Wetten ab, wer zuerst wegdämmern würde. Als Schlummerkandidat galt von Anfang an M.Orpheus. Vom Grunde seiner dunklen Augen schien einem immer eine sanfte Schlafnixe verführerisch entgegenzuwinken, und seine weiche Stimme vibrierte wie Sirenengesang. Vielleicht gelang es ihm damit, Sleepless Jean einzulullen, denn ihr Dreamchip spielte schon nach 76 Stunden zum ersten Mal jenes fiese kleine Schlummerlied, das inzwischen eine große Karriere als Handy-Klingelton gemacht hat: ein zähflüssiger Brei aus Mozartschändung, Modern Talking und „Schlaf, Kindlein, schlaf“, der Lehrer, Chefs und Bahnreisende bis heute regelmäßig in den Wahnsinn treibt.
Unter großem Geheule wurde die Blondine aus der Loft geführt. Doch sie beschuldigte nicht M.Orpheus, sondern Schönhaarazade des Schlaf-Mobbings: „Die wollte mich loswerden, damit sie mit den Kerlen leichteres Spiel hat!“ Tatsächlich hatte Schönhaarazade der Mitbewohnerin eine Schulter-und-Nacken-Massage verpasst und möglicherweise durch eine tantrische Technik deren Wachmodus zum Absturz gebracht. Ein anderes Gerücht behauptete, sie hätte vor der Sendung Erkundigungen eingezogen und der Konkurrentin kurz zuvor eine sentimentale Geschichte über den Tod eines Kätzchens ins Ohr geflüstert, die Sleepless Jean an ein eigenes traumatisches Kindheitserlebnis erinnerte, vor dem sie sich nur in den Schlaf flüchten konnte.
Die Presse hatte jedenfalls ihr Biest gefunden und spekulierte darüber, wie lange die „Schöne Charade“, „Lummerland-Hexe oder „Dös-Masseuse“ brauchen würde, um ihre drei männlichen Mitbewohner ebenfalls „weichzukneten“.
Dreamynator kapitulierte bereits nach 97 Stunden, weil ihm alles egal geworden war. Everwaking Soldier hielt volle 145 Stunden durch, bis sie ihn unter der Bettdecke verführte – schade, dass ausgerechnet bei dieser Szene die Kamerabilder verschwammen.
Blieb das Duell Schönhaarazade gegen M.Orpheus. Die Sympathien waren klar verteilt: „Aus Tag wird Nacht, doch Morphi wacht!“ oder „Lass sie schwafeln, bis sie schlappmacht!“ stand auf den in einer Nacht-und-Nebel-Aktion gedruckten T-Shirts von spontan gegründeten Fanclubs, die nicht nur aus weiblichen Teenagern bestanden. Details über sein Leben wurden bekannt. Angeblich stammte er aus einer Roma-Familie, die von einem totalitären Regime gejagt wurde. Auf der Flucht verlor er seine Eltern und wuchs in einem deutschen Waisenhaus auf. Dem widersprach ein adeliger Dauer-Talkshow-Gast: Er meinte in ihm seinen Enkel zu erkennen, den seine Tochter vor 22 Jahren nach einer tragischen Liebesaffäre zur Welt gebracht und zur Adoption freigegeben hatte. Ein junger Mann aus Hinterflennewald, der behauptete, M.Orpheus sei der Sohn eines Arbeitslosen und einer Putzfrau, hätte mit ihm zusammen eine Lehre zum Fliesenleger gemacht, sei aber wegen Ungeschicklichkeit entlassen worden, fand in der Öffentlichkeit kaum Gehör.
Schönhaarazade wiederum wurde von allen Seiten als Zicke, Flittchen und notorische Lügnerin beschimpft. Etliche Männer und Frauen wollten von ihr getäuscht und betrogen worden sein, und ein bekannter Late-Night-Moderator beschuldigte sie, sämtliche ihrer Geschichten aus seiner Sendung geklaut zu haben.
Nach 6 Tagen hatte ToBru die Popularität einer Olympiade erreicht. Menschen trafen sich abends zum Public Viewing, und Büroangestellte riskierten eine Abmahnung, weil sie bei der Arbeit heimlich die Webcam verfolgten, um ja nicht den Moment zu verpassen, in dem einer der beiden wegdämmerte. Statt Champions League und Schwergewichts-WM verfolgte man in den Sky-Bars die „Königsklasse des Wachkampfs“. Viele Jugendliche saßen mit verquollenen Augen am Frühstückstisch und gaben wirres Zeug von sich. Selbst die Politiker und Manager des Landes dehnten ihre Sitzungen bis tief in die Nacht aus und versuchten, am Morgen besonders unausgeschlafen auszusehen und dennoch tapfer zu lächeln.
Schönhaarazade schlich um M.Orpheus herum wie eine Katze ums Mauseloch: Die Geschichtentaktik zog nicht mehr, denn sie war nun nicht mehr imstande, eine Erzählung vernünftig zu Ende zu bringen, hatte nach zwei Sätzen den Anfang vergessen und verschaffte sich dann in lautem Schreien Luft, um nicht weinend zusammenzubrechen.
Doch ihr Repertoire war noch längst nicht erschöpft. Sie zelebrierte Bauchtanz, Bewegung hielt schließlich wach. M.Orpheus aber beschränkte sich nicht auf das Zuschauen, sondern tanzte ihr den Rang ab. „Jetzt hat sie ihn“, ertönte es vor den Monitoren, denn alle glaubten, der zart wirkende Jüngling würde sich müde hopsen.
Dem war aber nicht so. M.Orpheus' Dreamchip-Frequenzen blieben relativ ausgeglichen, während Schönhaarazades nach oben schnellten und wieder sanken, wie ein Schiff, das mit den Wellen kämpft.
Eines Samstagabends zur besten Sendezeit fiel die erschöpfte Schöne theatralisch auf das Sofa. Das zähe Schlaflied ertönte und Millionen von M.Orpheus-Fans jubelten, zogen durch die Straßen, hupten sich den Schlaf aus dem Leib.
Schönhaarazade verteilte tapfer Küsschen, als sie unter Jubel und Buhrufen aus der Loft geführt wurde. Schon zwei Tage später erschien ihr Tatsachenbericht „201 Stunden“ als E-Book. Wie sie diese literarische Leistung vollbracht hat, obwohl sie doch erst einmal 24 Stunden durchschlief, bleibt eines der vielen ungelösten ToBru-Geheimnisse.

M.Orpheus hieß also der Sieger: Doch statt sich als König Schlaflos durch die Straßen fahren zu lassen und seinen Bewunderern huldvoll zuzuwinken, blieb er in der leeren Fabrikhalle, um den offiziellen Weltrekord von 266 Stunden zu brechen.
Aus dem Dialog war nun ein Monolog geworden, aus dem Zweikampf der Kampf des Helden gegen sich selbst. Was konnte spannender sein, als das mühsame Heben der Augenlider zu beobachten und die roten Äderchen in seinen unergründlichen Augen zu zählen oder die Tiefe der Falten auszuloten, die sich in dem jungen Gesicht gebildet hatten, ganz zu schweigen von den abgründigen Schatten traumloser Existenz!
Wie eine Shakespeare-Figur schritt M.Orpheus die Loft auf und ab – denn hinsetzen war zu riskant in seinem Zustand – und gab von Zeit zu Zeit Aphorismen von sich, perfekt geeignet, um in der täglichen Zusammenfassung gesammelt zu erscheinen:

219. Stunde:
„Zeit ist ein Spinnennetz, in dem ihr festklebt, wenn ihr schlaft. Strampelt euch frei, dann wird der achtbeinige Tod euch nicht fressen.“

228. Stunde:
„Hunger auf der Welt gibt es so viel, nach Nahrung, nach Sex und nach Schlaf. Endet den Hunger nach Wachsein, dann könnt ihr den Hunger auf der ganzen Welt beenden.“


234. Stunde:
„Ihr seht mich, und ich euch nicht, meine lieben Brüder und Schwestern, und dennoch bin ich mit unendlicher Liebe für jeden und jede von euch erfüllt! Ich will nie wieder schlafen. Die Welt des Schlafes ist eng, die des Wachseins unendlich.“

255. Stunde:
„Die Zukunft der Menschheit liegt im Nichtschlafen. Ohne Schlaf keine Träume, ohne Träume keine Hirngespinste und größenwahnsinnigen Fantasien. Nur Klarheit, ich fühle mich klar wie ein See ohne Chemieverschmutzung. Lasst eure Geister nie wieder durch den Bruder des Todes verunreinigen.“

Um die Zuschauer nicht zu überfordern, stellte der Sender dem frischgebackenen Philosophen angebliche Fanfragen wie:

„Hast du eigentlich so Erektionen am Morgen, auch wenn du gar nicht aufwachst?“ (Thomas K. aus Kleinen-Himmelgeist)
Antwort: „Ich bin immer wach, also ist mein ganzes Leben aufwärts gerichtet.“

„Morphi, empfindest du dich eigentlich noch als Mann oder verschwimmen die Geschlechtergrenzen, wenn man so gar nicht mehr schlafen tut?“ (Moni S. aus Güldengries)
Antwort: „Bin ich Mann, bin ich Weib, schwul, lesbisch, hetero? Ich bin alles, ein Hermaphrodit, dem nichts fremd ist, der nichts und niemanden aus seiner Liebe ausschließt.
(Die Erklärung des Fremdwortes „Hermaphrodit“ wurde eingeblendet.)

Den Weltrekord von 266 Stunden brach M.Orpheus fast mühelos und quittierte die Gratulationen von draußen mit ein paar steifen Verbeugungen. Wie lange er noch weitermachen wolle? „Ewig.“
In der 281. Stunde meldeten sich Ethikkommissionen zu Wort und forderten, die Ausstrahlung sofort zu beenden, der junge Mann begebe sich in Lebensgefahr, er könne aus heiterem Himmel tot umfallen, wenn er nicht endlich schlafe.
Betrugsvorwürfe wurden laut, unter sein Essen seien Drogen gemischt worden, was auch die zunehmend wirren Monologe erkläre.
So versuchte er in den Stunden nach dem Rekordbruch ständig von seinem Leid zu erzählen, hatte aber beim dritten Wort schon wieder das erste vergessen. Satzfragmente wie „Laborratte ruft Christus an und schweigt im klaffenden Ozonloch“ wirbelten mit Lichtgeschwindigkeit durch das Internet und entfachten Diskussionen über einen M.Orpheus-Code. Sogar ein „Geheimes Evangelium nach M.Orpheus“, Zitate, die angeblich vom Sender herausgeschnitten worden waren, weil sie die herrschende Ordnung auf den Kopf stellten, kursierte. Sein von Bewusstseinslosigkeit gemartertes Gesicht erschien auf Magazincovern. Man diskutierte ausgiebig über Schlafentzugsfolter und prangerte die Qutotengier des Fernsehens an. Ein bekannter Psychomediziner wurde zum Ungeheuer der Nation, weil er im Eifer eines Talkgefechts forderte, es sei das einzig Humane, den jungen Mann „einzuschläfern“.

Als der „Märtyrer der unbedingten Wachheit“, wie ihn der Pressesprecher der neoapostolischen Bischofskonferenz betitelt hatte, nach 299 Stunden und 37 Minuten – knapp 12 ½ Tagen – endlich zusammenbrach, erhob sich ein gewaltiges Kreischen im Land – alle Kanäle unterbrachen ihr reguläres Programm, und der Krankenwagen, der ihn in die Klinik brachte, wurde von mehreren Übertragungswagen eskortiert.
Rund um die Uhr wachten nun die Kameras vor seinem Zimmer. Fernsehanwälte wollten nachweisen, dass in seinem Vertrag indirekt die Erlaubnis stände, ihn im Bett zu filmen, kamen aber nicht durch damit.
Linguistik-Spezialisten von der Kriminalpolizei versuchten die letzten Worte zu analysieren, die er vor seinem Zusammenbruch schon halb im Delirium gemurmelt hatte. Die meisten meinten „Mehr Spiralissimo“ gehört zu haben, doch auch „Schwer für das Risiko“ war ein Kandidat, ebenso diverse Sentenzen im Roma-Dialekt. Die Interpretation „Meerblaue Fliesen ins Klo“ erschien ein paar Tage später in einer Satirezeitschrift.

M.Orpheus selbst gibt dazu keine Auskunft, denn er ist bis heute nicht aus seinem Schlaf erwacht. Jahr für Jahr pilgern Busladungen von Menschen zu seinem Bett in einer tempelartigen Privatklinik, die ihn als einzigen Patienten beherbergt und Arbeitsplatz für über 100 Ärzte, Pflegekräfte, Empfangs- und Securityleute, Marketingmanager und Medienkoordinatoren ist. Ihm, der so lange schlaflos war, wird nun im Schlaf der höchste Ruhm zuteil. Sein Gesicht trägt einen friedlichen Ausdruck, als würde er träumen. Selbstverständlich ist eine Absperrung um sein Bett errichtet, damit sich ja keine Prinzessin auf ihn stürzen kann, um ihn wachzuküssen. Nur am Jahrestag seines Zusammenbruchs dürfen ein paar Auserwählte zu ihm und seine Hand berühren.
Die Bücher mit den Äußerungen des M.Orpheus und verschiedensten Interpretationen sind zu Bestsellern geworden, Künstler haben Filme über ihn gedreht und Collagen über die Gesichtsveränderungen während der TobBru-Zeit gemacht. Eine Tanzperformance, die den Kampf zwischen ihm und Schönhaarazade nachspielt, wird an den besten Theatern aufgeführt. Sogar eine Parfümmarke mit seinem Namen findet sich in den Drogerien.
Einige wollen ihn zum Mystiker ernennen, andere halten ihn für einen Zenmeister, wieder andere für einen Märtyrer in der Nachfolge Christi, obwohl nicht klar ist, ob er zu Wachzeiten überhaupt einer Religion angehörte.
Notorische Miesmacher und Verschwörungstheoretiker lästern, es sei alles gefakt, der Mann sei bei vollem Bewusstsein und genieße seinen durch diese Massenhysterie erworbenen Reichtum in der Karibik, während sich Doppelgänger alle paar Tage mit dem Schlafen abwechselten.
Eine neue Krankheit erobert die Psychopraxen: das M.Orpheus-Syndrom. Ähnlich der Magersucht tritt es meist bei jungen Mädchen auf, die sich einfach zu Tode wachen, um verwirrt und rotäugig dahinzusiechen.
Dann gibt es noch jene wahren „M.Orphianer“, die seiner Botschaft von allumfassender Liebe nacheifern – und natürlich das Heer der Gleichgültigen, für die dieser Kult nur ein weiteres Gewürz in der esoterischen Suppe ist.
Was aber, wenn er eines Tages die Augen aufschlägt – der Roma-Waise, das uneheliche Adelskind, der unbegabte Fliesenleger oder wer auch immer in jenem luxuriösen Bett schläft, und verdutzt fragt: „M.Orpheus, wer ist das?“ Ganze Berufszweige würden ihrer Existenzberechtigung beraubt, eine junge Religion wäre messiaslos, Mädchen hätten sich umsonst die Seele ausgewacht, und das hämische Gelächter der Spötter und Nihilisten würde auch die letzte wundergläubige Seele aus ihrem unschuldigen Schlummer wecken.
So lasst uns denn hoffen, dass er weiterschläft wie König Artus in Avalon, auf dass der Mythos niemals sterben möge.
Von „Todes Bruder“ gab es übrigens keine zweite Staffel, obwohl es jammerschade ist, dass M.Orpheus so kurz vor der 300-Stunden-Marke gescheitert ist. Doch sein Rekord bleibt bestehen, bis vielleicht eines Tages der oder die Eine kommen wird ...


Impressum

Texte: Text: © melpomene Cover: english wikipedia, original upload 17 November 2003 by en:User:Claudia Schmuck
Tag der Veröffentlichung: 22.12.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
2. Platz beim Kurzgeschichtenwettbewerb „Schlaflos“

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