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Lichtgestalten



Prolog:
Sie wandeln auf den verlassenen Straßen der Stadt,
die einst eine blühende Metropole war.
Niemand weiß woher sie kommen.
Keiner kennt ihre Namen. Man hat nur gehört, dass sie verlorene Seelen seien. Ohne jedes Ziel, zwischen Himmel und Erde gefangen, bis ein Erlöser kommt oder geboren wird und ihnen Gnade gibt.
Doch die Zeit scheint unendlich.
Vergeht für sie kaum. Können nicht Reden,sich nicht bemerkbar machen…nicht für Menschen und auch nicht für andere Lebewesen. Man sieht sie kurz als Licht,
hält es in der nächsten Sekunde aber für eine Illusion.
Steht jemand in diesem leeren Raum? Auf der Straße? Direkt neben dir? Unsicherheit hat das Leben beinahe aus der Stadt verdrängt. Wer hier geblieben ist,
spricht nicht darüber, ist gedankenlos.


1.Das Licht der Welt


Ich habe lange gebraucht, um zu realisieren, was geschehen war. Zu begreifen, dass ich kaum zu sehen,
zu spüren oder gar zu hören war. Seit dem Tag meiner zweiten Geburt war ich an meinem neuen Dasein verzweifelt, fragte mich ständig warum. Was hatte ich falsch gemacht, dass ich dazu verdammt worden war, dieses Leben zu führen. Wenn man es überhaupt so nennen konnte. Abends wurde ich als leichter Lichtschimmer sichtbar. Sichtbar für diejenigen, die sich nicht dagegen entschieden hatten, uns zu sehen.
Doch in dieser Stadt, meiner Heimat, sperrte sich jeder. Es überraschte mich nicht sonderlich, ich ärgerte mich auch nicht darüber oder war traurig deswegen, denn als ich noch ein Mensch war und einen lebenden Körper besaß, da war ich genau wie sie, weil ich es anders nicht ausgehalten hätte.


Die Vorstellung, dass um mich herum zu jedem Zeitpunkt jemand sein könnte und mir zuhörte oder mir in die Seele blickte, ohne dass ich es merkte,
war unerträglich für jemanden, der die Einsamkeit und den Rückzug suchte.
Jetzt hatte ich das Alleinsein und die Ruhe nahe zu immer und ertrug diese nicht.
Es schien keinen Mittelweg zu geben. Sobald die Sonne ihre ersten Strahlen am Horizont hinter der Stadt aufblitzen ließ, war es beinahe unmöglich,
uns zu entdecken.

* * *


Die ersten Tage war ich in den Straßen unterwegs gewesen, als wäre nichts geschehen.
Ich war froh noch zu leben…dachte ich.
Aus Gewohnheit ging ich in mein Lieblingscafé,
ohne wirklich Hunger zu haben.
Wie jeden Morgen. Die Glastür war frisch geputzt und stand offen, da die frühe Märzsonne alles wärmte.


Ich setzte mich an den Tisch am Fenster auf der linken Seite des Eingangs, an dem ich schon immer saß und wartete auf die Kellnerin, Francine. Eine kleine, zierliche, junge Frau von 18 Jahren mit schulterlangen, glatten, ebenholzschwarzen Haaren und rostkastanienbraunen Augen. Eine gute Freundin von mir.
Sie kam auf meinen Tisch zu und ich machte mich bereit, meine Bestellung aufzugeben, doch sie ging an mir vorbei zum Nebentisch, um diesen abzuwischen.
„Hey Francy, ich würde gerne bestellen.”, sagte ich freundlich, als sie wiederum an mir vorbeiging.
Aber sie reagierte nicht.
Habe ich so undeutlich gesprochen?


Ich versuchte es von neuem nur etwas lauter,
jedoch auch dieses mal vergeblich.
Ich überlegte, woran es liegen könnte,
dass sie mich anscheinend ignorierte. Außer mir war niemand hier und geärgert hatte ich sie in der letzten Zeit eigentlich auch nicht.


Schließlich stand ich auf, lief ihr hinter her und tippte ihr auf die Schulter. Francy hielt kurz in ihrer Bewegung inne, ging dann jedoch weiter Richtung Küche. Ich eilte an ihr vorbei und blieb vor ihr stehen.
Sie setzte ihren Weg trotzdem unveränderten Schrittes fort und als ich befürchtete, sie würde im nächsten Moment gegen mich stoßen, geschah das, was mich unglaublich schockte:
Sie durchschritt mich wie Luft.
Es war unfassbar. Unbeherrscht schrie ich sie an,
doch eine Reaktion trat nicht ein. Ich rannte verwirrt aus dem Lokal auf die Straße und schrie jedem entgegen,
den ich traf, aber keiner antwortete.
Dann gefror meine Bewegung auf der Stelle.
Was tat ich hier?
Der Wind pfiff scharf um die Häuserecken und an der Bordsteinkante hatte sich ein Blatt aus der Tageszeitung verhakt. Vollkommen perplex starrte ich es an und begann aus Affekt es zu lesen.


Oben stand ein Artikel über die letzte Kirmes des Nachbardorfes, die gestern geendet hatte.

Dann dieser:

02.03.10 Tödlicher Unfall auf B251



Am vergangenen Spätnachmittag um etwa 17.00 Uhr ereignete sich an der Auffahrt der B251 auf die A44 Richtung Kassel ein schwerer Unfall.
Eine junge Motorradfahrerin war anscheinend auf dem Weg nach Kassel, als sie mit zu hoher Geschwindigkeit in eine uneinsichtige Kurve fuhr,
in der ihr ein LKW entgegenkam. Nach Angaben des Fahrers bremste die Motorradfahrerin stark und verlor dabei die Kontrolle über ihr Fahrzeug, welches beinahe ungebremst gegen die Leitplanke raste. Sie wurde circa acht Meter durch die Luft geschleudert und prallte schließlich gegen einen Baum.


Der schockierte LKW-Fahrer benachrichtigte sofort den Notarzt, der leider nur noch den Tod durch Genickbruch bei der als 19-jährigen Valentina Marja L. identifizierten jungen Frau feststellen konnte.



Valentina Marja Lichtenfels.
Das ist mein Name und ich war tot.
In den auf dieser Erkenntnis folgenden Tagen spulten sich vor meinen Augen immer wieder die Szenen des Unfalls ab. Ich spürte jedes Mal die Panik vor dem entgegenkommenden LKW, die Wucht, mit der mein Motorrad die Leitplanke traf und die schiere Unendlichkeit des Fluges, als ich durch die Luft geschleudert worden war. Mein Tod war ein dumpfer Aufschlag, ein Knacken der berstenden Knochen,
ein harter elektrischer Schlag wie ich mir den eines Blitzes vorstellte. Drei Tage dauerte das stärkste Leiden unter diesen wiederkehrenden Szenen und Gefühlen. Ich weiß kaum noch etwas darüber, wo ich mich in dieser Zeit aufhielt oder was ich tat. Das einzige, woran ich mich erinnern kann, ist, dass ich zu Hause war.


Bei meinen Eltern und meiner kleinen, zehn Jahre jüngeren Schwester Celine, die ich so sehr liebte.
Aber es ging mir dadurch schlechter, denn ich verzweifelte mehr und mehr daran, dass sie mich nicht wahrnehmen konnten. Daran, ihnen nicht sagen zu können, dass ich doch noch da war; dass ich Celine nicht in den Arm nehmen konnte, um ihr zuzuflüstern, dass alles sicher gut werden würde und dass sie nicht so unendlich traurig sein mussten.
Am zweiten Tag war meine Beerdigung, aber ich ertrug die Trauer meiner Familie genauso wenig wie das Wissen, dass ich es war, deren Körper schon eingeäschert worden war, und floh von diesem Ort, nachdem ich jedem einen letzten Kuss gegeben hatte, denn ich glaubte nicht, dass ich ein zweites Mal zu ihnen zurückkehren würde.

* * *




Meine Flucht war kopflos, denn ich rannte einfach in irgendeine Richtung.
Bis mich etwas aufhielt oder im Nachhinein betrachtet eher jemand. Dieser jemand brachte mich in ein leerstehendes, baufälliges Haus, an dessen Putz schon die Zeit genagt und das darunter liegende Mauerwerk freigelegt hatte.
Ich ging damals einfach mit, mir war alles egal.
Die Sache war nur die…später bemerkte ich, dass ich nicht mehr von dieser Gestalt wegkam. Sie hatte mich an sich gebannt.

Doch erstmal wollte ich mich schlafen legen, denn es war inzwischen dunkel und eine eigenartige Erschöpfung machte sich in mir breit. Allerdings bemerkte ich recht schnell, dass Schlaf praktisch unmöglich war.
Aber warum?
Plötzlich fühlte ich eine starke Präsenz näher kommen. Die Gestalt näherte sich, hockte sich an meine linke Seite und betrachtete mich.


Ihr Gesicht war das einer Frau mittleren Alters mit kurzen blonden Haaren und graublauen Augen,
die wie Glas spiegelten. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, verspürte aber auch keine Angst sondern eher Wohlbefinden in ihrer Nähe gemischt mit Respekt. Um sie herum schimmerte das Licht golden und als sie ruhig zu reden begann,
strahlte es mit höherer Intensität.
„Junges Mädchen, hab keine Angst mehr.
Hier bist du sicher.”
Ihre Stimme klang sanft und gleichmäßig in meinen Ohren und beruhigte mich.
Ich lauschte ihr, während sie fortfuhr.
„Du bist Valentina, nicht wahr?
Die letzten Tage müssen für dich nervenaufreibend gewesen sein. Ruh dich ein bisschen aus.”
Nun traute ich mich, vorsichtig etwas zu erwidern.
„Sie haben gut Reden. Ich schaffe es ja nicht einmal einzuschlafen.”
Sie legte mir vorsichtig eine Hand auf die Schulter.
„Du wirst nie wieder richtig schlafen können.
Eine Ruhephase kannst du erreichen,
wenn ich dir zeige wie. Aber warte erstmal bis du wieder Ruhe in dir selbst hast.”
Das verstand ich nicht. Ich hielt es mit meinen ganzen Fragen nicht weiter aus.
„Weshalb werde ich nicht schlafen? Was bin ich jetzt überhaupt, wenn ich keinen Körper habe, aber auf dieser Welt bleibe? Und wieso bin ich das geworden?”
Sie nahm mich in den Arm, was ich nur widerstandslos zulassen konnte und flüsterte ruhig zu mir.
„Du bist jetzt seit dem Tag deines Todes und deiner zweiten Geburt eine Lichtwandlerin.
Wir sind Lichtwandler, und wir haben niemals das Bedürfnis, zu essen, zu trinken oder zu schlafen und wir können es auch nicht mehr, denn kein Körper umgibt uns wie eine Hülle, die das benötigen würde. Die letzte Frage kann ich dir leider noch nicht beantworten.
Trotzdem werde ich für dich da sein.
Bitte ruhe dich jetzt aus.”
Ich nickte, entspannte, und sie legte mich vorsichtig auf etwas, das einer Isomatte ähnelte, ab und glitt leise durch den Raum zur Tür hinaus.
Mit ihr verschwand auch diese Präsenz zunehmend, jedoch nicht ganz. Mein schwach leuchtender Energiekörper(ich wusste nicht, wie ich es anders benennen sollte, da ich, wenn ich an mir entlang sah, weiter meine alte Figur besaß)ließ alle Kraft entweichen und kurz darauf versank ich in einer Art
dauerhafte Meditation, die von Schlaf noch immer weit entfernt war.

* * *


Als der vierte Tag anbrach, erweckte mich die Lichtwandlerin wieder aus meiner starren Versunkenheit. Im ersten Augenblick überkam mich Panik,
weil mir meine Umgebung fremd war. Ich sprang auf und wollte hinausrennen, am besten nach Hause, konnte aber nicht, denn eine starke, unsichtbare Kraft
schien mich zurückzuhalten.


„Stop, du darfst nicht weg.
Sieh dich in diesem Spiegel an”, sie musste auf den lebensgroßen Spiegel am anderen Ende des ansonsten verwaisten Raumes gedeutet haben.
„Dein Vorhaben wird dir keinen Nutzen bringen.”
Sofort musste ich der Stimme
Folge leisten und erschrak wieder,
denn dort war kein Spiegelbild. Einzig ein Lichtschimmer, der in einer Millisekunde aufleuchtete und wieder verlosch.
Hektisch musterte ich meine Figur und erkannte dieses Mal alles. Von den Füßen über den Bauch bis zu den Händen. Als ich die Frau ansah, deren Stimme mir absoluten Gehorsam befahl, zogen die Bilder meines Unfalls, meines Todes und der gestrigen Begebenheiten an mir vorbei und plötzlich wich die Unruhe vollkommen aus mir.
„Kind, komm zu mir, alles wird erträglich werden.
Folge mir nur.”


Mit diesen Worten, so klar und beinahe singend gesprochen, veranlasste sie mich, genau dies zu tun.
Als ich vor ihr stand, einen letzten Rest Schwermütigkeit in meinem Blick, berührte sie mein Gesicht mit der linken Hand an der Seite der Stirn und
ich fühlte die Energie, aus der ich bestand, aufleben.
Sie nahm die Hand wieder weg, ging zum Türrahmen hinaus, die Treppe hinunter und ich hielt mich dicht hinter ihr, denn diese Magie begrenzte den Radius meiner Bewegungen in eine andere Richtung. In einem Bereich mit uralten, inzwischen dreckigen weißen Vorhängen und einem alten Steinkamin in einer Nische
blieb die Frau stehen.
„Valentina”, begann sie, „Ich möchte dir nun die Grundzüge unseres Daseins erklären und dir
ermöglichen, es zu verstehen. Später werde ich dir zeigen, wie du damit umgehen kannst, aber erstmal fangen wir mit dem ersten Schritt an. Doch bevor ich erzähle, frage du, was dir gerade im Kopf rumschwirrt.”


Abwartend beobachtete sie mein Minenspiel bis ich antwortete. Mir war aufgefallen, dass ich sie immer mit Sie ansprach, wenn überhaupt, und auch alleine das Wort benutzte, wenn ich über sie nachdachte und so fragte ich.
„Ich würde gerne wissen, wem ich gegenüber stehe.”
Meine anderen Fragen hielt ich noch zurück,
weil ich es in dieser Situation
als unangemessen empfand.
„Mein voller Name ist Cara Synthia Girven, aber du wirst mich bitte nur Cara nennen.”
Mir war bewusst, dass das keine Aufforderung oder Bitte sondern tatsächlich ein Befehl war.
Ich wartete darauf, dass sie weitersprach.
„Gut, wenn nichts weiter ist, dann höre mir jetzt zu.
Ein Lichtwandler zu sein, bedeutet, dass man auf dieser Welt gefangen ist bis man etwas Bestimmtes erledigt hat. Die meisten von uns sind im Unwissen darüber was, trotzdem weiß man es sofort, wenn die Zeit gekommen ist.


Die Energie und die Seele, die den lebenden Körper verlassen haben, sind so stark, dass sie dazu auserwählt wurden, auf der irdischen Welt zu verweilen. Man hat keine andere Wahl.”
Ich strich mir ein paar Strähnen meines mittelblonden Haars aus dem Gesicht und wollte eine Frage stellen, doch Cara blickte mir fest in die Augen, sodass es sich anfühlte, als würde sie mir den direkten Befehl geben zu schweigen. Meine Gedanken verstummten
und sie fuhr fort.
„Wir sind Gestalten, die die Menschen zwar wahrnehmen können, jedoch meist nicht wollen. Und selten sind unter ihnen solche, die so sensibel sind,
dass sie uns auf jeden Fall spüren. Wenn der Durchschnitt uns entdeckt, dann am ehesten abends, wenn es längst dunkelt, denn unser Schimmer wird da besser sichtbar.
Mit dem Licht des Tages, das unseres für sie überdeckt,
entschwinden wir dem Sichtfeld der Menschen.


Es kann allerdings sein, dass sie es merken, wenn du sie berührst, denn deine Energie kann je nach deiner Stimmung wärmen oder auch ähnlich eines Stromschlages, wenn du dich beispielsweise ärgerst, wirken.”
Sie machte eine Pause, in der sie mich musterte.
Ich war wie in einer Hypnose gefangen, welche durch ihre Worte, die Tonlage und ihre bloße Anwesenheit hervorgerufen war.
Mit dem Satz „So, das soll für heute genügen.” und einem sanften, zufriedenen Lächeln entließ sie mich aus meiner gezwungenen Trance.
Sie gab mir noch einen Moment der Erholung, in dem ich zum Fenster hinaus auf die in warmes Frühlingssonnenlicht getauchte Straße blickte,
welche die Sehnsucht nach Leben in mir weckte.


Dann beschloss sie, den Radius des Bannes, der mich an sie fesselte, wieder zu verengen, während sie sagte:
„Komm mit mir. Wir gehen hoch.”, und ich unterwarf mich wie ein Lamm, das die Gefahr fürchtet und auf den Schutz der Mutter und der Gruppe angewiesen war.
Cara führte mich zurück in das Zimmer, in welchem ich am Morgen aufgewacht war,
wenn man es so nennen durfte.
Sie befahl der Lichtenergie, aus der ich bestand, sich auf die Matte zu legen und mein Körper gehorchte. Ich starrte an die hölzerne Decke bis sich ihre Schritte entfernten und fragte mich noch während ihre Präsenz schwächer wurde, ob Menschen unsere Schritte hören konnten. Wahrscheinlich aber nicht. Als ich sie kaum mehr erahnen konnte, verfiel ich erneut in diese tiefe Meditation. Den ”Schlaf”.

* * *




In der Nacht des sechsten Tages war Cara zurück.
Ich fühlte mich wie gerädert, aber als ihre Stärke zu strahlen begann, während sie das Wort an mich richtete,
erfrischte auch meine wieder.
„Heute habe ich dich erst spät geholt, weil du das Haus in meiner Begleitung verlassen wirst.”
Erstaunt stellte ich fest, dass es tatsächlich stockdunkel war und überlegte gleichzeitig,
wie viel Zeit seit der letzten Wachphase
vergangen sein konnte.
„Du hast zwei Tage hier gelegen. Das brauchtest du, denn ich musste dich erst stabilisieren.
Früher wäre es nicht von Vorteil gewesen.”
Sie unterbrach sich mit einem Räuspern.
„Gehen wir, du musst Erfahrungen sammeln.”
Mir war als wolle irgendetwas in mir eine wichtige Frage hinausschreien, doch dieser Stimme wurde die Äußerung verboten.


Ich verließ das Haus direkt nach Cara, und sobald ich die Straße betrat, verengte sich das Band,
das mich im Griff hatte,
sodass ich mich nicht weiter als drei Meter
von ihr entfernen konnte.
Ich erkannte den Weg, den wir einschlugen
Er führte zum Stadtpark.Die Straßen meiner Heimatstadt waren leer wie die einer Geisterstadt.
„Normaler Weise traut sich niemand hier nachts raus.
Sie haben zu viel Angst vor dem, was sie sehen könnten. Angst davor, sich nicht mehr dagegen wehren zu können, dass wir die Wahrheit sind.”
Dies sagte sie ganz beiläufig als sei es eines der normalsten Dinge der Welt.
Wie konnte sie nur immer wieder auf das reagieren,
was ich dachte?

* * *




Der Park lag still vor uns. Nur eine Krähe schrie aufgeregt in die Nacht. Da ich sie nicht sehen konnte, würde ich den Grund nicht erfahren. Der weiche Hagweg knirschte sacht unter meinen Füßen, jedenfalls für mich. Hinter einer Kurve bog Cara auf einen Schleichpfad ab, der sich zwischen Büschen und Bäumen eines kleinen Wäldchens entlang schlängelte.
Ich genoss die Ruhe dieser Umgebung, gemischt mit nächtlichen Geräuschen, so wie ich es schon früher getan hatte, nur dass es gerade weitaus intensiver war.
Die leise knisternde Kommunikation der Tiere
und der Wind, der durch die Kronen der Kiefern
und Eichen strich…
Verzaubert von der Schönheit einer solchen Einfachheit hatte ich nicht bemerkt, wie Cara angehalten hatte und lief beinahe in sie hinein, aber auch da
stieß mich etwas zurück.
„Setzen wir uns.”, sagte sie leise und bestimmt.


Nun, da ich mich wieder konzentrierte, fand ich mich in einem Kreis aus gigantischen Felsblöcken wieder und staunte nicht schlecht darüber, dass so etwas in unserem Park existieren konnte, ohne dass eine Menschenseele davon wusste. Zwar glaubte ich nicht an ihre mystische Wirkung, dennoch war es die schiere Größe, die mir Ehrfurcht beibrachte. Plötzlich leuchtete unser Schimmer ähnlich einem Feuer auf.
„Mädchen, deine Augen…”, verwundert legte sie den Kopf auf die linke Seite.
„Was ist denn?”, fragte ich verunsichert.
„Dein Königsblau wandelt sich zu glänzendem Onyx.”
Erschrocken begann ich zu zittern, obwohl ich es gar nicht wollte. Das war eine Art Macke von mir, wenn ich unter Stress stand.
„Warum? Woher kommt das?”, hörte ich meine krampfhaft stockende Stimme, die in unangenehmen Tonlagen schwankte, sagen.
Von einer auf die andere Sekunde ebbte das heftige Glimmen unsererseits ab.
„Es ist vorbei. Deine Augen haben ihre alte Farbe angenommen. Das ist interessant.”
Ich fühlte mich ein bisschen wie ein Experiment und war verwirrt. Die fragende Stimme wurde jedoch erneut zurückgedrängt. Langsam wurde ich wütend.
Hätte ich endlich mal die Zeit zugestanden bekommen, darüber nachzudenken, wäre mir aufgefallen, dass sie es war, die mir manche Gedanken untersagte.
Stattdessen war mir aber erneut höchste Aufmerksamkeit abverlangt worden.
„Es ist an der Zeit, dich der Gesellschaft der Lichtwandler dieser Gegend vorzustellen.”
Um uns herum erschienen mehrere Lichtblitze, heller als jede Magnesiumflamme, dann wurde es still.
Ich zuckte zusammen, als ich von hinten an den Schultern gepackt wurde, wagte jedoch nicht mich umzudrehen. Nach und nach verstärkten sich Energien und Helligkeit. Ich war mir schließlich der Anwesenheit von mindestens zehn mächtigen Lichtwandlern bewusst.


„Wir nehmen dich auf, junges Kind der Seelenkraft, in den Zirkel der neuen Welt.
Lass und deinen Namen hören.”
Ihre Stimmen waren die älterer, völlig unterschiedlicher Seelen. Melodisch im Sprechgesang wie eine eingeschworene Gemeinschaft. Es kam eines magischen Geheimnisses gleich, dem ich nicht
zu widersprechen wagte.
„Mein Name ist Valentina Marja Lichtenfels.”
Noch wusste ich nicht, dass ich damit meine Identität an das gesamte Lichtvolk gegeben hatte und somit immer gefunden werden konnte.

* * *




Nach meinem Einführungsritual gingen wir, Cara und ich, noch durch die schmalen Gassen und Straßen in der Nähe des Parks. Sie riet, dass ich mir alles gut merken solle, gab mir jedoch wie von Anfang an keinen vernünftigen Grund dazu.
Sie wusste ganz sicher, dass ich ihr gehorchen würde, dass ich es musste.
Als wir nach einer halben Stunde wieder am Haus angekommen waren, welches dunkel und bedrohlich im Schein des Sichelmondes und der Sterne stand, und sie mich zum wiederholten Male in das Zimmer brachte, in dem sie mich bis jetzt immer in gezwungene Meditation legte, wollte ich mich weigern. Für einen Moment schaffte ich es tatsächlich, stehen zu bleiben.
„Bitte, ich will nicht schon wieder auf unbestimmte Zeit hier liegen. Können Sie mich nicht alleine
etwas tun lassen?”
Sie schüttelte ruhig den Kopf und blickte mir entschlossen in die Augen.


Ich empfand es, als würde sie einen Draht in meinem Willen verankern.
„Du legst dich auf die Matte.”
Cara wies mit einem Nicken zur rechten Seite.
Ich stemmte mich mit aller Kraft dagegen, doch sie beendete meinen Widerstand jäh mit einer einfachen horizontalen Handbewegung und einem Schnippen ihrer Finger.
Augenblicklich gaben meine Beine nach, ich sank in mir zusammen und sie fing mich auf, indem sie einen Ausfallschritt tat, um mich zu meinem Platz zu tragen.
Dort ließ sie mich dieses Mal vier Tage ruhen.


* * *



Sie erweckte mich mit den Worten:
„Komm, du musst Vieles lernen.”
Wir setzten uns in den Raum mit Kamin. Erst jetzt fiel mir die Couch auf, welche mit löchrigem, braunem Stoff bezogen war. Ziemlich hässlich.


Merkwürdig auch, dass ich mich hinsetzten oder hinlegen konnte, ohne durch den Boden oder den Stoff zu sinken. Das erschien mir als wichtig, daher würde ich es im Hinterkopf behalten, denn gerade stand anscheinend was Wichtigeres an.
„Beginnen wir damit, dir zu zeigen,wie du dich bewusst sichtbarer machen, also entscheiden kannst, wann du dich jemandem zeigen willst. Außerdem wirst du damit auch Gefühle und Gedanken der Menschen
beeinflussen können.”
Das kritisierte ich endlich.
„Wozu soll mir das nützen? Ich will niemandem irgendetwas aufzwingen.”
Aber sie konterte.
„Ich sagte nur, dass du dies können wirst. Es ist trotzdem das Wichtigste, dass du kontrollieren kannst,
wann du erscheinst.”
Indem ich sie fixierte, signalisierte ich ihr, dass ich bereit war zuzuhören.


„Um deinen Schimmer, also das Licht, das dich umgibt, zu verstärken, musst du dich auf deine eigene Kraft oder Emotionen konzentrieren. Dann stellst du dir vor, du würdest es als eine Explosion herauslassen. Wie eine energetische Aura. Versuch es…”
Ich schloss automatisch die Augen, wie ich es in Science-Fiction Filmen früher gesehen hatte.
Ja man kann sagen, Massenmedien können eine Meinung wirklich prägen.
Ich vertiefte mich in die Betrachtung meiner Empfindungen. Ich musste sie nicht mehr verstärken,
da die Heftigkeit, mit der sie an die Oberfläche drängten, längst ausreichte. Letztlich wurde die geballte Kraft in mir so stark, dass sie sich verselbstständigte.
Ich spürte die gewaltige Entladung und riss meine Augen auf. Mein Licht hatte sich dermaßen verstärkt,
dass meine ganze Umgebung in einer Helligkeit erleuchtet war, welche die des Tages weit übertraf.
Das war zu viel.


„Valentina, das ist zu extrem. Solche Energie in dem Maße ist gefährlich, wenn man gerade erst lernt damit umzugehen. Verringere es wieder.”
Caras Stimme klang aufgeregt.
Zwar war sie in der Stimmlage gleich,
doch wie sie die Worte betonte, verriet es mir.
Ich bemühte mich, die Energie zu zähmen, indem ich die Gefühle zurückrief.
Aber nichts passierte.
„Und wie mache ich das?”, rief ich leicht verzweifelt, „Zurücknehmen funktioniert irgendwie ja nicht.”
Ihr Blick wurde ernst, ihr Schimmer, ihre Präsenz, alles maximierte sich. Sie stand mit beiden Beinen fest auf dem Boden, breitete die Arme aus und legte den Kopf in den Nacken.
„SCHLUSS!”
Ihre Stimme bebte wie der Donner eines Unwetters.
Die freie Kraft schien zurückzuweichen und verschwand schließlich ganz.
Mit ihr allerdings auch all mein Vermögen, zu stehen.


Glücklicher Weise fing Cara mich auf. Sie setzte sich zu mir, legte meinen Kopf in ihren Schoß
und sprach zu mir.
„Ich habe noch nie eine junge Lichtwandlerin mit einer derartigen Stärke gesehen.
Wir müssen sie nur in den Griff bekommen.
Aber das wird schon.”
Sie lächelte, während sie mir ins Gesicht sah.
„Komm leg dich aufs Sofa.”
Das war eine gute Idee, denn ich wollte mich ausruhen.
„Ich muss jetzt weg. Etwas erledigen.
Bleib hier im Haus.”
Damit wandte sie sich zum Gehen.

Ich erwartete natürlich, dass ich sofort wegdämmern würde, wenn sie sich weit genug entfernt hatte, doch selbst nach einer viertel Stunde passierte nichts. Hätte ich ihr genauer zugehört, hätte ich es gewusst.


Seit knapp einer Woche war ich nun schon hier und kannte im Grunde nichts, außer das Kaminzimmer und meines. Das wollte ich ändern, also erhob ich mich vom Sofa und schritt in den Flur. Rechts lag die Eingangstür, links die Treppe nach oben, knapp daneben eine nach unten führende Treppe und geradeaus eine Holztür. Ich überlegte. Wenn ich versuchen würde, hinauszugehen, konnte ich mir wenig Chancen ausrechnen, denn Cara hatte es bestimmt irgendwie bewerkstelligen können, dass es etwas gab, das mich nicht gehen ließ.
Außerdem würde sie es sofort merken, da der Bann,
mit dem ich an sie gebunden war, sie alarmieren würde.
Ich entschied mich dazu, die Tür am anderen Ende des Flurs zu nehmen. Als ich die Klinke runterdrücken wollte, um sie zu öffnen, verschwand mein Arm zur Hälfte in ihr.
Erschrocken zog ich ihn zurück,
aber er war völlig unversehrt.


Muss ich etwa einfach durch alles durch gehen?

,
fragte ich mich. Einen Versuch war es wert.
Wie sollte es sonst funktionieren?
Mit einem merkwürdigen Gefühl in der Magengegend konnte ich mich schließlich davon überzeugen. In weniger als einer Sekunde war ich in dem Raum hinter der Tür. Erleichtert ausatmend stellte ich fest, dass es nicht wehgetan und ich eigentlich sogar überhaupt nichts gemerkt hatte. Nachdem ich mich gesammelt hatte, flog mein Blick durch das Zimmer, das nun vor mir lag. In der Mitte stand ein ovaler Eichenholztisch mit vier Stühlen drum herum. Alles war mit einer dicken, grauen Staubschicht bedeckt und zwei der Stühle waren kaputt. Entweder eine halb abgebrochene Lehne
oder bloß drei Beine. Über den Fenstern, die rechts zur Straße und gegenüber in den verwilderten Garten ausgelegt waren, hingen zwar Gardinenstangen,
doch ohne entsprechenden Stoff daran. Die Fenster selbst waren so verdreckt, dass man höchstens raten konnte, was draußen vor sich ging.
Auf der linken Seite der Tür war eine etwa fünf Meter lange, massive Anrichte, auf der ein Gasherd installiert war, der wohl seit mindestens vierzig oder fünfzig Jahren nicht mehr benutzt worden war. Generell kam mir alles sehr antik vor. Die Bodendielen waren sogar zum Teil angeknackst oder durchgebrochen.
Als nächstes nahm ich mir die Räumlichkeiten oben in der Nähe meines Zimmers vor.
Ich kam mir ein bisschen vor wie in dieser Kindersendung”Eins, Zwei oder Drei”, die ich, als ich acht, mal gesehen hatte.
Für welche Tür sollte man sich entscheiden?
Hinter der zweiten, die rechts neben meiner war, verbarg sich ein Schlafzimmer. Das erkannte ich unweigerlich an dem großen Ehebett an der Seite des Fensters.
Eine kleine Kommode befand sich auf dessen linker Seite, auf der ein Schwarz-Weiß -Foto positioniert war.
Um das Motiv genauer erkennen zu können,
musste ich dichter dran.


Ob es mich überhaupt was angeht? Vielleicht ist es privat

, dachte ich, aber wusste im gleichen Moment, dass ich es mir so oder so anschauen würde. Ja ich war eben neugierig.
Und zwar auf alles, was sich in diesem Haus finden ließ.
Außerdem…wem sollte es schaden. Die Leute, die hier mal wohnten, lebten doch sicher längst nicht mehr.
Also ging ich näher hin. Auf dem teilweise sehr verblichenen Bild erkannte ich eine junge Frau in einem einfachen, weißen Kleid mit Blumenstrauß und einen jungen Mann im Anzug mit Fliege und Zylinder.
Sie hatte anscheinend blondes, langes Haar und er dunkles, kurzes.
Ein hübsches Brautpaar. Sie sahen unglaublich glücklich und harmonisch miteinander aus.
Wer das wohl war?
Ihr Gesicht hatte feine Züge und helle Augen.
Ich überlegte, was erfolglos blieb, und dennoch… irgendwas Bekanntes fand ich an ihr wieder.


Da es mir auch nach zehn Minuten nicht einfiel,
wandte ich mich ab und inspizierte das nächste Zimmer, indem nur eine Dusche, ein Waschbecken und eine Toilette vorhanden waren. Nichts, was meine besondere Aufmerksamkeit erlangte und daher entschloss ich mich dazu, wieder nach unten zu gehen.
Wahrscheinlich würde Cara bald zurückkehren und da wollte ich lieber dort als wo anders von ihr gefunden werden. Und richtig…knappe fünf Sekunden später tauchte sie im Kaminzimmer auf.
„Du hast dich umgesehen, nicht wahr?”
Woher wusste sie das? Ich hatte keine Spuren hinterlassen, oder doch?
Während ich mich wunderte, sprach sie weiter.
„Das ist gut. Wie gefällt es dir hier?”
Irritiert von der Sanftmut in ihren Worten und dem offenkundigen Interesse an meiner Meinung brauchte ich eine Weile, um eine Antwort zu finden.


„ Es sieht alles unglaublich alt und teilweise wertvoll aus. Es ist karg, aber dann wieder liebevoll eingerichtet und es verzaubert durch diese Tristheit, die wahre Klarheit und Vollkommenheit verbindet. Es scheint einsam und doch…durch kleine Akzente wie den Tisch mit den vier Stühlen, von denen zwei kaputt sind, gesellig.
Ich weiß nicht genau, wie ich mein Gefühl dazu beschreiben soll…wunderschön.”
Erst meine eigene Erzählung machte mir all das bewusst und ich schwieg aus Erfrucht vor dem Gebäude,
das mich ruhend und obgleich lebendig umgab.
Sie nickte und ich meinte, ein kurzes, zufriedenes Lächeln ihre Lippen umspielen zu sehen.
„Es ist in der Tat sehr alt. Mehr als hundert Jahre…und es hat seine eigene Stimme, du musst ihm nur zuhören und du bist im Einklang mit dir und ihm.”
Ich lauschte andächtig in die Stille hinein, die eigentlich keine war. Denn da war wirklich was. Knackende Dielen, das Kratzen eines Astes am Fenster.


Irgendwo tropfte es. Ein Quietschen wie das eines Schanieres mischte sich mit in den Gesang, in die Symphonie der Klänge.
Es würde mir seine Geschichte erzählen, wenn ich dem Geheimnis freien Lauf gewähren ließe.
Aber Cara riss mich aus meinem Fall ins Unendliche.
„Es ist spät geworden. Sechs Uhr, siehst du?”
Sie wies auf eine Uhr über dem Kamin,
die ich bis dahin nicht bemerkt hatte.
Ihre Zeiger standen auf sechs und zwölf.
Wie konnte es sein, dass in diesem Haus eine funktionierende Uhr hang?
Lichtwandler konnten nichts aufheben,
da sie hindurch fassen würden,
und demnach ebenfalls nichts an die Wand hängen.
Das war zu mindest mein Wissensstand.
„Du hast heute viel kennen gelernt. Ich bringe dich hoch und in den Schlafzustand, damit du deine Energie nicht überanstrengst.”


Diesmal folgte ich ohne Widerstand, denn Schwere breitete sich in mir aus und ehrlich gesagt hatte ich gerade keine Lust auf eine Konfrontation,
die ich eh verlieren würde.

* * *



Zu meinem eigenen Erstaunen
war ich bereits am nächsten Tag wieder wach.
Als ich mich umblickte, war niemand im Zimmer.
Ich ging runter und traf in der Küche auf Cara, die wohl auf mich gewartet hatte.
„Guten Morgen.” setzte sie an.
„Ich will mich nicht lange mit Reden aufhalten, komm.”
Sie schritt Richtung Eingangstür. Leicht konfus starrte ich ihr nach bis plötzlich ein Ruck durch meinen Körper fuhr und mich dazu veranlasste, ihr zu folgen.
Als wir vor dem Haus standen, sagte sie zu mir.
„Ich möchte, dass du dir alle Wege, die ich jetzt mit dir gehe, merkst. Denn sie begrenzen das Gebiet, in dem du dich im Moment bewegen darfst.”
Ich war erleichtert, da das Gesagte einen Anklang von Selbstständigkeit versprach.
Trotzdem fragte ich.
„Wieso kann ich mich nicht auch so frei hier bewegen?
Ich kenne doch alle Ecken dieser Stadt.”
Sie jedoch schüttelte bloß den Kopf,
indem sie antwortete.
„So stark bist du längst nicht. Du musst dich Stück für Stück daran annähern, sonst läufst du Gefahr, deine Energie zu sehr zu strapazieren und würdest für ein paar Tage ”zerstreut” sein.”
„Was soll das heiß, ”zerstreut sein”? Existiere ich dann nicht mehr richtig?”, erkundigte ich mich leicht gereizt, denn ich hatte es mir ja schließlich nicht ausgesucht, das zu sein, was ich war und diese Gewöhnungssache ging mir gegen den Strich.
„Nun reg dich nicht auf, du änderst nicht,
was passiert ist und ja, deine Energie bricht dann für einige Zeit auseinander. Das reicht, wir sollten nicht zu viel Zeit verlieren.”
Damit war das Thema für sie beendet und weitere Nachfrage sinnlos.
Gehetzt und immer noch wütend ging ich ihr nach.
Wir wiederholten den Weg um den Park, der an den schönen, alten Fachwerkhäusern der Kernstadt entlang führte und die ein eigentümlich idyllisches Gesamtbild schafften. Ein kleiner Bach bahnte sich seinen Weg durch einen unterirdischen Tunnel unter den Straßen entlang und ab und zu verlief er auch frei unter Brücken hindurch.In seinem Wasser sah ich kein Spiegelbild mehr und meine Wut wandelte sich in Beklommenheit und Trauer. Ich hätte bedrückt auf den Boden gestarrt, doch ich sollte mir merken, wo wir lang gingen. An kleinen Geschäften mit Klamotten und Schreibwaren, einigen Cafés und einer Tankstelle vorbei zu einem Kiosk, der an der Kreuzung stand, von dem es gerade mal zwei Straßen bis zu meinem Elternhaus war.
Nein! , schrie ich innerlich.
Das würde ich nicht ertragen, das könnte ich nicht…


Meine einzige Chance sah ich darin, mich gegen den Bann zu wehren. Es wenigstens zu versuchen.
Ich wollte nicht mehr abwarten, ob wir auch tatsächlich dort hin gehen würden, denn selbst das Wissen um die Nähe konnte ich nicht aushalten.
Ich richtete all meinen Willen, all meine Energie darauf, mich von dem Bann zu lösen.
Und plötzlich setzte sich alles frei und mein Schimmer loderte wie ein Feuer auf.
In dem Moment spürte ich mich frei von der Fessel und rannte. Geradeaus ging es zu mir nach Hause, also bog ich nach Rechts in eine Seitenstraße ein. Keine zwei Sekunden später aber stand Cara wieder vor mir. Schnell stoppte ich und lief erneut nach Rechts.
Hauptsache weg.
Doch am Ende war erneut Cara anzutreffen. Auf dem Absatz drehte ich und flüchtete in die entgegengesetzte Richtung. Da vernahm ich auf einmal ihre Stimme in meinem Kopf.


Du hältst sofort an. Es gibt keinen Grund, weg zu laufen.
Wo willst du denn auch hin?


Und obgleich ich weiter wollte, musste ich auf der Stelle verharren, ohne mich noch bewegen zu können.
Wie ein schwerer Bleimantel drückte sich etwas an mich und verankerte seine Enden an diesem Ort. Kurz darauf erschien sie vor mir.
„Was machst du nur für einen Unsinn, Kind? Wir waren nicht auf dem Weg zu deinem Haus.
Das wäre unnötige Gefährdung. Deine Emotionen sind zu unkontrolliert dafür.”
Überrascht über meine teils gelungene ”Flucht”, und trotzdem wütend, enttäuscht und irgendwo auch mit den Nerven am Ende, schrie ich sie an.
„Aber woher sollte ich das wissen? Ich kann da einfach nicht hin, es tut zu sehr weh.
Und wieso Gefahr? Was würde geschehen, wenn…Warum lassen Sie mich nicht in Ruhe?”
Sie nahm mich in dem Arm und hielt mich fest.
„Es ist gut. Beruhige dich. Du bist völlig fertig.


Wir gehen zurück und dann werde ich dir all deine Fragen beantworten.”
Eine Träne rann über mein Gesicht wie ein Splitter eines Bergkristalls, schimmernd durch Licht und klar wie das Wasser, das mal durch meine Hände rann, als ich einen
lebenden Körper besaß.
„Was soll das alles? Welchen Sinn hat es?”
Die Verzweiflung wuchs in mir und drohte,
Übermacht zu ergreifen.
Doch Cara nahm meinen Kopf zwischen ihre Hände und gab leichten Druck.
Daraufhin erfüllten mich Stille und Leere. Oder nein, nicht Leere, sondern eher Gleichgültigkeit.
Nun war ich bereit, mit ihr zurück zu laufen.
„Pass auf, Valentina. Eben wäre beinahe die Grenze überschritten gewesen. Es tut mir Leid, das war mein Fehler. Ich muss vorsichtiger mit dir umgehen, aber ich habe noch nie eine Neugeborene wie dich bei mir gehabt. Denn du bist so stark wie kein anderer bis jetzt am Anfang seines Daseins war.


Noch nie konnte sich jemand meinem Bann derartig schnell entziehen. Ich habe dich und deine Gefühle unterschätzt. Gefährlich hätte es werden können,
da in einem solchen Zustand deine Energie Schaden an Menschen bewirken kann.
Und du merkst, dass du Hilfe brauchst, oder nicht?”
Sie verstummte und gab mir Zeit,
meine Gedanken zu sortieren.
„Der Sinn in diesen Dingen ist deine Bestimmung, verstehst du? Nichts geschieht ohne Grund.”
Sie wartete wieder. Langsam setzten sich meine Überlegungen in eine Reihenfolge
und mir ging es besser.
„Wieso”, fragte ich, „ konnten andere sich nicht von Ihrer Magie lösen? Warum kann auch ich das nur in solchen extremen Situationen?
„Aus dem einfachen Grund, dass ich schon viel älter und dadurch mächtiger bin als die, derer ich mich meist annehme.”


Das war logisch und gleichzeitig erweckte es in mir die Frage, wie alt sie wirklich war,
denn sie sah nicht älter als 35 Jahre aus.
Sie lächelte und sagte.
„Hab ich dir das noch nicht gesagt? Wir altern nicht.”
Wie bitte?
Erschrocken blinzelte ich sie an. Mir wurde klar, was das bedeutete. Ich würde immer Neunzehn sein, keine andere Phase meines Lebens mehr erreichen und niemals sterben, oder?
Darüber nachzudenken, beschäftigte mich erst einmal.
Den restlichen Weg ging ich still schweigend mit.
„Zu Hause” angekommen schickte mich Cara in mein Zimmer, was ich bereitwillig annahm, denn ich war erschöpft. Sie ließ mich wieder in dem Zwischenraum der Bewusstseinszuständeversinken, was dieses Mal leichter und schneller als zuvor geschah.

* * *




Am nächsten Nachmittag wachte ich auf, allerdings ohne Cara in meiner Nähe zu wissen.
Überrascht stand ich von der Matte auf und streckte mich in alter Gewohnheit.
Was sollte ich tun?
Nach einigen Minuten der Unschlüssigkeit entschied ich mich, runter zu gehen und dabei darauf zu achten,
ob ich irgendwo Cara wahrnahm. Aber sie war weder in der Küche, noch im Kaminzimmer oder sonst wo.
Stattdessen kam mir ein interessanter Gedanke auf. Ich hatte keine Ahnung, woher ich ihn nahm, folgte ihm jedoch trotzdem. Ich ging zur Eingangstür und schon beim Näher kommen
war etwas anders. Vorsichtig teste ich mit der Hand wie weit ich kam und es gelang mir,
sie ganz hindurch zu stecken. Also schritt ich auf die andere Seite und blickte mich auf der Straße um. Kein Mensch war zu sehen.
Da ich jetzt so weit gekommen war,
packte mich die Neugierde.


Ich lief die Straße, die wir gestern auf dem Rückweg genommen hatten, hoch und automatisch auch darauf weiter. Immer, wenn ich versuchte einen Weg einzuschlagen, der von dem gezeigten abwich,
wurde ich heftig zurückgerissen.
Damit hatte ganz sicher Cara was zu tun.
Weil es aber auf Dauer Schmerzen verursachte, ließ ich es bleiben. Als ich in den Park kam, begegneten mir doch ein paar Menschen. Anfangs ging ich ihnen entgegen und grüßte die mir teils bekannten Gesichter. Doch es war entmutigender Weise dasselbe wie mit Francine.
Ich war Luft. Nach gewisser Zeit gab ich es resigniert und traurig auf und umlief sie eher, da das Nicht -gehört- werden und Nicht-gesehen- werden
mir sehr unangenehm wurde. An einem kleinen Teich blieb ich seufzend stehen.


Plötzlich hatte ich ein Kribbeln auf der Haut und das komische Gefühl,
beobachtet zu werden. Und richtig.
Just im nächsten Augenblick erschien ein Lichtschimmer vor mir, dann die ganze Gestalt.
Er kam auf mich zu, doch ich wich erst einen minimalen Schritt zurück, als er nicht mehr als 20cm entfernt war und seine Energie mich angewidert erschaudern ließ.
„Na Valentina, wohin des Weges?
Kommst du mit den neuen Gegebenheiten auch gut zurecht?” Diese herablassende, arrogante Art in seinen Bewegungen und der Mimik verrieten mir allerdings, dass er es keines Wegs so höflich meinte.
Die Überheblichkeit blitzte in seinen dunkelbraunen, fast schwarzen Augen.
Was nahm der sich bloß heraus.
„Ach, hier und dahin eben. Nein, nein, ist wirklich alles bestens.”, gab ich freundlichst zurück. Mit dieser Schlagfertigkeit hatte er wohl nicht gerechnet.


Er verschränkte die Arme, während er kopfschüttelnd den Oberkörper etwas zurücknahm.
Die langen, schwarzen Haare wehten vor sein Gesicht.
Ha, er ärgert sich.
Ein triumphierendes Lächeln konnte ich mir nicht verkneifen.
Ich wartete, während er mich dämlich anglotzte. Langsam wurde es mir zu doof.
„Gut, wenn du nichts mehr zu sagen hast,
dann gehe ich jetzt.”
Ich setzte dazu an, um ihn herum zu gehen,
aber eine Kraft hinderte mich.
Sie kam ganz klar von ihm.
Empört stellte ich mich vor ihn.
„Sag mal, was hast du eigentlich für ein Problem? Lass mich gefälligst durch.”,
keifte ich ihn wütend an.
„Und woher kennst du überhaupt meinen Namen?
Ich weiß nicht, wer du bist.”


Ein selbstgefälliges Grinsen zog sich über seinen Mund.
„Wusste ich's doch. Früher oder später wollen sie alle was von mir.
Aber entschuldige. Wo bleiben meine guten Manieren? Ich heiße Simon.”
Dieses Auftreten mir gegenüber steigerte mein Aggressionspotential. Ich konnte es auf den Tod nicht ausstehen, wenn mir jemand Fremdes derart unverschämt gegenüber trat.
Ich zwang mich, etwas ruhiger zu werden.
„Na gut, Simon. Dann wärst du nun endlich so freundlich, mich durchzulassen?!”
Innerlich kam richtiger Zorn in mir auf und hätte ich noch einen Körper,
würde ich lägst rot anlaufen.
„Hmm…das könnte ich, will ich aber nicht.
Wärst du nicht so garstig geworden, hätte ich vielleicht darüber nachgedacht.
Auf diese Weise aber eher nicht. Plaudern wir doch ein bisschen.”
Mir platzte gleich der Kragen. Ich bemühte mich weiter ruhig zu bleiben, war allerdings kurz vor dem Ende meiner Geduld, als mit einem Mal Cara auftauchte.
„Simon, wirst du wohl sofort Platz machen? Geh! Lass sie in Ruhe. Na los, wird’s bald?!”

Wie ein aufbrausendes Gewitter baute sie sich vor ihm auf, obwohl er sie um zwei Köpfe überragte. Auch ich mit meinen 1,75m hatte zu ihm hochblicken müssen.
„Schon gut, schon gut.” Er hob beschwichtigend die Hände. „Wie die Damen wünschen.”
Mit einer eleganten Verbeugung und hämischem Grinsen verschwand er.
Sie sah mich an.
„Möchtest du alleine weiter
oder kann ich dich ein Stück begleiten?”,
fragte sie schließlich vorsichtig.
„Ich hätte nichts dagegen.”
Wir setzten meinen Weg durch den Park nun gemeinsam fort.


Nach einer Weile des Schweigens, in der ich mich mehr und mehr entspannte, ergriff ich das Wort.
„Können Sie mir sagen, warum er das getan hat?
Er ist so widerlich.”
„Simon ist einer derjenigen, die selber noch nicht lange als Lichtwandler unterwegs sind.
Er ist vor einem halben Jahr erst geboren und hat seine Schwierigkeiten damit, dass fast alle stärker sind als er. Ich nehme an, du kamst ihm da gerade recht. Er hofft, sich über dich stellen zu können. Allerdings schätze ich, dass er da schlechte Chancen haben wird.”
Sie lächelte.
„Und wie konnte er mich finden?”
Ich hatte wirklich keine Idee, wie das funktionieren konnte und vor allem…
Woher kannte er meinen Namen?
War er dabei, als ich das Einführungsritual vollzogen hatte?


„Du hast dich den Lichtwandlern vorgestellt…er war zwar nicht dabei, weil Simon dieses Privileg noch nicht zu Teil wird, aber …”
Sie legte eine andächtige Pause ein, als ob sie erst überlegen müsste, was sie mir erzählte.
„Ich will es dir erklären…also, du hast deinen Namen laut ausgesprochen
und zwar den vollen. Damit schenkst du den Lichtwandlern das Vertrauen, damit umgehen zu können, denn es bedeutet, dass sie dich jeder Zeit finden können,
wenn sie eine spezielle Technik bereits erlernt haben.
Und Simon hat sie vor zwei Tagen leider gelernt.”
Hatte ich richtig gehört? Ich wurde nicht mal gefragt, ob ich das wirklich machen wollte, wurde nicht über wichtige Fakten wie diese aufgeklärt und konnte mir nun ständig paranoide Gedanken machen? Ich konnte es nicht glauben. Das war zu viel für mich.


In mir brodelte eine Explosion und es wäre sicher soweit gekommen, dass ich diese unüberlegt freigesetzt hätte, wäre Cara nicht bei mir gewesen. Ich weiß nicht mehr, wie sie es geschafft hatte, aber wir kamen doch heil wieder zum Haus zurück. Ganz und gar ausgebrannt legte ich mich auf die Matte und während ich kaum noch bei Sinnen war, flüsterte ich.
„Wann werde ich selbst entscheiden?”
Ich dachte, sie hätte es nicht wahrgenommen, sie hielt jedoch inne und gab sanft zurück.
„Eines wirst du morgen lernen. Ruh dich jetzt aus.”
Dieser Satz hallte mir bis in den Schlafzustand nach.

* * *



Am darauf folgenden Abend lehrte sie mich,
die Schlafphase zu erreichen, wenn ich es wollte
und auch wieder herauszukommen.
Es ist, als ob man einen Wecker vorprogrammierte. Man legte fest, wann man erwachen wollte und konzentrierte sich darauf, alle Empfindungen auszuschalten.


Wenn man das erreicht hatte, sprach man das Wort „Schlaf” und das sollte genügen.
Nach ungefähr drei Versuchen funktionierte es schon und ich war stolz, als Cara mich für mein schnelles Begreifen lobte.
Dann meinte sie.
„Es gibt etwas Wichtiges zu besprechen, Valentina.”,
kurzes Schweigen trat ein bis sie fortfuhr.
„Heute ist Sonntag und in zwei Tagen, am Dienstag, ist der Tag deines Todes. Du…”,
ich unterbrach sie. Heftiges Zittern wie bei Schüttelfrost durchzog mich. Ich war tot…
„Ist es wahr…wie lange bin ich…Neugeborene?”
„Dienstag seit zwei Wochen. Bitte gerate nicht in Panik. Dir ist es die letzte Zeit oft bewusst geworden.
Lass mich ausreden.”
Ich atmete tief ein und aus,
auch wenn es nicht nötig war.


Eigentlich hatte sie Recht. Ich wurde ruhiger bis mir einfiel, dass ich noch nicht wusste,
warum sie mir das eben gesagt hatte.
„Das ist der Punkt, Mädchen. Wenn es soweit ist und zwei Wochen rum sind, dann wirst du an diesem Tag eine der größten Mächte in dir spüren,
die du als Lichtwandlerin erreichen kannst.
Deswegen musst du vorsichtig sein, verstehst du?”
„Wenn es so gefährlich ist,
warum lassen Sie mich nicht”schlafen”? ”
schlug ich einiger Maßen ruhig vor.
„Weil es nicht geht. Es ist unmöglich, selbst für den Erfahrensten und Ältesten unter uns, diese starke Macht zu unterbinden. Möchtest du, dass ich dann bei dir bin oder willst du lieber allein herausfinden,
wie du damit umgehst?”
Einen Moment überlegte ich.
„Ich möchte es erst allein versuchen. Kann ich Sie falls denn erreichen?”
Sie nickte.


„Denk einfach, dass ich kommen soll
und ich werde da sein, versprochen.”
Relativ zufrieden ließ ich mich auf die Couch sinken.
„Eine Sache noch…können wir vorher mein Gebiet,
in dem ich mich bewegen kann, erweitern?
Wäre sicher ein Vorteil,
wenn ich weniger eingeengt bin.”
Sie durchdachte meine Frage und antwortete, indem sie aufstand.
„Dann lass uns gehen.”

* * *




Die Erweiterung erstreckte sich über zwei Außenbezirke der Stadt. Von den meisten Häusern aus hatte man einen wunderschönen Blick über die umgebenden
Felder und den angrenzenden Wald. Ich kannte mich dort, wie auch in der Innenstadt,sehr gut aus, da meine Familie erst letztes Jahr weiter rein in ein eigenes Haus gezogen war und außerdem meine beste Freundin, Lorena, dort gewohnt hatte, bevor wir zusammen in eine WG in Kassel zogen, da wir beide dort studieren wollten. Ich wehrte mich dieses Mal dagegen,
traurig zu sein, denn das würde die schöne Erinnerung kaputt machen. Wir hatten, als wir klein waren, einen Lieblingsort, sozusagen unseren geheimen Treffpunkt, ganz am Rand der Stadt zwischen zwei großen Eichen. Dort hatten wir stets zwei Wolldecken und etwas zu Essen versteckt und im Schutz der Sterne,
an deren Magie wir glaubten, in warmen Sommernächten geschlafen.


Als Cara und ich an dieser Stelle angekommen waren, stand ich lange regungslos da und sah verträumt in den Nachthimmel, um mich an all diese kleinen Abenteuer der Kindheit zu erinnern. Und irgendwann im Zauber dieser heilen Welt beschloss ich, dass ich an meinem Todestag, der ja gleichzeitig der Tag meiner zweiten Geburt war, hier her kommen würde.

Ein einhalb Stunden später waren wir zu Hause. Auf dem Weg war der Entschluss gefallen, dass ich bis Dienstag Ruhe haben wollte und Cara war der Meinung,
ich solle es nun selbst erproben, mich in den entsprechenden Zustand zu bringen.
Ich kann nicht sagen wie, aber letztlich funktionierte es.

* * *



Als es soweit war, erwachte ich tatsächlich von selbst.
Sobald ich aufstand, fuhr eine Welle von Energie durch mich und hinterließ in mir das Gefühl von Macht. Unglaublich starker Macht.


Wie ausgemacht war Cara nicht in der Nähe und ich erinnerte mich an mein festgelegtes Ziel. Mir erschien es umso sinnvoller, da ich, falls es wirklich soweit kommen sollte, dass ich mich nicht mehr unter Kontrolle hatte, niemandem Schaden zufügen konnte.
Also machte ich mich auf den Weg. Doch mit jedem Schritt wuchs die Energie in mir und desto näher ich den Eichen war, desto schwieriger wurde es,
sich zusammenzureißen und die Macht nicht entweichen zu lassen. Als ich dann in Mitten der beiden riesigen, dicken Eichen saß und ich es beinahe nicht weiter halten konnte, rief ich sie doch.
Einen Augenblick später tauchte sie vor mir auf.
„Gibt es ein Problem?” , fragte sie mich direkt.
„Ja”, antwortete ich unsicher, „ Es ist zu schwierig.
Ich merke, dass ich die Energie nicht mehr lange zurückhalten kann. Sie will explodieren.”
„Dann lass sie. Es ist in Ordnung, denn hier kann niemandem was passieren und dir wird deine Kraft heute nichts anhaben. Nur ich müsste weg. Trau dich ruhig.”


„Sind Sie sicher?”
Lächelnd nickte sie und verschwand kurz darauf.
Ich hoffe, sie weiß, was sie tut.
Damit gab ich es auf und ließ den Energiesturm zu,
der in unglaublich hohen, Tornado artigen Wirbeln erst um mich herum peitschte und sich dann immer weiter in den Himmel hinauf wand. Sie waren heller als jeder Blitz, den ich je gesehen hatte.
Gebannt und ehrfürchtig beobachtete ich das Geschehen bis selbst der letzte Schimmer verblasste.
Bis auf einen kleinen Faden, der nicht mit aufgestiegen war und sich um mein Handgelenk schlang, um mich mit gewaltiger Kraft mit sich zu ziehen. Erschrocken wollte ich ihn lösen, aber er versetzte mir einen Schlag, wenn ich ihn mit der freien Hand berührte. Er ließ nicht einmal zu, dass ich Cara rufen konnte.


„Wo willst du hin?” rief ich verzweifelt.
Dummer Weise konnte ein leuchtender Faden mir nicht antworten. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich der Macht zu überlassen.

* * *


Vor einem Einfamilienhaus im Blockhüttenstil kam ich zum stehen. Die dünne Schnur wand sich von meinem Handgelenk los.
„Und was jetzt?”, wollte ich erleichtert,
aber immer noch gereizt wissen.
Die Energie leuchtete auf und schob mich
durch die Tür des Hauses. Dann verblich sie.
Was sollte das? Wo war ich hier?
Allem Anschein nach hatte es mir die Aufgabe erteilt, mich umzusehen. Da ich keine Lust hatte, ein weiteres Mal von diesem fiesen Ding umhergeschleift zu werden, fügte ich mich dem Schicksal.


Der Flur war mit Bambusparkett verlegt worden und hinter der nächsten Tür war ein Wohnzimmer mit einer großen, grauen Eckcouch, einem dunklen Holztischchen und einem Plasmafernseher mit fettem Soundsystem. Daher vermutete ich, dass hier Leute wohnten,
die gut verdienten. Wenn man weiter in dem Raum sah, erblickte man einen offenen Übergang zur Küche.
Die vielen Fenster gaben den Blick auf die Landschaft frei und am Tag würde eine Menge Licht in die Wohnung fallen.
Im Moment glitzerten die Sterne am Himmel, denn es war, ohne dass ich es bemerkt hatte, dunkel geworden. Ich wandte mich um und ging die Treppe, die aus einem Stahlgestell mit glatten Steinplatten als Stufen bestand, hinauf. Wieder gab es einen Flur, an den vier Räume grenzten. Ich entschied mich, sie von links nach rechts zu inspizieren. Im ersten Raum war ein Bad, dann nahm ich den kurzen Weg durch die Wand ins nächste Zimmer.


Irgendwo hatte es ja schon Vorteile, dass ich so etwas nun zu meinen Fähigkeiten zählte.
Dieses war ein Kinderzimmer. Ein Babybett befand sich an der gegenüberliegenden Wand, daneben eine Wickelkommode und eine große Truhe,
auf der ein paar Kuscheltiere verteilt waren. An der Tür, die offen stand, war mit bunten Holzbuchstaben der Name Ben geschrieben. Über dem Bettchen hing ein gesticktes Schrifttuch, worauf einige Daten, erneut der Name und sein Geburtstag genäht waren.
Der Kleine war am 02.03.10 geboren worden…heute vor zwei Wochen…heute…da fiel es mir ein. Mein Todestag. War das der Grund,
aus dem ich hierher geführt worden war?
Vorsichtig näherte ich mich dem Bettchen und lugte über den Rand. Ein friedlich schlummernder, kleiner Junge lag eingebettet in dicken Decken darin.
Berührt von diesem harmonischen Bild, achtete ich nicht mehr darauf, dass ich kein Mensch war und streichelte sacht über seine Wange.


Da riss das Kind die Augen auf und fing zu schreien an. Erschrocken wich ich zurück und hörte kurz darauf,
wie im Nebenzimmer das Licht angeknipst wurde.
Was sollte ich tun? Gleich würden seine Eltern kommen. Schnell eilte ich aus dem Zimmer. Das war in dem Moment die einzige Möglichkeit für mich.

* * *


2. Tagebucheinträge und die Suche



Ben:
Meine Mutter erzählte mir damals, als ich kleiner war, oft, dass ich eigentlich ein sehr stilles Baby war.
Als wir dann aber in unser neues Haus zogen,
fing ich öfter aus heiterem Himmel zu schreien an.
Sie hatte sich eine Zeit lang große Sorgen deswegen gemacht und ließ mich von Ärzten untersuchen.
Einer meinte, ich hätte eine Schlafstörung und gab meiner Mutter ein Medikament mit,
das allerdings nicht wirkte. Darauf wusste dann auch dieser Arzt keinen Rat mehr.


Niemals ließ sich ein sichtbarer Grund feststellen und so mussten meine Eltern es bis ins Kindesalter hinein hinnehmen. Selbst dann wachte ich immer wieder nachts auf. Weinend lief ich anfangs noch zu meiner Mama,
so erschrocken war ich darüber. Sie tröstete mich dann und sagte, es wäre alles nur ein Traum gewesen und er würde mir nicht schaden. Ich solle dann ganz fest an etwas Schönes denken, dann würde ich gut schlafen.
Ich jedoch, so oft ich es versuchte, wurde diese Bilder nicht los. Doch ich wollte irgendwann nicht mehr ständig nerven. Es würde mir keiner glauben, dass das die Wahrheit ist. Ab einem gewissen Alter war es dann so oder so gegen meinen Stolz, darüber zu reden.
Durch meine Erfahrungen wurde ich zu einem stillen und in sich gekehrten jungen Mann, den kaum einer richtig kannte.


Beginnen wir aber mit den Anfängen.
Ich habe für euch in meinen Erinnerungen gesucht,
die zum Teil in einem Tagebuch festgehalten worden sind. Ich weiß, es klingt kitschig…
Ein Junge, der Tagebuch führt. Aber ich brauchte das,
denn anders konnte ich es nicht loswerden.
Und bitte wundert euch nicht, dass die ersten Einträge
in einer solch kindlichen Sprache geschrieben sind.
Ich fing es mit sechs Jahren an.

20.06.2016
Ich habe einen Traum. Er wiederholt sich.
Tim, mein bester Freund, weiß davon. Sonst werde ich es keinem erzählen. Es macht mir Angst. Das habe ich alles schon so oft gesehen. Was will sie von mir? Da ist ein Mädchen, älter als ich. Lange, blonde Haare, blaue Augen und sie redet mit mir. Ich verstehe aber nicht, was sie meint. Jedes Mal, wenn sie mich berührt, dann sehe ich Bilder. Wie sie lebt. Oder lebt sie nicht mehr?
Ich höre nämlich immer nur: Tot.
Ich fühle mich traurig und schlecht bis ich aufwache.



So, nun kennt ihr einen kleinen Ausschnitt, aber das ist ja längst nicht alles, denn ich konnte so vieles damals nicht schreiben und dies war ein Eintrag am Morgen nach dem Traum.
Das bedeutet, dass er nur diesen erfasst. In Wahrheit war es viel mehr. Doch seht selbst.

21.06.2016
Sie beobachtet mich. Sie ist oft bei mir. Ich habe mich so erschrocken. Im Klassenraum stand sie plötzlich neben mir. Warum ist sie da? Tim hat sie nicht gesehen. Keiner der anderen hat sie gesehen. Aber sie ist da.
Beim Mittagessen ist sie wieder gekommen. Wer ist sie?



Diese ganze Situation hatte mich im Griff.
Keiner verstand mich, denn es konnte vorkommen,
dass ich im einen Moment fröhlich spielte und eine Sekunde später wie gebannt ins „Leere” starrte,
wie es die anderen nannten.


Seit ich mich erinnern kann, habe ich sie immer gesehen, ihre Emotionen haben mich ergriffen,
ihre Worte mich bewegt, wenn ich sie tatsächlich hörte. Ihre Stimme war es dann, die mich verzauberte, denn erkennen konnte ich noch nicht, was sie sagte.

* * *



Valentina:
In den folgenden Tagen nach dem der Lichtgeburt besuchte ich den kleinen Jungen aus mir zu der Zeit unerklärlichen Gründen hin und wieder.
Ich bevorzugte es allerdings, wenn seine Eltern nicht da waren, weil ich mich dann sicherer fühlte.
Ich vermied es, ihn zu berühren, um ihn nicht noch einmal zum Weinen zu bringen. Merkwürdiger Weise weinte er trotzdem sehr oft, wenn ich in der Nähe war.
Aber woran konnte das liegen?
Er war doch so ein süßes Baby. Auf seinem Köpfchen waren schon ein paar kurze, schwarze Haare.


Wenn er schlief, ganz still und friedlich, wagte ich mich kaum zu bewegen, obwohl ich keine Geräusche verursachte. Noch waren seine Augen blau wie die aller Babys. Ich liebte es, ihn anzusehen.
Nun wusste ich nicht, was ich tun sollte, denn ich wollte ihn weiter beobachten, jedoch ohne, dass er zu weinen beginnen würde. Mir fiel keine Lösung ein.
Das erste Mal fragte ich bewusst von mir aus bei Cara um Rat.
„Gibt es einen Grund, warum Babys auf uns reagieren, wenn wir in der Nähe sind?”
Sie runzelte die Stirn.
„Hast du den Kleinen berührt?”
Ich verneinte.
„Hmm…hast du auf deine Gefühle geachtet?
Waren sie in dir verborgen?”
Was hätte ich darum gegeben, einfach mal mit dem Kopf gegen die Wand laufen zu können.
War ich so blöd und unvorsichtig?
„Oh…”


„Jetzt weißt du es wieder. Du siehst, es ist wichtig,
sich zu merken, was ich dir beibringe.”
Ich nickte.
„Sie haben Recht. So ist es wohl.”
Ich senkte den Kopf in Selbstärgernis.
Sie überlegte anscheinend.
„Valentina, wenn du möchtest, dann biete ich dir hiermit an, mich zu duzen.”
Heute wollte sie mich allem Anschein nach völlig aus dem Konzept bringen.
Überrascht lächelte ich sie an und nach Ewigkeiten kam endlich ein kurzer Satz zu Stande.
„Danke…sehr gerne.”
Darüber musste ich den restlichen Abend gründlich nachdenken. Was hatte es damit auf sich?
Wie sah mich Cara inzwischen?
Nach einer Weile versetzte ich mich für einen Tag in den Schlafzustand.

* * *




Erneut unternahm ich einen Spaziergang zu Bens Haus.
Obwohl es eher das Haus seiner Eltern war.
Dieses Mal achtete ich konzentriert auf meine Gefühle und zwang alles, in mir zu bleiben.
Das klappte inzwischen ganz gut.
Natürlich unbemerkt ging ich hinein, aber nachdem ich in jedem Raum gesucht hatte, stand fest,
dass niemand da war.
Was sollte ich machen? Die Innenstadt mied ich im Moment bewusst, weil ich Angst hatte, jemandem aus meiner Familie oder meinem Freundeskreis zu treffen.
Zurück zum Haus wollte ich auch nicht gehen, denn da war Cara, die mir am Morgen mit auf den Weg gegeben hatte, dass ich später wieder eine Unterrichtsstunde haben würde.
Wie könnte ich Ben finden?
Ich erinnerte mich, dass dieser Simon mich neulich gefunden hatte. Ben war zwar keine Lichtgestalt, aber es müsste doch ähnlich funktionieren. Dumm nur, dass ich diese Technik bis jetzt nicht gelernt hatte…


Wie war ich denn das erste Mal zu ihm gekommen?
Es war wieder fast eine Woche her. Da war ein Energiefaden, der mich her führte.
Ich überlegte. In dieser Form würde ich es wahrscheinlich nicht noch einmal schaffen.
Cara hatte gesagt, dass diese eine der mächtigsten Energien war, die man erreichen konnte und sie mit dem Zustand des Tages zusammen hing.
Dann fiel mir etwas ein.
erschien mir ziemlich verrückt, denn aus Spaß hatte ich mal "The next Uri Geller" gesehen und hatte all das, was dort passierte, für unmöglich erklärt.
Doch seitdem ich dieses neue Dasein angefangen hatte, kam mir das schon gar nicht mehr so abwegig vor. Also konzentrierte ich mich auf Ben, erstellte ein Bild in meinen Gedanken und fragte: Wo ist er?
Zwei Minuten lang passierte nichts. Mein Enthusiasmus wurde schwächer. War es vielleicht doch nur Effekthascherei im Fernsehen gewesen?


Dann besann ich mich jedoch darauf, dass noch kein Meister vom Himmel gefallen war und versuchte es erneut. Dieses Mal bemühte ich mich gleichzeitig darum, die Energie oder etwas ihr ähnliches zu finden. Wieder hatte es nicht funktioniert, aber aller guten Dinge war ja bekanntlich drei. Das Ganze also noch mal und dann schloss ich die Augen und als ich sie wieder öffnete, stand ich plötzlich irgendwo auf einer Wiese.
Als ich mich umsah, konnte ich in einigen hundert Metern Entfernung vor mir Menschen erkennen. Im Rücken hatte ich die Umrisse der Stadt.
Ich musste den Personen entgegen gehen,
das spürte ich einfach.
Bald wusste ich, wer es war. Die Eltern von Ben mit dem Kinderwagen.
Sie waren spazieren gegangen. Eine Weile ging ich neben ihnen her und betrachtete den Kleinen.


Er hatte ganz rote Wangen, denn die Sonne war an diesem Tag nicht draußen und der Wind ließ die Temperatur eisig werden. Aber als ich dem Kinderwagen näher kam, fing der Kleine zu schreien an. Erschrocken wich ich wieder zurück. Er hörte nicht auf und seine Mutter nahm ihn auf dem Arm. Doch es änderte nichts.
War ich daran schuld?
Aber ich hatte auf alles geachtet. Ein schreckliches Gefühl. Ich wollte nur noch weg.

* * *


Zu Hause bei Cara berichtete ich verwirrt von meinem Erlebnis.
„Und du hast dieses Mal auf alles geachtet?
Das verstehe ich nicht. Er dürfte dich eigentlich nicht bemerken, wenn du das Gelernte angewandt hast.”
Nachdenklich fasste sie sich an die Stirn.
„Mir ist das unerklärlich…oder vielleicht…
Vielleicht ist er….”
Sie brach ab.
„Was? Was ist er?”


„Ach unwichtig.
Ich hatte nur einen Gedanken.
Ich werde es selbst mal testen. Es könnte sein…
Naja ich beobachte das erst einmal.”
Was sollte das jetzt? Wenn sie doch eine Idee hatte, konnte sie es mir auch sagen.
Gerade deswegen hatte ich sie gefragt.
Meine Überlegungen wurden unterbrochen.
Dieser verfluchte Bann…sie musste alles mitbekommen, was ich dachte, wenn sie wollte.
Noch etwas kam mir nun allerdings in den Sinn.
In diesem einen Schlafzimmer hatte ich bei meinem Rundgang eine alte Fotografie entdeckt. Ich rief sie mir in Erinnerung. Eine junge, blonde Frau mit hellen Augen…Feine Gesichtszüge…Cara stand, anscheinend tief in Gedanken, vor mir und in dem Moment als ich ihr Gesicht ansah, passte es genau auf das Bild in meiner Erinnerung. Bis auf die nur noch mittellangen Haare glich Cara der jungen Frau. Deswegen hatte ich sie da nicht sofort erkannt.


Sie sah auch ein bisschen älter aus als auf dem Foto.
Trotzdem…es hätte mir gleich auffallen sollen.
Sie hatte einen Mann gehabt und dieses hier war ihr Haus. Ich kam ihrer Person näher. Wusste nun ein Stück mehr über sie.
Etwas Grundlegendes wusste ich jedoch weiterhin nicht. Und zwar wie alt sie wirklich war.
Konnte mir irgendetwas von den gerade herausgefundenen Tatsachen helfen, das herauszufinden?

* * *



An diesem Abend lehrte mir Cara zwei Bräuche
dieser neuen Gesellschaft.
Der erste trug den Namen Omnia Vis.
„Omnia Vis ist eine der ältesten Sitten und muss von jedem neugeborenem Lichtwandler ausgeführt werden. Es ist die Zeremonie der Vollständigkeit. Dabei bekommst du deine ganze Macht verliehen und einen Namen, den du dann zusätzlich trägst.


Das übernehmen die Ältesten der Gemeinde und der, bei dem du aufgenommen worden bist.”
„In meinem Fall also du.” Sie nickte.
„Warum hat es einen speziellen Namen?
Woher kommt er? Und wie kann der Seele mehr Energie verliehen werden?”, fragte ich.
„Nun…als es die ersten Lichtwandler gab,
waren Schwierigkeiten in der Kommunikation zwischen ihnen aufgetreten. Weil es so wenige waren, kamen sie alle aus verschiedenen Ländern zusammen. Es gab noch keine Weltsprache, so wie heute. Sie einigten sich daher auf die lateinische Sprache, die damals häufig gesprochen wurde und gut erlernt werden konnte. Omnia Vis bedeutet "Die ganze Kraft" oder " Alle Kraft".”
Ich dachte darüber nach. Alle Neugeborenen...Vollständigkeit…Wie ? Wann? Was?
Ich verlor den Überblick über meine Gedanken. Völlig konfus schüttelte ich den Kopf in der Hoffnung, dass es Erleichterung bringen würde.


Da ich in keinem Punkt weiter kam, starrte ich nur noch gedankenverloren in den Raum.
Cara bemerkte es. Ok, es war so offensichtlich, dass es unnormal gewesen wäre,
wenn gerade sie es nicht gemerkt hätte.
„Wann die Zeremonie stattfindet, hängt von dir und deiner Entwicklung ab. Aber keine Sorge, ich sage dir bescheid, wenn es soweit ist.”
Ich nickte. Was sollte ich auch anderes tun? In dem Moment fiel mir auch nichts ein, das ich hätte erwidern können.
Sie sprach weiter.
„Wo die neue Energie herkommt, wirst du dann herausfinden.
In wenigen Tagen ist ein weiteres Fest. Es ist Frühlingssonnenfest. Sonntag, den 28. März.
An diesem Tag wirst du die Verbindungen der Lichtwandler rund um die Welt sehen.
Ich kann es dir nicht näher beschreiben, doch das wirst du dann selbst erkennen.”
Damit beendete sie den Unterricht.

* * *


Irgendwas war in dieser Schlafphase anders und ich erwachte nicht am gesetzten Zeitpunkt, sondern früher. Mit ermattetem Gefühl stand ich schließlich auf. Das Geheimnis, warum ich nicht überall durchfiel, hatte ich immer noch nicht gelüftet, aber ich hatte gerade eh keinen Nerv, darüber nach zu denken. Ich setzte mich in Bewegung, ging aus dem Haus und an der Straße entlang. Ohne Kontrolle über mich selbst, wie ferngesteuert lief ich einen Weg ab.
Ich bekam kaum mit, wo ich war oder wohin ich geführt wurde.
Verdammt, ich konnte noch nicht einmal sagen, wer oder was es war.
Hag knirschte. Blätter raschelten. Eine Krähe schrie. Die Sterne glitzerten.
Knistern von Gras. Plötzlich verließ mich die Kraft,
die mich geleitet hatte und ich sank zu Boden.


Als ich die Augen wieder öffnen konnte, lag ich im Gras und
blickte in den klaren Sternenhimmel. Sobald ich wieder einiger Maßen beisammen war, versuchte ich herauszufinden, wo ich gelandet war.
Sechs riesige Felsen umgaben mich in einem Kreis.
Das kam mir bekannt vor. Wann war ich das letzte Mal hier?
Wo war das genau….der Steinkreis?
Ich ging die Felsen nacheinander ab. Jeder strahlte eine bestimmte Energie aus, die mir jeweils ein anderes Gefühl gab. Hass, Liebe, Angst, Verwirrung, Glück und Klarheit.
Ich strich im Vorübergehen über die raue Oberfläche.
An dem letzten blieb ich stehen. Es war so angenehm und beruhigend.
Ich setzte mich mit dem Rücken an den Riesen gelehnt in den Schneidersitz.
Die Sterne funkelten wie tausende lupenreine Diamanten und die kühle Nachtluft
ließ meinen Schimmer aufleben. Die Geräusche um mich herum wurden in der Stille der Nacht lauter und lauter, doch beeinflussten meine Ruhe nicht. Mitten in der Versunkenheit, die still wie das weite, glatte Meer in meinem Geist eingetreten war, beunruhigte mich mit einem Mal etwas. Unheimlich wie ein dunkler Schatten
drückte mich eine Kraft an den Boden.
Unglaublicher Schmerz brannte in mir.
Aber ich wollte nicht wieder gegen meinen Willen behandelt werden.
Schon gar nicht, wenn ich nicht wusste, wer oder was es war.
Ich wollte mich aufrichten, kämpfte gegen das heftige Stechen an, stemmte all meine Energie dagegen und biss die Zähne zusammen.
Es war eine ewige Qual und ich hätte schreien mögen,
doch das wäre ein Triumph für meinen Widersacher und gegen meinen Stolz.
Ich zog mich an einem Vorsprung im Gestein hoch.
Gekrümmt stützte ich mich mit dem Gesicht zum Stein mit beiden Händen ab.
Plötzlich erschien im Felsen ein kristallener Spiegel. Er leuchtete wunderschön.
Wie kam der denn her?
Meine Züge waren schmerzverzerrt und abgekämpft. Ich war dem Zusammenbruch nah.
Ein hämisches Lachen ertönte nur drei Meter hinter mir und ich wusste sofort, wer das war.
Wut brauste in mir auf. Diese Stimme war mir im Gedächtnis geblieben.
„Na? Schön, dass wir uns mal wieder sehen…und das ganz alleine. Nicht wahr, Valentina?!”
Meine Wut wurde beinahe unbeherrschbar, mein Spiegelbild zeigte Kampfeslust und das Leuchten des Spiegels umschloss mich für einen Moment. Als ich mich endgültig aufrichtete,
sprangen die Fesseln seiner Macht von mir ab und meine Augen waren vollkommen schwarz.
Ich drehte mich zu ihm um. Simons längliches Gesicht zeigte Hochnäsigkeit, aber auf den zweiten Blick konnte ich trotzdem erkennen, dass er auch überrascht, ja fast erschrocken war.
Das kühlte meinen Zorn ein wenig ab.
„Was sollte das eben? Du hast kein Recht dazu.”
Er lachte wieder.
„Tja, wenn ich Langeweile habe, kann ich alles tun.”
Mit einem Zwinkern kam er näher.
Wie bei unserer ersten Begegnung ekelte mich seine Präsenz.
Ich konzentrierte mich darauf, meinen Schein so zu verstärken, dass er es merkte und davon zurückgedrängt würde. Zumindest hoffte ich, dass es so funktionierte.
Allerdings bemerkte ich, als er gerade noch einen halben Meter entfernt war,
dass es nichts nützte.
„Warum machst du das?!”
Langsam verlor sich meine Selbstbeherrschung.
Gleichzeitig zu dem Gesprochenen löste sich meine Konzentration, wodurch eine gewaltige Explosion der Energie entstand.

Sie schleuderte ihn zehn Meter an den gegenüberliegenden Fels.
Es wunderte mich, dass er nicht einfach hindurch fiel, sondern wirklich dran klatschte.
Benommen stand er auf und schüttelte den Kopf.
„Das war aber nicht sehr Lady-Like , meine Dame.”
Wieder bewegte er sich in meine Richtung.
Der pure Zorn packte mich. Dieser unverschämte Mistkerl…kapierte er es denn nie?!
Die Kraft ballte sich erneut in mir zusammen.
Er schien es zu spüren, denn seine Augen wurden zu Schlitzen.
„Na, na … das wirst du nicht noch einmal mit mir tun.”
„Da irrst du dich aber gewaltig.”
Ich musste mich beruhigen. Es gab sicher einen anderen Weg, das zu lösen.
Wie würde Cara handeln?
Ach das war sinnlos, ich war längst nicht so stark und erfahren wie sie.
Just als mir dieser Gedanke durch den Kopf ging, tauchte sie vor mir auf und stellte sich zwischen Simon und mich. War ja klar…In meinem Stolz ein bisschen angeknackst, weil ich bei solchen Dingen noch immer auf ihre Hilfe angewiesen war, trotzdem aber erleichtert, entspannte ich mich ein wenig.
„Was ist hier denn bitte los? Simon, du solltest lieber vorsichtig sein und ich hab dir schon das letzte Mal gesagt, du sollst Valentina in Ruhe lassen. Du weißt, was das bedeutet, wenn du gegen meine Befehle agierst?!”
Sie war sehr aufgebracht.
„Ich hoffe, dir ist klar, dass dies ein mächtiger Fehler war und es schief gehen hätte können.”
„Ja, aber ich wollte bloß…es war doch nur…”, stotterte er kleinlaut.
Das war ja was ganz Neues. Der Art eingeschüchtert hatte ich ihn bis jetzt nie erlebt.
Bei unserem letzten Zusammentreffen hatte er es nach außen hin cool abgetan.
Er rang um Worte bis er einiger Maßen gefasst war.
„Darf ich gehen, My Ladies? Ich denke, ich muss fort.”
Cara nickte und erwiderte:
„Gut, aber sei gewarnt…beim nächsten Mal wird es unverzüglich Konsequenzen geben.”
Kaum hatte sie das ausgesprochen, war er auch schon verschwunden.
„Ist mit dir alles in Ordnung?”, fragte sie mich.
„Ich weiß nicht…mir ist ganz komisch und ich weiß immer noch nicht, wo ich bin…”
„Verstehe…du bist im Stadtpark. Erinnerst du dich?
Hier haben wir dein Einführungsritual abgehalten.”
Nach kurzem Überlegen fiel es mir ein.
„Ok…können wir zum Haus gehen? Es ist…”
„Ja, das wäre am Besten. Komm.”
Sie berührte mich an der Schulter und im nächsten Augenblick standen wir vor ihrem Haus.
Sehr praktisch diese Technik. Ich selbst hatte es weniger schnell hinbekommen.
Hoffentlich würde sie mir das irgendwann beibringen.

* * *
Ben:
20.07.2016
Ich glaube, es ist nicht nur das Mädchen, das mich beobachtet. Da ist noch jemand anderes. Es fühlt sich manchmal so komisch an. Trotzdem will ich endlich herausfinden, wer sie ist. Aber wie? Sie begleitet mich oft. Ich weiß nicht, ob es wirklich so ist, aber sie hilft mir.

Ja, selbst einen Monat später wusste ich nicht, wer sie war. Ich merkte jedoch wohl, dass sie nicht schlecht war. Im Oktober, drei Monate später also,
konnte ich sie das erste Mal verstehen. Im Traum, den ich bei Vollmond träumte.
Manche Klischees bewahrheiten sich eben doch:
Ben, kannst du mich hören?
Ja. Wer bist du?
Savanna.
Warum bist du immer da? Wieso die Bilder?
Ich kann nicht anders. Tut mir Leid wegen der Szenen.
Bitte nimm sie weg.
Ich bemühe mich darum.
Länger war das Gespräch nicht, denn dann wachte ich auf. Der Mond schien hell durch mein Fenster und ich konnte die ganze Nacht nicht mehr schlafen. Bis zum nächsten Vollmond nahm ich sie viel mehr wahr. Sogar einige Worte, die sie sagte.
Sie warnte mich oftmals, wenn ich etwas Gefährliches vorhatte, wie klettern, denn sie machte sich Sorgen um mich. Aber kleine Jungen tun eben gerne riskante Dinge.

24.12.2016
Savanna sagte mir, sie würde für eine Woche nicht da sein. Erst nach Silvester wieder.
Es war schön in der letzten Zeit, sie dabei zu haben. So bin ich auf dem Schulweg nicht allein. Tim hat sich das Bein gebrochen und kann nicht mitgehen.
In letzter Zeit waren da keine Bilder mehr. Ich bin so froh darüber.
Sie passt wie eine große Schwester auf mich auf.
Heute Abend ist Weihnachten und sie hat mir versprochen, so lange bei mir zu sein bis ich die Geschenke ausgepackt habe.

Natürlich fragte ich mich in der folgenden Woche, wo sie hin musste. Es war so ungewohnt, sie gar nicht mehr in der Nähe zu wissen.
Ich besuchte dann fast jeden Tag Tim, denn ihm war mit seinem Gipsbein sehr langweilig und ein bisschen Ablenkung konnten wir beide gut gebrauchen.
Es gab im Jahr bestimmte Tage, an denen Savanna keine Zeit hatte,
aber ich lernte, gut damit umzugehen.
Wir konnten auch immer besser miteinander sprechen. Am besten jedoch gegen Abend.
Einmal fragte ich sie, das war eine Woche vor Ostern, wo sie die eine Woche war und auch zum Sommerzeit Anfang war sie nicht da gewesen.
Ich treffe mich mit Freunden zu einer Feier. Wir haben bestimmte Festtage,
aber das kann ich dir jetzt noch nicht erklären.
Das war ihre Antwort.

* * *



Valentina:
Bis zur Frühlingssonnenfeier erholte ich mich von meiner Auseinandersetzung mit Simon.
Wir würden den ganzen Sonntag an einem bestimmten Ort verbringen, den mir Cara noch nicht nennen wollte.
„Es ist so weit, wir gehen. Nimm meine Hand und schließ die Augen.”
Ich nickte. Sie sagte es derart bestimmt, dass ich es aus Respekt nicht wagte, sie zu fragen,
wo es denn hin ginge.
Gespannt wartete ich ab.
„Gut, wir sind da.”
Als ich mich umsah, fand ich mich am Gipfel eines Berges wieder, dessen Gestein wie Nadeln in den Himmel ragte. Auf einigen Vorsprüngen des Abgrunds standen karge Büsche und kleine Tannen.
Es ging ziemlich tief runter.
„Wohaa…wo sind wir?”
„In den bayrischen Alpen. Aber das tut nicht zur Sache.”
Es wurde still.
Wir standen bis zum Sonnenuntergang da. Langsam verschwand die glühende, rote Kugel zwischen den Bergen, der Himmel war klar.
Im tiefsten Schwarz blickten wir nun auf die Landschaft, die ungewöhnlich ruhig war.
Als ob alles gespannt die Luft anhielte und auf das warte,
was an diesem Abend geschehen sollte.
Plötzlich spürte ich, wie sich die Energie in meiner Brust sammelte. Sie klopfte und stach dagegen, was sich alles andere als angenehm anfühlte. Automatisch atmete ich durch die Nase tief ein und wieder aus.
Als alle Energie, die sich in der Luft befunden hatte, aus meinem Körper entwichen war, brach ein langer, hauchdünner Faden aus meinem Brustbein hervor. Erschrocken drehte ich den Kopf zu Cara, bei der es aber ganz genauso aussah. Der Faden nahm mich mit ins Unendliche. Unendlich? Nein, denn eine Weile verging, doch schließlich traf er irgendwo auf und ich fühlte mich mit fremder Energie verbunden. Verwirrt blickte ich der Schnur aus heller Energie nach, um im nächsten Augenblick festzustellen,
dass viele, kleine Nadelstiche in mir brannten. Ich drehte meinen Kopf soweit ich konnte und erkannte, dass sich etwa fünfzig vielleicht auch hundert dieser Schnüre an mir feststrahlten.
„Valentina”, rief Cara, „Weißt du jetzt, was ich damit meinte. Dass du die Verbindung aller Lichtwandler sehen würdest?!”
„Allerdings…das ist echt heftig. Es brennt.”, antwortete ich.
„Das ist nur das erste, vordergründige Empfinden. Sieh mehr in dich hinein.”
Ich tat, was sie geraten hatte und es war unglaublich. Ich entdeckte in mir ein Gefühl, das sich mit keinem anderen wirklich vergleichen ließ.
Nähe, Wärme, Verbundenheit, Sicherheit, Glück. Eine Mischung aus all diesen und mehr.
Und ich erfasste Bilder. Bilder von Personen, die ich nicht kannte, die mir aber ein Gefühl der Sympathie vermittelten.
„Das sind die anderen Lichtwandler. Spürst du sie? ”
„WOW, ja!”
„Wir sind nicht allein. Sind wir nie.”
In der Nacht begriff ich, wie umfassend der Begriff der Verbundenheit war
und was es bedeutete.


* * *



So viel ich über dieses Ereignis damals nachdachte, so oft besuchte ich Ben.
Einen Tag kam Cara mit, um sich das anzusehen und dadurch zu entscheiden, in welcher Richtung meine Lehre ausgebaut werden musste, damit er nicht jedes Mal auf mich reagierte.
Als ich mich ganz dicht an sein Bett stellte, schrie er sofort los.
Mit ernster, überlegender Miene beobachtete sie mich. Hilfe suchend blickte ich sie an, aber kurz darauf verschwand sie. Was sollte ich tun?
Ich betrachtete das süße, kleine Kind bis seine Mutter rein kam. Dann machte ich mich auf den Weg zum Haus. Die richtige Technik kannte ich noch immer nicht und außerdem hatte ich eh alle Zeit der Welt. Ich wählte den längsten Weg, sodass ich nicht durch die Innenstadt musste, denn nach wie vor hatte ich Angst. Der Stadtrand war schön. Man ging zum größten Teil durch Landschaft mit riesigen Feldern, zwei Flüssen, von denen einer durch die Stadt führte und an Miniwäldchen vorbei. Ab und zu kreuzten Landstraßen meinen Weg.
Als ich gerade noch fünf Minuten vom Haus entfernt war, kam mir ein Motorrad entgegen.
Eine schwarze Yamaha . Die Fahrerin hatte schulterlange, mahagonifarbene Haare.
Ich brauchte nicht genauer hinzusehen, um zu wissen, wer das war. Lorena.
Erschrocken wandte ich meinen Blick ab, würde ich es ertragen?
Nein, ich musste schleunigst verschwinden. Nur wie?
Ich kniff die Augen angestrengt zusammen und zu meiner Überraschung
war ich plötzlich im Haus. Unverwechselbar mit diesem alten, grauen Sofa.
Jemand legte mir die Hände auf beide Schultern. Oder waren die dort eben schon?
„Alles ok? Ich hielt es für besser, dich da weg zu holen.”
Sie war da und hatte mir geholfen. Zuerst spürte ich Erleichterung, was jedoch schnell in Missmut über meine eigene Schwäche umschlug.
„Das wäre alles nicht passiert, wenn ich einen direkten Weg hätte nehmen können.
Ahh…das ärgert mich!!! Ich will unabhängig sein. Zu mindest soweit es geht.”
„Beruhige dich bitte. Was denkst du, was ich für die heutige Unterrichtsstunde für dich erdacht habe? Außerdem musst du dich irgendwann damit auseinandersetzen.”
Sie hatte Recht. Ich aber auch, wie ich fand. "Alles zu seiner Zeit" war manchmal nicht unbedingt meine Stärke.
Die Technik, die ich nun erlernte war ähnlich wie die, die ich einmal genutzt hatte,
um Ben zu finden. Es war allerdings klarer strukturiert und wenn man etwas Übung darin bekam, konnte man gewaltig Zeit sparen.
Man schließe die Augen, erstelle ein Bild der Zielperson oder des Ortes. Fokussiere sich darauf und in den nächsten zwei Sekunden sollte man dort sein. Irgendwann kann man die Bilder dann aus dem Gedächtnis abrufen und einfacher ging es nicht mehr.
Das würde ich in den nächsten Tagen üben und war mir fast schon zu sicher, dass es bei Ben bestimmt rasch klappen würde.

* * *



Fünf Tage später hing ich meinen Gedanken nach, während ich vorm Fenster saß und auf die Straße hinaus blickte. Der Regen ergoss sich in Bindfäden und rann in kleinen Bächen die Straßenseiten entlang. Eigentlich spürte ich die Tropfen nicht, aber durch meine Erinnerung an den Wolkenbruch beim Wandern mit meinen Eltern verband ich es mit einem sehr unangenehmen Gefühl. Zum Beispiel mit am ganzen Körper klebenden Klamotten.
Ich dachte über einfach alles nach, wobei mir auffiel,
wie wenig ich gerade über mein neues Leben wusste.
Mich beschäftigten so viele Fragen.
Wie alt war Cara wirklich?
Was war geschehen, dass sie zu einer Lichtgestalt wurde?
Warum lernte ich von ihr diese Techniken?
Natürlich sagte sie mir immer wieder, dass es wichtig sei, alle Kraft in mir kontrollieren zu können, aber wofür und weshalb all die anderen, die noch kommen würden?
Welchem Zweck sollte ich dienen? Wann konnte ich ihn erkennen?
Fragen über Fragen, doch die wichtigste, die sich immer wieder in den Vordergrund drängte, war die, welches Geheimnis Cara über Ben hatte. Was war an diesem Kind selbst für sie derartig bedeutsam, dass sie ihn beobachten wollte?
Das Problem war, dass ich bis jetzt keinen Lösungsansatz hatte.
Hatte ich mich als Mensch mit etwas besonders auseinander gesetzt, dann habe ich recherchiert und zwar in Büchern, im Internet und Zeitungen. Nur fehlten mir dazu momentan die Möglichkeiten. Ich konnte mir nicht vorstellen, irgendwie in einer Zeitung blättern zu können, geschweige denn in Büchern oder auf der Tastatur eines Computers zu tippen.
Das war unmöglich und ich glaubte nicht, dass die Lichtwandler eine Enzyklopädie über sich selbst verfasst hatten oder es überhaupt hätten bewerkstelligen können.
Vielleicht hätte ich die Gedankenmanipulation verwenden können, doch die Vorbereitungen dazu waren das letzte Mal so missglückt, dass ich mich dem in diesem Moment
noch nicht gewachsen fühlte.
Und wenn ich Cara bitten würde, mit mir zu üben?
Nein, sie merkte dann mit Sicherheit, dass ich eine Absicht hegte, wenn ich direkt danach fragte und wahrscheinlich wäre ich dann ständig unter Aufsicht.
Was ihr Alter anging… da traute ich mich nicht so recht. Da wäre meine zweite Idee, ein weiteres Mal auf die Suche zu gehen. Im Haus konnten oder mussten sogar Hinweise sein.
Da mir sonst nichts einfiel, beschloss ich, dies sofort in Angriff zu nehmen.
Sie war den ganzen Tag schon nicht da gewesen und ich meinte,
mich relativ sicher bewegen zu können.

Wenn ich was finden wollte, musste ich im Schlafzimmer anfangen.
Das Bild stand unverändert auf dem kleinen Nachttisch rechts neben dem Bett.
Wieder stand ich davor, hockte mich hin und sah es einfach an.
Die Harmonie, die Vollkommenheit dieses Bildes berührte mich.
Erleichtert und ruhig atmete ich aus.
Niemals würde ich die alten, menschlichen Angewohnheiten ablegen.
Ich wollte es auch nicht. Es würde mich vergessen lassen, wer ich wirklich war.
Es war nicht leicht, sich von der Faszination loszureißen, aber ich wollte weitermachen.
Gravierten nicht viele ihre Rahmen an der Rückseite oder schrieben drauf,
wann das Foto entstanden war? Ahhh, nein…wie sollte ich das überprüfen?
Es war dicht an der Wand, beinahe daran angelehnt.
Das konnte doch verdammt noch mal nicht wahr sein. Etwas musste ich tun können.
Ob es möglich war, sich halb in die Wand zu stellen?
Eine bizarre Vorstellung...
Wer weiß, was ich mir dabei selbst antun könnte.
Andererseits…hätte ich groß was zu verlieren? So toll war das alles nicht.
Nein, das wollte ich mir nicht zugestehen, etwas Derartiges zu denken.
Das war nicht meine Art. Ich hatte mich noch nicht aufgegeben, ich wollte kämpfen für das, was mir an Gutem widerfahren könnte.
Meine Entdeckerlust siegte und mein Ego erledigte den Rest.
Plötzlich war ich halb in der Wand verschwunden.
Vorsichtig wagte ich mich Richtung Bild vor und bückte mich,
um nun die Rückseite näher zu betrachten.
Tatsächlich war etwas eingraviert:
Mein Engel, ich werde dich immer lieben. 10.Oktober 1860
1860.
Das war lange her und auf diesem Foto war sie bestimmt um die 20 Jahre alt,
was bedeutete, dass sie vor rund 170 Jahren geboren wurde.
Da sie ihr Aussehen beibehalten haben musste, konnte sie aller höchstens 40 Jahre gewesen sein, Tendenz zu jünger. Wie war sie gestorben? Wie hat sie es ausgehalten, ihr neues Dasein?
Womöglich hat ihr Mann weitergelebt. Ich schritt auf der anderen Seite des Bettes wieder aus der Wand heraus. Es erleichterte mich ungemein,
denn ganz wohl war mir dabei nicht gewesen. Wie sollte ich weiter vorgehen?
Meine Neugierde trieb mich voran, doch im ganzen Zimmer fand ich nichts mehr
(Wenn man die Stellen außer Acht ließ, an die ich nicht ran kam).
Als ob es nötig wäre, schlich ich die Treppe runter in die Küche, was aber nicht bedeutete, dass ich ein schlechtes Gewissen hatte. Na gut, ein bisschen vielleicht…
Ich durchforstete das ganze Zimmer und dann sah ich ein paar Fotos
auf der lange, hölzernen Anrichte. Wie konnte ich die übersehen? Es war so offensichtlich und trotzdem hatte ich sie vorher nie bemerkt. Auf einem waren Caras Mann und sie selbst auf einer kleinen, steinernen Brücke im Wald zu sehen.
Auf dem nächsten erwartete mich eine Überraschung.
Darauf saß sie auf einer Couch, die ich der im Kaminzimmer zuordnen konnte.
Nicht ungewöhnlich bis dahin. ABER: Sie hatte ein Baby im Arm. Es zeigte, wie sie ihm zärtlich über die Wange streichelt und so warmherzig lächelt. Es war als ob sie sagen wollte:
„Du bist mein größter Schatz.”
Ganz eindeutig ihr Kind. In diesem Augenblick konnte ich erahnen, welche Schmerzen ihr widerfahren sein mussten. Sie musste mit ansehen, wie ihr Kind unter Tränen und Leid
den Tod seiner Mutter betrauerte. Ihr Kind.
Es war ein Junge, wie ich auf dem nächsten Foto erkennen konnte.
Sie hatte ihn sicher das Leben hindurch begleitet. Wie furchtbar muss es gewesen sein, wenn das eigene Kind stirbt, weil es dem Alter erliegt und du kannst nichts dagegen tun;
ihre ganze Familie schließlich tot war, bis auf sie.
Das alles hat sie durchgestanden. Sie war stark und das musste ihre Stärke um ein Vielfaches gesteigert haben. Doch der Preis war das Leiden, die Verformung der Persönlichkeit.
Gefühlskalt konnte ich sie dennoch nicht nennen. Sie zeigte sich auch öfter von ihrer sanften, nicht befehlshaberischen Seite.
Auf ein Mal beschlich mich ein ungutes Gefühl. Cara würde bald wieder da sein, das wusste ich und ob sie begeistert darüber wäre, dass ich rumschnüffle (wenn man es hart ausdrücken möchte) …Hoffentlich nicht, ich wollte es aber lieber nicht herausfinden. Ich folgte also meinem Bauchgefühl und ging schnell ins Kaminzimmer, wo ich mich erst einmal auf das Sofa setzte.
Keine Sekunde später tauchte sie im Türrahmen auf.


Impressum

Texte: Alle Rechte liegen bei mir.
Tag der Veröffentlichung: 24.12.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Gewidmet: Den Seelen der Verstorbenen

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