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Saphirtränen – Geheime Wünsche

 

Thyra hasste ihr Leben.

Seit fast neunzehn Sommern lebte sie nun schon in Arg’e und musste sich um den Dreck ihres Vaters kümmern, der das beste Gasthaus der verfallenen Stadt besaß. Noch vor drei Jahreszyklen hatte sie sich alles gefallen lassen, hatte sie doch niemanden außer ihren Vater gehabt. Aber nun war sie eine Frau und kein kleines Mädchen mehr, das sich die Liebe und Aufmerksamkeit ihres Vaters wünschte.

Thyra war erwachsen und selbstständig. Sie ließ sich nicht mehr herumschubsen und schlagen. Sie wehrte sich und bot den betrunkenen Männern, die sich abends im Gasthaus aufhielten, die Stirn, sollten diese ihr zu anzüglich werden.

Doch Thyra wollte dieses Leben nicht mehr. Sie verabscheute es. Viel lieber wollte sie Firyon erkunden und in einer anderen Stadt leben. Arg’e war ein Nichts. Vollkommen heruntergekommen und niemand scherte sich darum, es wieder etwas aufzubauen und das schon seit sehr langer Zeit.

Was hielt sie eigentlich noch hier?

Nichts und dennoch hatte sie Arg’e noch nicht verlassen. Wie dumm sie doch war!

„Hier! Bring das raus!“ Thyra kniff ihre Lippen fest zusammen und nahm den Teller mit Essen entgegen, den ihr ihr Vater auffordernd hinhielt, um ihn in den kleinen Gastraum zu bringen.

Hatte sie nicht noch gerade darüber nachgedacht, dass sie sich nicht mehr umherschubsen ließ? Nun ja, anscheinend traf es nicht ganz zu. Sie war noch immer die Bedienung im Gasthaus.

Thyra sollte endlich zur Tat schreiten. Sie wollte nicht hierbleiben, dann sollte sie gehen. Es waren nur wenige Schritte vonnöten. Jedoch schien es doch nicht so einfach für sie zu sein.

Ohne großartig auf den Gast zu achten, der an einen der schäbigen Tische saß, stellte sie das Essen vor ihm ab. Automatisch hielt sie ihre Hand auf, um die Münzen zu erhalten, als sie dann aber genauer hinsah, wer dort vor ihr saß, verschlug es ihr die Sprache.

Es war ein Mann, das konnte man klar an der breiten Statur erkennen. Doch er hatte einen dunklen Mantel an und die Kapuze über seinem Kopf verbarg sein Gesicht. Thyra kam es wie ein Déjà-Vu vor. Diese Situation …

„Für dich.“ Die tiefe Stimme verursachte eine Gänsehaut auf ihrem ganzen Körper, als er ihr Münzen in die Handfläche legte. Sie kannte ihn …

Er war es. Der seltsame Fremde, der ihr vor vier Sommern einen Lichtblick in diesem trostlosen Leben gegeben hatte. Er war freundlich zu ihr gewesen. Hatte ihr einige Münzen extra gegeben und sie nicht angefasst wie die vielen Männern, die sonst das Gasthaus betraten. Durch ihn hatte sie gelernt, dass nicht alle Männer gewalttätig waren. Sie hatte langsam Mut gefasst und angefangen, sich zu wehren.

Doch dann war er auf einmal verschwunden. Sie hatte ihn nicht wiedergesehen, aber immer wieder an ihn gedacht.

Ihm jetzt gegenüberzustehen, war unbeschreiblich. Ihr Herz raste und sie wusste nicht, was sie tun sollte. Sie spürte, wie ihre Handflächen feucht wurden und sie ihren Mund immer wieder schnappartig öffnete, um Luft zu holen, aber kein einziges Wort entwich ihren Lippen.

Was tat er hier?

„Geht es dir nicht gut?“, fragte er und Besorgnis war deutlich in seiner Stimme zu hören. Er war so anders, dachte sie sehnsüchtig. Er verkörperte ein Leben außerhalb dieser maroden Wände, die sie ihr Zuhause schimpfte.

„Ich will weg“, platze es ihr, ohne nachzudenken, heraus. Sofort schlug sie sich schockiert eine Hand auf ihren Mund und sah sich panisch um, doch niemand war im Gasthaus außer ihnen.

Anders als erwartet, hörte Thyra ein Lachen aus den Tiefen der dunklen Kapuze. Es war ein amüsiertes Lachen, echt und voller Emotionen. Sie kam sich wie eine Verhungerte vor, als sie unbewusst näher zu ihm trat und sein Lachen tief in ihrer Seele aufnahm. Ihre Lider schlossen sich wie von Geisterhand und sie hörte ihm einfach nur zu, denn das allein holte sie schon aus ihrem tristen Leben in eine bessere Welt.

„Dann geh, wenn du es willst.“ Aus seinem Mund klang das so einfach und wenn sie darüber nachdachte, war es das auch immer, dennoch schaffte sie es nicht.

„Ich kann nicht“, murmelte sie und senkte ihren Blick. Jetzt kam sie sich wieder wie ein kleines, unschuldiges Mädchen vor, das von nichts eine Ahnung hatte. Dabei war sie das doch gar nicht mehr. Sie kannte alle dunklen Seiten des Lebens, denn daraus hatte ihres zum größten Teil bestanden. Glück, Freude, Liebe. Das waren Wörter, die sie nur von anderen kannte. Sie hatte zwar immer um die Liebe ihres Vaters gebuhlt, doch nun wusste sie, dass er dazu nie in der Lage sein würde.

„Warum? Was hält dich auf? Deine Familie?“, fragte der Fremde, der sein Essen links liegen ließ und sich ihr ganz zuwandte. Thyra wollte am liebsten seine Kapuze abstreifen, um in sein Gesicht zu sehen. Es kribbelte schon verdächtig in ihren Fingern, doch sie traute sich nicht, es in die Tat umzusetzen. Er musste einen Grund dafür haben, dass er anonym bleiben wollte und Thyra nahm es ihm nicht einmal übel, denn sie würde sich auch am liebsten verstecken, weil sie in Arg’e war.

„Ich selbst halte mich auf. Meine Angst …“, antwortete sie ihm leise, denn es ihm zu gestehen, war eine große Überwindung für sie. Immerhin hatte sie es sich selbst noch nicht einmal eingestehen können, aber in seiner Gegenwart war es so leicht über ihre Gedanken zu sprechen, was sie sonst bei niemandem konnte.

„Vor was hast du Angst? Setz dich und erzähl es mir.“ Er schob einen Stuhl vom Tisch weg und deutete auf ihn. Thyra ließ sich, ohne lange darüber nachzudenken, darauf fallen und fing an zu reden. Sie erzählte ihm, dass sie das Leben in Arg’e hasste, sie aber Angst davor hatte, was die Welt außerhalb der heruntergekommenen Mauern für sie bereithielt. Er hörte ihr aufmerksam zu, auch als sie ihm von den gruseligen Geschichten berichtete, die in der Stadt erzählt wurden. Vom toten Wald, den in den Bergen lebenden Ilyea, die die schrecklichsten Gestalten der Welt sein sollten und noch vieles mehr. Sie redete sich alles von der Seele und es half ihr. Doch bei den Geschichten über die Ilyea schien er sich zu verkrampfen.

Thyra konnte es nicht ganz sicher sagen, aber es kam ihr so vor, als ob die schrecklichen Gerüchte, was für grausame Kreaturen die Ilyea waren, ihm wie Schläge ins Gesicht vorkamen. Immer wieder schien er zusammenzuzucken, wenn sie das wiedergab, was sie von den Stadtbewohnern gehört hatte. Es waren alles schreckliche Geschichten und Thyra war sich sicher, dass sie nicht alle wahr sein konnten, dennoch nährten genau diese Erzählungen ihre Angst.

„Bist du denn einem Ilyea schon einmal begegnet?“, fragte der Fremde, wobei seine Stimme nüchterner und distanzierter klang als zuvor. Thyra beschlich ein seltsames Gefühl, blieb jedoch sitzen und schüttelte den Kopf zur Antwort. Obwohl sie anfing zu ahnen, warum er seine Kapuze nicht abnahm, fühlte sie sich noch immer wohl in seiner Nähe. Und langsam schwand auch ihre Angst vor dem Unbekannten.

„Glaubst du den Gerüchten über die Ilyea?“ Wieder schüttelte sie den Kopf, diesmal kräftiger und selbstbewusster.

„Nein. Die Menschen hier übertreiben vieles. Etwas muss davon nicht wahr sein.“ Thyra nahm all ihren Mut zusammen und sah in die Dunkelheit seiner Kapuze. „Bist du ein Ilyea?“, fragte sie leise, obwohl niemand da war, der sie hätte hören können. Aber sie ging lieber auf Nummer sicher, denn die Bewohner von Arg’e hatten überall ihre Ohren, man musste sie nicht immer sehen.

Thyra wartete gespannt auf seine Antwort. Ihr Herz schlug dabei so stark, dass sie befürchtete, dass man es hören konnte. Insgeheim wünschte sie sich, dass er ein Ilyea war. Denn wenn er einer war, konnten sie gar nicht so furchteinflößend sein, wie es sich die Menschen erzählten. So wäre ihre Angst, Arg’e zu verlassen, um ein gutes Stück gesunken und sie einen Schritt näher an ihrem neuen Leben.

„Was würdest du tun, wenn ich deine Frage bejahen würde?“ Seine Frage sagte schon alles und sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Wäre er ein Mensch und kein Ilyea, hätte er bestürzt über ihre Frage reagiert, aber so ruhig, wie er war, musste er zum magischen Volk gehören.

„Nichts“, antwortete sie und beugte sich vor. Sie fasste all ihren Mut zusammen und streckte ihre Hände aus, um seine Kapuze abzustreifen, was er ihr ohne Gegenwehr tun ließ.

Ihr Blut rauschte währenddessen in ihren Ohren und es kam ihr so vor, als würden sich die wenigen Sekunden unendlich langsam dahinstrecken.

Als würde es in Zeitlupe ablaufen, fiel die Kapuze nach hinten und entblößte einen goldenen Haarschopf. Thyras Mund öffnete sich staunend, als sie sein Gesicht betrachtete.

Seine Haut war gebräunt und das Bernstein seiner Augen schien hell aufzuleuchten. Sie war gebannt von seinem anmutig und perfekt geschnittenen Gesicht, das nun ein Lächeln zeigte. Niemals hätte sie erwartet, dass Ilyea so aussahen. Er unterschied sich kaum merklich von den Menschen. Einzig die spitzen Ohren, die unter seinen Haaren hervorblitzten, zeugten von seiner Herkunft.

Sie fragte sich, vor was die Menschen eigentlich Angst hatten. Wenn alle Ilyea aussahen wie der Fremde vor ihr, dann konnte sie es nicht verstehen, dass man solch schreckliche Gerüchte über das magische Volk in die Welt setzte.

„Du bist wunderschön“, sagte sie noch immer fasziniert von seinem Anblick und bemerkte dabei nicht, wie sich ihre Hand verselbstständigte und sein Haar an der Stelle berührte, wo die Spitzen seiner Ohren hervorlugten.

Er saß still da, das Lächeln auf seinen Lippen wurde etwas breiter, als ihr Finger sein Ohr berührte und es dabei zuckte. Leicht erschrocken zog Thyra ihre Hand an ihre Brust und drückte sie fest an sich. Sie benahm sich wie ein Kind. Eigentlich müsste er vor ihr wegrennen und nicht sie vor ihm, wie es andere Menschen an ihrer Stelle getan hätten.

„Du bist anders als die Menschen, die ich kenne“, sagte er amüsiert, was Thyras Beklemmung löste. Sie ließ ihre Hände auf den Tisch sinken und zuckte mit den Schultern.

„Ist das gut oder schlecht?“, fragte sie und sah ihm in die bernsteinfarbenen Augen. Wenn sie sich nicht täuschte, deuteten sie auf die Herkunft aus den Bergen hin. Also war er ein Berg-Ilyea und ganz sicher ein Bewohner des Dorfes, dass sich in den Gipfeln des Gebirges befand, das hinter Arg’e lag.

„Gut“, antwortete er. „Sehr gut sogar. Ich bin froh, dass du eine Ausnahme bist.“ Thyra öffnete ihren Mund, doch es kamen keine Worte heraus. Ihr Herz schlug mehrere Saltos, denn sie glaubte in seiner Aussage zu lesen, dass er sich für sie interessierte, was sie in ihrem Leben noch nie kennengelernt hatte. Niemand hatte sie je interessant gefunden. Kein Junge oder Mann, der in ihrem Alter war, hatte sie auch nur annähernd wahrgenommen. Nur die alten Saufbolde, die das Gasthaus immer wieder aufsuchten, hatten ihre Weiblichkeit bemerkt, was ihr in jungen Jahren sehr unangenehm gewesen war. Doch dann hatte sie gelernt, es zu ignorieren und sich nicht danach zu sehnen, dass junge, ehrenvolle Männer in ihr eine Partnerin sahen.

Jetzt diese Aufmerksamkeit zu bekommen, war überwältigend, wobei sie Angst hatte, dass sie sich dieses Interesse nur einbildete.

„Wir haben uns einander noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Cedric.“ Er hielt ihr höflich seine Hand hin, die Thyra anstarrte, als wäre sie mit giftigen Pilzen überwuchert, was natürlich nicht der Fall war. Nur war sie mit der Situation leicht überfordert.

„Thyra“, murmelte sie und ergriff seine Hand.

Sie war warm und sein Händedruck fest. Er schien viel für seine Stärke zu tun oder alle Bergilyea waren so kräftig wie er, das wusste sie nicht genau. Auf jeden Fall fielen ihr immer mehr Details an ihm auf, die sie faszinierten.

Vielleicht wäre es besser, nicht weiter mit ihm zu reden. Aber sie fühlte sich wohl in seiner Gegenwart und es war ihr auch egal, dass er ein Ilyea war. Es war ihr sogar lieber, dass er nicht wie die Menschen war, die sie kannte. Er verkörperte für sie die Freiheit, die Weiten von Firyon, die sie so gerne erkunden wollte. Sie sehnte sich nach all dem …


Thyras Mimik und Gestik berauschte ihn auf seltsame Weise. Sie hatte sich zu einer wunderschönen und interessanten Frau entwickelt, das hätte er nicht erwartet, als er das erste Mal hier gewesen war. Das war an dem Tag geschehen, bevor er Niamh und Edan begegnet war. Dass so viel Zeit seit diesen schicksalsreichen Tagen vergangen war, konnte er kaum realisieren. Es kam ihm wie gestern vor, als er sich von Niamh getrennt hatte, damit sie jeweils in ihr eigenes Dorf zurückkehren konnten.

Doch seitdem waren ganze vier Sommer vergangen und Cedric hatte sich zu einem würdigen Erben für den Dorfältesten der Berg-Ilyea – seinen Vater Ciyan – entwickelt. Er hatte nach der Reise mit Niamh viel über sich und die Welt gelernt. Er sah sie seitdem mit anderen Augen, denn damals war er auf einen Schlag ein gutes Stück gealtert, im geistigen Sinne, und das hatte ihm geholfen, den Anforderungen seines Vaters gerecht zu werden.

Nun setzte er sich schon seit einigen Jahreszyklen dafür ein, dass die unterschiedlichen Ilyea-Völker – Meer-, Wald- und Berg-Ilyea – untereinander engeren Kontakt hielten und einander halfen, wenn dies erforderlich war. Es sollte sie davor bewahren, dass wieder ein Dorf unbemerkt angegriffen werden konnte, dabei sei egal, ob durch Menschen oder Dämonen, die irgendwann wieder auftauchen könnten.

Cedric war stolz auf das, was er schon geleistet hatte, aber es war noch lange nicht alles perfekt. Es müssten noch weitere Sommer des Vorantreibens vergehen, bis man es so nennen konnte.

Doch die neuen Zusammenkünfte, die in regelmäßigen Abständen gehalten wurden, um den Kontakt der Ilyea-Völker zu festigen, waren nur ein Teil des Grundes, weshalb er nun in dem Gasthaus von Arg’e saß. Der andere Teil saß vor ihm und nahm ihn immer mehr mit ihrer ganz eigenen Ausstrahlung gefangen.

„Willst du mich auf meiner Reise vielleicht begleiten, Thyra?“, fragte er sie nun, nachdem sie sich einige Augenblicke still angesehen hatten. Er konnte es ihr nicht verübeln, dass sie ihn genauestens studierte. Sie war noch nie einem Ilyea begegnet, er hätte wahrscheinlich genauso gehandelt, würde er in ihrer Haut stecken. Außerdem faszinierte es ihn, wie sie auf ihn reagierte.

Sie war solch eine wundervolle Frau, er sah es als seine Pflicht an, sie aus diesem grässlichen Leben in Arg’e herauszuholen und ihr ein besseres zu ermöglichen. Es war ihm dabei egal, dass sie ein Mensch war und er ein Ilyea. Diese ständigen Differenzierungen zwischen den Völkern machte doch alles viel schlimmer, als es sein müsste.

Cedric unterdrückte ein Schnauben, um Thyra nicht zu beunruhigen. Sie hatte keine Ahnung in welche Richtung seine Gedanken abschweiften und er wollte sie ihr auch nicht aufbrummen. Ihr Leben war schon schwer genug und die Entscheidung, die sie jetzt für sich treffen musste, auch. Deshalb wartete er geduldig auf ihre Antwort und drängte sie nicht.

Er würde es verstehen, wenn sie ihn nicht begleiten wollte. Sie kannte ihn nicht und es war schon ein großer Schritt, dass sie überhaupt mit ihm über ihre Ängste sprach. Ihn dann auch noch in die weite Welt von Firyon zu begleiten, das konnte er nicht von ihr verlangen, aber er gab ihr die Wahl, es selbst zu entscheiden.

Und so wartete er geduldig ab und beobachtete sie währenddessen.

Ihre hellblauen Augen hatten einen leicht verträumten Ausdruck angenommen und sahen so noch zauberhafter aus. Und auch wie sie auf ihrer Unterlippe kaute, scheinbar unbewusst, rührte sein Herz und ließ ihn lächeln.

Cedric fühlte sich schon seit einiger Zeit zu ihr hingezogen. Er hatte in den vier Sommern, die seit ihrer ersten Begegnung vergangen waren, immer wieder nach ihr gesehen und dabei feststellen müssen, dass sie zu einer mutigen und wunderschönen jungen Frau heranwuchs. Seine Gefühle für sie hatten sich mit der Zeit so weit entwickelt, dass er es nicht mehr ausgehalten hatte, sie nur noch vom Weiten zu beobachten. Genau in diesem Moment der Erkenntnis hatte ihn die Nachricht des nächsten Ilyea-Treffen erreicht, das diesmal in Niamhs Dorf Cad‘e stattfinden sollte. Cedric hatte eine Chance darin gesehen. Es war eine Reise, die er allein antreten würde, ohne die Überwachung eines anderen Berg-Ilyea, der jede Eskapade seinerseits sofort dem Dorfältesten zugetragen hätte. Es war die Möglichkeit, die Cedric gesucht hatte, um Thyra endlich näher kennenzulernen. Jetzt lag es nur noch an ihr, ihm diese Chance zu gewähren, auch wenn sie davon nichts wusste. Er hoffte auf eine positive Antwort, aber er würde nicht für sie entscheiden.

„Ja.“ Cedrics Herz blieb einen kurzen Augenblick vor Überraschung stehen und hüpfte dann voll Freude in seiner Brust. Er konnte sich ein breites Lächeln nicht verkneifen, unterdrückte jedoch den Impuls, aufzustehen und Thyra in seine Arme zu ziehen.

Als sie sein Lächeln sah, leuchtete auch ihr Gesicht auf, was sie noch wunderschöner machte. Cedric konnte nicht verstehen, dass sie keinen Verehrer hatte. Sie war schlau, mutig und überaus ansehnlich, wenn man nicht auf die zerlumpte Schürze achtete, die sie trug. Doch anscheinend gab es in Arg’e keinen jungen Mann, der ehrenvoll genug war, über den Stand der Familie hinwegzusehen.

Bevor Cedrics Gedanken weiter ins Negative abdriften konnten, legte er seine Hand auf die von Thyra. Sie zuckte überrascht zusammen, zog ihre Hand unter seiner jedoch nicht hervor.

„Ich freue mich auf deine Begleitung. Am besten, du packst deine Sachen zusammen und dann brechen wir sofort auf“, sagte er lächelnd und streichelte ihren Handrücken.

Ihre Haut war zart und warm, am liebsten wollte er sie nie wieder loslassen, aber das würde etwas seltsam ihr gegenüber erscheinen.

„Okay“, antwortete sie mit leicht wackliger Stimme.

„Kein Sorge“, redete er ihr zu. „Du brauchst keine Angst haben. Dir wird nichts geschehen.“ Er würde das nie im Leben zulassen.

Thyra nickte und lächelte ihn an.

„Dann gehe ich meine Sachen holen.“ Sie zog ihre Hand vorsichtig unter seiner hervor und drückte sie dann an ihre Brust, als wäre sie ein wertvolles Gut. Cedric lächelte und nickte ihr zu.

„Ich werde draußen auf dich warten.“ Thyra sah ihn noch einmal an, dann drehte sie sich um und verschwand schnellen Schrittes. Ihre Eile hatte etwas Niedliches an sich und ihm ging das Herz auf, dass sie ihn wirklich begleitete, obwohl sie noch gar nicht wusste, wohin er wollte. Cedric würde es ihr sagen, sobald sie Arg’e verlassen hatten.


Thyra rannte die Treppe zu ihrem kleinen Zimmer hinauf. Sie besaß nicht viel und das wenige, was sie ihr Eigen nennen konnte, passte in einen Stoffbeutel, den sie nun hervorkramte und vollstopfte.

Es kam ihr wie in einem Traum vor, dass Cedric sie tatsächlich gefragt hatte, ihn auf seiner Reise zu begleiten. Obwohl sie noch nicht wusste, was sein Ziel war, freute sie sich. Nicht nur, dass er ihr damit ihren größten Wunsch erfüllte, Arg’e zu verlassen, er gab ihr auch das Gefühl, dass sie kein kleines, nichtsnutziges Mädchen war, sondern eine Frau. Sie spürte noch jetzt seine warme Berührung auf ihrem Handrücken und wollte diese Empfindung am liebsten in einem Glas festhalten, wie Schmetterlinge, die man als kleines Kind fing, um sie zu bewundern. Doch leider war das unmöglich und so verinnerlichte sie die Erinnerung an das warme und vertrauensvolle Gefühl seiner Hand in ihrem Herzen.

Mit einem breiten Lächeln auf ihren Lippen packte Thyra all ihre Sachen zusammen. Es waren vorwiegend Kleidungsstücke, denn an wertvollen Gegenständen besaß sie nichts außer der alten und schlecht verarbeiteten Halskette, die sie immer um ihren Hals trug und die früher einmal ihrer Mutter gehört haben sollte. Thyra kannte ihre Mutter nicht. Sie war bei ihrer Geburt gestorben. Dennoch war dies ihr wertvollster Besitz, auch wenn sie nicht viel Geld einbringen würde.

Als ihre ganzen Sachen verstaut waren, schulterte Thyra den Beutel und verließ ihr Zimmer mit einem letzten verabschiedenden Blick.

„Tschüss Vergangenheit“, murmelte sie und lief die Treppe hinunter ins Gasthaus. Dort war niemand zu sehen, Cedric wartete draußen auf sie.

Thyras Herz schlug vor Vorfreude so laut, dass sie nicht mitbekam, als jemand hinter ihr auftauchte. Erst der feste und schmerzhafte Griff um ihren Oberarm riss sie aus der Blase ihres Glücks.

„Was …?“ Brutal wurde sie herumgerissen und starrte dann in das wutverzerrte Gesicht ihres Vaters. Es war aufgedunsen und rot angelaufen, als würde er jeden Moment platzen. Thyra wollte sich aus dem harschen Griff befreien, doch ihr Vater ließ das nicht zu.

„Wo willst du hin? Arbeit wartet auf dich.“

„Lass mich los! Ich gehe! Ich verlasse Arg’e und komme nie wieder!“, warf sie ihm an den Kopf und riss sich von ihm los. So schnell sie konnte, drehte sie sich um und rannte los, um zu Cedric zu kommen. Er würde sie beschützen, hatte er gesagt, jetzt sollte er es ihr beweisen, denn sie konnte hören, wie ihr Vater ihr schimpfend folgte.

Sobald sie durch die Tür des Gasthauses nach draußen gelangt war, sah sie sich panisch nach Cedric um. Wo war er?

Ihr Herz raste, diesmal nicht mehr vor Freude sondern vor Furcht. Ihr Vater würde sich nicht zu schade dafür sein, sie auf offener Straße vor allen anderen Bewohnern von Arg’e zu schlagen. Niemand würde hinsehen oder gar einschreiten, um ihr zu helfen, weshalb sie unbedingt zu Cedric musste.

„Warte, du hässliches Miststück!“, rief ihr Vater und dann spürte Thyra wieder die fetten und schmutzigen Fingern fest um ihren Arm. Sie schrie auf vor Schmerz und wehrte sich, doch sie war zu schwach.

„Lass mich in Ruhe!“ Sie stemmte sich gegen den Griff um ihren Arm, aber das bewirkte nur, dass er noch fester wurde.

„Ich hätte dich auf der Straße verkümmern lassen sollen, als deine Hure von Mutter dich Balg hervorbrachte und dann starb. Es hätte mir eine Menge Ärger mit dir erspart!“ Thyras Augen weiteten sich, als er seine Hand hob und sie spürte schon den festen Schlag ins Gesicht, der gleich folgen würde, als sie plötzlich von ihrem Vater weggezogen wurde.

Sie realisierte erst, was mit ihr geschehen war, als sie den dunklen Umhang von Cedric sah, der sich zwischen ihr und ihrem Vater befand. Seine breiten Schultern bebten und sie konnte seine Wut auf ihrer Haut spüren, so stark musste es in ihm brodeln.

„Wenn Ihr sie noch einmal berührt oder beschimpft, bekommt Ihr es mit mir zu tun! Verschwindet!“ Cedrics jetzige Stimme war nicht zu vergleichen mit dem freundlichen und vertrauensvollen Ton, den er ihr gegenüber gehabt hatte. Nun war sie voll unterdrückter Wut und eine unterschwellige Gefahr schien von ihm auszugehen. Thyra beobachtete erstaunt, wie ihr Vater große Augen machte und dann Cedric vor die Füße spukte.

„Sie gehört mir! Ich lass mir von einem Taugenichts doch nichts befehlen.“ Er lachte grimmig und warf ihr dann einen verärgerten Blick zu. „Mach, dass du an die Arbeit kommst. Sofort!“

Thyra straffte ihre Schultern und trat neben Cedric, dessen Zorn immer stärker zu werden schien. Sie sah, wie er seine Hände zu Fäusten geballt hatte und zitterte. Wenn sie nicht so schnell wie möglich von hier wegkamen, würde es noch unschöner werden, als es sowieso schon war. Thyra musste verhindern, dass die Schaulustigen, die sich um sie versammelt hatten, mitbekamen, dass Cedric ein Ilyea war.

„Nein“, sagte sie bestimmt. „Ich gehe. Für immer. Du wirst mich nie wiedersehen … Vater.“ Voller Abscheu brachte sie das letzte Wort heraus, dann nahm sie Cedrics Hand und zog ihn von ihrem Vater weg.

„Du kleine Hure! Du wirst genauso jämmerlich verrecken wie deine Mutter!“, rief er ihr nach, doch Thyra blendete die verletzenden Worte, so gut es ging, aus. Sie musste sich und Cedric von hier wegschaffen. Es war ihre Entscheidung gewesen, Arg’e zu verlassen, um ihn zu begleiten und sie hätte mit solch einer Szene rechnen müssen, also musste sie auch dafür sorgen, dass es nicht eskalierte.

„Jetzt verstehe ich dich sogar noch besser. Solch einen Abschaum als Vater zu haben, …“ Thyra sah überrascht zu ihm auf, doch seine Kapuze verdeckte sein Gesicht.

„Er ist es nicht wert, sich über ihn aufzuregen. Ich gehe und komme nie wieder, das ist das Einzige, was zählt“, redete sie beruhigend auf ihn ein und streichelte seine Hand, die sie noch immer hielt. Er tat nichts dagegen und Thyra genoss das Gefühl seiner Haut viel zu sehr, um sie freiwillig loszulassen.

„Du hast recht.“ Thyra lächelte und drückte seine Hand, was er mit einem Händedruck ebenfalls erwiderte. Dann liefen sie schweigend die Straße entlang, bis sie das eingefallene Stadttor erreichten.

Thyra blieb stehen und sah ein letztes Mal zurück. Sie würde nichts aus Arg‘e vermissen. Ihr war es nie wichtig gewesen. Nun konnte sie endlich ihr eigenes Leben leben und entscheiden, was sie damit anstellte.

„Ich danke dir“, sagte sie zu Cedric und umarmte ihn aus einem Impuls heraus überschwänglich. Erstaunt gab er einen Laut von sich, legte dann aber seine Arme um sie und drückte sie fest an sich.

„Du musst dich nicht bei mir bedanken. Es war deine eigene Entscheidung.“ Sie lächelte und schmiegte sich enger an ihn. Sein ganz eigener männlicher Duft stieg ihr in die Nase und ließ sie seufzen. Er fühlte sich nicht nur gut an, er roch auch noch äußerst gut. Thyra wäre am liebsten in ihn hineingekrochen, um die Wärme, die er ihr gab, immer um sich zu spüren, aber ihr war klar, dass sie das nicht konnte. Dennoch genoss sie die wenigen Augenblicke in seiner Umarmung noch, bevor sie sich von ihm löste.

„Trotzdem danke. Allein hätte ich mich niemals getraut und es war wirklich an der Zeit, dass ich mein eigenes Leben außerhalb von Arg’e beginne.“ Cedrics Kapuze war nach hinten gefallen, sodass sie ihm wieder ins Gesicht sehen konnte. Er lächelte sie breit an und hob seine Hand, um ihr eine von ihren braunen Haarsträhnen aus dem Gesicht zu streichen.

„Ich bin froh, dass ich dich dazu bewegen konnte. Nun sollten wir uns aber nicht länger hier aufhalten und aufbrechen. Es ist ein weiter Weg bis Cad’e.“

„Cad’e?“, fragte sie mit schwacher Stimme. Seine Berührung hatte sie nicht vorhergesehen, umso schneller schlug ihr Herz jetzt in ihrer Brust.

„Es ist das Dorf einer guten Freundin von mir, die dort die Dorfälteste der Wald-Ilyea ist. In Cad‘e findet eine Zusammenkunft statt, an der ich teilnehmen muss.“ Thyra nickte gedankenverloren. Sie würden zu einem Ilyea-Dorf gehen.

Eigentlich hätte sie damit rechnen müssen, immerhin würde sich Cedric in Gefahr bringen, wenn er sich zu lange unter Menschen aufhielt, wenn sie nach den Ansichten urteilte, die die Bewohner von Arg’e gegenüber den Ilyea hatten und diese auch auf alle anderen Menschen übertrug. Und Cedric in Gefahr zu bringen, wollte sie unter keinen Umständen. Er war netter zu ihr als jeder andere Mensch. Von ihren Gefühlen zu ihm, die sich immer stärker entwickelten, brauchte sie gar nicht erst anfangen.

Aber vielleicht lag es genau daran, dass sie sich nicht auf das Ziel ihrer Reise freute. Das Dorf einer guten Freundin. Kochte da so etwas wie Eifersucht in ihr auf? Gut möglich.

„Dir wird dort kein Leid zugefügt, ich werde auf dich aufpassen.“ Cedrics Stimme riss Thyla aus ihren Gedanken und ließ sie ihren Kopf heben. Er stand dicht vor ihr, sodass er ihr rasendes Herz hätte hören müssen. Sie klappte ihren Mund auf, sagte jedoch nichts. „Keine Sorge, ich werde immer in deiner Nähe sein.“ Ein letztes Mal lächelte er sie an, bevor er sich umdrehte und den Weg, der von Arg’e wegführte, entlanglief. Einen Moment starrte Thyla seinen breiten Rücken an, bevor sie sich ebenfalls in Bewegung setzte und seinen Vorsprung mit einem kurzen Sprint wieder einholte.

Daraufhin liefen sie schweigend nebeneinander, was für sie selbst kein Problem darstellte, denn sie erreichten schon bald Wälder, die Thyla vorher noch nie in ihrem Leben gesehen hatte und umso faszinierter bestaunte sie alles um sich herum.


Sie waren einige Tag zu Fuß unterwegs, bis sie eine Menschenstadt erreichten, in der sie sich Pferde besorgen wollten. Thyra war noch nie auf solch anmutigen Tieren geritten und gestand dies auch Cedric, der nur mit einem Lächeln antwortete und dann anstatt mit den geplanten zwei, nur mit einem Ross wiederkam.

„Aber wie …?“, fragte sie, als Cedric sie plötzlich auf das Pferd hievte und sich dann hinter sie setzte. Thyras Herz verfing sich in seinem ganz eigenen Galopp, als er dann auch noch seine Arme um sie legte und die Zügel in die Hand nahm.

„So ist es doch viel einfacher“, sagte er und sein warmer Atem strich über ihren Hals. Thyra konnte nichts darauf erwidern. Die wenigen Tage ihrer Reise hatten ihr Bild von Cedric noch verstärkt. Er war ein netter, höflicher und äußerst amüsanter Mann, der ihr Herz sofort für sich eingenommen hatte, auch wenn er das nicht wusste.

Ihm nun noch näher zu sein, das war, als würde sie fliegen können. Es war berauschend und weckte Emotionen, die sie vorher nie erlebt hatte. Und das würde auch nicht so schnell vorbeigehen, denn laut Cedric lag noch ein langer Weg vor ihnen, deshalb auch das Pferd.

Thyra war froh, dass er auf diese Idee gekommen war. Der lange Marsch war anstrengend gewesen und so konnte sie sich ausruhen und die Nähe zu Cedric genießen. Zwar würden sie dann schneller in Cad’e ankommen, und bei Cedrics guter Freundin sein, aber Thyra versuchte permanent dieses Wissen zu ignorieren und lieber die neuen Sinneseindrücke, die auf sie einstürmten, in sich zu verinnerlichen.

Das klappte bisher auch sehr gut.


Während sie den Weg in Richtung Cad’e entlangritten, atmete Cedric Thyras Duft immer wieder tief ein. Es fühlte sich gut an, sie in seinen Armen zu spüren. Nach den letzten gemeinsamen Tagen auf Wanderschaft hatte er viel über sie gelernt. Sie war eine aufgeweckte und wissbegierige junge Frau, die nun richtig aufblühte, worüber er froh war. Er hatte es nie ertragen, sie so unglücklich zu sehen, wie sie im Gasthaus ihres Vaters gewesen war. Jetzt konnte sie endlich ihr wahres Wesen zeigen und ausleben, ohne dass ihr jemand etwas vorschrieb. Cedric dankte der Göttin, dass sie Thyra die Kraft gegeben hatte, diese fast neunzehn Sommer ihres Lebens zu überstehen. Er wollte sich nicht ausmalen, wie es gewesen wäre, wenn er sie nie kennengelernt hätte, denn schon jetzt bedeutete sie ihm viel mehr, als er je erwartet hätte. Zum Glück musste er soweit gar nicht denken, immerhin saß sie vor ihm in seinen Armen und musterte alles um sich herum genau.

Cedric lächelte zufrieden. Es war die richtige Entscheidung gewesen, sie aus Arg’e herauszuholen und zu fragen, ob sie ihn begleiten würde. Er hätte es auf jeden Fall bereut, wenn er es nicht getan hätte. Doch nun waren sie hier, außerhalb und weit weg von Arg’e, auf den Weg zu den Wald-Ilyea.


Auf ihrer gemeinsamen Reise erzählte Cedric Thyra von den Märchen, die unter den Ilyea verbreitet wurden. Er berichtete ihr vom Pegasus, der ersten Nixe und vom Pandabären. Thyra hörte allem staunend zu, auch als er ihr das Abenteuer von Niamh erzählte. Ihre Augen wurden umso größer, desto mehr er davon offenbarte.

„Und du hast sie begleitet?“, fragte sie ihn an diesem Abend. Er nickte.

„Ja.“ Cedric war in seiner Erzählung so vertieft, dass er nichts außer Thyra um sich herum mehr wahrnahm. Wie sie auf seine Worte reagierte, es war faszinierend. Sie war so anders, aber das hatte er schon vorher gewusst. Würde er nicht wissen, dass sie ein Mensch war, hätte man auch annehmen können, dass sie zu den Ilyea gehörte.

Das Lagerfeuer, vor dem sie saßen, züngelte in die dunkle Nacht hinein. Es war ein herrlicher Abend. Die Grillen zirpten und die Luft war angenehm warm.

Als Cedric mit seiner Erzählung endete, zog Thyra hörbar die Luft ein.

„Oh mein Gott! Ich hätte nie damit gerechnet, dass das geschieht.“ Er nickte und warf einen Ast ins Feuer, sodass es kurz zischte und knackte.

„Niemand hat es erwartet. Es kam für uns alle überraschend. Auch wenn wir Enya verloren haben, bin ich froh, dass wir es überstanden haben.“ Thyra rückte ein Stück zu ihm heran. Sie legte eine Hand auf seinen angewinkelten Arm und sah ihm ins Gesicht.

„Es tut mir leid wegen Enya.“ Cedric schluckte angestrengt, als sich ein Knoten in seinem Hals bildete, während er das ehrliche Mitgefühl in ihren hellblauen Augen sah. Einem plötzlich auftauchendem Impuls folgend, zog er Thyra an sich. Sie gab einen überraschten Laut von sich, wehrte sich jedoch nicht gegen ihn, viel eher schmiegte sich ihr Körper bereitwillig an den seinen. Er konnte dabei ihren rasenden Herzschlag spüren, der seinem eigenen in nichts nachstand.

Sanft strich er über ihre Wange und versank in den Tiefen ihrer wunderschönen Augen. Es kribbelte in seinem Bauch und ihre vollen rosa Lippen kamen ihm in diesem Augenblick wie das Paradies vor, das er gerne erkunden wollte.

„Ich bin froh, dass du hier bist. Bei mir“, murmelte er und dann senkte er seinen Kopf, um ihren Mund mit seinen Lippen zu berühren. Er hörte sie seufzen und zog sie noch enger an sich, um sie überall berühren zu können. Es fühlte sich großartig an. Ihre weichen Lippen schmeckten nach den fruchtigen Beeren, die sie zuvor gegessen hatten, und eine kribbelnde Spannung wirbelte zwischen ihren Mündern.

Cedric hätte sich einen Kuss nie so schön vorstellen können. Mit niemanden, außer mit ihr.

Thyras Arme schlangen sich um seinen Hals, als sie halb auf ihm lag und sie ihren Kuss immer weiter vertieften. Nichts war in diesem Moment wichtiger für ihn als die Nähe zu ihr. Seine ganze Welt drehte sich nur noch um sie. Sie war wie seine persönliche Sonne, die sein Leben heller strahlen ließ.

Sie waren beide so eingenommen von dem jeweils anderen, dass sie ihre Umgebung nicht beachteten. Erst als Cedric plötzlich ihre Lippen nicht mehr spürte, wurde er brutal aus ihrer kleinen Welt des Glücks gerissen.

„Ahhhh!“, schrie Thyra laut auf, was ihn sofort alarmiert aufsehen ließ. Jemand zerrte sie von ihm weg, tiefer in den Wald hinein. Sie trat um sich, schrie und kämpfte, aber es brachte nichts.

Cedric sprang sofort auf und rannte auf sie zu. Er konnte nicht erkennen, wer versuchte, sie zu entführen, aber das war ihm auch egal, denn niemand hatte das Recht dazu.

Seine Wut brodelte immer stärker in ihm, als er alle Kraft in seine Beine legte, um Thyra zu erreichen. Ihr Angreifer versuchte derweil, sie schneller von ihm wegzuschaffen, aber das ließ Cedric nicht zu.

„Lass sie los!“, rief er. Thyra streckte ihm ihren Arm entgegen, den er sich schnappte, als er nah genug war. Das brachte ihren Angreifer ins Stolpern und Cedric konnte Thyra aus seinen Fängen befreien. Er bewahrte sie beide vor einem Sturz, was dem Unbekannten nicht gelang. Er viel zu Boden und gab einen unwirschen Laut von sich.

Cedric wollte sich sofort auf ihn stürzen und ihm zeigen, wie er es fand, dass er versucht hatte, Thyra zu entführen, als sie ihn zurückhielt.

„Nicht.“ Er wandte sich ihr zu und sah in ihr mitgenommenes Gesicht. Die Angst stand noch immer in ihren wunderschönen Augen.

„Er hat dir wehgetan“, knurrte er wütend. Immerhin hatte er ihr versprochen, dass ihr nichts geschehen würde.

„Aber du musst dich nicht auf sein Niveau herablassen. Du hast das nicht nötig“, redete sie auf ihn ein. Ihre Hand strich über seinen Rücken, was ihn etwas beruhigte. Dennoch konnte er den Übeltäter nicht ungeschoren davonkommen lassen. Er hatte sie gestört und weshalb er es getan hatte, war ihnen noch immer unklar.

„Okay, ich werde nur mit ihm reden.“ Thyra sah ihn eindringlich an und nickte schließlich. Ihre Hand berührte seine Wange und entlockte ihm ein kleines Lächeln. „Keine Sorge, ich werde ihm nichts tun.“

„Ich warte hier.“ Er nickte, drückte ihre Hand und ging dann zu dem am Boden liegenden Mann.

Umso näher Cedric kam, desto größer wurde sein Unbehagen. Der Mann am Boden sah aus wie ein Ilyea, aber das erklärte den Angriff auf Thyra überhaupt nicht. Es machte ihn sogar noch unsinniger.

„Wer bist du?“, fragte Cedric, als er über dem Ilyea stehen blieb und auf ihn herabsah. Dieser sah zu ihm auf und blinzelte irritiert. Jetzt konnte Cedric erkennen, dass seine Haare dunkelgrün waren. Also musste er zu den Wald-Ilyea gehören, vielleicht sogar zu Niamhs Dorf, was das alles noch rätselhafter machte.

„Du bist ein Berg-Ilyea.“ Cedric verzog das Gesicht und beugte sich über den anderen.

„Beantworte meine Frage. Wer bist du und warum hast du uns angegriffen?“ Seine Geduld hing an einem seidenen Faden. Hätte er Thyra nicht versprochen, nur mit dem Ilyea zu reden, dann hätte Cedric sich zu härteren Methoden hinreißen lassen, aber so hielt er sich im Griff.

„Sie ist ein Mensch. Sie haben hier nichts verloren, das ist ein Ilyea-Gebiet“, antwortete der Wald-Ilyea mit kräftiger Stimme. „Was willst du mit ihr? Sie verabscheuen uns.“ Cedric schnaubte und unterdrückte den Impuls, den Jüngling zu schlagen, denn viel älter als sechzehn Sommer konnte er nicht sein, auch wenn er schon kräftig gebaut war für sein Alter.

„Du benimmst dich wie die Menschen, die, wie du sagst, uns verabscheuen. Wer ist da besser? Du oder sie?

Thyra ist uns gegenüber freundlich gesinnt, sie würde niemanden etwas antun und die Ilyea anderen gegenüber normalerweise auch nicht.

Also, wer bist du, dass du dir diese Frechheit erlaubst? Kommst du aus Cad’e?“ Cedric sah, wie der Junge vor ihm immer weiter in sich zusammensank. Er war noch jung und einfältig, das sah er ihm an.

„Aber … sie ist ein Mensch“, beharrte der Wald-Ilyea weiter, wenn auch nicht mehr so energisch wie am Anfang.

Dummer Junge, dachte Cedric und schnaubte.

„Bist du taub? Wie heißt du?“

„Sahmael“, antwortete er kleinlaut und wich Cedrics bohrendem Blick aus. Es wurde ihm zunehmend unbehaglicher, was gut so war.

„Du kommst aus Cad’e?“ Cedric hasste es, diesem Jungen alles aus der Nase zu ziehen, aber er musste es wissen. Wenn ja, dann musste er dringend mit Niamh reden, wenn sie im Dorf der Wald-Ilyea ankamen. Es konnte nicht sein, dass die jungen Ilyea solche Vorurteile hatten und dann auch noch angriffslustig wurden. Das ging einfach nicht.

„Ja.“ Sahmael sah von seinen Fingern auf. „Bist du der Berg-Ilyea, der wegen der Zusammenkunft zu uns kommt?“ Cedric nickte, auch wenn es den Jungen im Grunde genommen nichts anging.

„Wer sind deine Eltern? Sobald wir das Dorf erreichen, werde ich sie zur Dorfältesten bestellen und dann reden wir über deine … Aktivitäten.“ Der Wald-Ilyea warf seinen Blick an Cedric vorbei. Es war sicher, dass er zu Thyra sah, was Cedric wieder wütend machte. „Hör auf, sie anzustarren“, zischte er den Jungen an, der sichtlich zusammenzuckte und dem Blick von ihm begegnete.

„Ich habe keine Eltern. Sie sind tot. Getötet von Menschen, denen sie eines Tages im Wald über den Weg gelaufen sind.“ In Sahmaels grünen Augen schimmerte der alte Zorn. Cedric sagte nichts dazu, wenigstens verstand er den Jungen nun besser. Es war kein Wunder, dass er den Menschen gegenüber feindselig gestimmt war, wenn seine Eltern durch deren Hände gestorben waren.

„Sie ist nicht so. Thyra ist etwas ganz Besonderes und wurde unter den Menschen ebenfalls nicht gut behandelt, also gib ihr eine Chance.“ Sahmael nickte langsam.

„Okay.“ Es klang nicht ganz überzeugend, aber besser als nichts, fand Cedric. Er half dem Wald-Ilyea auf und winkte dann Thyra zu sich. Sie war immer noch vorsichtig in ihren Bewegungen, aber die Furcht war aus ihrem Gesicht verschwunden, dennoch fehlte ihm ihr strahlendes Lächeln. Allein dafür würde er Sahmael gern eins überziehen, aber er verkniff es sich.

„Wir werden weitergehen. Es scheint nicht mehr weit bis Cad’e zu sein.“ Thyra sah ihn überrascht an und öffnete ihren zauberhaften Mund, um etwas zu erwidern, doch er legte ihr vorher einen Finger auf ihre Lippen. „Er gehört zum Dorf. Ich will diesen Zwischenfall so schnell wie möglich mit Niamh klären“, erklärte er ihr leise, sodass es Sahmael nicht hören konnte. Thyra sah ihm tief in die Augen und nickte dann schließlich. Cedric lächelte und strich ihr über die Wange, bevor er zum Lagerfeuer ging und es löschte. Dann holte er ihre Sachen, belud das Pferd und lief zurück zu ihr.

Sahmael beobachtete alles ruhig, aber man konnte ihm ansehen, dass er mit sich haderte. Ihm schien die Situation unangenehm zu sein und das war auch richtig so. Er hatte einen Fehler gemacht und er sollte daraus lernen.

Cedric half Thyra auf das Pferd, blieb selbst aber daneben stehen. Er nahm lediglich die Zügel in die Hand und bedeutete dem Wald-Ilyea, ihnen den Weg ins Dorf zu zeigen. Dann führte er das Pferd den dunklen Pfad entlang in Richtung Cad‘e.


Mit solch einem Verlauf des Abends hatte Thyra nicht gerechnet. Sie hatte nicht erwartet, dass Cedric sie küssen würde und noch weniger, dass sie von einem jungen Wald-Ilyea angegriffen wurden. Obwohl Cedric anscheinend mit dem Jungen alles besprochen hatte, fühlte sich Thyra immer noch unwohl. Es war deutlich geworden, dass der junge Ilyea etwas gegen Menschen haben musste, sonst hätte er nicht solch eine Aktion gestartet, aber sie vertraute Cedric in der Hinsicht, dass er sie nicht unnötig in Gefahr brachte.

Als sie ihren Blick zu dem Berg-Ilyea schweifen ließ, fingen ihre Lippen wieder an zu brennen. Vorsichtig hob sie eine Hand und strich mit einem Finger über ihren Mund. Der Kuss war wunderschön gewesen, überraschend und fantastisch. Trotz der zwischenzeitlichen Furcht, die von ihr Besitz ergriffen hatte, fühlte sie ihn noch immer in sich nachhallen. Am liebsten wollte sie ihn wiederholen. Cedric hatte ihr ihren ersten Kuss geschenkt und sie wollte weitere erleben – mit ihm, nur mit ihm.

Ihr Herz fing an zu rasen, als Cedric zu ihr aufsah und lächelte, als hätte er ihren Blick auf sich gespürt. Sie erwiderte es, spürte aber auch wie die Röte in ihre Wangen stieg.

Zum Glück war es dunkel, dachte sie, auch wenn es nicht sehr überzeugend klang, wenn sie Cedrics breites Lächeln sah. Er war immerhin ein Berg-Ilyea und sie mussten gut sehen können, wenn sie tief in den dunklen Bergen lebten.

Thyra unterdrückte ein Aufstöhnen und senkte ihren Blick auf die Mähne des Pferdes, auf dem sie saß. Es war golden und weich, genauso wie Cedrics Haare …

„Was ist?“ Anscheinend musste sie einen Laut von sich gegeben haben, denn Besorgnis klang in Cedrics Stimme mit. Thyra sah zu ihm und schüttelte den Kopf.

„Nichts, ich habe nur nachgedacht“, sagte sie und warf dann einen Blick auf den Wald-Ilyea.

„Du brauchst keine Angst haben.“ Verwundert begegnete sie Cedrics entschlossenem Blick. Er musste den ihren falsch gedeutet haben.

„Solange du bei mir bist, habe ich keine“, antwortete sie ihm wahrheitsgemäß.

Bei ihm fühlte sie sich sicher, geborgen und besser als je zuvor in ihrem Leben. Er war für sie die friedliche Heimat in einer grausamen Welt. Sie war gern in seiner Nähe, genoss jede Berührung seiner starken und gleichzeitig zärtlichen Hände. Ein Leben, auch nur einen Tag, ohne ihn, das konnte sich Thyra jetzt nicht mehr vorstellen. Er war ihr zu wichtig geworden, zu lebensnotwendig. Sie konnte nur hoffen, dass es ihm auch so erging und der Kuss dieselben Gefühle wie bei ihr in ihm hervorgerufen hatte. Sie wünschte es sich aus tiefstem Herzen.

Als hätte er die Richtung ihrer Gedanken erraten, nahm er ihre Hand in seine und streichelte sie.

„Ich werde immer auf dich achtgeben.“ Sie lächelte und erwiderte seinen leichten Händedruck. Dann sah er wieder auf den Weg vor ihnen, den Thyra selbst kaum erkennen konnte, so stockdunkel war es. Sie war froh, nicht allein zu sein, denn sie hätte sich ganz sicher verirrt.

Bis sie eine beleuchtete Lichtung erreichten, sagte niemand von ihnen ein Wort mehr. Thyra hing ihren ganz eigenen Gedanken nach, doch als sie das Dorf betraten, verschlug es ihr schlichtweg die Sprache und auch kein Gedanke wollte sich mehr formen lassen.

Es war beeindruckend und das war noch nicht einmal das richtige Wort dafür, was sich ihr gerade offenbarte.

Um die Bäume schlängelten sich Treppen, die aussahen, als wäre der Stamm von Anfang an für diesen Zweck gewachsen. In den Baumkronen konnte sie verschiedene Lichtquellen ausfindig machen. Dort mussten die Häuser der Wald-Ilyea versteckt sein. Thyra hätte sie nicht erkannt, wenn sie nicht wüsste, dass das hier Cad’e sein musste.

Zwischen all den mächtigen und großen Bäumen befand sich die Lichtung, die gleichzeitig der Dorfplatz zu sein schien. Mehrere Ilyea unterhielten sich dort und sahen jetzt auf, als sie näher kamen.

Thyra wurde leicht unwohl. Was war, wenn sie sich genauso wie der Junge ihr gegenüber verhielten? Sie wollte keine Unruhe verbreiten und noch viel weniger Cedric in seiner Aufgabe behindern, die er hier zu erledigen hatte. Er hatte ihr erzählt, weshalb er zu dieser Zusammenkunft musste und Thyra wollte nicht daran schuld sein, wenn die bisherigen Absprachen brachen, nur weil er sie mit hierhergebracht hatte.

„Keine Sorge.“ Cedric drückte ihre Hand. Er schien immer zu wissen, was in ihr vorging. Dieses Wissen ließ ihr Herz höher schlagen und Schmetterlinge in ihrem Bauch umherfliegen.

Sie liebte ihn.

Die Erkenntnis kam plötzlich und unerwartet, wenn sie es doch eigentlich hätte wissen müssen. Ihre Gefühle für Cedric gingen tiefer als alles, was sie je für jemand anderen empfunden hatte. Er war alles für sie.

Während sie in ihren Gedanken festhing, bemerkte sie nicht, wie immer mehr Ilyea den Platz füllten.

„Onkel Cedric!“ Es war ein hoher Schrei, voller Freude und Kindlichkeit, der sie zurück auf die Lichtung holte. Thyra folgte der Stimme, die von einem kleinen Mädchen kam, das voller Elan auf sie zugestürmt kam. Kurz vor ihnen stieß sie sich vom Boden ab und sprang in Cedrics Arme, der sie lachend auffing.

„Hallo Kleine. Müsstest du nicht schon längst im Bett liegen und schlafen?“, fragte er amüsiert und knuddelte die Kleine kurz, bevor er sie wieder absetzte.

Das Mädchen schüttelte ihren Kopf, wodurch ihre goldenen Locken hin und hersprangen. Sie war vielleicht drei oder vier Sommer alt und ähnelte Cedric in gewisser Weise. Aber nur wenn sie nicht schon Onkel zu ihm gesagt hätte, hätte Thyra Eifersucht verspürt. So konnte sie sich denken, wer das kleine Mädchen war, das Cedric vollplapperte.

„Enya!“ Eine Ilyea mit dunkelgrünen Haaren und strahlend blauen Augen betrat die Lichtung und kam auf sie zu. Das kleine Mädchen hielt ertappt in ihrem Wortschwall inne und versteckte sich hinter Cedrics Bein. Dieser lachte und legte seine Hand auf die goldenen Locken.

„Habe ich es mir doch gedacht“, sagte er und sah kurz zu Thyra auf. Das Glück in seinem Gesicht hätte ihr den Boden unter den Füßen weggerissen, würde sie nicht noch immer auf dem Pferd sitzen. Zum Glück, sonst hätten ihre Beine unter ihr nachgegeben und sie wäre hingefallen.

Er war so schön, wenn er strahlte. Thyra konnte ihre Augen nicht von ihm nehmen und er hielt ihren Blick lächelnd gefangen.

„Es tut mir leid, Cedric, sie sollte schon lange schlafen.“

„Macht nichts.“ Cedric hielt Thyra seine Hand hin und half ihr vom Pferd. Da sie ihren Beinen nicht trauen konnte, klammerte sie sich mehr als nötig an ihn, aber das schien ihn nicht im Geringsten zu stören. „Das ist Thyra. Thyra, Niamh“, stellte er ihr die Wald-Ilyea vor, die nun die kleine Enya auf den Arm genommen hatte und sie herzlich anlächelte.

„Willkommen in Cad’e, Thyra.“ Sie hatte nicht mit so viel Freundlichkeit gerechnet. Nicht nach dem Angriff des jungen Wald-Ilyea, der nun etwas abseits von ihnen stand und alles beobachtete.

„Danke“, hauchte sie als Antwort und versuchte Niamhs Lächeln zu erwidern.

„Kommt doch mit in mein Haus, dann können wir in Ruhe reden“, schlug die Wald-Ilyea vor, die laut Cedric die Dorfälteste war.

„Das ist eine gute Idee, ich muss dringend mit dir reden.“ Cedric warf seinen Blick zum Jungen, der sie hierhergebracht hatte und dann wieder zu Niamh. „Sahmael hat Thyra angegriffen und es geht nicht, dass die jungen Ilyea sich den Menschen gegenüber angriffslustig zeigen.“ Niamh machte große Augen und sah zu Sahmael, dem nun sichtlich unbehaglich war.

„Nein, du hast recht, das darf nicht wieder vorkommen.“ Sie sah zu Thyra und lächelte sie an. „Es tut mir leid, was dir durch ihn widerfahren ist. Er wird die Konsequenz dafür tragen, das verspreche ich dir. Aber nun kommt. Es ist schon spät.“ Thyra war erstaunt, dass die Wald-Ilyea so freundlich zu ihr war und nichts dazu sagte, dass sie als Mensch in ihrem Dorf war. Aber sie war immerhin eine Freundin von Cedric, vielleicht war der junge Sahmael nur eine Ausnahme unter den Ilyea.

Thyra schöpfte neue Hoffnung und folgte Niamh, die zu einem riesigen Baum lief. Cedric ergriff dabei ihre Hand und hob sie an seine Lippen, um ihre Finger zu küssen. Sofort schlug Thyras Herz Purzelbäume und sie sah sich schnell um.

Jeder hatte es gesehen, war ihr erster Gedanke, als sie in die grünen Augenpaare der Wald-Ilyea blickte, die alle auf dem Platz standen. Sofort beschleunigte sich ihr Herzschlag noch einmal um das Doppelte und sie senkte ihren Blick.

Das war zu viel Aufmerksamkeit, viel zu viel.

„Alles wird gut.“ Cedrics tiefe Stimme beruhigte sie. Er brachte sie dazu, tief einzuatmen und ihren Herzschlag zu besänftigen.

Ihr wurde immer deutlicher bewusst, dass sie ohne ihn nicht mehr leben konnte und wollte. Er verstand sie. Blind und ohne Worte. Nur aufgrund ihrer Nähe. Er war perfekt. Sie würde nie mehr solch eine Person finden, die ihr Leben so bereicherte und wunderbarer machte.

Gedankenverloren folgte Thyra ihnen die Treppe hinauf ins Baumhaus. Niamh entschuldigte sich kurz, um Enya ins Bett zu bringen, die quengelte, noch bei Cedric bleiben zu dürfen. Doch die Kleine verlor gegen ihre junge Mutter und musste schlafen gehen.

„Ich werde mit Niamh nur schnell über Sahmael reden und dann sind wir wieder allein. Ich würde dir gerne noch etwas zeigen.“ Neugierig hörte Thyra auf, was Cedric leise lachen ließ. „Geduld ist eine Tugend, Thyra.“ Sie seufzte, als er ihr über die Wange strich. „Es wird nicht lange dauern.“

Das hoffte sie.

Erstens wollte sie nicht mehr daran erinnert werden, was am Anfang dieser Nacht nach ihrem Kuss geschehen war und zweitens wurde ihre Neugier immer drängender. Sie wollte wissen, was Cedric ihr noch zeigen wollte. Es musste etwas Wichtiges sein, wenn er nicht bis zum nächsten Tag warten konnte.

Doch sie musste sich gedulden, bis Cedric und Niamh miteinander gesprochen hatten.

„Kann ich mich hier irgendwo waschen?“, fragte Thyra Niamh, als die Dorf-Älteste zurückkam. Sie lächelte herzlich, nickte und zeigte ihr dann das kleine Badezimmer.

Thyra war wieder einmal fasziniert von der Magie, die von allem ausging. Es war wunderschön, praktisch und einfach zugleich.

Während sie sich den Dreck von ihrem Körper wusch, konnten Cedric und Niamh in Ruhe reden, ohne dass sie alles mitanhören musste. Thyra bestand nicht unbedingt darauf. Sie wollte an andere Dinge denken. An Cedrics Kuss zum Beispiel.

Sofort schlich sich ein breites Lächeln auf ihre Lippen und das Kribbeln in ihrem Bauch wurde immer stärker. Sie könnte ewig davon träumen, wie er seine Lippen auf ihren Mund gepresst hatte, es würde ihr nie langweilig werden.

So verging die Zeit schneller als erwartet und als Thyra das Bad verließ, schien das Gespräch zwischen den beiden Ilyea beendet zu sein.

Cedric lächelte sofort, als er sie sah und kam auf sie zu.

„Es ist alles geklärt. Niamh wird sich darum kümmern, dass die jungen und auch alten Ilyea Toleranz gegenüber den Menschen zeigen. Niemand wird dir noch einmal etwas antun.“ Er klang froh und glücklich, was auf sie übersprang. Sie lächelte ihn an und ergriff seine Hand, um ihn einfach nur zu berühren.

„Schön. Das freut mich. Zeigst du mir jetzt das, was nicht bis morgen warten kann?“ Cedric lachte auf und drückte ihre Hand.

„Ja. Ich werde es dir zeigen“, sagte er amüsiert. Sie verabschiedeten sich von Niamh und verließen dann das Baumhaus.

Thyra wurde immer aufgeregter. Sie hatte keine Ahnung, was Cedric mit ihr vorhatte. Er grinste breit und führte sie von der Lichtung des Dorfes in den Wald hinein. Es war dunkel und Thyra klammerte sich an ihn, um nicht irgendwo gegenzulaufen oder hinzufallen. Aber er schien auch in dieser Dunkelheit gut sehen zu können. Es musste also tatsächlich daran liegen, dass er es gewohnt war, durch dunkle Gänge zu laufen, wie in einem Bergtunnel.

„Wie weit ist es noch?“, fragte sie leise. Die Nacht war so ruhig, dass sie sich nicht traute, lauter zu sprechen.

„Wir sind gleich da.“ Cedric hatte einen Arm um sie gelegt und drückte sie enger an sich. Für Außenstehende würde es so aussehen, als wären sie ein Liebespaar.

Thyras Herz raste noch einen Tick schneller, als ihr dieser Gedanke kam. Liebespaar.

Ob Cedric das Gleiche empfand wie sie? Hoffentlich, sie wünschte sich nichts sehnlichster.

„Da sind wir“, flüsterte Cedric in ihr Ohr. Thyra sah auf und klappte den Mund erstaunt auf.

Sie standen vor einem kleinen Bach, der zu leuchten schien. Über ihm war kein Blätterdach, sodass der Mond direkt auf ihn scheinen konnte und ihn so blauweiß erhellte.

Es war wunderschön.

Kleine Glühwürmchen flogen in der Luft umher und konkurrierten zum leuchtenden Wasser. Es war unbeschreiblich. Einfach zauberhaft.

„Thyra.“ Sie horchte auf, als die tiefe Männerstimme in ihr widerhallte. Er klang anders.

Thyra wollte sich umdrehen, aber Cedric ließ es nicht zu.

„Was ist los?“, fragte sie. Furcht stieg in ihr auf. Sie hatte Angst davor, dass er sie nicht mehr wollte.

„Schsch. Ruhig. Es ist nichts Schlimmes.“ Das sagte er so leicht. Warum machte er ihr dann solch eine Angst? „Es ist wunderschön hier.“ Thyra nickte.

„Ja. Voller Magie.“ Cedric stand hinter ihr und drückte sie enger an seine Brust. Sie konnte seinen Herzschlag an ihrem Rücken fühlen, der ebenso raste wie ihr eigenes Herz.

„Ich wollte es dir zeigen, weil … du genauso wunderschön bist wie dieser Ort. Für mich bist du sogar noch magischer.“ Jetzt setzte Thyras Herz einen Schlag aus. Sie glaubte, sich verhört zu haben. Konnte das möglich sein?

„Träume ich?“, fragte sie sicherheitshalber leise nach. Es konnte durchaus sein, dass sie eingeschlafen war und das gerade nur ihrer Fantasie zu verdanken war. Zwar hoffte sie es nicht, aber es würde ihr ähnlich sehen.

„Nein, du träumst nicht.“ Cedric leises Lachen ließ die Schmetterlinge in ihrem Bauch Loopings schlagen. „Thyra. Du bist etwas Besonderes für mich. Ich habe noch nie so gefühlt wie in deiner Nähe.“ Oh mein Gott! Sie bekam kaum noch Luft.

Cedric drehte sie nun endlich zu sich um, sodass sie ihn ansehen konnte. In seinen bernsteinfarbenen Augen glühten seine Gefühle. Es konnte tatsächlich kein Traum sein. Es fühlte sich viel zu real an.

Thyra wollte etwas sagen. Ihm gestehen, wie sie sich bei ihm fühlte und was sie für ihn empfand, aber ihr wollte kein einziges Wort über die Lippen kommen.

„Ich werde jeden Ilyea in Firyon davon überzeugen, dass du nicht wie die meisten Menschen bist, sondern anders, einzigartiger. Die Zeit mit dir, es war die schönste meines Lebens. Ich will sie gerne verlängern. Bis an unser Lebensende, wenn es nach mir gehen würde. Aber du musst zustimmen. Ich zwinge dich zu nichts. Ich hoffe nur, dass du meine Gefühle erwiderst.

Thyra, ich liebe dich.“ Sie hätte am liebsten geheult. Cedrics Liebesgeständnis war besser als jedes, das sie sich je heimlich als kleines Mädchen ausgemalt hatte. Seine Worte waren voller Gefühl und was er gesagt hatte, empfand sie genauso. Es ging ihr kein bisschen anders.

Etwas Kaltes lief über ihre Wange.

Nun weinte sie doch.

Aber sogleich spürte sie Cedrics Daumen auf ihrer erhitzten Haut. Er streichelte sie zärtlich und wartete noch immer auf ihre Antwort.

„Ich …“ Thyra räusperte sich und legte ihre Hand auf die, mit der er ihre Wange liebkoste. „Ich liebe dich auch, Cedric. Ich will nichts sehnlicher, als mein Leben mit dir zu verbringen.“ Ein breites Lächeln erschien auf seinem Gesicht und seine Augen leuchteten noch heller auf, als er sie eng an sich zog.

„Dann werden wir unser restliches Leben gemeinsam meistern.“

„Ja“, hauchte Thyra, bevor Cedric ihr Kinn anhob und ihr Versprechen mit einem Kuss besiegelte.

Impressum

Bildmaterialien: Covergestaltung: Melanie Jezyschek (http://melle661.deviantart.com/) unter Verwendung von Motiven von http://e-dinaphotoart.deviantart.com/; http://99laly99.deviantart.com/; http://mariaamanda.deviantart.com/ (Fotograf: Jan Holte Teller)
Tag der Veröffentlichung: 15.06.2013

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